HANNA von Joe Wright ist ein moderner Märchenfilm. Sein Storygerüst mag zwar nicht danach klingen: genetisch verbessertes Mädchen rächt sich für den Mord an ihrer Mutter an einer skrupellosen Agentin. Aber doch ist alles in diesem Film mit Magie und Phantastik aufgeladen. Das beginnt bereits in der schneeweißen Einöde, in der Hanna mit ihrem Vater aufwächst und von diesem zu einer Mordmaschine ausgebildet wird. Die Hütte, in der sie mitten im Wald leben, ist bereits wie ein sonderbarer Einbruch des Märchenhaften inszeniert. Und obwohl sich der Plot in Folge zu einem Agenten-Katz-und-Maus-Spiel entwickelt, so ist er eigentlich doch eine Heldenreise: Hanna muss sich Prüfungen stellen in einer ihr fremden Welt. Die Heldenreise ist der Archetyp jeglicher Erzählung, auch der Märchen mit ihren phantastischen Begebenheiten. Derer gibt es im Film genug. Denn Hanna kennt nur das karge Leben im kargen Schnee-Wald in einer kargen Hütte. Die Wüste Marrokos, ein TV-Gerät, romantische Dates, Flamenco-Klänge, heruntergekommene Häuserblocks in Deutschland - all das sind ihr ganz und gar neue Erfahrungen, die auch dem Zuschauer als solche präsentiert werden. Durch allerlei Verfemdungseffekte - in erster Linie wohl der pulsierend-elektronischen Musik der Chemical Brothers - entsteht ein bezaubernder magischer Realismus. Überhaupt ist der Film besonders ein Film für Deutsche: Eine Verneigung vor ihrer Märchenkultur, die insbesondere durch die Gebrüder Grimm geprägt ist, auf welche der Film stets und ständig direkt verweist. Im Zuge dieser Verneigung werden die Bilder Deutschlands (wo der Film hauptsächlich gedreht wurde) zu einer Projektionsfläche für geheimnisvolle Orte, Ereignisse und Begegnungen. Seien es die bereits erwähnten Plattenbauten mit ihrem bröckelnden Putz und den davor aufgereihten Wäscheleinen, hässliche Inneneinrichtungen irgendwann aus den Siebzigern, Berliner U-Bahn-Stationen, zwei Neonazis oder der geschlossene Spreepark mit seinem Märchenwald - als Deutscher wird man viele Bilder als Teil seines Landes wiedererkennen und doch über die dunkle Exotik erstaunt sein, die der Film diesen zuweist. Sie alle haben ihre Funktion in diesem modernen Märchen und sind atmosphärisch bis zum Zerbersten aufgeladen: Ganz Deutschland wird zum "deutschen Wald", diesem romantischen Schlagwort aus dem 19. Jahrhundert - als Manifestation einer unheimlichen Kraft, als Schauplatz für sagenhafte Ereignisse. Dass der Film letztendlich nicht in plumpe Fantasy umkippt, ist einer behutsamen Inszenierung, deren triste Bilder der Surrealität ein starkes Gegengewicht entgegensetzen, und den zwei Hauptdarstellerinnen zu verdanken. Saoirse Ronan als Hanna ist zwar durch ihr engelhaftes Äußeres entrückt, gibt ihrer Figur aber genug pubertierenden Schmerz, um der Heldenreise auch einen authentischen Coming-of-Age-Aspekt abzuringen. Und Cate Blanchett spielt derart doppelbödig, dass sie stets zwischen böser Hexe und unbarmherziger Agentin hin- und herflirrt. Überhaupt: Der Film flirrt, schwerfällig zwar in seiner Tristesse - und gerade deshalb umso mehr...
9/10
9/10