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Ornament & Verbrechen Redux

There is no charge for awesomeness. Or beauty.




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Warum lief Frau K. Amok?



Scherbentanz

Unsere Kindheitserlebnisse prägen unser weiteres Leben. Als geschönte Erinnerung stellen sie uns das Paradies in Aussicht, sie verteilen Sym- und Antipathien an die Personen unseres Umfeldes und bereiten den Boden, auf dem die Neurosen blühen. Um unerträgliche familiäre Forderungen zu bewältigen, können wir unsere Bedürfnisse unterdrücken und uns dadurch anpassen, uns der Auseinandersetzung mit der Familie stellen oder die Flucht nach vorne antreten und die Kontakte auf das notwendige Minimum beschränken.
Die letzte Variante hat auch Jesko, die von Jürgen Vogel verkörperte Hauptfigur von Scherbentanz, gewählt, indem er sich von seiner zerrütteten bürgerlichen Sippschaft losgesagt hat, um seinen Traum von einem selbstbestimmten Leben als Modedesigner zu verfolgen. Doch da er an Leukämie erkrankt ist, wird auf der Suche nach einem geeigneten Knochenmarkspender seine verstoßene Mutter Käthe (Margit Carstensen) wieder von Vater und Bruder heimgeholt und Jesko unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf den familiären Landsitz gelockt.
Geschickt entfaltet Romanautor Chris Kraus in seiner Erstlingsregie vor uns eine konfliktträchtige Familiengeschichte. Die Verwirrung der Mutter, die uns erst als Monster erscheint, wird durch verschiedene Rückblenden verständlich. Wir erfahren die Ursachen für ihr Scheitern: die emotionale Ausbeutung der Frauen durch die männlichen Familienmitglieder, der Betrug des Ehemannes als anmaßendes Herrschaftsinstrument über seinen Besitzstand "Weib", die politische Verwurzelung des Industriellenclans in ferner und näherer Vergangenheit. Die daraus resultierende pathologische Verstrickung der Familienmitglieder ist stringent durch Charakter und Biographie der Protagonisten motiviert, auch gefielen mir die gesellschaftskritischen Konnotationen. Zwar kann Kraus noch nicht an die stilistische Dichte, die verletzende Scharfzüngigkeit und das Abstraktionsvermögen des Übervaters Fassbinder heranreichen, aber die Potentiale dieses neu aufgetauchten Filmkünstlers lassen für die Zukunft Gutes erwarten.
Der Star des Films ist natürlich Margit Carstensen, locker spielt sie Vogel & Co. an die Wand. Seit ich sie in Die bitteren Tränen der Petra von Kant gesehen habe, bin ich von ihrer Schauspielkunst überzeugt; in Scherbentanz übertrifft sie sich selbst und braucht sich im Grad ihrer Selbstaufgabe nicht hinter Ellen Burstyns Leistung in Requiem for a dream zu verstecken. Wie sie kameravergessen die Milch blubbern lässt, die Blumen niedermetzelt und die anwesenden Familienmitglieder verstörend mit der Vergangenheit konfrontiert, muss man gesehen haben.
Leider merkt man dem Film aber immer wieder an, dass der Regisseur Schriftsteller ist. Die Handlung ist fein konstruiert, aber Kraus ist leider nicht Herr über seine Bilder. Damit meine ich nicht kleine Fehler, die meinen Filmgenuß störten: wenn 200 Gäste angekündigt sind, dann sollte auch für ebenso viele der Tisch gedeckt sein; eine Krankenschwester sollte schon wissen, wo man den Puls im Notfall fühlt; ein Klavier auf der Terrasse sollte auch nicht nach einer Besenkammer klingen.
Nein, die Kamera läuft leider ununterbrochen Amok und schubst den Betrachter fortwährend aus der Geschichte. Da wird gebebt, was die nach oben offene Richterskala hergibt, ständig hat man das Gefühl, es müssten alle in Matrosenuniformen auftreten, weil man sich auf einem Hochseeschiff im Orkan wähnt. Der Bildausschnitt wird ständig unmotiviert von Objekten verstellt und für eine Kamera mit Schärferegler hat das Geld auch nicht gereicht. Für die nächste Arbeit des Regisseurs wünsche ich ihm ein glücklicheres Händchen bei der Wahl der Kamerafrau. Oder sollte dieses visuelle Desaster gar von ihm als Stilmittel intendiert gewesen sein? In diesem Fall würde ich es doch vorziehen, wenn Chris Kraus in Zukunft wieder das macht, was er kann: detailtreue Geschichten erzählen, die einem die eigenen Kindheitserinnerungen erklären.
Andernfalls bin ich auf seinen nächsten Film gespannt.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 10.11.2002

kino.de