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Ornament & Verbrechen Redux

There is no charge for awesomeness. Or beauty.

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Rhadamanthys auf Honshu


After life

An jenem Ort war der Tod nicht das unwiderrufliche Ende des Lebens, sondern nur eines von vielen Elementen, die das Leben ausmachten.
Haruki Murakami "Naokos Lächeln"

I
Das leise Knarren der Planken muss mich getäuscht haben. Vielleicht war es auch das gedämpfte Knattern des Besanmastsegels, das sich immer leicht im Wind wiegt. Manchmal macht auch das Wasser, das gegen den Bug schlägt, so ein Geräusch.
Natürlich kommt niemand aus dem Unterdeck. Es wäre auch ein Wunder. Ich habe das Schiff schon bis in den letzten Winkel durchsucht. Mehrmals. Ohne auch nur die Spur eines anderen Menschen zu finden.
Ich drehe mich wieder nach vorn und die Sonne sticht mir in die Augen. Ich kneife sie zusammen, aber das Bild wird dadurch nicht schärfer. Es ist auch nicht wichtig für mich, besser sehen zu können, was mich umgibt. So weit ich mich zurückerinnern kann, war es immer dasselbe: das träge schaukelnde Schiff, die gleißende Sonne, das endlose Meer. Nie kam etwas dazu, nie änderte sich ein Detail.
Dennoch presse ich die Augenlider zu winzigen Schlitzen zusammen, in der irrationalen Hoffnung, irgendeinen neuen Anhaltspunkt zu finden. Einen Anhaltspunkt, warum ich hier bin. Einen Anhaltspunkt, wie ich hierher kam.
Etwas mehr jedenfalls als diese eine Erinnerung, die mir immer wieder im Traum so real erscheint. Es ist immer derselbe. Vielleicht sollte ich mich hinlegen und schlafen. Die Sonne brennt so heiß, dass ich schon wieder müde bin.
Matt lege ich mein Gesicht auf das wettergebleichte Holz, den Schlaf erwartend. In der vagen Hoffnung, dass mir ein Traum erklärt, was ich hier auf diesem Schiff mache. Mit leisem Surren nähert sich der Schlaf. Gleich werde ich erfahren, wonach ich schon so lange suche.
Endlich.

II
Ein heruntergekommenes Bürogebäude, es mag eine Meldestelle sein oder irgendein anderes Amt. Man sieht Menschen, die sich beim Pförtner dieser Einrichtung anmelden; Büroangestellte, die die ankommenden Menschen zur Abfertigung aufteilen; einen Bürochef, der seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen anspornt.
Doch in Kore-eda Hirokazus Film After life handelt es sich bei dem Büro weder um eine Polizeidienststelle noch um ein Arbeitsamt. Nein, hier werden die Verstorbenen auf ihren Übergang ins Jenseits vorbereitet – innerhalb einer Woche müssen sie ihre bedeutsamste Erinnerung benennen, die anhand ihrer Anweisungen als kurzer Videofilm nachgestellt wird.
Gänzlich unprätentiös, ohne esoterisches Geschwurbel, ohne philosophische Ergüsse über den Seelenzustand nach dem Tod nähert sich der Film dem Thema Tod und Sterben ganz im Sinne der diesseitig orientierten Religion Shintoismus. Aus einer ungewöhnlichen Perspektive werden Menschenschicksale beleuchtet, bis auch das uninteressanteste Leben von innen zu strahlen beginnt. In langen, unbewegten Einstellungen, doch umso mehr bewegend werden große Fragen der Menschheit behandelt: nach der Verantwortung fürs eigene Leben, nach dem Faustschen Glücksmoment, nach der Wichtigkeit unserer Erinnerung für uns und unsere Mitmenschen. Gerade dieser letzte Aspekt hat im Film enormes Gewicht, weil für den Regisseur das Verblassen der Identität des an Alzheimer erkrankten Großvaters kindheitsprägend war.
Zugleich ist der Film eine großartige Liebeserklärung an das Filmemachen und die Magie des Kinos. Kunstschweiß, Kulissenzimmer, Wattewolken an Zugseilen – Requisiten einer verloren wirkenden Realitätssimulation. Und doch ist es unglaublich anrührend zuzuschauen, wie die Verstorbenen ihre Erinnerungen noch einmal durch den Film erleben. Nicht als passive Konsumenten, sondern als aktiv Gestaltende.
Trotz des überflüssigen doppelten Endes, das den Erzählfluss dieses Films, der gleichermaßen der Trauer und der Lebensfreude Raum gibt, etwas zerstört, wünscht man sich, dass das hypnotische Rattern des Vorführapparates nicht verstummen möge.

III
Das Surren verendet in einem zarten Klicken.
Erschöpft und von der Flut des Sonnenlichts geblendet, richte ich mich auf. Ich schaue mich um und mit einsetzendem Bewusstsein sacke ich enttäuscht zusammen.
Es war wieder derselbe Traum. Es ist Herbst, wie man an den Blättern unschwer erkennen kann. Ich sitze allein auf einer Parkbank. Mich beschleicht ein dumpfes Gefühl, dass neben mir eine Frau sitzen müsste, aber wenn ich den Blick zur Seite wende, sehe ich niemanden. Nichts passiert, nur ein paar Blätter schweben zeitlupenartig zu Boden.
Ein Geräusch schreckt mich aus den Gedanken. Hinter mir höre ich ein leises Knarren, als ob sich eine Holztür in rostigen Angeln bewegt. Vielleicht war doch jemand im Unterdeck, jemand der mich aufklären kann, was ich hier auf diesem Schiff mache.
Ich werde mich jetzt umdrehen, ihm wortlos zuhören und alles wird mir klar werden.
Endlich.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 21.04.2003

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Thomas und wie er die Welt sah


It's all about love

Es ist doch mysteriös. Noch vor einigen Jahren machte die Bundesregierung Hunderttausende von massakrierten Menschen im ehemaligen Jugoslawien aus, von denen nach dem Einsatz der UN-Truppen jede Spur fehlte. Ebenso erging es der US-Armee im dritten Golfkrieg; die auf Hunderttausend Mann geschätzten republikanischen Garden Saddam Husseins waren auch über Nacht verschwunden.
Aber Aufklärung über den Verbleib all dieser Menschen naht nun endlich doch. Nicht von der CIA oder dem KGB, erst recht nicht vom BND. Nein, dank des neuen Films von Thomas Vinterberg wissen wir jetzt, dass aufgrund der fehlenden Liebe Mama Gaia den Verschwundenen die Schwerkraft entzogen hat. Mit einem leisen Plopp verabschieden sich die argumentativen Schwierigkeiten diverser Politiker in den Weltraum.
Hanebüchener Unsinn? Wohl wahr. Aber auf jeden Fall nicht unsinniger als die immanente Logik des neuen Films von Thomas Vinterberg.

Dabei fängt der Film gar nicht mal so schlecht an. John (Joaquin Phoenix) besucht Elena (Claire Danes) zwecks Unterzeichnung der Scheidungsurkunde. Doch statt der schnellen Unterschrift auf dem Flughafen erwarten ihn mysteriöse Männer, die ihn in das morbid-labyrinthische Hotel lotsen, in dem die berühmte Eiskunstläuferin Elena residiert. Deren Situation ist trotz aufgesetzter Fröhlichkeit unheilschwanger; unbekannte Mächte und böse Doppelgänger bedrohen ihr weiteres Schicksal, der einzige, zu dem sie noch Vertrauen hat, ist ihr Nochgatte John. So weit, so gut.
Doch nach einer halben Stunde Exposition gehen dem Regisseur die Metaphern durch und laufen Amok. Was anfänglich noch als zarte Zeichen für den Zustand der Welt gedeutet werden konnte, all die toten Menschen, der Sommerschnee und der Verlust der Schwerkraft, steigert sich im Laufe des Films zu einer Kakophonie des intellektualistischen Symbolismus, wobei man in diesem Fall fast geneigt ist, in einer persönlichen Rechtschreibreform das Wort in Kackophonie abzuändern. Nun enthüllt auch Claires Beruf seine innere Bedeutung; immerhin ist sie keine russische Kugelstoßerin, sondern polnische Eiskunstläuferin und somit das Sinnbild für Unschuld und Grazilität. Diese Konstruktion einer natürlichen Ordnung mag einer Naturreligion gut zu Gesicht stehen, aber sicher nicht einem sich intellektuell gebärdendem Film aus Dänemark. Mal abgesehen davon, dass diese peinliche Erzeugung einer erstrebenswerten Vergangenheit ein Schlag in das Gesicht jedes Durchschnittspolens sein dürfte.
Auch auf der Bildebene funktioniert der Film nicht. Selbst die anfänglich noch geheimnisvollen Bildkompositionen mutieren im Nachhinein zu Motiven der Marke "Bambi vor Postkartenidylle". "Too much Fargo, honey!", möchte man dem Regisseur zurufen. Automatisch funktioniert das Muster "Schneeweißchen und Blutrot" schon mal gar nicht.
Die Dialoge scheinen dem Laienseminar "Klischeestudie III: Von Captain Kirk zu J.R. Ewing" zu entstammen und man kann sich immerhin daran erfreuen, dass wieder mal ein arbeitsloser Soapschreiberling eine kurzfristige Anstellung gefunden hat. Wird man gerade mal nicht von dem Gestammel der Hauptfiguren belästigt, dann wird man garantiert mit Kommentaren aus der zusammenhangslosen Nebenhandlung malträtiert. In der hängt Sean Penn in der Rolle von Johns Bruder Marciello nicht nur aus meteorologischen Gründen vollkommen in der Luft.

Es ist wirklich kein Wunder, dass nach dem Screening auf dem Sundancefestival dem Regisseur die Frage an den Kopf geworfen wurde: "Why would anybody give you so much money to develop such a clueless script?"

Wie wäre es, wenn Herr Vinterberg demnächst mal wieder einen formal beschränkteren Dogmafilm drehen würde? Doch oh weh, was muss man auf der offiziellen Internetseite (http://www.dogme95.dk) unter News lesen? "The Dogmesecretariat is closing, June 2002"
Tja, da werde ich wohl die Hoffnung fahren lassen müssen, noch jemals einen so umwerfenden Film wie Festen von ihm sehen zu dürfen.

P.S.: Aber ist es denn nicht schön, dass man auch aus diesem Machwerk noch etwas lernen kann? Da ich trotz der überall auftauchenden Warnschilder vor diesem Film ihn mir dennoch angeschaut habe, muß ich wohl wirklich kinosüchtig sein.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 21.04.2003

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Es war ein ganz besonders heißer Oktober ... damals


Good Bye, Lenin!

geht eine gruppe von kindergartenkindern durch den wald. zeigt die kindergärtnerin auf ein eichhörnchen und sagt: na, liebe kinder, was haben wir denn da? meldet sich kleinfritzchen und sagt: also erstmal würd ick sagen, det issn eichhörnchen, aber wie ich den laden hier kenne, is det wieder lenin oder wer.
Ronald M. Schernikau "die tage in l."

Oktober 89: Kerzen in der Gethsemanekirche, Bullenklopperei auf der Schönhauser, Bohley heult wie üblich rum, aber alle denken, ihr täte es um Deutschland leid. Autos aus Rostock, Schwerin und Neubrandenburg (jaja, so hieß das damals, als der Mitteldeutsche Blick noch nicht auf Schlesien gerichtet war) werden von Sachsen nicht mehr betankt. Ungarische Augen schauen ungläubig, als in die Kamera gestammelt wird, man müsse die DDR verlassen, weil es dort keinen Joghurt gebe. Ein anschwellender Strom von Menschen verlässt die Joghurtwüste Gorbi, nicht ahnend, dass sie dereinst das Flussbett bilden werden für anschwellende Bocksgesänge.
Schernikau war einer der wenigen, der diesem Maėlstrom toter Fische entgegenschwamm; er nahm die Staatsbürgerschaft der DDR erst 1989, kurz vor ihrem Zusammenbruch und zwei Jahre vor seinem Tod, an, wohl der irrigen Hoffnung erlegen, die Veränderungen in der DDR würden etwas in seinem Sinne bewirken. Dennoch schärfte die Bewegung gegen den Strom den Blick der Milva der deutschen Literatur für die Systemschwächen – sowohl der DDR als auch der BRD.
Eines dramaturgischen Tricks, ähnlich der Bewegung Schernikaus, bedient sich Wolfgang Becker in seinem neuen Film Good bye, Lenin, um die Leerstellen, die die gesellschaftlichen Veränderungen im Leben der Menschen hinterlassen haben, zu untersuchen. Jene weißen Flecken auf den biographischen Landkarten der Menschen, deren Existenz man erst mit vierzehnjähriger Verspätung ohne die Distanz schenkelklopfenden Humors zur Kenntnis zu nehmen wagt. Jene Flecken, die sich auch in den Biographien der BRD-Bürger wiederfinden, denn entgegen den idealisierenden Vorstellungen der Mehrheit ist auch dieses Land zusammen mit der DDR untergegangen.
Das Zimmer von Alex' Mutter wird in Good bye, Lenin zum Geschichtslabor umfunktioniert, in dem aus allseits bekannten Ingredenzien eine alternative Geschichtsschreibung synthetisiert wird. Die revolutionären Massen der BRD stürmen die DDR. Becker greift darin Walter Ulbrichts Losung vom Überholen ohne Einzuholen auf, jene realitätsferne Utopie des kleinbürgerlichen Staatsapparates eines selbsternannten besseren Deutschlands.
Doch die Zeiten haben sich geändert: Hoffnung buchstabiert sich G-e-l-d, Fukajama hat das angebliche Ende der Geschichte ausgemacht, die Zeiten der Utopien sind im Staub der Äonen versunken. Symbolträchtig hat Becker diesem Gefühl, das die Menschen nach dem verlorenen Jahrhundert befallen hat, in dem expliziten Kubrickzitat aus 2001 – Odyssee im Weltraum zum Ausdruck gebracht. Treffender kann man die gegenwärtige Banalisierung der großen Erwartungen aus den Zeiten eines Raumschiffs Enterprise den Zuschauern nicht vor Augen führen. Ebenso prägnante Bilder findet er für die Bewusstlosigkeit der politischen Umwälzungen während der Wende, für den kurzen Sommer der Anarchie, das Fehlen des Vaters.
Die wohl größte Leistung des Filmes besteht darin, dass sich die Vielschichtigkeit der Thematik um die Hauptkomplexe Schuld und Lebenslüge zwischen den politischen und privaten Bereichen entfaltet, ohne konstruiert oder aufdringlich zu wirken. Nicht zuletzt Yann Tiersens Musik verbindet organisch die beiden Ebenen; eine Komposition, die formvollendet im Vorspann den Film antizipiert. Nichts an der Geschichte ist Selbstzweck, alles gehorcht einer inneren Logik und fügt sich wunderbar zu anderen Teilen des Geschehens. Einzig störend wirkt die Krankheitsentwicklung der Mutter, die sehr intentional eingesetzt wird und sich zu sehr an den Erfordernissen der Handlung orientiert.
Die Hauptdarsteller Katrin Sass und Daniel Brühl gestalteten ein Mutter-Sohn-Verhältnis, das den Zuschauern die liebevolle Brüchigkeit ihrer Beziehung spüren lässt. Daniel Brühl ist sicher ebenso gut wie in seinen anderen Filmen, aber für die Darstellerin der Mutter, die von sich sagte, dass sie nach der Wende in ihrer schweren Alkoholabhängigkeit ebenfalls wie im Koma lag, ist dieser Film auch ein Sieg über sich selbst. Gerade für sie freut mich der enorme Erfolg des Films. Komplettiert wird die Leistung des Duos von hervorragenden Nebendarstellern und prägnanten Cameoauftritten bekannter Schauspieler wie Jürgen Vogel.
Gelungen ist Wolfgang Becker mit Good bye, Lenin jenes Wendedrama, welches seit 1990 von den Feuilletonisten gefordert wurde. Melancholisch und heiter. Berührend und verstörend. Aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.
Und mit der vielleicht irrwitzigen Hoffnung, dass in dieser gesellschaftlichen Zukunft nicht Cowboys Bomben zureiten, sondern Sandmännchen das All erobern.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 05.04.2003

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Girl, you'll be a woman soon


Rain

Woran erkennt man ein aufziehendes Gewitter? Weder an Blitz und Donner noch am fernen Wetterleuchten, so die Antwort der Autorin Kirsty Gunn, die die Romanvorlage für Christine Jeffs Debütfilm Rain schuf, sondern am Geruch des kommenden Regens.

Neuseeland in den siebziger Jahren. Janey ist mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder im Sommerurlaub. Das kleine Paradies, das Vater Ed für die Familie aufgebaut hat, wird von Alkohol und Parties zusammengehalten. Kein Wölkchen scheint den endlosen Sommer trüben zu können. Doch das kommende Gewitter kündigt sich mit der Ankunft des hypervirilen Abenteurers Cady an, der die unterschwelligen Konflikte in der Familie wie ein Katalysator zum Ausbruch bringt.

Die großartige Landschaft der neuseeländischen Halbinsel Mahurangi, vom Kameramann John Toon eingefangen in atemberaubend schönen, langsamen Bildfolgen und untermalt von Neil Finns wunderbar passendem Sound, gibt eine unglaubliche Kulisse für den Machtkampf zwischen der alkoholabhängigen Mutter Kate und der sich ihrer Weiblichkeit bewusst werdenden Tochter Janey ab.
Sarah Peirse, die man auch schon in Heavenly Creatures bewundern durfte, spielt die Mutter mit spröden Charme, der dem Zuschauer Kates verzweifelte Angst, etwas zu verpassen, eindringlich vor Augen führt. Auch Alistair Brownings Darstellung des Vaters ist in seiner Hilflosigkeit und Unbeholfenheit sehr gelungen. Demgegenüber fällt die vielgelobte Alicia Fulford-Wierzbicki in meinen Augen etwas ab, ihre Janey ist mir persönlich zu hölzern und zu bewusst auf Lolita gemacht. Dies ist besonders auffällig im Kontrast zu Aaron Murphy, der Janeys kleinen Bruder Jim außerordentlich natürlich spielt.

Sicher ist Rain nicht wie angekündigt DAS ultimative Pubertätsdrama. Es ist nicht so geheimnisvoll wie The Virgin Suicides, nicht so und nicht so psychologisch verstörend wie The Cement Garden. Außerdem hat der Film neben dem überstrapazierten Einsatz von Slow motion Szenen noch ein weiteres Problem mit dem Klimax der Geschichte.

Spoiler an
Die Geschichte gipfelt in einer Gleichzeitigkeit von erwachender Sexualität und Tod der Kindheit. Dies funktioniert aber so gar nicht.
Einerseits wirkt die symbolische Aufladung von Janeys erstem Sex und dem Tod des kleinen Bruders in einer ansonsten eher narrativen Struktur fehlplaziert und lässt die Geschichte konstruiert wirken.
Andererseits ist die Umsetzung mangelhaft, da die Reanimationsbemühungen offensichtlich simuliert sind und zu allem Überfluß der tote Junge auch noch gut sichtbar atmet. Das hätte man wirklich besser bebildern müssen.
Spoiler aus

Dennoch ist Rain ein gelungener Film über pubertäre Verwirrungen vor dem Hintergrund des Zerfalls der Hoffnungen der Hippiegeneration. Und die Korbstühle auf der Veranda suchen wie Satellitenschüsseln den Himmel nach Glück ab, stetig und erfolglos.

Woran erkennt man ein aufziehendes Gewitter? Erst an dem Blitz, der einschlägt, könnte die Antwort von Christine Jeffs lauten, die sich mit Rain als würdige Nachfolgerin neuseeländischer Regiemeister vom Format einer Jane Campion oder eines Peter Jackson erweist. Auf ihr nächstes Projekt, ein Film über die Beziehung der Dichter Ted Hughes und Sylvia Plath, darf man sich freuen.

Zuerst veröffentlicht am 01.03.2003 auf kino.de

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Der kleine HirnF&&K


K.af.ka. Fragment

Liebe F.

Nun schrieb ich schon die dritte email an Dich heute und Du, die Du doch bereits dieselbige erhalten hast, wünschst Du Dir nicht, mir eine Antwort zukommen zu lassen? Selbst wenn ich in Betracht ziehe, dass Du in der Schreibstube eine halbstündige Mittagspause eingelegt hättest (wahrlich eine Überschätzung der Dir vom Amtsvorsteher zugestandenen Zeit, aber dennoch der einzige Strohhalm, den mein innerlich loderndes Feuer noch nicht in Asche verwandelt hat) und ich dazu noch weitere zehn Minuten des Computerstartens addiere (auch wenn ich Linux benutze, so weiß ich doch um die Verheerungen des Microsoftschen Imperiums), so hättest Du doch mehr als siebzehn Minuten gehabt, mein wimmerndes Flehen um Antwort zu erhören.
Ich warte sehnsüchtig, hoffnungsschwanger.

K.

K!

Ich dachte bei Deinem letzten Besuch in Berlin hätte ich mich klar ausgedrückt. Du weißt, dass es keine Hoffnung für unsere Beziehung geben kann. Ich kann nicht mit Deiner wahnhaftigen Art der Liebesbezeugung umgehen. Es stößt mich alles mittlerweile nur noch ab: Deine psychoanalytischen Arabesken, die bei Deinen intellektuellen Claqueuren (denn als Freunde kannst Du nun wirklich nur einige wenige Menschen bezeichnen!) das Blut in Wallung bringen mögen, aber bei mir nicht mehr als ein Augenbrauenzucken hervorzurufen vermögen. Deine Spielereien mit Detail, Serialität und Ornament, die durch Wiederholung nur aufdringlicher, aber nicht verständlicher werden.
Du langweilst mich.

F.

Verehrte F.

Wie könnte ich jemals von Dir lassen. Es wäre so, als bohrte ich mir mit dem Federkiel die Halsschlagader auf, hoch und höher, um schlussendlich Dein Antlitz aus meinem Gehirn herauszukratzen.
Erst gestern träumte ich von Dir; es war ein wahrer Albdruck, der zentnerschwer auf meiner Brust lastete. Mich dünkt, ich sei Rotwang, verfallen Dir halbmechanischen Maria, die sich mir hingegeben hatte, nur um im letzten Momente sich zu entziehen und auf den lodernden Trümmern meiner Existenz einen bacchantischen Tanz aufzuführen. Jedoch – wie sollte ich weiterleben können ohne Hoffnung, jemals von Dir erhört zu werden, nur ausgestattet mit den fahlen Erinnerungen, geborgt aus Deinen Tagebüchern?
Bitte erbarme Dich meiner Seele, die auf diesem Erdenrund so viel Hölle durchlitten hat, dass der Hades selbst mir wie das Paradies erscheinen wird.

K.

K.,

auch wenn Du es nicht hören willst, sich Dein Verstand weigert, die Realitäten anzuerkennen, so sag ich es Dir gerne noch einmal: Es ist vorbei, ich existiere nur noch als Widerhall Deiner Gedanken.
Nur für den Fall, dass Vergessenheit Dein Hirn vernebelt: Ich habe Christian schon vor etlichen Monaten kennengelernt und Die Totale Therapie hat mir mehr gegeben, als Du es jemals vermögest.
Bitte unterlasse weitere derartige Versuche der Kontaktaufnahme.

F.

Abgöttisch angebetete F.!

Meinen Fünkchen Restverstand zusammennehmend und dem offensichtlichen Schicksal trotzend, habe ich, Dich umzustimmen, die mir in Freundschaft verbundenen Tonkünstler von VOOV gebeten, meine Gefühle zu Dir in Musik auszudrücken. Sagt man nicht, dass Musik die Seele direkt erreichen könne?
Etwas, was auch ich mit meinen Briefen versuchte: meine Seele mit der Deinigen zu verbinden, ohne dass wir uns zu nahe kämen, auf dass die Distanz die Worte weiterhin aus meiner Feder fließen liesse, jedoch jetzt, wo diese unüberbrückbar geworden, da spüre ich, wie sich mein Selbst jeder in der Auflösung des Ichs und dennoch wer den Kopf gegen die Wand der sich von das Blut vermischte in der kjue wihjg lihew aiehtneithge wailkögawawe

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 31.01.2003

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BILD HILFT!


Mutti - Der Film

Mögen Sie Filme wie Im Himmel ist die Hölle los, Geierwally oder Pink Flamingos? Ja? Ich auch. Ein paar Bier, ein paar Freunde und dann die Oberschenkel aber richtig schön weich geklopft. Und sich am nächsten Tag am Zwerchfellmuskelkater ergötzen.
Was habe ich mich also auf Mutti – der Film, den letzten Film aus dem Dunstkreis der Teufelsberger, gefreut. Jenem Kreuzberger Tunten-Trash-Urgestein, das seit 1980 Berliner Bühnen und Filmleinwände unsicher machte mit Produktionen wie Drei Drachen vom Grill, Muttis Rache, Zyklopenuschi oder Edith Schröder – Eine deutsche Hausfrau. Unverwechselbar war ihr Stil zwischen Klamauk und politischen Stichelein, zwischen unvollkommener Improvisation und enthusiastischem Karaokegesang, zwischen Videokunst und Publikumsverarschung angesiedelt. Doch seit dem Tod von Olaf "Hotte" Wriedt, der leider kurz nach Beginn des neuen Milleniums verstarb, geht den Teufelsbergern um Ades Zabel bei den Bühnenshows mehr und mehr die Luft aus.
Dies macht sich leider auch bei diesem Low-Budget-Film bemerkbar. Sicher, Biggy van Blond ist ein wunderbarer Zugewinn für die Truppe, dennoch fehlt dem Ensemble ein präsentes männliches Gegengewicht; Gerd Thumser kann mit seinem furchtbaren Akzent jedenfalls nicht die proletarische Klasse eines Hotte auch nur annähernd erreichen. Ebenfalls vollkommen unterrepräsentiert waren die Zugpferde alter Tage wie Bob Schneider oder Petra Krause. Der in mehreren Rollen und unter mehreren Pseudonymen agierende Ades Zabel kann eben keinen Film nahezu allein unterhaltsam gestalten.
So hangelt man sich entlang der wenigen guten Szenen, die nur lose durch eine Handlung im Stile von "James Bond in Neukölln" miteinander verbunden sind. Leuten, die wissen wollen, warum die Teufelsberger früher mal charmant waren, empfehle ich die Quizshow; hier entfaltet sich der frühere anarchische Stil des Ensembles und die treffende, aber liebevolle Charakterisierung der proletarischen Underdogs wird deutlich. Der Rest ergeht sich in matten Dialogen, Selbstzitaten, location spotting (wer mir sagen kann, in welchem Lokal Mutti den schwulen Pornostar Jens Hammer aufreißt, bekommt von mir ein Freibier – aber nicht mehr am selbigen Ort, denn diese Kneipe hat inzwischen dichtgemacht. Aus Scham?) und den teilweise doch recht amüsanten Gastauftritten, wobei besonders Desiree Nick als Tresenschlampe zu gefallen wusste.
Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl zurück. Steckt hinter dem Niedergang der Teufelsberger mehr als nur das Auseinanderfallen einer eingespielten Truppe? In Zeiten, wo in jeder Seifenoper und jeder Nachmittagstalkshow die Geschlechtsidentitäten derart verrückt werden, dass eine angreifbare Normativität gar nicht mehr vorhanden zu sein scheint, stellt sich doch die Frage: Wer außer dem Katholischen Filmdienst braucht heute noch derartige schwule Untergrundkunst?

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 5.4.2003

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Dead men


19

Treffen sich zwei T-Shirts. Fragt das eine: "Happy?" Antwortet das andere: "It's better to 'burn out' than to fade away."

Angst vor dem Ausgebranntsein brauchen die Träger der beiden T-Shirts nicht zu haben. Denn Sinnleere prägt die Gesellschaft des modernen Japans, wie sie Kazushi Watanabe in seiner ersten Regiearbeit porträtiert.
Die Ziellosigkeit der Generation Slacker, deren Erscheinen auf der Leinwand ebenso wie das Wiederauftauchen des Gangsters im Film die Krise der Arbeitsgesellschaft symbolisiert, spiegelt 19 in der impulsiven Wahl der Reiseroute wider. Ein willkürlicher Start, kein Ziel, kein Plan, ein willkürliches Ende. Die Zeit der großen Ideen und Ideale ist vorbei, so mancher hat gar das Ende der Geschichte deswegen verkündet.
Erfahrbar bleibt die Beschleunigung der medialen Gesellschaft, die geschichtslos in einem Zustand des "rasenden Stillstands" (Paul Virilio) auf der Stelle tritt. Sehr treffend bringt dies der Film visuell auf den Punkt, in dem er eine rasend schnelle Videoästhetik verwendet, bei der wie in der Einsteinschen Relativitätstheorie die Bilder immer mehr zum Stehen kommen. Passend dazu löst sich das Bild immer grobkörniger auf, als gälte die Heisenbergsche Unschärferelation auch für die Filmproduktion. Und das Ganze sieht außerdem auch noch prächtig aus wie ein Bildband von Anton Corbijn.
Was bleibt an Werten in dieser Phase der Desorientierung? Der Aufstand der Dinge, die aus den Tempeln des Konsums befreit werden müssen. Dorthin, in die Sammelbilder der Waffeln, ist der Kampf Gut gegen Böse, der Kampf der Engel gegen die Teufel verbannt.

Am Ende überlebt nur eines der beiden eingangs erwähnten T-Shirts. "Happy?" Nein, Glück ist was anderes.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 20.01.2003

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Friedhof der Hoffnung?


Graveyard of Honour

Was habe ich mich damals über die Entdeckung von Japans neuem Regiestar Takashi Miike gefreut. Audition war eine aufregende Seherfahrung, ein Film, der unsere Rezeptionsgewohnheiten geschickt unterlaufen hat. Mit Visitor Q und Ichi, the killer hat mir Meister Miike uzumakische Spiralen ins Gehirn gedreht, faszinierend, obwohl kaum für mich entschlüsselbar.
Entsprechend groß war die Vorfreude, als ich die Ankündigung seines Remakes von Kinji Fukasakus Jingi no hakaba (Graveyard of Honor) zur Kenntnis nahm. Diese Erwartungshaltung schien anfangs auch nicht enttäuscht zu werden, trotz der etwas simplen Handlung.
Rikuo Ishimatsu sitzt im Gefängnis. Er überrumpelt den Wächter, doch statt zu fliehen, stürzt er sich vom Gefängnisturm in den Tod. In diesem Augenblick zieht seine Geschichte, der Aufstieg des ehemaligen Tellerwäschers zum Millionär und sein Niedergang zum Ausgestoßenen, an seinem inneren Auge vorbei.
Die Verbindung von persönlichem Schicksal und gesellschaftlicher Entwicklung, zwischen Yakuzawesen und der wirtschaftlichen Entwicklung Japans in den Neunzigern verknüpft Miike noch ganz passabel. Die Yakuzabanden werden dabei von ihm als Wolfsrudel charakterisiert, deren Alphatierchen sich anknurren, um ihre Territorien abzustecken.
Der Anlaß der tragischen Entwicklung ist schlüssig in dem Charakter Ishimatsus angelegt: Er, der sich sonst alles inklusive der Frauen nahm, was er wollte, bat seinen Boss um einen Gefallen und wurde abgewiesen. Wie sonst als mit Rache sollte ein Naturell wie Ishimatsu auf eine derartige Zurückweisung reagieren?
Merkwürdig unpassend, dennoch in sich stimmig, wirkt hingegen die Ausgestaltung des Films, der an die Gangsterfilme der frühen siebziger Jahre erinnert. Eine Referenz an das Vorbild Fukasaku oder nur eine uninspirierte Spielerei? Letzteres könnte man fast vermuten, wenn man sich die zum Ende hin struktur- und ziellos vor sich hintreibende Handlung vor Augen führt, die lustlos und unwitzig von Miike inszeniert wurde.
Sollte hier eine aufstrebende Regiehoffnung Japans dem Druck des Erfolges nicht standgehalten haben und an dem frühen Ruhm zerbrochen sein? Die Zukunft wird es zeigen; auf jeden Fall wage ich mit dem Hintergrund dieser Filmerfahrung gar nicht so recht, mich Miikes Remake Katakuri-ke no kôfuku zu stellen. Zum einen, weil dies einer von sieben (sic!) Miikefilmen aus dem Kubrickjahr 2001 ist, zum anderen, weil das koreanische Original Choyonghan kajok (The Quiet Family) kaum einer Verbesserung bedurfte.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 30.01.2003

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Wen nennst Du hier einen Loser?


8 mile

...und dann sitz ich also wieder mal im Kino, wie so viele Male schon, und ich denke mir "Ach du Scheiße, was soll das nur wieder werden", denn eine Reihe weiter vorne sitzt genau die Art Minimacker, die ich in so einem Film erwartet habe. Doch bevor ich es mir anders überlegen könnte, geht schon im Saal das Licht aus und ich grins meine Freunde an, denn die ersten Takte Musik zwingen die Eminemcovergroup vor mir zum rhythmischen Kopfnicken und seltsamen Armwedelbewegungen. Und dann passiert dennoch das Unglaubliche, weswegen man trotz aller Enttäuschungen sich immer wieder in das Dunkel der Lichtspielhäuser flüchtet, einer Amöbe gleich, die auf die Nahrung zukriecht, ich habe das seltene Glück, dass ich für zwei Stunden in eine fremde Welt gesaugt werde, in die Welt der Sinnleere und der Langeweile, in die Welt der Trailerparks, die den Ausgeschiedenen der amerikanischen Gesellschaft eine Heimstatt bieten, in die Welt der Clans und Gangs, die nur mühsam ihre aufgestaute Wut darüber, dass sie im Leben zu kurz kommen, in Rhymebattles kanalisieren können – oder manchmal eben auch nicht. In die Welt des white trash, vergessen von der amerikanischen Öffentlichkeit, weil sie an das unerfüllte Glücksversprechen gemahnen und zeigen, dass es nicht so weit her ist mit dem großspurigen Rumgetöne von Clinton und Bush. Und ich denke bei mir, dass dies dennoch genau das Amerika ist, dem ich in Hassliebe verbunden bin. Ja, schießt doch auf diese arroganten Cops mit ihren beschissenen Sonnenbrillen! Ja, ich kenne dieses Haus, ich möchte es niederbrennen und dazu Lieder von der Bloodhound Gang grölen! Und dann stehen mir vor Freude Tränen in den Augen, denn ich bin überwältigt von dieser Wahrhaftigkeit des Filmes, der das Einfache, das schwer zu machen ist, schafft: Bigger than life zu sein. Aber nicht die falsch verstande Art, die durch noch mehr Spezialeffekte und noch rasantere Kamerafahrten die Sinne betäuben will, damit man nicht mehr zum Nachdenken kommt, nein, meine Art Bigger than life, ein glaubhaftes Abbild des ungeschönten Lebens, von den Nichtigkeiten befreit, so daß man auf den Grund der Dinge sehen kann.

Ein Kondensat der Realität.

Und dann sind die zwei Stunden auch schon um und die Minimacker versuchen durch Extremyo!ing Aufmerksamkeit zu erhaschen und sie, dieser white trash aus good cold Germany, haben nicht einmal gemerkt, dass der Film von ihrem hoffnungslosen Bemühen um Anerkennung handelt. Und wie ich das Kino verlasse, denke ich an Rabbits Frage, wer denn hier der Loser sei, und ich antworte, wir alle, Rabbit, wir alle, aber der eisige Wind draußen bläst mir die Gedanken weg, hoffentlich ist wenigstens die Bude warm...

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 10.01.2003

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Kulinarik für Fortgeschrittene


Tampopo

"Jede Nahrung ist ein Symbol."
Jean-Paul Sartre

Ein Film über eine Frau auf der Suche nach dem perfekten Nudelsuppenrezept. Ein Film aus den achtziger Jahren. Aus Japan.
Kann man sich etwas Langweiligeres vorstellen?

Falsche Frage, meine Lieben, wenn man den Satz vom Kopf auf die Füße stellt, muß sie heißen: Kann man sich etwas Spannenderes vorstellen? Wobei ich gar nicht entscheiden kann, ob ich Juzo Itamis Film mehr für seinen Beitrag zur Soziologie des Essens oder für seine Genrehuldigungen loben soll.

Essen erscheint uns als ein natürlicher Akt. Weil Menschen, wie alle biologischen Organismen, einen Stoffwechsel haben und ohne eine tägliche Nahrungszufuhr Leben kaum vorstellbar ist, denkt man gewöhnlicherweise, dass Essen eine simple biologische Funktion ist. Ein Blick über den Tellerrand hinaus zeigt aber, dass es alles andere als naturgegeben ist, wie man wann welche Nahrungsmittel zu sich nimmt. Ob Currywurst oder Frühlingsrolle, Sonntagsbraten oder Tütensuppe, Suppenküche oder Festbankett, unsere Essgewohnheiten sagen mehr über unser soziales Leben aus als über unseren persönlichen Geschmack.

Essen ist zuallererst sinnliche Erfahrung. Nicht nur mit dem Gaumen, nicht nur "Das Auge isst mit", nein, mit allen Sinnen genießen, heißt die Devise, wobei Tampopo früher als der bekanntere Softporno Nine 1/2 Weeks die Brücke zur Sexualität schlägt.
Essen strukturiert unser Leben, wie es uns in Tampopo am Beispiel einer sterbenden Frau demonstriert wird. Wer schon mal am Samstag fünf Minuten nach zwölf zum Mittagessen bei Oma aufgekreuzt ist, weiß zu welchen Verwerfungen solche Strukturen in autoritären Gesellschaften führen können.
Essen ist Kommunikationsgrundlage. Sei es der gemeinsame Gang zum Mittagessen in die Kantine, das Frühstück in der WG, das Familienfest oder das Geschäftsessen, die gemeinsame Mahlzeit dient auch der Stärkung der sozialen Bindungen.
Essen ist soziales Distinktionsmittel. Festgelage sind auch immer soziale Abgrenzungsrituale zur Unterschicht, wobei die feinen Sitten zusätzlich eine Demarkation darstellten. Der Unterschied zwischen Rubens' Schönheitsideal und Kate Moss ist ein deutliches Zeichen, dass Ernährung auch zur Definition der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen dient.
Essen ist Ideologie. Wer kennt nicht die unsinnigen Diskussionen mit Hardcorevegetariern. Da geht es gleich ums große Ganze, den Verfall der Humanität und die Weltverbesserung im Allgemeinen. Sehr humorvoll ist diese Thematik in Tampopo umgesetzt, in der ein kleiner Junge die Verbohrtheit seiner Eltern ausbaden muß.

All diese Themen bearbeitet der Film, ist aber gleichzeitig eine Tour de force durch die Filmgeschichte. Tampopo ist Western und Buddy Movie, Truckerfilm und sozialistischer Erbauungsstreifen, Stummfilmszenen a la Charlie Chaplin wechseln sich mit Nouvelle Vague Zitaten ab, Der Pate trifft auf Fame und Fellinis Faces gibt es auch in Japan. Dies alles ist sehr harmonisch in die Haupthandlung eingebunden, gleichzeitig liebevolles und ironisches Zitat.
Nur manchmal wird der Filmfluß gestört, weil von Tampopos Rezeptsuche ausgehend eine Reihe von Nebenhandlungen abzweigen, die dann leider nur durch einen Bruch wieder zur Haupthandlung zurückgeführt werden können.

Dennoch ist der Film ein opulentes Büffet von Ideen, an dessen Reichhaltigkeit man sich berauschen kann. Bleibt nur zu hoffen, dass ihr vor dem Filmgenuß gut gegessen habt, denn Tampopo macht hungrig. Diesmal im wörtlichen Sinne.

Zuerst veröffentlicht am 24.11.2002 auf kino.de

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