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Mille Fleurs, Baby!

Filmtagebuch




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A History of Violence



A History of Violence

Es gibt keine Monster

Ein Kind wacht nächtens schreiend auf. Der ins Zimmer eilende Vater versichert dem von einem Albtraum verängstigten Mädchen, dass es sich nicht vor den Gestalten seiner Fantasie zu fürchten brauche: Monster, so der Vater, gibt es nicht. Auch der große Bruder und die Mutter gesellen sich zu den Beiden, vollenden das Bild familiären Zusammenhalts und der Liebe. Wie das Mädchen möchte auch der Zuschauer den Beteuerungen des Vaters glauben, allein das kann nicht gelingen, haben wir doch eben, in der vorangegangenen, ersten Szene des Films den Gegenbeweis gesehen: Zwei Männer, die aus einem Motel auscheckend zum Abschied zwei Angestellte und ein Kind ermorden und dabei nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde aus ihrer phlegmatischen Lethargie heraustreten. Es gibt Monster.

Dass diese Monster in das Leben der Familie Stall treten werden, ist schon alleine durch die Verbindung der Ermordung des Mädchens im Motel und die wie eine direkte Reaktion darauf angeschlossene Szene der aus ihrem Alptraum hochschreckenden kleinen Tochter der Familie absehbar, aber ein auch anderes Detail verrät uns mehr über das, was noch kommen wird, dient als Omen: Tom Stall (Viggo Mortensen mit mutiger Frisur) ist Vater zweier Kinder, glücklicher Ehemann von Edie (Mario Bello) und Besitzer eines kleinen Diners in einem kuscheligen Kaff – in eben jenem Diner erzählt ihm ein Mitarbeiter von der „verrücktesten Frau, mit der er je zusammen war“, die die seltsamsten Träume hatte und ihn einmal im Schlaf mit einer Gabel anstach, weil sie meinte er sei ein wahnsinniger Killer. Ähnliches wird Edie im Verlauf des Films über ihren Mann Tom denken. Der Grund dafür: Die Killer aus der ersten Szene überfallen aus Geldnot Toms kleines Restaurant – bevor sie aber Schaden anrichten können, tötet Tom sie, für alle verblüffend, im Handumdrehen. Der Durchschnittsmann wird zum Helden, doch nicht nur der plötzlich auftauchende Verbrecher Carl Fogarty (Ed Harris) stellt die Frage, wie es kommt, dass Tom so gut darin ist, Leute zu töten.

Der Film lässt uns eine Weile im Unklaren darüber, derweil wir auch ein wenig mehr über das Leben von Toms Teenager-Sohn Jack (Ashton Homes) erfahren, der seinerseits in der Schule regelmäßig von einem eingebildeten Unsympath drangsaliert wird. Weicht er den Beleidigungen anfangs noch aus oder versucht sich ihrer mit halbwegs schlagfertigen Bemerkungen zu entziehen, verliert er endlich doch auch die Geduld und verletzt seinen Peiniger und dessen Freund in einem unerwarteten Gewaltausbruch. Spiegelbildlich zu der Heldentat seines Vaters ist auch dieser normale und sympathisch zurückhaltende Junge zu einem Akt überraschender Gewalt fähig, wenn er sich denn dazu genötigt fühlt. Auch wenn diese Beziehung durch spätere Enthüllungen relativiert wird (Jacks Vater ist eben doch keiner Normalbürger, sondern hat als ehemaliger Verbrecher eine beeindruckende history of violence), so ist dieses Vorkommnis doch deutlich als Aussage über die uns allen innewohnende Fähigkeit zur Gewalt zu verstehen – auch ohne Vorstrafenregister ist der Mensch zu Ausbrüchen solcher Art in der Lage.

Auch als Zuschauer wird man in dieser Szene ertappt: Trotz der Heftigkeit von Jacks Aufwallen applaudiert man heimlich, denkt, dass es doch Zeit wurde, dass er dem ständig provozierenden, sich sicher und unantastbar fühlenden Mitschüler eine Lektion erteilt. Schon in der nachfolgenden Szene hält mit Jacks Vater aber Vernunft Einzug: Wieso, fragt er entsetzt, verprügelt sein Sohn einen Anderen – allein weil dieser ihn genervt hat? Das sei kein Grund jemandem die Zähne auszuschlagen, merkt er an, und man muss zugeben: Eigentlich hat er ja Recht. Muss man sich um die eigene Einstellung sorgen, wenn man dennoch, trotz aller Relativierung, instinktiv Jacks Reaktion für angemessen hält? (Nebenbei: In zwei von drei Szenen, in denen Jack von seinen Mitschülern ins Visier genommen wird, ist er in Gesellschaft seiner [oder zumindest: einer] Freundin. Die beiden Unruhestifter selbst bleiben aber als männliches Duo unter sich, während sie Jack gerne als Homosexuellen beschimpfen. Alpha-Männchengetue, wie Jack andeutet, oder haben die beiden vielleicht ein verdrängtes Problem mit ihrer eigenen Sexualität? Letztlich ist dies für den Film eigentlich ohne Bedeutung und genauso wenig belegbar wie widerlegbar, aber als Gedankenspiel ist es vielleicht doch von ein wenig Interesse.)

Besagte Szene zwischen Vater und Sohn ist übrigens besonders gelungen, weil sie noch einmal eine andere Bruchstelle der friedlichen Fassade aufzeigt. Dies sei keine Familie, in der man Andere schlage, sagt Tom seinem Sohn, der darauf hin – in Anspielung auf die Tat seines Vaters – antwortet: „Nein, wir erschießen sie stattdessen.“ Des Vaters Reaktion: Er schlägt seinen Sohn. Deutlicher könnten Anspruch und Wirklichkeit nicht kollidieren.

Was David Cronenberg uns in seinem Film bis dahin zeigt, handelt vom Einbruch der Gewalt in die friedliche Normalität des Alltags und von den daraus resultierenden Folgen: Zwei Verbrecher landen per Zufall in einer abgelegenen, ruhigen Kleinstadt und werden unerwartet zur Strecke gebracht. Die Gemeinde reagiert getreu dem callahan’schen Motto, dass nichts Falsches daran zu finden sei, dass Menschen erschossen werden, so lange es nur die richtigen treffe und besucht sein Lokal in unüblich hoher Zahl. Die Presse kürt den Mann zum amerikanischen Helden. Und: Seinem Sohn, sonst duldsam bis zur Memmenhaftigkeit, reißt der Geduldsfaden, woraufhin er zwei Halbstarke vertrimmt. (Aber: Auch vor den Ereignissen in Toms Lokal finden sich schon Risse in der Idylle, interessanterweise in zwei scheinbar typisch amerikanischen Ausprägungen: Kinder, die nachts nur dann albtraumfrei schlafen können wenn das Licht noch brennen gelassen wird und Schüler, die in der Schule grundlos von bullies schikaniert werden, sind so häufig in Filmen und Romanen anzutreffende Klischees, dass sie wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen sein können. Außerdem: Dass das Paar Edie und Tom auf der Garderobe neben der Eingangstür zwei Würfel mit ihren Initialen (E und T, zusammen: E.T.) aufgestellt hat, verweist, auch wenn es zugegebenermaßen sehr weit hergeholt scheint, vielleicht auf Spielbergs „E.T.“ und bietet dem Zuschauer die Möglichkeit das Ehe-Idyll ähnlichen zu bewerten: Als heilsamen Kitsch, als wertepositives Märchen. Dass man bei einem Film von David Cronenberg aber nicht auf das Verharren in diesem paradiesischen Zustand zu warten braucht, sollte klar sein.)

Im Folgenden verändert Cronenberg den Fokus: Tom erhält erneut Besuch von Carl Fogarty. Der beharrt, wie bei seinen vorherigen Besuchen immer noch darauf, dass er Tom aus Philadelphia kenne, und zwar erstens unter dem Namen Joey Cusack und zweitens als veritablen Gewalttäter, der ihm einst das Gesicht verunstaltete. Der Zuschauer hat dieser Geschichte bis hierhin keinen großen Glauben geschenkt (sie vielleicht nur deswegen als wahr erwogen, weil Filme nun mal die Eigenschaft haben, vermeintlich Unmögliches als Tatsächliches zu enthüllen), muss aber, wie Toms Familie auch, nach dieser Szene umdenken: Behände tötet Tom die beiden Handlanger des Gangsters (was Cronenberg, wie auch in anderen Szenen des Films, mit der barbarischen Deutlichkeit eines Kriegsberichterstatters inszeniert), outet sich zusätzlich noch im Gespräch tatsächlich als Joey und wird dann durch Eingreifen seines Sohnes gerettet.

Was folgt ist neben den genrebedingt zu erwartenden Ereignissen (Tom/Joey bricht nach Philadelphia auf und regelt gewisse Dinge mit seinem Bruder) und einer kleinen für Regisseur Cronenberg typischen Einlage (Toms/Joeys Bruder, gespielt von William Hurt, ist in Cronenbergs Werk nicht die erste patriarchale Figur mit Hang zum Monolog) vor allem auch eine interessante, wenn auch etwas zu kurz gekommene Erkundung der Probleme, die durch Joeys Identitätswechsel entstanden. Seine Frau findet sich plötzlich mit einem Phantom verheiratet, dessen Kinder sie auf die Welt gebracht hat und die den selben Namen wie sie tragen – einen Namen, den Joey sich gab, „weil er gerade verfügbar war“. Joeys Seite des Problems wird leider nur angerissen, aber doch auch deutlich: Drei Jahre habe er gebraucht um vollends zu Tom Stall zu werden und sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Es wirkt glaubwürdig wenn er das sagt und wir wollen ihm daher glauben: Wie bitter muss es für diesen Mann sein, dass er in einem vermutlich schweren inneren Kampf sein altes Ich für ein besseres Alter Ego eintauscht und fast gut zwei Jahrzehnte diese neue Rolle überzeugend bis ins Detail lebt, nur um dann im Bruchteil einer Sekunde doch wieder vom harmlosen Ladenbesitzer zum effizienten Killer zu werden?

Toms Familie jedenfalls ist über Joey nicht begeistert. Joey, wie schon erwähnt, fährt nach Philadelphia und regelt die Dinge auf seine eigene Art. Nachher wirft er eine Waffe in einen See, wäscht sich Blut vom Körper. Selbsttaufe, Neugeburt?

Ist der Mann, der dann zu Edie, Jack und Sarah Stall zurückkehrt, Tom Stall oder Joey Cusack? Es gibt Monster, leugnen hilft nicht – nicht gegenüber sich selbst, nicht vor den Menschen, die um die Wahrheit wissen. Die Aufgabe kann nur lauten, sich selbst zwischen den Extremen zu finden. Schwarz und Weiß verlaufen zu Grau. Tom Stall, der Ladenbesitzer, der früh noch selbst den Müll vor seinem Laden aufhebt, und Joey Cusack, der Mann, der Anderen mit Stacheldraht ans Augenlicht will, verwischen. Vielleicht ist es ja Joey Stall, der da nach einigem Zögern wortlos an den Familientisch gelassen wird. Eine letzte Veränderung, eine Metamorphose des Geistes. Es wäre kein untypisches Ende für einen Cronenberg-Film.

Texte aus kino.de-Zeiten



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