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Ich habe dir niemals einen Hasenbraten versprochen

Cjamangos neues Filmtagebuch




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Südlich von Stanislawski



Matinée (2009) (NL-TV)

Ich muß mich bei der Regisseurin Jennifer Lyon Bell wirklich bedanken, denn mit ihrem gerade mal 35 Minuten langem Film MATINEE hat sie mir Material geschenkt, das ich definitiv bei den Lesungen aus meinem Buch werde verwenden können. MATINEE ist ein pornographischer Film, den wohl die wenigsten anstößig finden werden, obwohl er alles zeigt. Es handelt sich nicht um eine verklemmte Kopfübung, also einen Film, der vorgibt, uns Wahrheiten über Sexualität zu verklickern, dabei aber dem Sex jede pornographische (also den Zuschauer stimulierende) Eigenschaft abspricht. Was nicht gerade selten vorkommt, heute, wo immer mehr Filmemacher echten Sex in nichtpornographischen Filmen verwenden. Tatsächlich ist es eigentlich diese Attitüde, die ich anstößig finde, denn schließlich müssen da einige männliche und weibliche Darsteller recht extreme Sachen machen, sich eventuell gesellschaftlich recht weit aus dem Fenster lehnen. (Vgl. etwa den Ärger, den z.B. die Hauptdarstellerin in Michael Winterbottoms 9 SONGS hatte.) Die Funktion von solchem Sex ist nicht, Sex als etwas Tolles und Aufregendes erscheinen zu lassen, sondern als Mittel zum Zweck, um ein intellektuelles Argument zu stützen. (Ich klammere jetzt mal die naheliegendste Deutung, nämlich die Verwendung von echtem Sex als skandalträchtigem Attraktionspunkt des Filmes, aus, weil man das so pauschal nicht unterstellen kann.) Das macht den echten Sex, den nicht-simulierten Sex, wirklich zu etwas Anstößigem, zu einer Arbeitsleistung, die um Himmels Willen nicht pornographisch sein darf, da es sich um einen „richtigen“ Film handelt...

Frau Lyon Bell scheint das komplett wurscht zu sein. MATINEE ist ein ausgesprochen sinnlicher Film. Er schämt sich für rein gar nichts, und wieso auch. Zu etwa zwei Dritteln besteht er aus einem nicht simulierten Geschlechtsakt. Das erste Drittel etabliert die Situation: Eine junge Schauspielerin bereitet sich zusammen mit ihrem Partner – einem aus dem Fernsehen bekannten Kollegen – auf eine Underground-Theatervorstellung vor, deren Premiere kurz bevorsteht. Die heikelste Szene ist eine Sexszene, bei der sie sich noch nicht sicher sind, wie sie sie am besten umsetzen sollen. Sie beschließen, sich auf Improvisation zu verlassen und der Gunst des Moments zu vertrauen. Insbesondere die Protagonistin mißtraut ihren Fähigkeiten, da es sich um eines ihrer ersten Engagements handelt. Bei der ersten Vorführung wird aus der gespielten Sexszene eine echte Sexszene. Lyon Bell setzt das sehr minutiös um, verzichtet auf verfremdende Elemente wie eine Musikuntermalung oder die Aufmerksamkeit auf sich ziehende Montagekunststücke. Der Zuschauer wird in den Moment hineingezogen, der dann auf tolle Weise entgleist. Die Reaktionen des Publikums der beiden werden ebenso eingefangen wie die nonverbale Kommunikation zwischen ihr und ihm, die dann schließlich zum Sex führt.

Eines der größten Probleme bei der filmischen Umsetzung von echtem Sex – neben den ganzen ästhetischen Konventionen, die man mittlerweile gewohnt ist und die eine echte, undistanzierte Beteiligung des Publikums fast unmöglich machen – ist die Überbrückung der Banalität. Um Walter Moers heranzuziehen: Die menschlichen Geschlechtsteile sehen bei nüchterner Betrachtung aus wie radioaktives Gemüse aus dem Weltall. Ein paar haarige Testikel vor die Linse baumeln zu lassen, erzeugt nicht automatisch einen erotischen Effekt. Manchmal erzeugt es auch eher Gelächter, Langeweile oder Ekel, je nach Laune des Tages. Den Zuschauer also in den Geschlechtsakt von anderen quasi hineinzulocken, ist eine gewisse Kunst. Dabei kann es sich um eine elaborate Spielhandlung handeln, die diesen Effekt erzeugt. Oder aber – wie im Fall von MATINEE – kann es auch eine einzelne Situation sein, die vom Zuschauer – und in diesem Fall auch der Zuschauerin, unterstelle ich mal – als plausibel und aufregend akzeptiert wird. Eine kleine Besonderheit von MATINEE scheint mir darin zu liegen, daß er ausgesprochen realistischen Sex zeigt, der trotz der besonderen Situation, in der er sich zuträgt, ungewöhnlich leicht zu akzeptieren ist. Dies wird von der Regisseurin erreicht durch gut beobachtete Details, die der Zuschauer mit den beiden Protagonisten teilen darf. Der Erforschungsgang der Protagonisten entspricht dem Erforschungsgang des Zuschauers. Während Pornographie meistens Material für die unterdrückten Fantasien des (hauptsächlich männlichen) Publikums liefert, schafft es MATINEE, die Natur von Sexualität – inklusive der unterliegenden Verklemmungen und Ängste – auf die Leinwand zu bringen. Das tut er auf sehr sinnliche und direkte Art. Der explizite Gehalt des Filmes ist sparsam, aber sehr deutlich. Er wirkt in keiner Sekunde unnatürlich oder gar schockierend. Ich mutmaße, daß wohl niemand diesen Film als anstößig empfinden wird. Er feiert Sexualität, und zwar ohne sie dabei zu verkitschen. Das ist eine ziemliche Leistung.




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