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Ornament & Verbrechen Redux

There is no charge for awesomeness. Or beauty.




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Kulinarik für Fortgeschrittene



Tampopo

"Jede Nahrung ist ein Symbol."
Jean-Paul Sartre

Ein Film über eine Frau auf der Suche nach dem perfekten Nudelsuppenrezept. Ein Film aus den achtziger Jahren. Aus Japan.
Kann man sich etwas Langweiligeres vorstellen?

Falsche Frage, meine Lieben, wenn man den Satz vom Kopf auf die Füße stellt, muß sie heißen: Kann man sich etwas Spannenderes vorstellen? Wobei ich gar nicht entscheiden kann, ob ich Juzo Itamis Film mehr für seinen Beitrag zur Soziologie des Essens oder für seine Genrehuldigungen loben soll.

Essen erscheint uns als ein natürlicher Akt. Weil Menschen, wie alle biologischen Organismen, einen Stoffwechsel haben und ohne eine tägliche Nahrungszufuhr Leben kaum vorstellbar ist, denkt man gewöhnlicherweise, dass Essen eine simple biologische Funktion ist. Ein Blick über den Tellerrand hinaus zeigt aber, dass es alles andere als naturgegeben ist, wie man wann welche Nahrungsmittel zu sich nimmt. Ob Currywurst oder Frühlingsrolle, Sonntagsbraten oder Tütensuppe, Suppenküche oder Festbankett, unsere Essgewohnheiten sagen mehr über unser soziales Leben aus als über unseren persönlichen Geschmack.

Essen ist zuallererst sinnliche Erfahrung. Nicht nur mit dem Gaumen, nicht nur "Das Auge isst mit", nein, mit allen Sinnen genießen, heißt die Devise, wobei Tampopo früher als der bekanntere Softporno Nine 1/2 Weeks die Brücke zur Sexualität schlägt.
Essen strukturiert unser Leben, wie es uns in Tampopo am Beispiel einer sterbenden Frau demonstriert wird. Wer schon mal am Samstag fünf Minuten nach zwölf zum Mittagessen bei Oma aufgekreuzt ist, weiß zu welchen Verwerfungen solche Strukturen in autoritären Gesellschaften führen können.
Essen ist Kommunikationsgrundlage. Sei es der gemeinsame Gang zum Mittagessen in die Kantine, das Frühstück in der WG, das Familienfest oder das Geschäftsessen, die gemeinsame Mahlzeit dient auch der Stärkung der sozialen Bindungen.
Essen ist soziales Distinktionsmittel. Festgelage sind auch immer soziale Abgrenzungsrituale zur Unterschicht, wobei die feinen Sitten zusätzlich eine Demarkation darstellten. Der Unterschied zwischen Rubens' Schönheitsideal und Kate Moss ist ein deutliches Zeichen, dass Ernährung auch zur Definition der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen dient.
Essen ist Ideologie. Wer kennt nicht die unsinnigen Diskussionen mit Hardcorevegetariern. Da geht es gleich ums große Ganze, den Verfall der Humanität und die Weltverbesserung im Allgemeinen. Sehr humorvoll ist diese Thematik in Tampopo umgesetzt, in der ein kleiner Junge die Verbohrtheit seiner Eltern ausbaden muß.

All diese Themen bearbeitet der Film, ist aber gleichzeitig eine Tour de force durch die Filmgeschichte. Tampopo ist Western und Buddy Movie, Truckerfilm und sozialistischer Erbauungsstreifen, Stummfilmszenen a la Charlie Chaplin wechseln sich mit Nouvelle Vague Zitaten ab, Der Pate trifft auf Fame und Fellinis Faces gibt es auch in Japan. Dies alles ist sehr harmonisch in die Haupthandlung eingebunden, gleichzeitig liebevolles und ironisches Zitat.
Nur manchmal wird der Filmfluß gestört, weil von Tampopos Rezeptsuche ausgehend eine Reihe von Nebenhandlungen abzweigen, die dann leider nur durch einen Bruch wieder zur Haupthandlung zurückgeführt werden können.

Dennoch ist der Film ein opulentes Büffet von Ideen, an dessen Reichhaltigkeit man sich berauschen kann. Bleibt nur zu hoffen, dass ihr vor dem Filmgenuß gut gegessen habt, denn Tampopo macht hungrig. Diesmal im wörtlichen Sinne.

Zuerst veröffentlicht am 24.11.2002 auf kino.de

kino.de