After life
An jenem Ort war der Tod nicht das unwiderrufliche Ende des Lebens, sondern nur eines von vielen Elementen, die das Leben ausmachten.
Haruki Murakami "Naokos Lächeln"
I
Das leise Knarren der Planken muss mich getäuscht haben. Vielleicht war es auch das gedämpfte Knattern des Besanmastsegels, das sich immer leicht im Wind wiegt. Manchmal macht auch das Wasser, das gegen den Bug schlägt, so ein Geräusch.
Natürlich kommt niemand aus dem Unterdeck. Es wäre auch ein Wunder. Ich habe das Schiff schon bis in den letzten Winkel durchsucht. Mehrmals. Ohne auch nur die Spur eines anderen Menschen zu finden.
Ich drehe mich wieder nach vorn und die Sonne sticht mir in die Augen. Ich kneife sie zusammen, aber das Bild wird dadurch nicht schärfer. Es ist auch nicht wichtig für mich, besser sehen zu können, was mich umgibt. So weit ich mich zurückerinnern kann, war es immer dasselbe: das träge schaukelnde Schiff, die gleißende Sonne, das endlose Meer. Nie kam etwas dazu, nie änderte sich ein Detail.
Dennoch presse ich die Augenlider zu winzigen Schlitzen zusammen, in der irrationalen Hoffnung, irgendeinen neuen Anhaltspunkt zu finden. Einen Anhaltspunkt, warum ich hier bin. Einen Anhaltspunkt, wie ich hierher kam.
Etwas mehr jedenfalls als diese eine Erinnerung, die mir immer wieder im Traum so real erscheint. Es ist immer derselbe. Vielleicht sollte ich mich hinlegen und schlafen. Die Sonne brennt so heiß, dass ich schon wieder müde bin.
Matt lege ich mein Gesicht auf das wettergebleichte Holz, den Schlaf erwartend. In der vagen Hoffnung, dass mir ein Traum erklärt, was ich hier auf diesem Schiff mache. Mit leisem Surren nähert sich der Schlaf. Gleich werde ich erfahren, wonach ich schon so lange suche.
Endlich.
II
Ein heruntergekommenes Bürogebäude, es mag eine Meldestelle sein oder irgendein anderes Amt. Man sieht Menschen, die sich beim Pförtner dieser Einrichtung anmelden; Büroangestellte, die die ankommenden Menschen zur Abfertigung aufteilen; einen Bürochef, der seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen anspornt.
Doch in Kore-eda Hirokazus Film After life handelt es sich bei dem Büro weder um eine Polizeidienststelle noch um ein Arbeitsamt. Nein, hier werden die Verstorbenen auf ihren Übergang ins Jenseits vorbereitet – innerhalb einer Woche müssen sie ihre bedeutsamste Erinnerung benennen, die anhand ihrer Anweisungen als kurzer Videofilm nachgestellt wird.
Gänzlich unprätentiös, ohne esoterisches Geschwurbel, ohne philosophische Ergüsse über den Seelenzustand nach dem Tod nähert sich der Film dem Thema Tod und Sterben ganz im Sinne der diesseitig orientierten Religion Shintoismus. Aus einer ungewöhnlichen Perspektive werden Menschenschicksale beleuchtet, bis auch das uninteressanteste Leben von innen zu strahlen beginnt. In langen, unbewegten Einstellungen, doch umso mehr bewegend werden große Fragen der Menschheit behandelt: nach der Verantwortung fürs eigene Leben, nach dem Faustschen Glücksmoment, nach der Wichtigkeit unserer Erinnerung für uns und unsere Mitmenschen. Gerade dieser letzte Aspekt hat im Film enormes Gewicht, weil für den Regisseur das Verblassen der Identität des an Alzheimer erkrankten Großvaters kindheitsprägend war.
Zugleich ist der Film eine großartige Liebeserklärung an das Filmemachen und die Magie des Kinos. Kunstschweiß, Kulissenzimmer, Wattewolken an Zugseilen – Requisiten einer verloren wirkenden Realitätssimulation. Und doch ist es unglaublich anrührend zuzuschauen, wie die Verstorbenen ihre Erinnerungen noch einmal durch den Film erleben. Nicht als passive Konsumenten, sondern als aktiv Gestaltende.
Trotz des überflüssigen doppelten Endes, das den Erzählfluss dieses Films, der gleichermaßen der Trauer und der Lebensfreude Raum gibt, etwas zerstört, wünscht man sich, dass das hypnotische Rattern des Vorführapparates nicht verstummen möge.
III
Das Surren verendet in einem zarten Klicken.
Erschöpft und von der Flut des Sonnenlichts geblendet, richte ich mich auf. Ich schaue mich um und mit einsetzendem Bewusstsein sacke ich enttäuscht zusammen.
Es war wieder derselbe Traum. Es ist Herbst, wie man an den Blättern unschwer erkennen kann. Ich sitze allein auf einer Parkbank. Mich beschleicht ein dumpfes Gefühl, dass neben mir eine Frau sitzen müsste, aber wenn ich den Blick zur Seite wende, sehe ich niemanden. Nichts passiert, nur ein paar Blätter schweben zeitlupenartig zu Boden.
Ein Geräusch schreckt mich aus den Gedanken. Hinter mir höre ich ein leises Knarren, als ob sich eine Holztür in rostigen Angeln bewegt. Vielleicht war doch jemand im Unterdeck, jemand der mich aufklären kann, was ich hier auf diesem Schiff mache.
Ich werde mich jetzt umdrehen, ihm wortlos zuhören und alles wird mir klar werden.
Endlich.
Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 21.04.2003
kino.de
An jenem Ort war der Tod nicht das unwiderrufliche Ende des Lebens, sondern nur eines von vielen Elementen, die das Leben ausmachten.
Haruki Murakami "Naokos Lächeln"
I
Das leise Knarren der Planken muss mich getäuscht haben. Vielleicht war es auch das gedämpfte Knattern des Besanmastsegels, das sich immer leicht im Wind wiegt. Manchmal macht auch das Wasser, das gegen den Bug schlägt, so ein Geräusch.
Natürlich kommt niemand aus dem Unterdeck. Es wäre auch ein Wunder. Ich habe das Schiff schon bis in den letzten Winkel durchsucht. Mehrmals. Ohne auch nur die Spur eines anderen Menschen zu finden.
Ich drehe mich wieder nach vorn und die Sonne sticht mir in die Augen. Ich kneife sie zusammen, aber das Bild wird dadurch nicht schärfer. Es ist auch nicht wichtig für mich, besser sehen zu können, was mich umgibt. So weit ich mich zurückerinnern kann, war es immer dasselbe: das träge schaukelnde Schiff, die gleißende Sonne, das endlose Meer. Nie kam etwas dazu, nie änderte sich ein Detail.
Dennoch presse ich die Augenlider zu winzigen Schlitzen zusammen, in der irrationalen Hoffnung, irgendeinen neuen Anhaltspunkt zu finden. Einen Anhaltspunkt, warum ich hier bin. Einen Anhaltspunkt, wie ich hierher kam.
Etwas mehr jedenfalls als diese eine Erinnerung, die mir immer wieder im Traum so real erscheint. Es ist immer derselbe. Vielleicht sollte ich mich hinlegen und schlafen. Die Sonne brennt so heiß, dass ich schon wieder müde bin.
Matt lege ich mein Gesicht auf das wettergebleichte Holz, den Schlaf erwartend. In der vagen Hoffnung, dass mir ein Traum erklärt, was ich hier auf diesem Schiff mache. Mit leisem Surren nähert sich der Schlaf. Gleich werde ich erfahren, wonach ich schon so lange suche.
Endlich.
II
Ein heruntergekommenes Bürogebäude, es mag eine Meldestelle sein oder irgendein anderes Amt. Man sieht Menschen, die sich beim Pförtner dieser Einrichtung anmelden; Büroangestellte, die die ankommenden Menschen zur Abfertigung aufteilen; einen Bürochef, der seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen anspornt.
Doch in Kore-eda Hirokazus Film After life handelt es sich bei dem Büro weder um eine Polizeidienststelle noch um ein Arbeitsamt. Nein, hier werden die Verstorbenen auf ihren Übergang ins Jenseits vorbereitet – innerhalb einer Woche müssen sie ihre bedeutsamste Erinnerung benennen, die anhand ihrer Anweisungen als kurzer Videofilm nachgestellt wird.
Gänzlich unprätentiös, ohne esoterisches Geschwurbel, ohne philosophische Ergüsse über den Seelenzustand nach dem Tod nähert sich der Film dem Thema Tod und Sterben ganz im Sinne der diesseitig orientierten Religion Shintoismus. Aus einer ungewöhnlichen Perspektive werden Menschenschicksale beleuchtet, bis auch das uninteressanteste Leben von innen zu strahlen beginnt. In langen, unbewegten Einstellungen, doch umso mehr bewegend werden große Fragen der Menschheit behandelt: nach der Verantwortung fürs eigene Leben, nach dem Faustschen Glücksmoment, nach der Wichtigkeit unserer Erinnerung für uns und unsere Mitmenschen. Gerade dieser letzte Aspekt hat im Film enormes Gewicht, weil für den Regisseur das Verblassen der Identität des an Alzheimer erkrankten Großvaters kindheitsprägend war.
Zugleich ist der Film eine großartige Liebeserklärung an das Filmemachen und die Magie des Kinos. Kunstschweiß, Kulissenzimmer, Wattewolken an Zugseilen – Requisiten einer verloren wirkenden Realitätssimulation. Und doch ist es unglaublich anrührend zuzuschauen, wie die Verstorbenen ihre Erinnerungen noch einmal durch den Film erleben. Nicht als passive Konsumenten, sondern als aktiv Gestaltende.
Trotz des überflüssigen doppelten Endes, das den Erzählfluss dieses Films, der gleichermaßen der Trauer und der Lebensfreude Raum gibt, etwas zerstört, wünscht man sich, dass das hypnotische Rattern des Vorführapparates nicht verstummen möge.
III
Das Surren verendet in einem zarten Klicken.
Erschöpft und von der Flut des Sonnenlichts geblendet, richte ich mich auf. Ich schaue mich um und mit einsetzendem Bewusstsein sacke ich enttäuscht zusammen.
Es war wieder derselbe Traum. Es ist Herbst, wie man an den Blättern unschwer erkennen kann. Ich sitze allein auf einer Parkbank. Mich beschleicht ein dumpfes Gefühl, dass neben mir eine Frau sitzen müsste, aber wenn ich den Blick zur Seite wende, sehe ich niemanden. Nichts passiert, nur ein paar Blätter schweben zeitlupenartig zu Boden.
Ein Geräusch schreckt mich aus den Gedanken. Hinter mir höre ich ein leises Knarren, als ob sich eine Holztür in rostigen Angeln bewegt. Vielleicht war doch jemand im Unterdeck, jemand der mich aufklären kann, was ich hier auf diesem Schiff mache.
Ich werde mich jetzt umdrehen, ihm wortlos zuhören und alles wird mir klar werden.
Endlich.
Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 21.04.2003
kino.de
Von After Life weiß ich auch noch, daß mir die Idee gefiel, daß die Leute in diesem jenseitigen Amt gerade diejenigen waren, die sich selbst nicht für eine bestimmte Erinnerung hatten entscheiden können.