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Gernguckers Filmtagebuch


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Sommer '12


Meine letzten FTB-Einträge liegen schon eine Weile zurück und waren zudem auch noch lückenhaft.
Viele Filme gäbe es also nachzutragen, allein es fehlt mir die Motivation, denn nicht wenige versanken recht bald nach dem Sehen im nebulösen Einerlei.

Deshalb hier nur eine kurze Nennung von Titeln, die sich in Erinnerung zu setzen vermochten.

Da war zu meiner großen Überraschung Godards “Film Socialisme” darunter, eine herausfordernde experimentelle Odyssee (nein: weder stand der Cutter unter Drogen noch war der Ton im Kino falsch eingestellt). Diese recht fruchtbare Begegnung mit dem mir sonst so schwer liegenden Godard beflügelte mich zur Sichtung einiger weiterer seiner Filme, darunter der sehr schöne “Die Verachtung”, die sich aber wieder in Luft auflöste, als ich neuerlich auf den nervigen “Weekend” traf.

Sehr stimmig fand ich das Mennoiten-Kleinod “Small Town Murder Songs”, ein ganz wunderbares Kleinstadt-Krimidrama, das auf starken Figuren aufbaut. Artverwandt und ebenso überzeugend, im Vergleich etwas leichter und spielfreudiger war “Who killed Marylin?”, der in der französischen Provinz angesiedelt ist. In beiden Fällen wird aus dem Fund einer toten jungen Frau eine Geschichte heraus entwickelt, die Ermittler sind absolut starke Protagonisten ihrer Filme (kaum wiederzuerkennen Peter Stormare, ein toller Auftritt von Jean-Paul Rouve).

Während eines kleinen Festivals sah ich meinen ersten Film von Dario Argento: “Suspiria”. Ich bin eigentlich gar kein allzu großer Fan von Genrekino, aber die Wucht der Inszenierung von “Suspiria” in Verbindung mit dieser großartigen Gänsehaut-Musik wusste mich tatsächlich stark zu begeistern.

Julie Delpy muss in diesem Sommer zwingend erwähnt werden, die mit “2 Tage New York” erneut auf den Spuren von Woody Allen wandelte und schließlich mit “Le Skylab” ein schönes, im positiven Sinne unübersichtliches und an den Rändern ausgefranstes Familientreffen inszenierte.

“We need to talk about Kevin” gefiel mir als intensives Familiendrama sehr gut, das sowohl durch seine Geschichte, Inszenierung und Figuren überzeugt und herausfordert. Schwere Kost aber verdammt gut.


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Filmfest München 2012


Kurznotizen zum Filmfest München 2012

Die diesjährige Filmfestausgabe bot mir die Gelegenheit, endlich “Terraferma” (Emanuele Crialese; Italien) zu sehen - eine auf den Ebenen Familie und Gesellschaft funktionierende bewegende Geschichte, die Crialese wieder zu ganz großem Kino geformt hat. “Terraferma” und “La Pirogue” (Moussa Toure; Senegal etc.) bildeten eine thematische Einheit. Beide Filme behandeln die Flüchtlingsproblematik zwischen Afrika und Europa, ein globales Problem, das derzeit keine Lösung kennt. Während “La Pirogue” aus afrikanischer Sicht sich mit seinen ausweglosen Figuren in ein kleines Fischerboot und auf den aufreibenden Seeweg nach Europa wagt, mit ihnen hofft und bangt, lässt Crialese an der südlichen Grenze Europas ebensolche Flüchtlinge auf mittellose italienische Fischer treffen, die verunsichert zwischen den Gesetzen der Regierung und den alten Gesetzen der Seefahrt stehen. In einer Zeit, als die Fischerboote nicht mehr das Leben ihrer Besitzer sichern können, als Ausweg nur noch der Tourismus auf der Insel verbleibt, müssen die Menschen dort nach einem neuen Platz für sich suchen, einen neuen Aufbruch wagen und sich vielleicht noch ein letztes Mal auf das Alte besinnen – ihr Boot, das beim Wechsel der Perspektive nicht mehr als eine Nußschale im Meer ist. Letzteres vereint wieder beide doch recht unterschiedliche Filme. Während “La Pirogue” am Ende den Hauptpreis des Festivals gewann, wurde “Terraferma” zu meinem persönlichen Favoriten.

Das südamerikanische Kino war traditionell stark vertreten, in diesem Jahr tat sich besonders Brasilien hervor. Den stärksten Eindruck hinterließ zweifelslos “Southwest - Sudoeste” (Eduardo Nunes; Brasilien) mit seinem extrem breiten Schwarzweiß-Format (etwa 3,5:1), das in bedächtig langsamen Einstellungen innerhalb eines Tagesverlaufes eine so rätselhafte wie märchenhafte Geschichte über die Wiedergeburt einer Frau und ihrem neuen Lebenszyklus im Zeitraffer erzählt. Auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene vollziehen sich Kreisläufe. “Southwest” ist ästhetisch sehr bewusstes Kino mit einer ausgezeichneten Kameraarbeit und Ton, das einen poetischen, nicht erklärbaren Schwebezustand im Nirgendwo absolut beeindruckend einfängt.
“Rat Fever - Febre Do Rato” (Claudio Assis; Brasilien) setzt ebenfalls auf eine selbstbewusste (schwarzweiße) Filmgestaltung, geht allerdings einen anderen Weg und erschafft ein vitales, impulsives, ungezügeltes Stück Kino, das sich ebenso gegen gängige Sehgewohnheiten aufbäumt, wie seine Protagonisten gegen den Gleichlauf der Gesellschaft rebellieren. “Rat Fever” ist das Porträt einer Gruppe junger Menschen, die ziellos in den Tag leben und ihre Freiheiten ohne Tabus auf Partys, mit kraftvoller Musik, Alkohol, hemmungslosem Sex etc. genießen. Ihr Anführer ist Rebell, Anarchist und Poet zugleich, der seinen Zorn gegen die Gesellschaft laut herausschreit.
“Rat Fever” ist in Recife angesiedelt, wie auch “Neighbouring Sounds - O Som Ao Redor” (Kleber Mendonca Filho; Brasilien). Letzterer spielt noch stärker mit der Architektur der Hafenmetropole, konzentriert sich auf ein Villenviertel der Stadt, das bedrohlich von Hochhäusern umgeben ist, die sich immer weiter in die Reihen der alten Häuser hineinfressen, so wie auch zunehmende Kleinkriminalität das Viertel bedroht. “Neighbouring Sounds” vernetzt die Bewohner in derem Alltag und setzt besonders eingangs stark auf eine Geräuschkulisse des Viertels, die jedoch später leider ein wenig an Bedeutung verliert.
“Der Wirbel - Girimunho” (Helvecio Marins jr. & Clarissa Campolina; Brasilien etc.) wechselt den Ort, geht von der bevölkerten Atlantikküste ins provinzielle Sertao. Die Filmemacher recherchierten lange, dokumentierten Orte und Menschen und erschufen daraus ein Spielfilmdrehbuch, in dem eine alte Frau nun ihre eigene Geschichte nachspielt. Im Endeffekt ist “Der Wirbel” deshalb ein halbdokumentarisches Porträt eines Landstriches, in dem eine alte Frau lebt, die nach dem Tod ihres Mannes von gespenstischen Visionen heimgesucht wird. Die Handlungsebene ist stark reduziert und der Film für mich recht ermüdend gewesen.

Ein weiteres Highlight des Filmfestes war für mich die Begegnung mit dem tschechischen Animationsfilm “Alois Nebel” (Tomas Lunak; Tschechien etc.). Als Vorlage diente die Graphic Novel von Jaroslav Rudis und Jaromir Svejdik, die zunächst als Realfilm gedreht und anschließend per Rotoskopieverfahren in eine schwarzweiße, mit wenigen Graustufen arbeitende Animation übersetzt wurde. Dadurch wirken die Bewegungen der Figuren verblüffend realistisch, die Schauspieler sind im Comic noch charakteristisch erkennbar und einige Texturen scheinen offensichtlich noch “real” zu sein. Dieser Film trotzte mir große Bewunderung über die formale Gestaltung ab. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen hinweg vom Verarbeiten menschlicher Erinnerungen.
Auch “Future Lasts Forever - Gelecek Uzun Sürer” (Özcan Alper; Türkei) behandelt Erinnerungen und die Aufarbeitung von Vergangenem, lässt eine Musikwissenschaftlerin aus Istanbul auf der Suche nach ihrem verschollenen Freund ins kurdische Gebiet aufbrechen, um dort ein Zeitzeugnis über die Vertreibung der Kurden zu schaffen. Özcan Alper integriert mehrere filmische Referenzen und kombiniert einen Wim Wenders’schen Sinnsucher beim Aufspüren von Wahrheiten mit einem berührenden Klagegesang, wie Theo Angelopoulos ihn in seine Filme integrierte. Die Hommage an diese beiden Filmemacher, welche ich beide sehr schätze, waren für mich natürlich ein absoluter Glücksumstand.
Ein weiteres Beispiel für historische Aufarbeitung im Film ist “Verwundete Erde - La Terre Outragee” (Michale Boganim; Frankreich etc.), der sich mit der Katastrophe von Tschernobyl beschäftigt. Wie schon in (dem weniger geglückten) “An einem Samstag” wird das Atomunglück von 1986 weder rekonstruiert, erklärt oder gewertet, sondern über persönliche Schicksale der dort lebenden Menschen reflektiert, die anfangs gar nicht wissen, was gerade passiert und welche Folgen die Katastrophe für sie bedeutet. Boganim erzählt recht stimmig und aufrichtig drei miteinander verflochtene Einzelgeschichten und begleitet ihre Figuren über mehrere Jahre hinweg, erzählt von Ängsten, Unwissen, Hoffnung und stummer Ergebenheit.
“Resistance” (Amit Gupta; UK) will eine bewegende Geschichte erzählen, in der sich in einem harten Kriegswinter die feindlichen Soldaten mit den Bewohnern des von ihnen besetzten Landes gegen weiteres sinnloses Töten verbünden. Und damit liegt schon der größte Haken des Filmes in seiner Vorlage. Denn das Buch bemüht eine historische Fiktion, in der 1944 die deutsche Wehrmacht England eingenommen hat. Warum diese selbstzerstörerische Vision? Hat es nicht genug echtes Elend an anderen Orten gegeben? So bewegend die Geschichte auch erzählt sein will, so heroisch sich auch der deutsche Anführer behauptet, so toll die Bilder der walisischen Natur auch waren, vor dem Hintergrund einer solchen Geschichtsumdeutung wollte der Film für mich nicht funktionieren.

Auch das deutsche Kino arbeitete mit historischen Stoffen. In dem beherzten “Die Brücke am Ibar” (Michaela Kezele) begibt sich die Filmemacherin ins Kosovo 1999, um die sich verhärtenden Spannungen zwischen Serben und Albanern aufzuspüren. Ihre Geschichte funktioniert insgesamt sehr gut und ist stimmig und bewegend, nur in Details strauchelt die Debütantin, formuliert ihren Film etwas zu deutlich und lehrbuchhaft aus. Zu einem thematisch verwandten Meisterwerk wie “Before the Rain” (an den die Filmmusik an einer Stelle explizit verweist) fehlt da noch einiges.
Ebenfalls in der Reihe des neuen deutschen Kinos lief das recht groteske und konstruierte Drama “Die feinen Unterschiede” (Sylvie Michel), das eine banale Alltagssituation auf die Spitze treibt und dabei diverse Gegensätzlichkeiten der beiden Protagonisten, einem deutschen Arzt und einer bulgarischen Putzfrau, herausarbeitet.
In den 1950er Jahren ist das Drama “Der Verdingbub” (Markus Imboden; Schweiz) angesiedelt und arbeitet ein Kapitel der Schweizer Geschichte auf, das heute bei der jungen Generation des Landes kaum noch bekannt ist. Als “Verdingkinder” wurden Kinder aus ärmsten Verhältnissen bezeichnet, die als Knechte oder Mägde an Bauernhöfe verkauft wurden und dort ein freudloses, hartes Arbeitsleben fristeten. Der Film funktioniert rein aus seiner Geschichte heraus, die er durch gute Darsteller, authentische Ausstattung und große, der Landschaft angemessene Bilder untermauert.

“The Orator - O Le Tulafale” (Tusi Tamasese; Neuseeland) ist ein exotisches Stück Kino aus und über Samoa mit einem klein(wüchsig)en Mann und dessen großer Courage. Es ist die Geschichte David gegen Goliath, in der unsere Sympathien erwartungsgemäß dem kleinen Helden gehören. Das macht den Film ein wenig überraschungsarm, aber die stille Inszenierung dieser Selbstbehauptung ungeachtet zu erwartender Konsequenzen der Stärkeren gefiel mir ebenso gut, wie das atemberaubende Setting urwüchsiger Natur und die Integration der Geschichte in die Traditionen des dort lebenden Volkes.
Thailand steuerte mit “P-047 - Tae Peang Phu Deaw” (Kongej Jaturanrasamee; Thailand) erneut eine rätselhafte Geschichte bei, die in der Mitte ihre bisherige narrative Linearität durchbricht, sich öffnet und nicht vollständig interpretierbar macht. Anfangs ähnelt die Geschichte über zwei Gelegenheitseinbrecher jener von Kim Ki-Duks “Binjip”, bis sich dann etwas verwirrend-brüchiges in den Film schleicht und ihn einer gewissen Rationalität enthebt. Also nicht unbedingt eine Innovation für das thailändische Kino, zumal andere Filmemacher zuvor diese Brüchigkeit schon viel faszinierender verwirklicht haben. Ich erinnere mich z.B. gern an “Mundane History”, der vor 2 Jahren in München lief.

Recht gut gefallen hat mir auch “It looks pretty from a distance - Z daleka widok jest piekny” (Anke & Wilhelm Sasnal; Polen) der irgendwo in Polen eine ganz andere Seite von Europa zeichnet: ein eigentlich recht idyllischer Flecken Erde, aber durch Müll und Schrott in einen häßlichen, heruntergekommenen Ort verwandelt, an dem auch die Menschen selbst ungeahnte Abgründe offenbaren und sich selbst stets am nächsten sind. Die Menschen haben verlernt zu träumen, zu lieben und füreinander einzustehen.
“Best Intentions - Din dragoste cu cele mai bune intentii” (Adrian Sitaru; Rumänien) ist dagegen eine echte Belastungsprobe. Ein junger Mann sorgt sich übertrieben um den Gesundheitszustand seiner Mutter, mißtraut den Ärzten, hört auf jeden gutgemeinten Ratschlag und erwartet immer das Schlimmste. Daraus entwickelt sich eine anstrengende und ab der Mitte des Filmes nur noch auf der Stelle tretende Farce, die mich am Ende einfach nur noch genervt hat.

Mein persönlicher Tiefpunkt des Festivals war jedoch “Sirenen an Land - Seirenes Sti Steria” (Nikos Perakis; Griechenland), ein Sequel und mainstreamige, laute und überdrehte Polit-Action-Mischmasch-Komödie, die hektisch, flach und uninspiriert ein durchaus ernstes Thema abhandelt, ohne Interesse wecken zu können. “Sirenen an Land” hat absolut gar nichts mit dem gerade aufstrebenden jungen griechischen Kino zu tun.

In den kommenden Wochen haben drei Filme deutschen Kinostart, die ich vorab sehen konnte.
“Das Schwein von Gaza - Le cochon de Gaza” (Sylvain Estibal; Frankreich etc.) ist ein ganz wunderbar komischer wie intelligenter Vermittlungsversuch im Konflikt zwischen Palästina und Israel und “Paris Manhattan” (Sophie Lellouche; Frankreich) eine lockerleichte Hommage an Woody Allen, in der der New Yorker sich in einem Kurzauftritt selbst spielt. Am überzeugendsten kam jedoch “Am Ende eines viel zu kurzen Tages / Death of a Superhero” (Ian Fitzgibbon; Irland etc.) daher, erzählt eine erfrischende wie perspektivlose Coming-of-Age-Geschichte eines 15jährigen, der dank seines Zeichentalentes in seine eigene Comicwelt flüchtet, die mehrmals auch den Spielfilm durchbricht.


Zusammenfassend seien noch einmal “Terraferma”, “Southwest” und “Alois Nebel” als jene Filme herausgestellt, die den stärksten Eindruck bei mir hinterlassen haben.


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Attenberg und das neue griechische Kino


Griechenland trotzt seiner Krise. Zumindest sehr erfolgreich in seinem Filmschaffen, was schon alleine eine Bewunderung wert ist, in Zeiten so knapper Kassen und fehlenden Förderungen so ein junges, wagemutiges, auftstrebendes Kino der finanziellen Misere des Landes entgegen zu setzen.
Im Lauf der letzten Wochen konnte ich insgesamt 5 Vertreter des “Neuen griechischen Kino” ansehen, die natürlich keine neue Novuelle Vage oder dergleichen ausmachen, sondern denen einfach nur gemein ist, dass sie Zeugnis eines kreativen, energiereichen, gestaltungs- und selbstbewussten jungen Kinos aus Griechenland sind. Zwei der Filme, “Attenberg” und “Alpen” haben hierzulande sogar einen deutschen Kinostart dank Rapid Eye Movie. “Kynodontas – Dogtooth”, einer der “Auslöser”-Filme der aktuellen Welle, startete bei uns auf DVD und war kürzlich im öffentlich-rechtlichen TV zu sehen. Die anderen beiden Filme konnte ich dank der engagierten Reihe im Berliner Arsenal sehen.


Attenberg
(Athina Rachel Tsangari, 2010)
http://www.attenberg.info/
“Attenberg” ist eine ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte – mehr eine Erweckung oder Erlösung statt ein Heranwachsen. Eine junge Frau muss sich auf den bevorstehenden Tod ihres Vaters vorbereiten und sich von ihm als einzigen emotionalen Bezugspunkt lösen. Er zwingt sie, sich mit der Vergänglichkeit des Seins zu beschäftigen. Tiefere Gefühle und Liebe sind ihr fremd, das Leben kennt sie hauptsächlich aus den Naturdokumentationen von Sir Richard Attenborough (den sie “Attenberg” nennt). Ihre beste Freundin lehrt sie das Küssen und an der Seite eines (sich ihr “zur Verfügung stellenden”) Ingenieurs erprobt sie ihr spätes sexuelles Erwachen. Anfangs sehr unbedarft, rational motiviert und sämtliche Erotik erstickend, lernt sie es, sich dem anderen anzuvertrauen, ihre Gefühle zu entdecken und ihnen zu folgen. Ihr gelingt der Schritt vom nüchternen Nachahmen zu echtem Begehren, sie befreit sich aus ihren emotional-geblockten Fesseln. Das Leben löst den Tod ab.
Athina Rachel Tsangari überrascht mit diesem erzählerisch wie formal jungen und ungestümen Stück Kino, formt eine zärtliche Lebensbekräftigung und ein Stück Rebellion gegen alte Blockaden, die es zu überwinden gilt, geht so feinfühlig wie tabulos mit der sexuellen Erweckungsgeschichte um. Am schönsten empfand ich die Szenen, in der die Freundinnen sich vogelartig in synchronen tänzerischen Laufschritten üben. Die hatten etwas sehr magisches an sich, wie ein Zwischenschritt von der Tier- in die Menschenwelt.




Kynodontas – Dogtooth
(Yorgos Lanthimos, 2009)
http://www.dogtooth.gr/
“Dogtooth” beschreibt einen absurden Mikrokosmos, eine hermetisch abgeschlossene Welt, in der drei nun schon erwachsene Kinder leben, ohne die Welt da draußen jenseits des unüberwindlichen Zaunes zu kennen. Ihre Eltern halten sie gefangen, meinen sie vor dem Leben des 21. Jahrhunderts schützen zu müssen. Telefon, Computer, Meer, Autobahn – das gibt es einfach alles nicht. Alles was nicht im Haus oder Garten existiert, ist tabu und verschiedene Begriffe erhalten hier eine völlig neue (falsche) Bedeutung. Dadurch hat sich bei den Sprösslingen eine völlig verschobene Lebens- und Wertevorstellung entwickelt. In ihrer Langeweile ergehen sie sich in Mutproben, Doktorspielen, Selbstverletzungen und Entdeckung des eigenen Körpers.
Lanthimos erzählt seine Geschichte absolut konsequent. Sie ist grotesk und erschreckend zugleich, ein unheimliche, subtile Horrorvision, die sich langsam entfaltet. Die drei jungen Darsteller stellen sich ganz in den Dienst der Erzählung und entblättern ihre Figuren bis auf die Haut. Denen sind Scham, Respekt und Liebe fremd, ihr Intellekt begreift nicht, was ihm vorenthalten wird.




Alpeis - Alpen
(Yorgos Lanthimos, 2011)
http://www.alpsfilm.gr/
“Alpen” beschreibt wie auch schon der Vorgängerfilm “Dogtooth” eine abgeschlossene, klinische Welt. Einer der Protagonisten meint, die Alpen sind ein Gebirge, das alle anderen ersetzen kann, aber nicht selbst durch ein anderes. Deshalb werden die “Alpen” zum Namen ihrer fast sektenartigen vierköpfigen Gruppe, die in die Rollen verstorbener Menschen schlüpfen. Sie übernehmen die zurückgebliebenen Hüllen von Toten, um diese den Hinterbliebenen zu bewahren. Es ist ein gefühlloser, pietätloser Akt, ein schlechtes Nachspielen von alten Erinnerungen mit Verkleidung und leiernd aufgesagten Dialogen. Wem die Kontrolle über seine Rolle entgleitet, wird in der Gruppe hart bestraft. Was aber, wenn jemand die falschen Leben aus Mangel eines eigenen bald als seine vermeintlich “echten” übernimmt, und bald die Unterschiede und Grenzen nicht mehr wahrnehmen kann?
Lanthimos geht dieser Frage nach und löst eine seine Figuren in diesem Dilemma auf. Er entblättert auch sie, wie schon die Kinder in “Dogtooth”. “Alpen” ist nach seinem Vorgängerfilm weniger überraschend, aber nicht minder zielstrebig im Verunsichern und Auflösen moralisch-ethischer Grenzen.




Hora Proelefsis – Homeland
(Syllas Tzoumerkas, 2011)
http://www.homelandfilm.gr/
“Homeland” ist zum einen eine Familiengeschichte, die drei Generationen miteinander verbindet, und zum anderen ein Stimmungsbild des aktuellen, krisengeschüttelten Griechenlands. So wie draußen auf den Straßen Demonstrationen, Aufstände und Krawalle herrschen, so geraten die Familienmitglieder emotional heftig aneinander. Mitunter meint man, die Erschütterungen in der Familie sind die ursprünglichen und jene draußen sind nur deren Nachbeben. Geschwister ringen mit- und gegeneinander, deren Kinder kreiseln zwischen Eifersucht und Selbstaufgabe, ein pflegebedürftiger Großvater vegetiert wortlos an der Spitze des Klans. Eine alte innerfamiliäre Adoption hat tiefe Wunden bis ins Heute geschlagen. Nicht alle Zusammenhänge und Hintergründe vermochte ich zu verstehen, vieles ging in den schnellen engl. UT unter. Und gerade auch deshalb hat sich der Film tief in meiner Wahrnehmung verhakt, hat mich noch tagelang beschäftigt, weil er Fragen hinterließ.
Der Film ist schnell geschnitten, kurze Sequenzen, viele Ebenen, Ortswechsel und Zeitsprünge wechselten sich schnell ab und erschwerten mir das Zurechtfinden in der emotional aber immer wirkungsvoll berührenden Geschichte.




Tungsten
(Yorgos Georgopoulos, 2011)
http://www.tungsten.gr/
Den formal stärksten Eindruck hat “Tungsten” bei mir hinterlassen. Der Film ist elektrisierendes digitales Kino in schwarzweiß, das sehr dicht an der aktuellen griechischen Gesellschaft dran ist. Drei Geschichten werden parallel erzählt, abwechselnd montiert und miteinander verkettet: ein Jobvermittler, der um seine Freundin kämpft, ein Fahrscheinkontrolleur, der von der Last seiner Schulden erdrückt wird und zwei desillusionierte Jugendliche, die sich aus Langeweile mit pakistanischen Einwanderern anlegen. Immer wieder flackern drohend Lichter oder der Strom fällt ganz aus und beeinflusst den Lauf der Geschichten und verschiebt die Position der Protagonisten im “Machtgefüge”. Die aktuelle Krise ist auch eine Energiekrise und Georgopoulos integriert dies als gestalterisches Mittel: immer wieder ruckelt der Film aufgrund von Fehlbildern, die Montage springt häufig in der Zeit zurück und wiederholt das Geschehen aus einer anderen Perspektive. Im Fall von “Tungsten” verbinden sich spannende Einzelgeschichten, eine gestalterisch bewusste Bildsprache und eine tolle aufreibende Musik. Ein Film wie ein explosives Gemisch. Hat mir sehr imponiert.




Alle 5 gesehenen Filme fand ich sehr gelungen, zum Teil sogar herausragend gut.
Ich hätte gern noch mehr Filme dieser griechischen Reihe gesehen, auch “Knifer”, “Black Field” und “Strella” klangen in der kurzen Beschreibung des Programmheftes sehr gut.



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Moonrise Kingdom und mehr


Moonrise Kingdom
(Wes Anderson)
Es gibt nur wenige junge Regisseure, die sich mit nur einer überschaubaren Anzahl von Filmen eine so unverwechselbare Handschrift zulegten, wie Wes Anderson. Seine Filme werden meist von etwas verschrobenen bis skurrilen Figuren bevölkert, häufig handeln die Geschichten über dysfunktionale Familien, das verstörte Verhältnis von (erwachsenen) Kindern zu ihren Eltern und Geschwistern, die Erzählart ist zurückgenommen langsam, lakonisch und nebensächlich (aber hintersinnig) pointiert, die Ausstattung immer eine unbedingte Augenweide, die viel Wert auf Details legt. Mit “Moonrise Kingdom” gelingt Wes Anderson das kleine Kunststück, sich selbst treu zu bleiben und sich dennoch nicht zu wiederholen. Seine Figuren wirken anfangs wie in einer Puppenstube, so wie auch das Setting mitunter mehr tricktechnisch animiert als real wirkte, und erinnerten damit an den Fuchsbau des “Mr. Fox”. Diesmal sind Andersons Protagonisten so jung wie noch nie und die viel erwachsener ihren Weg ins hindernisreiche Leben des Älterwerdens bestreiten, als so manche Figur vergangener Filme. Im Schlepptau haben die beiden tollen jungen Darsteller einen herrlich prominenten Cast, der sich mit den sonderbarsten Nebenfiguren begnügen muss, von der standesgemäßen Besetzung von Dauergast Bill Murray über Bruce Willis als hilfloser Polizist bis hin zu einer wunderbar überzogenen Jugendamtsverkörperung durch Tilda Swinton. “Moonrise Kingdom” ist ein sehr schöner Frühsommerfilm.


My Week with Marilyn
(Simon Curtis)
Überflüssig. Bis auf die guten Darsteller. Kaum wiederzuerkennen: Michelle Williams. Und dennoch wird ihre Marilyn nicht zum Mythos Monroe.

Die Vermissten
(Jan Speckenbach)
Ambitioniertes und gedankenanregendes Drama, das sowohl die Sage vom Rattenfänger von Hameln aufnimmt, als auch Bezug zu den letztjährigen Aufständen der Jugend in Frankreich und anderswo nimmt. Während der väterliche Protagonist nach seiner Tochter sucht, verwandelt sich sein Umfeld von einer zunächst recht realen Gegenwartsbeschreibung zu einer immer fiktionaleren, gespenstischeren Utopie. Sowohl in Inhalt und Form recht beeindruckender und diskussionswerter Debütfilm.

Kill Me Please
(Olias Barco)
Bitterböse und schwarzhumorig, reduziert auf schwarzweiß und ohne viele Worte - aber mit weniger Gehalt oder Nachwirkung als erhofft. Der Film schockt und bespaßt derb für den Augenblick, ist aber schnell wieder vergessen. Spröden belgischen Humor gab es schon bedeutend besser im Kino serviert.

Superclassico
Superclasico
(Ole Christian Madsen)
Zunächst mochte ich die Art des Erzählens der Geschichte mit der Offstimme gar nicht. Aber letztlich habe ich diese Form akzeptiert und mich stattdessen dem wunderbaren Spiel von Paprika Steen und Anders W. Berthelsen gewidmet. Denn die sind das große Plus des ansonsten einfach nur sympathischen Filmes.

Our Idiot Brother
(Jesse Peretz)
Sehr liebenswerte Komödie über einen nerdigen, leicht naiven Mann, der seiner Familie auf amüsante jedoch nie lächerliche Weise die Augen öffnet, weil er einfach immer die Wahrheit sagen muss, da ihm respektvolle Zurückhaltung und Falschtuerei fremd ist. Hat mir ganz gut gefallen.


Das war fast die gesamte Ausbeute des letzten Monats. Aber nur fast. Der Rest wird bald nachgetragen, wenn ich meine kleine aktuelle Reihe beendet habe. ;-)


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Das Leben gehört uns


Das Leben gehört uns
La Guerre Est Declaree
(Valerie Donzelli)

Nach dem kanadischen Wunderknaben Xavier Dolan offenbaren sich hier Valerie Donzelli & Jeremie Elkaim ebenfalls als sehr popmoderne Filmemacher mit einem aufregenden visuellen und akkustischen Inszenierungsstil. Ihre autobiographische Geschichte verfilmen sie als emotionalen Tanz auf dem Vulkan, sie spielen sich selbst als Eltern eines mit einem Gehirntumor geborenen Sohnes, der sie fortan auf einen spannungsvollen und nervenaufreibenden Gang von Arzt zu Arzt führt. Ihre Geschichte löst sich immer wieder von den tragischen Fesseln der Narration, schwingt sich auf als bewegendes lebenfrohes Beziehungsmärchen der Moderne, um dann wieder auf die Boden der Tatsachen zurückzusinken. Das spannungsreiche Innenleben der jungen Eltern ist für den Film stets wichtiger als das Befinden/Leiden des kranken Kindes (was man ihm durchaus ankreiden könnte). Romeo und Julia taumeln in Sorge um das Wohl des Kindes auf und ab und stoßen an ihre Grenzen, wie wilde Raubtiere gefangen im Käfig. Dem Film fehlt ein einheitlicher, durchgängiger Inszenierungsstil. Er ist abwechslungsreich wie das Leben, und überhöht über dem Erdboden schwebend. Er stellt unterschiedliche Kameraführungen und Musiken gleichberechtigt nebeneinander. Das kann man mögen, muss es aber nicht. Ich konnte dem Film meine Sympathie nicht entziehen. Denn er bewegt an den richtigen Stellen.



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Martha Marcy May Marlene und vieles andere aus März/April


Es folgt ein mit Kommentaren diesmal sehr knapp gehaltener Nachtrag von einigen Filmen aus den letzten Wochen, als ich mich intensiv mit Bela Tarrs Filmen beschäftigte und leider nicht immer das nötige Augenmerk auf die anderen Filme aus dem regulären Programm übrig hatte.

Martha Marcy May Marlene
(Sean Durkin)
Beklemmend und irritierend parallel erzähltes Drama über eine junge Frau, die aus einer Sekte flieht und im Haus der Schwester vergeblich in die Normalität zurückzufinden versucht. Sehr gelungen montierter und atmosphärisch dichter Film in verblassten Farben und mit einer starken Hauptdarstellerin. Hat mir sehr gefallen. Ich liebe solche schmerzhaft-offene Filmenden.

Sommer auf dem Land
(Radek Wegrzyn)
Nett.

Best Exotic Marigold Hotel
(John Madden)
Naja. Gerade noch okay.

Und wenn wir alle zusammenziehen?
(Stepühan Robelin)
Französisches Pendant zum vorhergehenden Film. Und etwas besser. Schön: Pierre Richard in einer sehr standesgemäßen Altersrolle.

Take Shelter
(Jeff Nichols)
Ich mochte es gar nicht, nach der Shyamalan-Masche um den Finger gewickelt zu werden. Fand aber das Ende dann doch gelungen.

Der Mieter
(Alfred Hitchcock)
Endlich wieder eine Lücke geschlossen im frühen Stummfilmschaffen von Hitchcock. Sehr gut.

King of Devil's Island
(Marius Holst)
Starkes Kino auf den Spuren von "Club der toten Dichter", aber doch ganz anders gelagert. Tolles Ensemble, packend erzählt und bebildert. Hat mir sehr imponiert.

Der Garten
(Martin Sulik)
Weniger märchenhaft als erwartet und irgendwie zwischen allen Stühlen sitzend. Zudem mag ich es überhaupt nicht, vor jedem Kapitel erzählt zu bekommen, was als nächstes passiert. Enttäuschend und ärgerlich.

Iron Sky
(Timo Vuorensola)
Selbstbewusst, respektlos, kurzweilig, ungeniert trashig. Ein paar schöne weltpolitische Seitenhiebe und eine tolle Remineszenz an Chaplins "Diktator".

Monsieur Lazhar
(Philippe Falardeon)
Gut. Vor allem ein überzeugend gespielter Ensemblefilm, der gelungen zwischen den Perspektiven der Erwachsenen und jener der Kinder pendelt und der sich über starre Verhaltensvorschriften im Lehrer-Schüler-Verhältnis hinwegsetzt. Meine heimliche Filmheldin ist Alice.

Hinter der Tür
(Istvan Szabo)
Scheitert, weil er sich ganz auf die Begegnung zweier Frauen konzentriert, die mir jedoch in ihrem Verhalten, Charakter und Wollen undurchsichtig und nicht nachvollziehbar blieben.


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Bela Tarr


Bela Tarr

Der ungarische Regisseur hat nur 10 Langspielfilme gedreht, von denen mir die ersten fünf - "Csaladi tüzfeszek - Family Nest" (1979), "Szabadgyalog - The Outsider" (1981), "Macbeth" (1982), "Panelkapcsolat - The Prefab People" (1982) und "Öszi Almanach - Almanac of Fall" (1984) - leider unbekannt sind.
Ich kenne erst die zweite Hälfte von Bela Tarrs Filmwerk, in dem er sich immer stärker auf die Spuren von Andrej Tarkowski begab: kontemplative, bildstarke, in langen Einstellungen gedrehte Filme. Mit Erscheinen seines jüngsten Filmes, "Das Turiner Pferd", gab Bela Tarr bekannt, dass dies sein letzter Film als Regisseur gewesen sein soll, da er nun alles gezeigt habe, was es zu zeigen gab, und er sich in seinem Werk nicht wiederholen möchte.


Verdammnis - Kárhozat (1988)
(116 min, 55+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 122 sek.)
Die menschliche Gesellschaft steht am Abgrund, überall herrscht Gesetzlosigkeit, falsche Moral und Ausweglosigkeit. Ein Mann rafft sich auf und zeigt die Menschen aufgrund ihres falsch gewählten Weges vor einem höheren Gericht an, für die er beispielgebend vor die Hunde geht.

Satanstango - Sátántangó (1994)
(450 min, 154+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 173 sek.)
Ein Szenario des Schreckens, in vielen Persepektivwechseln festgehaltener Niedergang einer dörflichen Gemeinschaft. Die Menschen erniedrigen sich immer mehr, selbst das jüngste Mitglied der zerbröckelnden Gemeinde vergeht sich an einem noch wehrloseren Wesen. Bis ein Visionär auftaucht, sie alle blendet und die letzten Reste der Gemeinschaft zerstört.

Die Werckmeisterschen Harmonien - Werckmeister harmóniák (2000)
(145 min, 37+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 223 sek.)
Auch hier steht eine Gesellschaft vor ihrem Niedergang. Eine rechte Diktatur manifestiert sich, deren Anhänger als randalierender Mob durch die Straßen zieht, Angst verbreitet und die geordnete Welt aus den Angeln hebt. Ein letzter Anblick der Menschlichkeit stoppt den Gewaltzug, nicht aber den Sittenverfall.

Der Mann aus London - A Londoni Férfi (2007)
(139 min, 29+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 269 sek.)
Ein die Genrekonventionen mißachtender Kriminalfilm. Ein Polizeiinspektor taucht in einer französischen Hafenstadt auf, fahndet nach einem Mann und einem Geldkoffer. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf den Wächter des Hafenturmes, der wie ein stiller Beobachter über dem Schauplatz thront.

Das Turiner Pferd - A Torinói Ló (2011)
(146 min, 28+2 Einstellungen, durchschnittliche Einstellungslänge = 292 sek.)
Bela Tarrs Umkehrung der Schöpfungsgeschichte lässt die uns bekannte Welt in sechs Tagen untergehen. Ein unablässiger Wind heult, ein Pferd versagt seinen Dienst, das Wasser versiegt, das Licht schwindet. Kompromissloser kann man weder einen Niedergang zeigen noch sein Filmwerk beenden.


All diese Filme sind schwarzweiß, in langen Einstellungen und mit respekteinflösenden, komplexen Kamerabewegungen gedreht. Als Kameramänner fungierten u.a. Fred Kelemen (der selbst formal gleichartige Filme dreht) und Gabor Medvigy. Bei "Die Werckmeisterschen Harmonien" arbeiteten sogar insgesamt 6 Kameramänner mit.
Mit jedem Film steigerte Bela Tarr seine durchschnittliche Einstellungslänge auf bis zu 292 Sekunden je Einstellung. Dabei sind einzelne Einstellung sogar an die 10 Minuten lang. Schon bereits bei "MacBeth" experimentierte er mit den Plansequenzen und drehte diesen Film in nur 2 Einstellungen. Damit gesellt sich Bela Tarr an die Seite ähnlich arbeitender Filmemacher wie Andrej Tarkowski oder Theo Angelopoulos, die mit langen Plansequenzen und wenig Schnitten arbeiteten. Zum Vergleich: der Film "Casablanca" besteht aus einer durchschnittlichen Einstellungslänge von 7,3 Sekunden. Bela Tarr dehnt also die Leinwandzeit gewaltig und bricht dadurch Zeit und Raum in seinen Filmen auf. Deshalb ist sicher auch seine Stamm-Cutterin Agnes Hranitzky, die an insgesamt 8 seiner Filme mitwirkte, meist auch Co-Regisseurin, da die Filme durch die langen Einstellungen über eine innere Montage verfügen und sorgsam geplant werden müssen.

Die Figuren in den Filmen von Bela Tarr sprechen in der Regel eher wenig. Sie ergeben sich ihrem Schicksal, registrieren stumm den Zerfall ihres Umfeldes. Der allgemeinen Sprachlosigkeit setzt Bela Tarr in jedem seiner Filme mindestens einen langen Monolog einer Figur entgegen.
Fast alle Filme haben lange nächtliche Szenen, die mit der Dunkelheit spielen, die auf die Figuren drückt und sie vereinsamt. Hinzu kommt das Einbinden von Wetterunbilden wie Wind ("Das Triner Pferd") oder Regen ("Verdammnis", "Satanstango"), die den Handlungsort zu einem gebeutelten, schmutzigen Flecken Erde kurz vor seiner Ausradierung ausgestalten.

Alle oben genannten 5 Filme sind in Zusammenarbeit mit Laszlo Krasznahorkai entstanden, ein Autor, dessen Romane Bela Tarr verfilmte, bzw. der die Drehbücher für die anderen Filme mitschrieb. Zwischen Tarr und Krasznahorkai muss eine große Seelenverwandschaft bestehen, denn gemeinsam ersannen sie immer wieder Stoffe über den Niedergang der Menschheit, über drohende kleine und große Apokalypsen. Den Krasznahorkai-Roman "Satanstango" verfilmte Bela Tarr in einer Laufzeit von siebeneinhalb Stunden, weil das genau die Zeit ist, die man braucht, um das Buch zu lesen. Diese Verfilmung ist deshalb auch sehr werksgetreu, ja fast wortgetreu ausgefallen.

Auch der Komponist Vig Mihaly gehört zu den engsten Mitarbeitern von Bela Tarr. Seit "Öszi Almanach" steuerte der ungarische Musiker die Filmmusik bei und fügt dabei eine ganz wichtige Komponente zum Gelingen der Bela Tarr-Filme hinzu. Im Film "Satanstango" übernahm er auch die Rolle des Verblenders Irimias. Jedem Film widmet Vig Mihaly eine unverwechselbare melancholische, schmerzlich berührende Grundmelodie, die dann im Film meist drei, vier, fünf Szenen über mehrere Minuten hinweg gleichförmig untermalt. Das sind dann fast immer die intensivsten Minuten eines Filmes und jene, die einen letzten Rest Hoffnung bewahren und die Menschen zusammenrücken lassen. Diese Szenen sind traurig, schmerzhaft-schön und absolut berührend.
Hier sind zwei Hörbeispiele aus den Filmen "Verdammnis" und "Werckmeistersche Harmonien":



Auch vor der Kamera gibt es ein wiederkehrendes Stammpersonal in den Bela Tarr Filmen. Janos Derzsi spielte nicht nur den runzeligen, mimisch-starken Besitzer des "Turiner Pferdes" sondern in Nebenrollen auch den Kraner in "Satanstango", den "Mann aus London" oder einen der Anführer des gewaltbereiten Mobs in "Werckmeistersche Harmonien". Erika Bok ist eine wunderbare Zufallsentdeckung fernab des Filmgeschäftes, die drei Filme bereicherte, unvergesslich sind ihre Rollen als Estike in "Satanstango" und die Bauerstochter im "Turiner Pferd". Als dritter sei Miklos Szekely erwähnt, der Hauptrollen in "Satanstango" und "Verdammnis" übernahm.


Die Rangfolge der mir bekannten Filme sieht wie folgt aus:

(1) Das Turiner Pferd - A Torinói Ló (2011)
(2) Die Werckmeisterschen Harmonien - Werckmeister harmóniák (2000)
(3) Satanstango - Sátántangó (1994)
(4) Verdammnis - Kárhozat (1988)
(5) Der Mann aus London - A Londoni Férfi (2007)


Obwohl ich das Werk von Bela Tarr nicht insgesamt kenne, sondern nur dessen zweite Hälfte, ist Bela Tarr mit diesen fünf Filmen zu einem meiner absoluten Lieblingsregisseure aufgestiegen. Ich mag diese langsamen Filme, die mit langen Einstellungen, eindringlicher Musik einen Sog entwickeln, der mich nicht mehr entkommen lässt.


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Das Turiner Pferd


Das Turiner Pferd
A Torinoi Lo
(Bela Tarr)

Eine Warnung vor diesem Film vorab ist angebracht: "A Torinoi Lo" fordert seinen Zuschauer, so wie es kaum ein anderer Film in unserer heutigen Zeit tut. Ist es das letzte große Aufbäumen der Filmkunst am Ende seiner Tage, bevor die bewegten, digitalen Unterhaltungsbilder vollends unsere Kinos übernehmen? Wir stecken schon mittendrin in dieser unumkehrbaren Wende, im Übergang vom handgemachten Film auf digital gefilmte und computerbearbeitete Pixelbilder.

Bela Tarr kehrt in der ihm eigenen filmischen Weise den Schöpfungsakt um. In nur 6 Tagen nimmt er seinen beiden einsamen Protagonisten, einem Bauern und seiner Tochter, die Außenwelt, die Arbeit, die Nahrung, das Licht. Das ausbleibende Ticken der Holzwürmer kündigen die Apokalypse als erstes an, danach verweigert das titelgebende Pferd seinen Dienst. Mit ihm stirbt die uns bekannte Welt, die in einem unerbittlich fauchenden Inferno untergeht. In nur 29 Einstellungen voller Monotonie und Wiederholung fesselt Bela Tarr auf unglaublich stoische Weise zweieinhalb Stunden lang durch intensive Schwarzweißbilder, ausgefeilte Kamerabewegungen und mit schmerzhaft-melancholicher Musikunterlegung, die gegen das Tosen eines ewigen Sturmes ankämpft. Kompromissloser kann man einen Film nicht machen, von dem ich keine Sekunde missen will. Bela Tarr hat erklärt, "A Torinoi Lo" sei sein letzter Film als Regisseur, denn er will sich in seinem Werk nicht wiederholen. Das ist zum einen schade aber auch sehr konsequent. Denn "A Torinoi Lo" ist ein sehr würdiger letzter Film. Wie ein letzter Film überhaupt.

Fred Kelemen führt die starke Kamera perfekt und souverän wie bereits in "The Man from London". Noch länger reicht die Zusammenarbeit von Bela Tarr mit seinem Stammkomponisten Mihaly Vig zurück, der seit "Öszi almanach" die langen Einstellungen mit einem hypnotischen Musikteppich unterlegt. Und mit dem Autor Laszlo Krasznohorkai verbindet den ungarischen Regisseur eine gewisse Seelenverwandschaft, die sich über nunmehr fünf gemeinsame Filme hinweg zeigt. Die beiden Darsteller Janos Derszsi (der mit einem eindrucksvollen, zerfurchten Gesicht das "Turiner Pferd" ebenso ausfüllt) und Erika Bok haben ebenfalls schon in früheren Filmen von Bela Tarr mitgewirkt. Man spürt in jeder Sekunde, dass hier ein perfekt aufeinander eingestimmtes Team eine kompromisslose apokalyptische Vision umsetzt.

Mit dem Begriff Meisterwerk geht man gern mal inflationär um. Aber "A Torino Lo" ist wirklich eines. Ein triumphaler Schlusspunkt von Bela Tarrs Schaffen als Regisseur. Dieser noch spürbar echte handgemachte Film hat mich nun schon zum zweiten Mal tief beeindruckt.


Gern verweise ich an dieser Stelle auch auf den sehr guten Eintrag in Ubaldos FTB.


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Abel / El Nido Vacio / Zona Sur


Von der derzeit durch die Republik tourenden kleinen Reihe "Cinespanol" konnte ich drei Filme sehen, die mir alle recht gut gefielen. "Abel" ist vielleicht der nachhaltigste, "El Nido Vacio" der spielfreudigste, "Zona Sur" der formal eindrucksvollste Film.

Abel
(Diego Luna)

Abel ist ein kleiner Junge, der den Platz des abwesenden Vaters einzunehmen versucht. Aus Angst, ihren geistig verwirrten Sohn zu verlieren, lässt seine Mutter ihn gewähren. Dabei entgleitet der Alltag immer mehr ihrer Kontrolle und einer rationalen Normalität. Der Humor der Geschichte ist weniger komödiantisch als grotesk. Ich konnte häufig kurz über bestimmte absurde Situationen auflachen (nicht über die im Grunde sehr tragisch angelegten Figuren selbst), blieb jedoch immer in der ernsten Geschichte gefangen, die gegen Ende immer irrwitzigere wie dramatischere Züge annimmt. Diego Luna stellt hier auf spannende Weise ein geordnetes Familiengeflecht auf den Kopf und die Beziehungen der Menschen untereinander auf eine ungeheuerliche Zerreissprobe.


El Nido Vacio
(Daniel Burman)

"El Nido Vacio" heißt soviel wie "Das verlassene Nest" und beschreibt die Situation im Haus eines Ehepaares, nachdem ihre Kinder aus dem Haus sind. Vor allem der Mann muss die neu entstandene inhaltliche Leere überwinden, sich neu orientieren und motivieren. Ähnlich wie des häufigeren in Woody Allen Filmen muss er zugleich seine Blockade als Schriftsteller überwinden. In die kleine beschauliche Erzählung mischen sich ab und an surreale Situationen und am Ende bleibt offen, ob die ganze Geschichte nicht nur Einbildung oder ein gedankliches Kartenhaus des Mannes war.


Zona Sur
(Juan Carlos Valdivia)

Handlungsort ist eine Villa in der Stadt La Paz, in der eine (einst) wohlhabende Familie mit ihren Angestellten lebt. "Zona Sur" löst die traditionellen, gesellschaftlichen Positionen und Beziehungen zwischen weißer und indigener Bevölkerung auf. Die über ihre Verhältnisse lebende alleinstehende Mutter und ihre unbekümmert aufwachsenden Kinder sind abhängig von der Anwesenheit und Betreuung ihrer beiden Hausangestellten, die sich zu den heimlischen Herrschern im Haus aufgerichtet haben. Juan Carlos Valdivia ist auch auf formaler Ebene ein sehr starker Film gelungen. Die rastlos schwebende Kamera bewegt sich stetig durch das Haus, sie umkreist unablässig ihre Figuren, vereint sie und lässt sie nicht entkommen.


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Shame


Shame
(Steve McQueen)

Zugegeben: ich hatte einen Film erwartet, der noch etwas mehr an die Substanz, an die Nieren geht, als "Shame" es letztlich tut. Einen echten "Downer". Aber von Enttäuschung kann dennoch keine Rede sein. Mir hat sehr gut gefallen, dass dem sexsüchtigen, aber gefühlslosen Protagonisten Brandon eine Figur entgegengestellt wird, die ihn emotional herausfordert, ohne selbst ihr Leben im Griff zu haben ("Als Jugendliche war mir langweilig"). Brandon und Lissi sind unglaublich intensiv lebende Blutsgeschwister, die die Kinoleinwand elektrisieren. Sie geben alles. So wie auch Fassbender und Mulligan. Unglaublich stark ist ihr Auftritt in einer Bar, in dem die Schwester den Bruder zum Weinen bringt. Zwei andere Szenen seien vor allem wegen ihrer tollen Inszenierung herausgehoben: der parallel erzählte Vorspann, der Brandon im Alltag und in der U-Bahn zeigt und schon zu einer ersten Ekstase gesteigert wird; sowie jene vor- und rückwärts springende katharsische Nacht, in der Brandon zwischen Niederlage, Demütigung und zwanghafter Suchterfüllung schlingert.
"Shame" ist aufwühlend, irritierend, unbequem, verlockend, häßlich, intensiv und stimmig inszeniert.





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Gerngucker
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