Filmfest Cottbus 2012
Auch in diesem Jahr gab es in Cottbus wieder ein recht lohnenswertes und schönes Filmfestival des osteuropäischen Kinos. Zwar ohne einen richtigen Überflieger, aber mit sehr vielen guten Filmen. Die Erinnerungen sind noch sehr frisch und teils noch gar nicht vollends verarbeitet. 15 Filme in 4 Tagen. Bin nun ein wenig filmmüde, will aber meine Eindrücke hier kurz zusammenfassen, bevor andere Dinge sich wieder in den Vordergrund drängen.
Djeca – Kinder von Sarajevo (Aida Begic; Bosnien und Herzegowina / Deutschland / Frankreich / Türkei)
Halimin Put – Halimas Weg (Arsen Anton Ostojic; Kroatien / Bosnien und Herzegowina / Slowenien)
Ustanicka Ulica – Straße der Erlösung (Miroslav Terzic; Serbien / Slowenien)
Die ehemaligen jugoslawischen Teilstaaten verbinden ihre Gegenwartsgeschichten häufig mit einer rückblickenden Aufarbeitung ihrer Bürgerkriege, die tiefe persönliche Wunden hinterlassen haben. Aida Begic (die Regisseurin des sehr tollen “Snow” 2008) fängt in einer stilsicheren Inszenierung von “Djeca” ein verwaistes Geschwisterpaar ein, die wie Satelliten umeinander kreisen und sich zu verlieren drohen, und ihr gelingt es, in einer aufgrund der vielfältigen gesellschaftlichen Spannungen unfertigen Erzählung zumindest diese beiden wieder enger zusammenzurücken. “Halimas Weg” hat eine der stärksten Geschichten zu bieten, gewiss ein wenig konstruiert wirkend, aber im Ansatz auf wahren Begebenheiten beruhend und damit sehr intensiv, glaubhaft und bewegend. Der Film konzentriert sich ganz auf die Story, lenkt durch keine allzu dramatisierende Regie ab und wartet stattdessen geduldig, bis sich die ganze Tragweite dieser Variation einer griechischen Tragödie entfaltet. “Straße der Erlösung” ist dagegen als spannender Genrefilm inszeniert, eine thrillerhafte Aufdeckung von Kriegsverbrechen, die Suche nach unerkannt lebenden Hintermännern und ehemaligen aber nach wie vor mächtigen Befehlsgebern im Krieg.
Archeo (Jan Cvitkovic; Slowenien)
Ein Experiment ohne narrativen Hintergrund: In dem dialogfreien 70-Minüter fallen buchstäblich ein Mann, eine Frau und ein Kind wie aus dem Nichts auf eine befremdlich verlassene Erde, reagieren zunächst auf Instinkte und stehen sich einander konträr gegenüber, bis am Ende aus ihnen eine familienartige Gemeinschaft geworden ist. Eine tolle meditative Kamera fängt exotische Schauplätze ein, in denen die Figuren und die großartige Natur miteinander verschmelzen. Science Fiction, Drama, Ethnoabenteuer, Postapokalypse, Robinsonade?
Kronike Shqiptare – Eine albanische Chronik (Artan Minarolli, Ylljet Alicka; Albanien / Frankreich / Italien / Griechenland)
Herausfordernder Sichtungsumstand: gezeigt wurde die albanische Originalfassung ohne UT, wobei zwei Filmakte miteinander vertauscht abgespielt wurden, so dass nicht nur mein Verständnis sondern auch der Simultandolmetscher zweimal ins Stocken geriet (der offensichtlich die Texttafeln in der richtigen Reihenfolge vor sich hatte). “Eine albanische Chronik” ist ein kauziger Blick auf ein kleines albanisches Dorf, in dem Muslime und Christen sich gegenseitig belauern, miteinander streiten aber auch trinken. Eine junge ungestüme Liebe, die die religiösen Vorbehalte sprengt und die Einwohner herausfordert, setzt eine Kettenreaktion in Gang. Ganz nett mit vielen skurrilen Details.
O Luna In Thailanda – Ein Monat in Thailand (Paul Negoescu; Rumänien)
Ein weiteres Mal vermag mich in diesem Jahr das rumänische Kino nicht vollends zu überzeugen. “Ein Monat Thailand” ist dabei keineswegs ein schlechter Film. Hier ist es Gegenwartskino, das Debüt eines jungen Filmemachers über die eigene Generation um die 30, die sich verunsichert um sich selbst dreht und der plötzlich eine abgestreifte Vergangenheit wieder begehrenswert erscheint. Ein männlicher Protagonist begibt sich in der Silvesternacht auf eine Odyssee durch das pulsierende Bukarest und sucht nach der Liebe. Eine unglaublich stimmungsvolle Partyszene mit einem modernen Remix des ebenfalls fast 30 Jahre alten Jennifer Rush-Hits “The Power of Love” vermochte mich dann doch nach zwei Dritteln Spielzeit und bis dato steigenden Desinteresses wieder einzufangen und mich mit dem Film letztlich versöhnlich zu stimmen.
Dupa Dealuri – Jenseits der Hügel (Cristian Mungiu; Rumänien / Frankreich / Belgien)
Ein abgelegenes Haus in den Hügeln – ein mehrfach verwendetes Motiv in der diesjährigen Filmauswahl. Hier ist es ein Kloster, in dem zwei innig verbundene junge Frauen nach langer Zeit der Trennung wieder zusammen kommen. Wer weggeht ist nicht mehr der selbe, wenn er wiederkommt. Aber auch wer zurückbleibt, verändert sich. Unter diesen Vorzeichen treffen die weltliche Alina und die zu Gott gefundene Voichita sich wieder. Die eine möchte die alte Freundin mit hinaus in die Welt nehmen, die andere möchte, dass sie gemeinsam in der Geborgenheit des Glaubens leben. Beide kämpfen füreinander, aber jede mit eigenem Ziel, bis ein rebellisches Aufbegehren unumkehrbar eskaliert. Das Haus in den Hügeln ist Fluchtmöglichkeit und Gefängnis zugleich. Ein stilles eindringliches Drama, das keinen Ausweg offen lässt.
Dom – Eine Russische Familie (Oleg Pogodin; Russland)
Bei Pogodin ist das einsame Haus in den Hügeln einer endlosen russischen Steppe die Heimat einer Großfamilie, die sich anlässlich des 100. Geburtstag des eher toten als lebendigen Großvaters zusammenfindet. Der Vater regiert im Haus mit harter Hand auch unter seinen sechs längst erwachsenen Kindern. Den Spuren des ältesten, kriminell verflochtenen Sohn folgen Killer zum Haus – ein spannungsvoller und am Ende sehr blutiger “russischer Western” nimmt seinen Lauf, in dem bis zum letzten Schuss das bestehende Patriarchat des Hauses demontiert wird. Anklänge bei Leone, den Coens und Tarantino inklusive. Ein rauer Film, nichts für zarte Gemüter.
Koktemnin Birinshi Zhanbyry – Erster Regen im Frühling (Erlan Nurmuhambetov, Sano Shinju; Kasachstan / Japan)
Das Haus einer kasachischen Familie liegt ebenso abgeschieden in einer urtümlichen Landschaft. Als die im Haus lebende Schamanin ihren Tod und Wiedergeburt ankündigt, bringt ein Ehepaar ihren Leichnam an einen heiligen Ort, während die Kinder der Familie allein im Haus bleiben, aber ganz selbstverständlich den Alltag und die Arbeit fortführen. Ein russisches Mädchen und ihr Vater stranden für wenige Stunden in ihrem Haus und werden für den ältesten Sohn zum Keim seiner künftigen Erweckung aus seinem vermeintlich vorbestimmten Leben. In Kasachstan vollzieht sich auch im Kino eine Rückkehr zu den Naturreligionen, die sich als Gegenentwurf zu einem modernen Leben aufzeigt. In sich ruhendes Kino, das sich der Natur und seinen Menschen unterordnet.
Kokoko (Avotya Smirnova; Russland)
Eine unglaubliche Frauenfreundschaft beginnt in einem Zugabteil und setzt sich in der Atelierswohnung einer St. Petersburger Museumsmitarbeiterin fort: die gediegene und gebildete Lisa trifft auf die lebensfrohe und einfache Vika – ein Gegensatz, der anfänglich zum Scheitern verurteilt scheint, aber der beide Frauen gegenseitig befruchtet. “Kokoko” ist eine schwungvolle und mit kräftiger Musik unterlegte Komödie, die ihre Figuren im Gleichschritt vereint und sie aus ihrem Trott ausbrechen lässt. Der Anfang vom (Film-)Ende kommt ein wenig drastisch und aufgesetzt daher, aber das Ende vom (Film-)Ende passt dann wieder sehr gut als Schlusseinstellung. “Kokoko” zu schauen, hat Spaß gemacht.
Ya Budu Ryadom – Ich werde da sein (Pavel Ruminov; Russland)
Man könnte “Ich werde da sein” als russisches “Mein Leben ohne mich” beschreiben, doch der Vergleich würde emotional zu kurz greifen. Denn Pavel Ruminov lässt seine einst lebensfrohe alleinerziehende Mutter eines 6jährigen Sohnes mit einem tödlichen Tumor im Kopf nicht ihre letzten Tage mit ihren geheimsten Wünschen verbringen, sondern sie konzentriert sich ganz auf die Zukunft des Jungen. Sie muss neue Eltern für ihn finden. Eine authentische, selbst etwas wacklige Kamera bleibt dabei intensiv nah dran an ihr, ihrem Kampf gegen die Schmerzen, Vergesslichkeit und schwindenden Kräfte und letztlich ihrem langsamen und unausweichlichen Tod, den sie vor ihrem Kind nicht einzugestehen vermag, das aber ahnt, dass eine große Veränderung bevorsteht. Die Bilder sind ungeschminkt, ungefiltert bricht sich häufig das Licht in sie hinein. Das sehr bewegende Drama war mein emotionaler Höhepunkt des Festivals.
V Tumane – Im Nebel (Sergej Loznitsa; Deutschland / Russland / Lettland / Niederlande / Weißrussland)
“Im Nebel”, der dieser Tage auch einen zumindest kleinen bundesdeutschen Kinostart hat, erzählt in langen, eindringlichen Einstellungen eine moralisch herausfordernde wie ausweglose Kriegsgeschichte aus dem Jahr 1942 in Weißrussland. Die Tatsache, dass ein ehrbarer Arbeiter von den Deutschen freigelassen wird, während seine anderen Mitgefangenen getötet werden, macht ihn in den Augen seiner Mitmenschen zum Verräter. Die anderen glauben nicht dem, den sie seit Jahren kennen, sondern dem, was sie (zu) sehen (glauben). Aus dieser aufreibenden Ausgangssituation entspinnt sich ein bedrohliches Drama dreier Männer im Wald mit dem Tod im Nacken, auf der Suche nach einem letzten Zipfel Menschlichkeit im Gegenüber. Ich war sehr beeindruckt.
Dom Bashenko – Haus mit Türmchen (Eva Neymann; Ukraine)
Auch die Ukrainerin Neymann drehte ein unspektakuläres, humanistisches Kriegsdrama, hier aus der Sicht eines kleinen Jungen, der seine Mutter verloren hat. Der Film spart dabei Bilder des Krieges komplett aus, fängt jedoch mit sehr “fotografischen” schwarzweißen Aufnahmen die trostlose Kulisse des letzten Kriegswinters ein, durch die der Junge nun irrt. Mitunter erinnern die Bilder ein wenig an Tarkowskis Filme, ohne aber dessen große Bildgewalt zu imitieren noch zu erreichen.
Ete Bolory – Wenn doch nur jedermann (Natalja Belyauskene; Armenien / Russland)
“Wenn doch nur jedermann” ist das eindrucksvolle Regiedebüt einer russischen Filmemacherin bei einer armenischen Produktion. Eine junge Russin will einen Baum auf dem Grab ihres Vaters pflanzen und sucht in Armenien dessen alten Kriegsgefährten auf. Es entspinnt sich ein sehr schönes Roadmovie durch Armenien, das sich für seine Menschen, Landschaften und Traditionen interessiert. Unterbrochen wird die episodenhafte Reise durch die Aufenthalte bei weiteren Männern, die mit ihrem Vater gekämpft haben. Durch die Figur der nahezu magischen jungen Frau kommt eine angenehme Leichtigkeit in die im Grunde nachdenklich stimmende Geschichte, die immer weiter in die jüngere dunkle Vergangenheit und an innere wie äußere Grenzen stößt. Der Film findet zu einem versöhnlichen Ende, welches der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidshan leider noch immer nicht kennt.
Chaika (Miguel Angel Jimenez; Spanien / Georgien / Frankreich / Russland)
Eine internationale Co-Produktion verhilft einer auf den ersten Blick recht neugierig machenden Geschichte auf die Leinwand, aber beim Sehen stellt sich der Film als sehr unausgegorenes Kino mit vielen Ungereimtheiten heraus. Die Inszenierung ruht sich zu lange auf den wirklich guten Landschaftsaufnahmen Sibiriens aus, verlässt sich auf ein eingangs angedeutetes Gleichnis der Protagonistin im Film (eine schwangere Prostituierte, deren sich ein Seemann annimmt und die er in seine Heimat führt) mit der ersten Frau im All (Tereschkowa 1963, genannt “Tschaika – Möwe”) und vergisst dabei, die Geschichte glaubhaft zu unterfüttern und zu erzählen. Mir ist unklar, was der Film wollte, außer eine Frau als gefangenen Vogel anzudeuten, der seinen Käfig verlassen muss, um nicht zu ersticken.
Zusammenfassend will ich die Filme “Wenn doch nur jedermann”, “Ich werde da sein”, “Im Nebel” und “Jenseits der Hügel” als jene hervorheben, die mir persönlich am besten und momentan am nachhaltigsten gefallen haben. Grundsätzlich abraten würde ich nur von “Chaika”.
Auch in diesem Jahr gab es in Cottbus wieder ein recht lohnenswertes und schönes Filmfestival des osteuropäischen Kinos. Zwar ohne einen richtigen Überflieger, aber mit sehr vielen guten Filmen. Die Erinnerungen sind noch sehr frisch und teils noch gar nicht vollends verarbeitet. 15 Filme in 4 Tagen. Bin nun ein wenig filmmüde, will aber meine Eindrücke hier kurz zusammenfassen, bevor andere Dinge sich wieder in den Vordergrund drängen.
Djeca – Kinder von Sarajevo (Aida Begic; Bosnien und Herzegowina / Deutschland / Frankreich / Türkei)
Halimin Put – Halimas Weg (Arsen Anton Ostojic; Kroatien / Bosnien und Herzegowina / Slowenien)
Ustanicka Ulica – Straße der Erlösung (Miroslav Terzic; Serbien / Slowenien)
Die ehemaligen jugoslawischen Teilstaaten verbinden ihre Gegenwartsgeschichten häufig mit einer rückblickenden Aufarbeitung ihrer Bürgerkriege, die tiefe persönliche Wunden hinterlassen haben. Aida Begic (die Regisseurin des sehr tollen “Snow” 2008) fängt in einer stilsicheren Inszenierung von “Djeca” ein verwaistes Geschwisterpaar ein, die wie Satelliten umeinander kreisen und sich zu verlieren drohen, und ihr gelingt es, in einer aufgrund der vielfältigen gesellschaftlichen Spannungen unfertigen Erzählung zumindest diese beiden wieder enger zusammenzurücken. “Halimas Weg” hat eine der stärksten Geschichten zu bieten, gewiss ein wenig konstruiert wirkend, aber im Ansatz auf wahren Begebenheiten beruhend und damit sehr intensiv, glaubhaft und bewegend. Der Film konzentriert sich ganz auf die Story, lenkt durch keine allzu dramatisierende Regie ab und wartet stattdessen geduldig, bis sich die ganze Tragweite dieser Variation einer griechischen Tragödie entfaltet. “Straße der Erlösung” ist dagegen als spannender Genrefilm inszeniert, eine thrillerhafte Aufdeckung von Kriegsverbrechen, die Suche nach unerkannt lebenden Hintermännern und ehemaligen aber nach wie vor mächtigen Befehlsgebern im Krieg.
Archeo (Jan Cvitkovic; Slowenien)
Ein Experiment ohne narrativen Hintergrund: In dem dialogfreien 70-Minüter fallen buchstäblich ein Mann, eine Frau und ein Kind wie aus dem Nichts auf eine befremdlich verlassene Erde, reagieren zunächst auf Instinkte und stehen sich einander konträr gegenüber, bis am Ende aus ihnen eine familienartige Gemeinschaft geworden ist. Eine tolle meditative Kamera fängt exotische Schauplätze ein, in denen die Figuren und die großartige Natur miteinander verschmelzen. Science Fiction, Drama, Ethnoabenteuer, Postapokalypse, Robinsonade?
Kronike Shqiptare – Eine albanische Chronik (Artan Minarolli, Ylljet Alicka; Albanien / Frankreich / Italien / Griechenland)
Herausfordernder Sichtungsumstand: gezeigt wurde die albanische Originalfassung ohne UT, wobei zwei Filmakte miteinander vertauscht abgespielt wurden, so dass nicht nur mein Verständnis sondern auch der Simultandolmetscher zweimal ins Stocken geriet (der offensichtlich die Texttafeln in der richtigen Reihenfolge vor sich hatte). “Eine albanische Chronik” ist ein kauziger Blick auf ein kleines albanisches Dorf, in dem Muslime und Christen sich gegenseitig belauern, miteinander streiten aber auch trinken. Eine junge ungestüme Liebe, die die religiösen Vorbehalte sprengt und die Einwohner herausfordert, setzt eine Kettenreaktion in Gang. Ganz nett mit vielen skurrilen Details.
O Luna In Thailanda – Ein Monat in Thailand (Paul Negoescu; Rumänien)
Ein weiteres Mal vermag mich in diesem Jahr das rumänische Kino nicht vollends zu überzeugen. “Ein Monat Thailand” ist dabei keineswegs ein schlechter Film. Hier ist es Gegenwartskino, das Debüt eines jungen Filmemachers über die eigene Generation um die 30, die sich verunsichert um sich selbst dreht und der plötzlich eine abgestreifte Vergangenheit wieder begehrenswert erscheint. Ein männlicher Protagonist begibt sich in der Silvesternacht auf eine Odyssee durch das pulsierende Bukarest und sucht nach der Liebe. Eine unglaublich stimmungsvolle Partyszene mit einem modernen Remix des ebenfalls fast 30 Jahre alten Jennifer Rush-Hits “The Power of Love” vermochte mich dann doch nach zwei Dritteln Spielzeit und bis dato steigenden Desinteresses wieder einzufangen und mich mit dem Film letztlich versöhnlich zu stimmen.
Dupa Dealuri – Jenseits der Hügel (Cristian Mungiu; Rumänien / Frankreich / Belgien)
Ein abgelegenes Haus in den Hügeln – ein mehrfach verwendetes Motiv in der diesjährigen Filmauswahl. Hier ist es ein Kloster, in dem zwei innig verbundene junge Frauen nach langer Zeit der Trennung wieder zusammen kommen. Wer weggeht ist nicht mehr der selbe, wenn er wiederkommt. Aber auch wer zurückbleibt, verändert sich. Unter diesen Vorzeichen treffen die weltliche Alina und die zu Gott gefundene Voichita sich wieder. Die eine möchte die alte Freundin mit hinaus in die Welt nehmen, die andere möchte, dass sie gemeinsam in der Geborgenheit des Glaubens leben. Beide kämpfen füreinander, aber jede mit eigenem Ziel, bis ein rebellisches Aufbegehren unumkehrbar eskaliert. Das Haus in den Hügeln ist Fluchtmöglichkeit und Gefängnis zugleich. Ein stilles eindringliches Drama, das keinen Ausweg offen lässt.
Dom – Eine Russische Familie (Oleg Pogodin; Russland)
Bei Pogodin ist das einsame Haus in den Hügeln einer endlosen russischen Steppe die Heimat einer Großfamilie, die sich anlässlich des 100. Geburtstag des eher toten als lebendigen Großvaters zusammenfindet. Der Vater regiert im Haus mit harter Hand auch unter seinen sechs längst erwachsenen Kindern. Den Spuren des ältesten, kriminell verflochtenen Sohn folgen Killer zum Haus – ein spannungsvoller und am Ende sehr blutiger “russischer Western” nimmt seinen Lauf, in dem bis zum letzten Schuss das bestehende Patriarchat des Hauses demontiert wird. Anklänge bei Leone, den Coens und Tarantino inklusive. Ein rauer Film, nichts für zarte Gemüter.
Koktemnin Birinshi Zhanbyry – Erster Regen im Frühling (Erlan Nurmuhambetov, Sano Shinju; Kasachstan / Japan)
Das Haus einer kasachischen Familie liegt ebenso abgeschieden in einer urtümlichen Landschaft. Als die im Haus lebende Schamanin ihren Tod und Wiedergeburt ankündigt, bringt ein Ehepaar ihren Leichnam an einen heiligen Ort, während die Kinder der Familie allein im Haus bleiben, aber ganz selbstverständlich den Alltag und die Arbeit fortführen. Ein russisches Mädchen und ihr Vater stranden für wenige Stunden in ihrem Haus und werden für den ältesten Sohn zum Keim seiner künftigen Erweckung aus seinem vermeintlich vorbestimmten Leben. In Kasachstan vollzieht sich auch im Kino eine Rückkehr zu den Naturreligionen, die sich als Gegenentwurf zu einem modernen Leben aufzeigt. In sich ruhendes Kino, das sich der Natur und seinen Menschen unterordnet.
Kokoko (Avotya Smirnova; Russland)
Eine unglaubliche Frauenfreundschaft beginnt in einem Zugabteil und setzt sich in der Atelierswohnung einer St. Petersburger Museumsmitarbeiterin fort: die gediegene und gebildete Lisa trifft auf die lebensfrohe und einfache Vika – ein Gegensatz, der anfänglich zum Scheitern verurteilt scheint, aber der beide Frauen gegenseitig befruchtet. “Kokoko” ist eine schwungvolle und mit kräftiger Musik unterlegte Komödie, die ihre Figuren im Gleichschritt vereint und sie aus ihrem Trott ausbrechen lässt. Der Anfang vom (Film-)Ende kommt ein wenig drastisch und aufgesetzt daher, aber das Ende vom (Film-)Ende passt dann wieder sehr gut als Schlusseinstellung. “Kokoko” zu schauen, hat Spaß gemacht.
Ya Budu Ryadom – Ich werde da sein (Pavel Ruminov; Russland)
Man könnte “Ich werde da sein” als russisches “Mein Leben ohne mich” beschreiben, doch der Vergleich würde emotional zu kurz greifen. Denn Pavel Ruminov lässt seine einst lebensfrohe alleinerziehende Mutter eines 6jährigen Sohnes mit einem tödlichen Tumor im Kopf nicht ihre letzten Tage mit ihren geheimsten Wünschen verbringen, sondern sie konzentriert sich ganz auf die Zukunft des Jungen. Sie muss neue Eltern für ihn finden. Eine authentische, selbst etwas wacklige Kamera bleibt dabei intensiv nah dran an ihr, ihrem Kampf gegen die Schmerzen, Vergesslichkeit und schwindenden Kräfte und letztlich ihrem langsamen und unausweichlichen Tod, den sie vor ihrem Kind nicht einzugestehen vermag, das aber ahnt, dass eine große Veränderung bevorsteht. Die Bilder sind ungeschminkt, ungefiltert bricht sich häufig das Licht in sie hinein. Das sehr bewegende Drama war mein emotionaler Höhepunkt des Festivals.
V Tumane – Im Nebel (Sergej Loznitsa; Deutschland / Russland / Lettland / Niederlande / Weißrussland)
“Im Nebel”, der dieser Tage auch einen zumindest kleinen bundesdeutschen Kinostart hat, erzählt in langen, eindringlichen Einstellungen eine moralisch herausfordernde wie ausweglose Kriegsgeschichte aus dem Jahr 1942 in Weißrussland. Die Tatsache, dass ein ehrbarer Arbeiter von den Deutschen freigelassen wird, während seine anderen Mitgefangenen getötet werden, macht ihn in den Augen seiner Mitmenschen zum Verräter. Die anderen glauben nicht dem, den sie seit Jahren kennen, sondern dem, was sie (zu) sehen (glauben). Aus dieser aufreibenden Ausgangssituation entspinnt sich ein bedrohliches Drama dreier Männer im Wald mit dem Tod im Nacken, auf der Suche nach einem letzten Zipfel Menschlichkeit im Gegenüber. Ich war sehr beeindruckt.
Dom Bashenko – Haus mit Türmchen (Eva Neymann; Ukraine)
Auch die Ukrainerin Neymann drehte ein unspektakuläres, humanistisches Kriegsdrama, hier aus der Sicht eines kleinen Jungen, der seine Mutter verloren hat. Der Film spart dabei Bilder des Krieges komplett aus, fängt jedoch mit sehr “fotografischen” schwarzweißen Aufnahmen die trostlose Kulisse des letzten Kriegswinters ein, durch die der Junge nun irrt. Mitunter erinnern die Bilder ein wenig an Tarkowskis Filme, ohne aber dessen große Bildgewalt zu imitieren noch zu erreichen.
Ete Bolory – Wenn doch nur jedermann (Natalja Belyauskene; Armenien / Russland)
“Wenn doch nur jedermann” ist das eindrucksvolle Regiedebüt einer russischen Filmemacherin bei einer armenischen Produktion. Eine junge Russin will einen Baum auf dem Grab ihres Vaters pflanzen und sucht in Armenien dessen alten Kriegsgefährten auf. Es entspinnt sich ein sehr schönes Roadmovie durch Armenien, das sich für seine Menschen, Landschaften und Traditionen interessiert. Unterbrochen wird die episodenhafte Reise durch die Aufenthalte bei weiteren Männern, die mit ihrem Vater gekämpft haben. Durch die Figur der nahezu magischen jungen Frau kommt eine angenehme Leichtigkeit in die im Grunde nachdenklich stimmende Geschichte, die immer weiter in die jüngere dunkle Vergangenheit und an innere wie äußere Grenzen stößt. Der Film findet zu einem versöhnlichen Ende, welches der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidshan leider noch immer nicht kennt.
Chaika (Miguel Angel Jimenez; Spanien / Georgien / Frankreich / Russland)
Eine internationale Co-Produktion verhilft einer auf den ersten Blick recht neugierig machenden Geschichte auf die Leinwand, aber beim Sehen stellt sich der Film als sehr unausgegorenes Kino mit vielen Ungereimtheiten heraus. Die Inszenierung ruht sich zu lange auf den wirklich guten Landschaftsaufnahmen Sibiriens aus, verlässt sich auf ein eingangs angedeutetes Gleichnis der Protagonistin im Film (eine schwangere Prostituierte, deren sich ein Seemann annimmt und die er in seine Heimat führt) mit der ersten Frau im All (Tereschkowa 1963, genannt “Tschaika – Möwe”) und vergisst dabei, die Geschichte glaubhaft zu unterfüttern und zu erzählen. Mir ist unklar, was der Film wollte, außer eine Frau als gefangenen Vogel anzudeuten, der seinen Käfig verlassen muss, um nicht zu ersticken.
Zusammenfassend will ich die Filme “Wenn doch nur jedermann”, “Ich werde da sein”, “Im Nebel” und “Jenseits der Hügel” als jene hervorheben, die mir persönlich am besten und momentan am nachhaltigsten gefallen haben. Grundsätzlich abraten würde ich nur von “Chaika”.