Kurznotizen zum Filmfest München 2012
Die diesjährige Filmfestausgabe bot mir die Gelegenheit, endlich “Terraferma” (Emanuele Crialese; Italien) zu sehen - eine auf den Ebenen Familie und Gesellschaft funktionierende bewegende Geschichte, die Crialese wieder zu ganz großem Kino geformt hat. “Terraferma” und “La Pirogue” (Moussa Toure; Senegal etc.) bildeten eine thematische Einheit. Beide Filme behandeln die Flüchtlingsproblematik zwischen Afrika und Europa, ein globales Problem, das derzeit keine Lösung kennt. Während “La Pirogue” aus afrikanischer Sicht sich mit seinen ausweglosen Figuren in ein kleines Fischerboot und auf den aufreibenden Seeweg nach Europa wagt, mit ihnen hofft und bangt, lässt Crialese an der südlichen Grenze Europas ebensolche Flüchtlinge auf mittellose italienische Fischer treffen, die verunsichert zwischen den Gesetzen der Regierung und den alten Gesetzen der Seefahrt stehen. In einer Zeit, als die Fischerboote nicht mehr das Leben ihrer Besitzer sichern können, als Ausweg nur noch der Tourismus auf der Insel verbleibt, müssen die Menschen dort nach einem neuen Platz für sich suchen, einen neuen Aufbruch wagen und sich vielleicht noch ein letztes Mal auf das Alte besinnen – ihr Boot, das beim Wechsel der Perspektive nicht mehr als eine Nußschale im Meer ist. Letzteres vereint wieder beide doch recht unterschiedliche Filme. Während “La Pirogue” am Ende den Hauptpreis des Festivals gewann, wurde “Terraferma” zu meinem persönlichen Favoriten.
Das südamerikanische Kino war traditionell stark vertreten, in diesem Jahr tat sich besonders Brasilien hervor. Den stärksten Eindruck hinterließ zweifelslos “Southwest - Sudoeste” (Eduardo Nunes; Brasilien) mit seinem extrem breiten Schwarzweiß-Format (etwa 3,5:1), das in bedächtig langsamen Einstellungen innerhalb eines Tagesverlaufes eine so rätselhafte wie märchenhafte Geschichte über die Wiedergeburt einer Frau und ihrem neuen Lebenszyklus im Zeitraffer erzählt. Auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene vollziehen sich Kreisläufe. “Southwest” ist ästhetisch sehr bewusstes Kino mit einer ausgezeichneten Kameraarbeit und Ton, das einen poetischen, nicht erklärbaren Schwebezustand im Nirgendwo absolut beeindruckend einfängt.
“Rat Fever - Febre Do Rato” (Claudio Assis; Brasilien) setzt ebenfalls auf eine selbstbewusste (schwarzweiße) Filmgestaltung, geht allerdings einen anderen Weg und erschafft ein vitales, impulsives, ungezügeltes Stück Kino, das sich ebenso gegen gängige Sehgewohnheiten aufbäumt, wie seine Protagonisten gegen den Gleichlauf der Gesellschaft rebellieren. “Rat Fever” ist das Porträt einer Gruppe junger Menschen, die ziellos in den Tag leben und ihre Freiheiten ohne Tabus auf Partys, mit kraftvoller Musik, Alkohol, hemmungslosem Sex etc. genießen. Ihr Anführer ist Rebell, Anarchist und Poet zugleich, der seinen Zorn gegen die Gesellschaft laut herausschreit.
“Rat Fever” ist in Recife angesiedelt, wie auch “Neighbouring Sounds - O Som Ao Redor” (Kleber Mendonca Filho; Brasilien). Letzterer spielt noch stärker mit der Architektur der Hafenmetropole, konzentriert sich auf ein Villenviertel der Stadt, das bedrohlich von Hochhäusern umgeben ist, die sich immer weiter in die Reihen der alten Häuser hineinfressen, so wie auch zunehmende Kleinkriminalität das Viertel bedroht. “Neighbouring Sounds” vernetzt die Bewohner in derem Alltag und setzt besonders eingangs stark auf eine Geräuschkulisse des Viertels, die jedoch später leider ein wenig an Bedeutung verliert.
“Der Wirbel - Girimunho” (Helvecio Marins jr. & Clarissa Campolina; Brasilien etc.) wechselt den Ort, geht von der bevölkerten Atlantikküste ins provinzielle Sertao. Die Filmemacher recherchierten lange, dokumentierten Orte und Menschen und erschufen daraus ein Spielfilmdrehbuch, in dem eine alte Frau nun ihre eigene Geschichte nachspielt. Im Endeffekt ist “Der Wirbel” deshalb ein halbdokumentarisches Porträt eines Landstriches, in dem eine alte Frau lebt, die nach dem Tod ihres Mannes von gespenstischen Visionen heimgesucht wird. Die Handlungsebene ist stark reduziert und der Film für mich recht ermüdend gewesen.
Ein weiteres Highlight des Filmfestes war für mich die Begegnung mit dem tschechischen Animationsfilm “Alois Nebel” (Tomas Lunak; Tschechien etc.). Als Vorlage diente die Graphic Novel von Jaroslav Rudis und Jaromir Svejdik, die zunächst als Realfilm gedreht und anschließend per Rotoskopieverfahren in eine schwarzweiße, mit wenigen Graustufen arbeitende Animation übersetzt wurde. Dadurch wirken die Bewegungen der Figuren verblüffend realistisch, die Schauspieler sind im Comic noch charakteristisch erkennbar und einige Texturen scheinen offensichtlich noch “real” zu sein. Dieser Film trotzte mir große Bewunderung über die formale Gestaltung ab. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen hinweg vom Verarbeiten menschlicher Erinnerungen.
Auch “Future Lasts Forever - Gelecek Uzun Sürer” (Özcan Alper; Türkei) behandelt Erinnerungen und die Aufarbeitung von Vergangenem, lässt eine Musikwissenschaftlerin aus Istanbul auf der Suche nach ihrem verschollenen Freund ins kurdische Gebiet aufbrechen, um dort ein Zeitzeugnis über die Vertreibung der Kurden zu schaffen. Özcan Alper integriert mehrere filmische Referenzen und kombiniert einen Wim Wenders’schen Sinnsucher beim Aufspüren von Wahrheiten mit einem berührenden Klagegesang, wie Theo Angelopoulos ihn in seine Filme integrierte. Die Hommage an diese beiden Filmemacher, welche ich beide sehr schätze, waren für mich natürlich ein absoluter Glücksumstand.
Ein weiteres Beispiel für historische Aufarbeitung im Film ist “Verwundete Erde - La Terre Outragee” (Michale Boganim; Frankreich etc.), der sich mit der Katastrophe von Tschernobyl beschäftigt. Wie schon in (dem weniger geglückten) “An einem Samstag” wird das Atomunglück von 1986 weder rekonstruiert, erklärt oder gewertet, sondern über persönliche Schicksale der dort lebenden Menschen reflektiert, die anfangs gar nicht wissen, was gerade passiert und welche Folgen die Katastrophe für sie bedeutet. Boganim erzählt recht stimmig und aufrichtig drei miteinander verflochtene Einzelgeschichten und begleitet ihre Figuren über mehrere Jahre hinweg, erzählt von Ängsten, Unwissen, Hoffnung und stummer Ergebenheit.
“Resistance” (Amit Gupta; UK) will eine bewegende Geschichte erzählen, in der sich in einem harten Kriegswinter die feindlichen Soldaten mit den Bewohnern des von ihnen besetzten Landes gegen weiteres sinnloses Töten verbünden. Und damit liegt schon der größte Haken des Filmes in seiner Vorlage. Denn das Buch bemüht eine historische Fiktion, in der 1944 die deutsche Wehrmacht England eingenommen hat. Warum diese selbstzerstörerische Vision? Hat es nicht genug echtes Elend an anderen Orten gegeben? So bewegend die Geschichte auch erzählt sein will, so heroisch sich auch der deutsche Anführer behauptet, so toll die Bilder der walisischen Natur auch waren, vor dem Hintergrund einer solchen Geschichtsumdeutung wollte der Film für mich nicht funktionieren.
Auch das deutsche Kino arbeitete mit historischen Stoffen. In dem beherzten “Die Brücke am Ibar” (Michaela Kezele) begibt sich die Filmemacherin ins Kosovo 1999, um die sich verhärtenden Spannungen zwischen Serben und Albanern aufzuspüren. Ihre Geschichte funktioniert insgesamt sehr gut und ist stimmig und bewegend, nur in Details strauchelt die Debütantin, formuliert ihren Film etwas zu deutlich und lehrbuchhaft aus. Zu einem thematisch verwandten Meisterwerk wie “Before the Rain” (an den die Filmmusik an einer Stelle explizit verweist) fehlt da noch einiges.
Ebenfalls in der Reihe des neuen deutschen Kinos lief das recht groteske und konstruierte Drama “Die feinen Unterschiede” (Sylvie Michel), das eine banale Alltagssituation auf die Spitze treibt und dabei diverse Gegensätzlichkeiten der beiden Protagonisten, einem deutschen Arzt und einer bulgarischen Putzfrau, herausarbeitet.
In den 1950er Jahren ist das Drama “Der Verdingbub” (Markus Imboden; Schweiz) angesiedelt und arbeitet ein Kapitel der Schweizer Geschichte auf, das heute bei der jungen Generation des Landes kaum noch bekannt ist. Als “Verdingkinder” wurden Kinder aus ärmsten Verhältnissen bezeichnet, die als Knechte oder Mägde an Bauernhöfe verkauft wurden und dort ein freudloses, hartes Arbeitsleben fristeten. Der Film funktioniert rein aus seiner Geschichte heraus, die er durch gute Darsteller, authentische Ausstattung und große, der Landschaft angemessene Bilder untermauert.
“The Orator - O Le Tulafale” (Tusi Tamasese; Neuseeland) ist ein exotisches Stück Kino aus und über Samoa mit einem klein(wüchsig)en Mann und dessen großer Courage. Es ist die Geschichte David gegen Goliath, in der unsere Sympathien erwartungsgemäß dem kleinen Helden gehören. Das macht den Film ein wenig überraschungsarm, aber die stille Inszenierung dieser Selbstbehauptung ungeachtet zu erwartender Konsequenzen der Stärkeren gefiel mir ebenso gut, wie das atemberaubende Setting urwüchsiger Natur und die Integration der Geschichte in die Traditionen des dort lebenden Volkes.
Thailand steuerte mit “P-047 - Tae Peang Phu Deaw” (Kongej Jaturanrasamee; Thailand) erneut eine rätselhafte Geschichte bei, die in der Mitte ihre bisherige narrative Linearität durchbricht, sich öffnet und nicht vollständig interpretierbar macht. Anfangs ähnelt die Geschichte über zwei Gelegenheitseinbrecher jener von Kim Ki-Duks “Binjip”, bis sich dann etwas verwirrend-brüchiges in den Film schleicht und ihn einer gewissen Rationalität enthebt. Also nicht unbedingt eine Innovation für das thailändische Kino, zumal andere Filmemacher zuvor diese Brüchigkeit schon viel faszinierender verwirklicht haben. Ich erinnere mich z.B. gern an “Mundane History”, der vor 2 Jahren in München lief.
Recht gut gefallen hat mir auch “It looks pretty from a distance - Z daleka widok jest piekny” (Anke & Wilhelm Sasnal; Polen) der irgendwo in Polen eine ganz andere Seite von Europa zeichnet: ein eigentlich recht idyllischer Flecken Erde, aber durch Müll und Schrott in einen häßlichen, heruntergekommenen Ort verwandelt, an dem auch die Menschen selbst ungeahnte Abgründe offenbaren und sich selbst stets am nächsten sind. Die Menschen haben verlernt zu träumen, zu lieben und füreinander einzustehen.
“Best Intentions - Din dragoste cu cele mai bune intentii” (Adrian Sitaru; Rumänien) ist dagegen eine echte Belastungsprobe. Ein junger Mann sorgt sich übertrieben um den Gesundheitszustand seiner Mutter, mißtraut den Ärzten, hört auf jeden gutgemeinten Ratschlag und erwartet immer das Schlimmste. Daraus entwickelt sich eine anstrengende und ab der Mitte des Filmes nur noch auf der Stelle tretende Farce, die mich am Ende einfach nur noch genervt hat.
Mein persönlicher Tiefpunkt des Festivals war jedoch “Sirenen an Land - Seirenes Sti Steria” (Nikos Perakis; Griechenland), ein Sequel und mainstreamige, laute und überdrehte Polit-Action-Mischmasch-Komödie, die hektisch, flach und uninspiriert ein durchaus ernstes Thema abhandelt, ohne Interesse wecken zu können. “Sirenen an Land” hat absolut gar nichts mit dem gerade aufstrebenden jungen griechischen Kino zu tun.
In den kommenden Wochen haben drei Filme deutschen Kinostart, die ich vorab sehen konnte.
“Das Schwein von Gaza - Le cochon de Gaza” (Sylvain Estibal; Frankreich etc.) ist ein ganz wunderbar komischer wie intelligenter Vermittlungsversuch im Konflikt zwischen Palästina und Israel und “Paris Manhattan” (Sophie Lellouche; Frankreich) eine lockerleichte Hommage an Woody Allen, in der der New Yorker sich in einem Kurzauftritt selbst spielt. Am überzeugendsten kam jedoch “Am Ende eines viel zu kurzen Tages / Death of a Superhero” (Ian Fitzgibbon; Irland etc.) daher, erzählt eine erfrischende wie perspektivlose Coming-of-Age-Geschichte eines 15jährigen, der dank seines Zeichentalentes in seine eigene Comicwelt flüchtet, die mehrmals auch den Spielfilm durchbricht.
Zusammenfassend seien noch einmal “Terraferma”, “Southwest” und “Alois Nebel” als jene Filme herausgestellt, die den stärksten Eindruck bei mir hinterlassen haben.
Die diesjährige Filmfestausgabe bot mir die Gelegenheit, endlich “Terraferma” (Emanuele Crialese; Italien) zu sehen - eine auf den Ebenen Familie und Gesellschaft funktionierende bewegende Geschichte, die Crialese wieder zu ganz großem Kino geformt hat. “Terraferma” und “La Pirogue” (Moussa Toure; Senegal etc.) bildeten eine thematische Einheit. Beide Filme behandeln die Flüchtlingsproblematik zwischen Afrika und Europa, ein globales Problem, das derzeit keine Lösung kennt. Während “La Pirogue” aus afrikanischer Sicht sich mit seinen ausweglosen Figuren in ein kleines Fischerboot und auf den aufreibenden Seeweg nach Europa wagt, mit ihnen hofft und bangt, lässt Crialese an der südlichen Grenze Europas ebensolche Flüchtlinge auf mittellose italienische Fischer treffen, die verunsichert zwischen den Gesetzen der Regierung und den alten Gesetzen der Seefahrt stehen. In einer Zeit, als die Fischerboote nicht mehr das Leben ihrer Besitzer sichern können, als Ausweg nur noch der Tourismus auf der Insel verbleibt, müssen die Menschen dort nach einem neuen Platz für sich suchen, einen neuen Aufbruch wagen und sich vielleicht noch ein letztes Mal auf das Alte besinnen – ihr Boot, das beim Wechsel der Perspektive nicht mehr als eine Nußschale im Meer ist. Letzteres vereint wieder beide doch recht unterschiedliche Filme. Während “La Pirogue” am Ende den Hauptpreis des Festivals gewann, wurde “Terraferma” zu meinem persönlichen Favoriten.
Das südamerikanische Kino war traditionell stark vertreten, in diesem Jahr tat sich besonders Brasilien hervor. Den stärksten Eindruck hinterließ zweifelslos “Southwest - Sudoeste” (Eduardo Nunes; Brasilien) mit seinem extrem breiten Schwarzweiß-Format (etwa 3,5:1), das in bedächtig langsamen Einstellungen innerhalb eines Tagesverlaufes eine so rätselhafte wie märchenhafte Geschichte über die Wiedergeburt einer Frau und ihrem neuen Lebenszyklus im Zeitraffer erzählt. Auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene vollziehen sich Kreisläufe. “Southwest” ist ästhetisch sehr bewusstes Kino mit einer ausgezeichneten Kameraarbeit und Ton, das einen poetischen, nicht erklärbaren Schwebezustand im Nirgendwo absolut beeindruckend einfängt.
“Rat Fever - Febre Do Rato” (Claudio Assis; Brasilien) setzt ebenfalls auf eine selbstbewusste (schwarzweiße) Filmgestaltung, geht allerdings einen anderen Weg und erschafft ein vitales, impulsives, ungezügeltes Stück Kino, das sich ebenso gegen gängige Sehgewohnheiten aufbäumt, wie seine Protagonisten gegen den Gleichlauf der Gesellschaft rebellieren. “Rat Fever” ist das Porträt einer Gruppe junger Menschen, die ziellos in den Tag leben und ihre Freiheiten ohne Tabus auf Partys, mit kraftvoller Musik, Alkohol, hemmungslosem Sex etc. genießen. Ihr Anführer ist Rebell, Anarchist und Poet zugleich, der seinen Zorn gegen die Gesellschaft laut herausschreit.
“Rat Fever” ist in Recife angesiedelt, wie auch “Neighbouring Sounds - O Som Ao Redor” (Kleber Mendonca Filho; Brasilien). Letzterer spielt noch stärker mit der Architektur der Hafenmetropole, konzentriert sich auf ein Villenviertel der Stadt, das bedrohlich von Hochhäusern umgeben ist, die sich immer weiter in die Reihen der alten Häuser hineinfressen, so wie auch zunehmende Kleinkriminalität das Viertel bedroht. “Neighbouring Sounds” vernetzt die Bewohner in derem Alltag und setzt besonders eingangs stark auf eine Geräuschkulisse des Viertels, die jedoch später leider ein wenig an Bedeutung verliert.
“Der Wirbel - Girimunho” (Helvecio Marins jr. & Clarissa Campolina; Brasilien etc.) wechselt den Ort, geht von der bevölkerten Atlantikküste ins provinzielle Sertao. Die Filmemacher recherchierten lange, dokumentierten Orte und Menschen und erschufen daraus ein Spielfilmdrehbuch, in dem eine alte Frau nun ihre eigene Geschichte nachspielt. Im Endeffekt ist “Der Wirbel” deshalb ein halbdokumentarisches Porträt eines Landstriches, in dem eine alte Frau lebt, die nach dem Tod ihres Mannes von gespenstischen Visionen heimgesucht wird. Die Handlungsebene ist stark reduziert und der Film für mich recht ermüdend gewesen.
Ein weiteres Highlight des Filmfestes war für mich die Begegnung mit dem tschechischen Animationsfilm “Alois Nebel” (Tomas Lunak; Tschechien etc.). Als Vorlage diente die Graphic Novel von Jaroslav Rudis und Jaromir Svejdik, die zunächst als Realfilm gedreht und anschließend per Rotoskopieverfahren in eine schwarzweiße, mit wenigen Graustufen arbeitende Animation übersetzt wurde. Dadurch wirken die Bewegungen der Figuren verblüffend realistisch, die Schauspieler sind im Comic noch charakteristisch erkennbar und einige Texturen scheinen offensichtlich noch “real” zu sein. Dieser Film trotzte mir große Bewunderung über die formale Gestaltung ab. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen hinweg vom Verarbeiten menschlicher Erinnerungen.
Auch “Future Lasts Forever - Gelecek Uzun Sürer” (Özcan Alper; Türkei) behandelt Erinnerungen und die Aufarbeitung von Vergangenem, lässt eine Musikwissenschaftlerin aus Istanbul auf der Suche nach ihrem verschollenen Freund ins kurdische Gebiet aufbrechen, um dort ein Zeitzeugnis über die Vertreibung der Kurden zu schaffen. Özcan Alper integriert mehrere filmische Referenzen und kombiniert einen Wim Wenders’schen Sinnsucher beim Aufspüren von Wahrheiten mit einem berührenden Klagegesang, wie Theo Angelopoulos ihn in seine Filme integrierte. Die Hommage an diese beiden Filmemacher, welche ich beide sehr schätze, waren für mich natürlich ein absoluter Glücksumstand.
Ein weiteres Beispiel für historische Aufarbeitung im Film ist “Verwundete Erde - La Terre Outragee” (Michale Boganim; Frankreich etc.), der sich mit der Katastrophe von Tschernobyl beschäftigt. Wie schon in (dem weniger geglückten) “An einem Samstag” wird das Atomunglück von 1986 weder rekonstruiert, erklärt oder gewertet, sondern über persönliche Schicksale der dort lebenden Menschen reflektiert, die anfangs gar nicht wissen, was gerade passiert und welche Folgen die Katastrophe für sie bedeutet. Boganim erzählt recht stimmig und aufrichtig drei miteinander verflochtene Einzelgeschichten und begleitet ihre Figuren über mehrere Jahre hinweg, erzählt von Ängsten, Unwissen, Hoffnung und stummer Ergebenheit.
“Resistance” (Amit Gupta; UK) will eine bewegende Geschichte erzählen, in der sich in einem harten Kriegswinter die feindlichen Soldaten mit den Bewohnern des von ihnen besetzten Landes gegen weiteres sinnloses Töten verbünden. Und damit liegt schon der größte Haken des Filmes in seiner Vorlage. Denn das Buch bemüht eine historische Fiktion, in der 1944 die deutsche Wehrmacht England eingenommen hat. Warum diese selbstzerstörerische Vision? Hat es nicht genug echtes Elend an anderen Orten gegeben? So bewegend die Geschichte auch erzählt sein will, so heroisch sich auch der deutsche Anführer behauptet, so toll die Bilder der walisischen Natur auch waren, vor dem Hintergrund einer solchen Geschichtsumdeutung wollte der Film für mich nicht funktionieren.
Auch das deutsche Kino arbeitete mit historischen Stoffen. In dem beherzten “Die Brücke am Ibar” (Michaela Kezele) begibt sich die Filmemacherin ins Kosovo 1999, um die sich verhärtenden Spannungen zwischen Serben und Albanern aufzuspüren. Ihre Geschichte funktioniert insgesamt sehr gut und ist stimmig und bewegend, nur in Details strauchelt die Debütantin, formuliert ihren Film etwas zu deutlich und lehrbuchhaft aus. Zu einem thematisch verwandten Meisterwerk wie “Before the Rain” (an den die Filmmusik an einer Stelle explizit verweist) fehlt da noch einiges.
Ebenfalls in der Reihe des neuen deutschen Kinos lief das recht groteske und konstruierte Drama “Die feinen Unterschiede” (Sylvie Michel), das eine banale Alltagssituation auf die Spitze treibt und dabei diverse Gegensätzlichkeiten der beiden Protagonisten, einem deutschen Arzt und einer bulgarischen Putzfrau, herausarbeitet.
In den 1950er Jahren ist das Drama “Der Verdingbub” (Markus Imboden; Schweiz) angesiedelt und arbeitet ein Kapitel der Schweizer Geschichte auf, das heute bei der jungen Generation des Landes kaum noch bekannt ist. Als “Verdingkinder” wurden Kinder aus ärmsten Verhältnissen bezeichnet, die als Knechte oder Mägde an Bauernhöfe verkauft wurden und dort ein freudloses, hartes Arbeitsleben fristeten. Der Film funktioniert rein aus seiner Geschichte heraus, die er durch gute Darsteller, authentische Ausstattung und große, der Landschaft angemessene Bilder untermauert.
“The Orator - O Le Tulafale” (Tusi Tamasese; Neuseeland) ist ein exotisches Stück Kino aus und über Samoa mit einem klein(wüchsig)en Mann und dessen großer Courage. Es ist die Geschichte David gegen Goliath, in der unsere Sympathien erwartungsgemäß dem kleinen Helden gehören. Das macht den Film ein wenig überraschungsarm, aber die stille Inszenierung dieser Selbstbehauptung ungeachtet zu erwartender Konsequenzen der Stärkeren gefiel mir ebenso gut, wie das atemberaubende Setting urwüchsiger Natur und die Integration der Geschichte in die Traditionen des dort lebenden Volkes.
Thailand steuerte mit “P-047 - Tae Peang Phu Deaw” (Kongej Jaturanrasamee; Thailand) erneut eine rätselhafte Geschichte bei, die in der Mitte ihre bisherige narrative Linearität durchbricht, sich öffnet und nicht vollständig interpretierbar macht. Anfangs ähnelt die Geschichte über zwei Gelegenheitseinbrecher jener von Kim Ki-Duks “Binjip”, bis sich dann etwas verwirrend-brüchiges in den Film schleicht und ihn einer gewissen Rationalität enthebt. Also nicht unbedingt eine Innovation für das thailändische Kino, zumal andere Filmemacher zuvor diese Brüchigkeit schon viel faszinierender verwirklicht haben. Ich erinnere mich z.B. gern an “Mundane History”, der vor 2 Jahren in München lief.
Recht gut gefallen hat mir auch “It looks pretty from a distance - Z daleka widok jest piekny” (Anke & Wilhelm Sasnal; Polen) der irgendwo in Polen eine ganz andere Seite von Europa zeichnet: ein eigentlich recht idyllischer Flecken Erde, aber durch Müll und Schrott in einen häßlichen, heruntergekommenen Ort verwandelt, an dem auch die Menschen selbst ungeahnte Abgründe offenbaren und sich selbst stets am nächsten sind. Die Menschen haben verlernt zu träumen, zu lieben und füreinander einzustehen.
“Best Intentions - Din dragoste cu cele mai bune intentii” (Adrian Sitaru; Rumänien) ist dagegen eine echte Belastungsprobe. Ein junger Mann sorgt sich übertrieben um den Gesundheitszustand seiner Mutter, mißtraut den Ärzten, hört auf jeden gutgemeinten Ratschlag und erwartet immer das Schlimmste. Daraus entwickelt sich eine anstrengende und ab der Mitte des Filmes nur noch auf der Stelle tretende Farce, die mich am Ende einfach nur noch genervt hat.
Mein persönlicher Tiefpunkt des Festivals war jedoch “Sirenen an Land - Seirenes Sti Steria” (Nikos Perakis; Griechenland), ein Sequel und mainstreamige, laute und überdrehte Polit-Action-Mischmasch-Komödie, die hektisch, flach und uninspiriert ein durchaus ernstes Thema abhandelt, ohne Interesse wecken zu können. “Sirenen an Land” hat absolut gar nichts mit dem gerade aufstrebenden jungen griechischen Kino zu tun.
In den kommenden Wochen haben drei Filme deutschen Kinostart, die ich vorab sehen konnte.
“Das Schwein von Gaza - Le cochon de Gaza” (Sylvain Estibal; Frankreich etc.) ist ein ganz wunderbar komischer wie intelligenter Vermittlungsversuch im Konflikt zwischen Palästina und Israel und “Paris Manhattan” (Sophie Lellouche; Frankreich) eine lockerleichte Hommage an Woody Allen, in der der New Yorker sich in einem Kurzauftritt selbst spielt. Am überzeugendsten kam jedoch “Am Ende eines viel zu kurzen Tages / Death of a Superhero” (Ian Fitzgibbon; Irland etc.) daher, erzählt eine erfrischende wie perspektivlose Coming-of-Age-Geschichte eines 15jährigen, der dank seines Zeichentalentes in seine eigene Comicwelt flüchtet, die mehrmals auch den Spielfilm durchbricht.
Zusammenfassend seien noch einmal “Terraferma”, “Southwest” und “Alois Nebel” als jene Filme herausgestellt, die den stärksten Eindruck bei mir hinterlassen haben.