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Gernguckers Filmtagebuch





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Ein umfangreicheres FTB-Update



Die letzten Wochen waren bei mir aus verschiedenen Gründen wieder mal verdammt zeitlich eng bemessen. Besserung ist (noch) nicht in Sicht. Trotzdem hab ich seit meinem letzten Eintrag hier einige Filme gesehen, die an dieser Stelle mit ein paar kurzen Worten bedacht seien.

"Ein Mensch kommt auf die Welt" ist eine zutiefst tragische und wichtige Aufarbeitung der letzten Kriegstage aus einer lokalen italienischen Sicht. Der Film erstickt des häufigeren an seinem schweren Thema und will nicht die Ehre gewinnen, die ihm gebühren müsste. Dennoch überzeugt das Drama in einigen sehr bewegenden Momenten und durch seine kleine Kinderdarstellerin. Giorgio Diritti erzählt wie auch schon in seinem sehr guten "Der Wind zieht seinen Weg" über eine dörfliche Region, dessen einfachen Bewohner und archaische Landschaft, über das Festhalten an Tradition und Altem und den Einfall fremder Störungen.

"The Guard" ist herrlich komisches, respektloses, so bitterböses wie unterhaltsames Kino, an dessen vorderster Front ein umwerfender Brendan Gleeson als unverwüstlicher, vorbildfreier Cop in der irischen Provinz steht. Sehr symathiegewinnend.

"Über uns das All" ist ein sehr reifes, stilsicheres und gedankenanregendes Debüt, das mit Doppelungen und Wiederholungen spielt und die Frage stellt, wie fremd uns doch unser nächster Mensch sein kann und ob sich ein Leben nach einem Bruch einfach so fortsetzen lassen kann. Erneut eine tolle Sandra Hüller in einer Figur, die neben sich steht.

"Vergiss dein Ende" ist ein gut gespieltes und in einzelnen Momenten überzeugendes Kammersiel, das zeigt, wie Menschen im Umfeld eines Alzheimerkranken straucheln, sich über die permanente Anstrengung selbst erschöpfen und sich neu ausrichten und motivieren müssen. Recht unaufgeregt erzählt und mit tollen Darstellern besetzt, thematisch passend recht gut geschnitten aber das große "Aha" am Ende blieb für mich aus, ohne genau sagen zu können, was mir fehlte. Vielleicht hat Andreas Kannengießer seine Protagonisten nur ein wenig zu zeitig verlassen?

"Melancholia" ist ein großartiger Film. Ein Planet, der einem anderen Planeten begegnet, spiegelt die Depression einer jungen Frau trefflich wider und wird schließlich zu ihrer Erlösung. Der Vorspann ist ein ästhetisches Meisterwerk zum Verlieben, der Bruch in das "Fest"-Kapitel (schöne Remineszenz an den ersten Dogma-Film) mit seiner lebendig-nervösen Kamera war schon echt krass. Auch das Timing des Hochzeitskapitels (gefühlt etwas zu lang und detailliert) will mir als kleinere Schwäche erscheinen. Aber letztlich ist der Makel bedeutungslos, denn der gegensätzliche Wandel der Schwestern im zweiten Kapitel ist erneut meisterhaft und das Finale einfach gewaltig. Da will ich gern einige Kompromisse in der Logik zurückstecken hinter die umwerfende metaphorische Bedeutung.

"Cold Fish" hat mich nach meiner großen Faszination für "Love Exposure" sehr ernüchtert, ja gar mittelschwer verstört, da ich nahezu blind in den Film gegangen bin und selbst die Synopsis nur unskeptisch überflogen hatte. Sion Sono erzählt eine perfide, blutige und groteske Geschichte, einen mörderischen Amoklauf. Weniger brilliant und ästhetisiert wie "Geständnisse" und in einzelnen Szenen eher ein Lehrfilm für angehende Metzger ... Je blutiger und grotesker der Film wurde, um so mehr rückte ich von ihm ab. Nicht wirklich meine Baustelle. Dem dritten Teil von Sonos Trilogie werde ich wohl viel vorsichtiger begegnen.

"Bombay Diaries" verbindet einen sehr überschaubaren und miteinander verbundenen Figuren-Mikrokosmos mit dem Porträt einer Stadtansicht der Millionenmetropole, arbeitet viel mit (wirklich tollen) Fotografien sowie mit abgespielten Videoaufzeichnungen. Am Ende scheut sich der Nichtbollywood-Film mit seiner Menage-o-trois vor einem gewagten, nicht standesgemäßen Happy End sondern sucht seine Auflösung innerhalb traditioneller (Kasten-)Schranken. Auch insgesamt gesehen ist der Film ein bißchen zu wohlgefällig, ich fand ihn aber dennoch recht gut.

"Tyrannosaur" löst endlich das Versprechen ein, welches der Trailer von "Biutiful" am Jahresanfang versprach und das der zugehörige Film nicht halten konnte. Ein Sturm erfasst die Leinwand, befreit die Dinosaurier der einfachen englische Straße und entfesselt eine schmerzhafte Liebesgeschichte, die sich kein bißchen Schönheit gönnt und nicht davor zurückschreckt, richtig weh zu tun. Mit voller Wucht prallen hier Menschen aufeinander, auf der Straße, im Pub oder abgeschirmt hinter den Hausfassaden. Peter Mullan und Olivia Colman offenbaren eine beeindruckende Leistung unter ihrem Schauspieler-Regisseur Paddy Considine, der weiß was eine figurenstarke Geschichte bedeutet. Saustarkes Kino!

"Aftershock" war in China ein großer kommerzieller Erfolg, beginnt im Erdbeben von Tangshan 1976 eine äußerst tragische Geschichte, die sich dann über Jahrzehnte als kleine Familiensaga fortspinnt. Die Geschichte ist stark und berührend, leider will die Inszenierung diese immer wieder übertrumpfen und so wechseln sich sehr gute mit unnötig übersteigerten Szenen ab. Hinzu kommen Details in der Erzählung, die mich immer wieder zweifeln und das Drama nicht ganz wohlbehalten ins Finale einlaufen ließen. Einmal fühlte ich mich durch das Vorenthalten einer erwarteten Szene betrogen, ein anderes Mal suchte ich vergeblich nach der Notwendigkeit einer anderen Szene, andere wiederum erschienen sehr konstruiert.

"Cirkus Columbia" erzählt von den Tagen der Umwälzung in Bosnien vor Kriegsausbruch. Danis Tanovic beginnt mit einer sehr privaten, tragikomischen Geschichte und bringt eine längst entzweite Familie wieder zusammen. Das neue Glück der einen zerstört das mühsam errungene der anderen. In den jeweiligen Neuanfängen liegen Arroganz oder stille Würde. Allmählich und sehr sensibel flechtet Tanovic die wachsende politische Unruhe in den Lebenslauf seiner Figuren ein und fängt das Bild eines Landes vor schmerzhaften Veränderungen ein, aus dem das Karussell des titelgebenden Zirkus wie ein sehnsüchtiger Hoffnungsschimmer herausragt und nach dem Frieden nach dem Krieg Ausschau hält. Hat mir sehr gefallen.

Weiter geht es wohl demnächst mit Almodovar ...




Zehn Filme - das ist ja ein wirklich lohnendes Update! Gesehen habe ich von diesen Werken einzig und allein "Melancholia". Letztlich fandest auch Du wohl den zweiten Teil noch stärker als den ersten mit der Hochzeit, das ging mir ebenso.
Ansonsten erinnert mich Dein umfangreicher Beitrag daran, daß ich "Love Exposure" immer noch nicht kenne, ich hoffe ja, daß sich das irgendwann noch ändern wird. Auch die übrigen Kommentare habe ich mit Interesse gelesen, ohne aber bei einem der Filme jetzt das wirklich brennende Verlangen zu spüren, sie möglichst bald zu sehen.
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KOI NO TSUMI (GUILTY OF PLEASURE) von Shion Sono, dem Du Dich mit Vorsicht nähern willst, ist für mich persönlich der beste Film seit Monaten, der in seinen surrealsten und psychedelischsten Momenten bei mir ein Gefühl auslöste ähnlich wie beim David Lynch seinem "Mullholland Drive". Damit will ich nun keine übersteigerte Erwartungshaltung bei Dir bedingen, sondern nur empfehlen, sich dem Film unvoreingenommen zu nähern. Ich fand ihn jedenfalls ganz großartig.
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Ubaldo Terzani sagte am 20. Dezember 2011, 14:21:

KOI NO TSUMI (GUILTY OF PLEASURE) von Shion Sono, dem Du Dich mit Vorsicht nähern willst, ist für mich persönlich der beste Film seit Monaten, der in seinen surrealsten und psychedelischsten Momenten bei mir ein Gefühl auslöste ähnlich wie beim David Lynch seinem "Mullholland Drive". Damit will ich nun keine übersteigerte Erwartungshaltung bei Dir bedingen, sondern nur empfehlen, sich dem Film unvoreingenommen zu nähern. Ich fand ihn jedenfalls ganz großartig.

Wie jetzt: der für dich persönllich beste Film seit Monaten? Das heißt, "Guilty of Pleasure" wird deine Jahresliste anführen??? Das macht mich schon neugierig. Auf den Film und auf deine Liste.
Du entlockst mir trotzdem eher ein eher verunsichertes AHA. Sollte Sono etwa doch wieder zu der großen Inszenierungsstärke von "Love Exposure" zurückgefunden haben? Ich will dir gern Glauben schenken und werde den Film nun sicher auch ansehen, wenn ich denn die Gelegenheit dazu bekomme, aber eine gewisse Skepsis werde ich wohl bewahren. Lieber Skepsis als eine Erwartung.
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Gerni,

Liste von mir gibt es schon im Listenthread ( http://www.filmforen...es-jahres-2011/ ). Ich bin etwas früh dran damit, aber über Weihnachten und Sylvester werde ich vermutlich eh kaum Filme sehen, also habe ich schon mal eine Liste gemacht.
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Gerngucker
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