Meine bislang umfangreichste Berlinale soll hier zumindest mit ein paar kurzen Gedanken bedacht werden. Einen echten Überflieger gab es dieses Jahr für mich nicht.
Mein prominentester Film war sicher Linklaters „Before Midnight“, das nunmehr dritte und vermutlich letzte Treffen mit Julie Delpy und Ethan Hawke als Celine und Jesse. Nach den zeitlich eng abgesteckten magischen Begegnungen in Wien und Paris wandeln sie nun unter griechischer Sonne und philosophieren erneut über das Leben und die Liebe und reflektieren ihr Leben und ihre Entscheidungen. Die Dialoge sind wieder ebenso treffsicher und flüssig, wie die Darsteller überzeugend in ihren selbst geschriebenen Rollen agieren. Nur der Zauber des flüchtigen Momentes, der die Vorgängerfilme so beflügelte, fehlt hier etwas und es dauert bis zur letzten Einstellung, bis sich diese Magie samt einem wunderbaren Schlusssatz einstellt.
Auch andere Filme widmeten sich dem Ausloten von Beziehungen. In „Ayer no termina nunca“ lässt Isabel Coixet ein Ex-Paar sich sehr ausgedehnt in ihrem Leid suhlen und den Tod des gemeinsamen Sohnes und das Ende ihrer Beziehung bedauern. Eine echte Geduldsprobe. Dem gegenüber stellt die Spanierin eine interessante Bildebene. Das Geschehen spielt sich in einer modernen Investruine ab, aus der sich kalte graublaue Bilder ergeben, die den Niedergang des Landes und der Gesellschaft nachzeichnen. Gedanken und Erinnerungen der beiden Trauerfiguren werden als schwarzweiße Szenen wie aus einem Zwischenreich einmontiert und erst ganz am Ende gibt es eine Rückblende mit angenehm freundlich wirkenden Farben.
Spielerisch und verträumt widmet sich „Nugu-ui Ttal-do Anin Haewon“ einer jungen Südkoreanerin, die durch das Chaos ihrer Gefühle und Beziehungen stolpert. Der leicht schwebende Film lebt von den Begegnungen von Haewon mit Fremden und Freunden, sowie alten, aktuellen und eventuell zukünftigen Liebhabern, erzählt von den kleinen Geheimnissen, die keine sind, von Haewons Trinkfreudigkeit und ihrer Unentschlossenheit in der Liebe. Kleines charmantes Kino für den Augenblick, das die Zeit langsamer verrinnen lässt.
Ein großes Drama in Cinemascope-Bildern entführt in „Soguk“ in eine archaische Schneelandschaft in den türkischen Bergen. Herr dieser unwirtlichen Region ist ein Gleiswärter, der sogar Züge zum Stoppen zwingen kann. Er gerät in ein moralisches Dilemma, als er sich in eine russische Prostituierte verliebt, jedoch auch seine mit dem dritten Kind hochschwangere Frau nicht verlassen will. Ugur Yücel gestaltet daraus ein beeindruckendes Drama gleich einer antiken Tragödie, fast eine Spur zuviel Inszenierung. Mir hat die emotionale Wucht jedoch gefallen.
Die großartige Landschaftskulisse hat „Soguk“ mit dem russischen Wettbewerbsfilm „Dolgaya Schastlivaya Zhizn“ gemein. Der spielt auf der Halbinsel Kola, ein kleines Dörfchen an einem reißenden Fluss inmitten unendlicher grün-gelber malerischer Wälder. Hier wehrt sich der junge Anführer einer Gemeinschaft von Bauern gegen den Verkauf seines Landes. Er ist ein Mann mit Visionen, bereit dafür zu kämpfen: ein Last Man Standing in einer Art russischem Western, ein Kampf David gegen Goliath in einer Zeit, in der der kleine Mann nicht mehr dauerhaft gewinnen kann.
Thomas Arslan hat bereits mit „Im Schatten“ das Manko des deutschen Genrefilmes durchbrochen und auch mit seinem authentisch anmutenden Goldgräber-Western „Gold“ sammelt er meinen Respekt ein. Eine Gruppe deutscher Auswanderer schickt er 1898 auf eine entbehrungsreiche Reise durch die nordamerikanische Wildnis. Das Gold bleibt ein Mythos der Ferne, Arslan begleitet seine Protagonisten auf einem Weg voller Strapazen, Vertrauen und Misstrauen, körperlicher und psychischer Belastungen, durch die raue Natur und Unbilden des Wetters. Jede Figur stattet er gerade mit so viel Hintergrund aus, um sie für den Film interessant und verständlich zu machen. Ironischerweise stellt „Gold“ im Kampf um einen Bären genau die gleiche Art von unberechenbarer Falle auf, wie auch der kanadische Wettbewerbsfilm „Vic + Flo“, eine Verbindung im Geiste wie sie sich letztes Jahr ähnlich zwischen „Holy Motors“ und „Cosmopolis“ ergab. „Vic + Flo“ ist ein schwer fassbarer und einzuordnender Film, der sich einem konkreten Genre entzieht und lieber mit verschiedensten und immer wieder neu überraschenden Zutaten etwas eigenes kreiert. Eine Frauenbeziehung in einer abgelegenen und grotesk angereicherten Waldgegend, die mir zu unausgegoren blieb aber letztlich durch sein überrumpelndes und gut gestaltetes Ende aufgewertet wurde.
Neben „Gold“ sah ich noch einen weiteren deutschen Film, den Geheimtipp in Insiderkreisen: „Das merkwürdige Kätzchen“, eine spielerisch komponierte und konzentriert verdichtete Choreografie von Banalitäten des Alltages einer Großfamilie im Verlauf eines Tages. Das absolut gelungene Experiment besitzt keine eigene Geschichte sondern beobachtet und belauscht aufmerksam und mit einem fesselnden und humorvollen Gespür für Details das Treiben in einer Wohnung. Tolles gestaltungsbewusstes Kino und eine reife Leistung für einen Noch-nicht-mal-Abschlussfilm des Studenten Ramon Zürcher. Noch experimenteller zeigte sich nur noch „Le Meteore“, eine Art filmische und nicht uninteressante Kunstinstallation, die die Ebenen Geschichte, Dialoge, Figuren und Bilder voneinander löst. Die sich nur allmählich verkettenden Gedanken von fünf (?) Figuren werden durch Offstimmen eingesprochen, dazu sind meditative und für sich sehr schöne Bilder von Landschaften, Natur, Sonne, Mond zu sehen. Nur ab und an mal eine in sich versunkene Person, jedoch nie jene, die gerade spricht. Für mich ein anstrengend zusammenzusetzender Film, bei dem mir viele Details und sicher auch ein wenig Verständnis entgangen sind.
Ein mehrfach wiederkehrendes Thema war das Coming Out von Figuren in unterschiedlichst ausgelebter Offenheit bzw. zumindest eine homosexuell angeregte Initiation. Malgoska Szumowksa, die letztes Jahr mit „Elles“ bereits die geheimen Sehnsüchte einer Journalistin erkundete und nach außen kehrte, wendet sich mit „W Imie …“ dem brisanten Thema eines katholischen Priesters in Polen zu, der insgeheim Männer liebt, dies aber nicht ausleben darf. Das bildstarke Drama zeigt den wie ein wildes Tier in seiner Haut gefangenen Mann, der gegen die Konventionen, sein Verlangen, seine Einsamkeit und misstrauische Blicke ankämpft, und das sich über drei immer kraftvoller werdende Musikszenen hindurch zu einem intensiven Stück Kino steigert und die Verzweiflung des Protagonisten erfahrbar macht. Ähnlich spannungsvoll und aufreibend erzählt, aber mit stilleren Bildern ausgestattet, ist „Boven is het stil“ von Nanouk Leopold, die damit nicht ganz an die große Klasse ihres „Brownian Movement“ anknüpfen kann aber dennoch einen überzeugenden, atmosphärischen Film abliefert. Auch ihr Protagonist ist heimlich schwul und vermag dies weder sich noch anderen einzugestehen, obwohl er sich an einem Wendepunkt in seinem Leben befinden könnte. Der eigene Schatten scheint unüberwindbar. Wo der polnische Pfarrer nach Alternativen für einen befreienden Ausbruch sucht, bleibt der alleinstehende Milchbauer in sich gekehrt aber nicht minder angespannt, geht den um ihn werbenden Menschen seines Umfelds ängstlich aus dem Weg.
Im fernen Argentinien von „Deshora“ bringt ein junger Mann auf Besuch das eingeschlafene Liebesleben eines Ehepaares neu in Schwung. Als Fremdkörper bringt er Spannung in das abgelegene Haus inmitten einer weiten Naturlandschaft, wirbt ganz ungeniert selbst um die Frau und kommt auch bei der Körperlichkeit des Alltages dem Mann irritierend nahe. Wie in einem Hahnenkampf verteidigt der Ältere sein Revier gegenüber dem Eindringling. „Deshora“ ist ein archaisch anmutendes Dreiecksdrama, in dem es trotz seiner landschaftlichen Weite nur Platz für zwei gibt.
In Georgien, wo Homosexualität weitestgehend noch tabuisiert ist, wird wie in „Chemi sabnis naketsi“ ein Coming Out noch sehr stark codiert gezeigt, hier geheimnisvoll inszenierte Bilder von einem Abstieg in eine Höhle zu einer verborgenen Tür. Der Filmemacher Rusadze eifert mit diesem Film seinen großen Vorbildern Hitchcock und Lynch nach und schafft einen spannungsreichen, leicht mysteriös gehaltenen Thriller mit offensichtlichen Referenzen, der einige seiner Geheimnisse für sich behält. Und hat mir dadurch sehr gut gefallen. Vordergründig erzählt er von einer russischen Familie, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Georgien verblieben ist, und vom Aufbruch eines jungen Mannes in sein eigenes Leben.
Viele Filme, nicht nur aus der Generation-Sektion, widmeten sich kindlichen bzw. jugendlichen Protagonisten. Im sehr guten, formal streng gestalteten „Uroki Garmonii“ aus Kasachstan muss ein stiller 13jähriger Schüler gegen die Demütigungen seiner Mitschüler und die mafiaartige Machtstruktur an seiner Schule ankämpfen und wächst unheimlich über sich hinaus. Respekteinflößend. Ebenso wie auch „Jin“ von Reha Erdem, der seine 17jährige kurdische Heldin auf eine bedrückende Odyssee durch ein kriegsgebeuteltes gefährliches Bergland schickt. Das Mädchen verbündet sich mit der Natur, um die Gefahren der Zivilisation zu überleben. Leider stolpert der atmosphärisch stark aufgeladene Film dann auf der Zielgeraden und hinterlässt einen etwas ernüchternden Nachgeschmack eines sonst sehr guten Filmes. Eine andere 17jährige Protagonistin durchlebt im polnischen „Baby Blues“ mehrfach abrupt wechselnd das Glück und das Leid einer Teenagermutter. Die Figuren sind sehr authentisch eingefangen, jedoch die Inszenierung war mir ein wenig zu überambitioniert, sowohl was formale Gestaltung (Schwarzblenden, Farbsättigung der Bilder) als auch erzählerische Haken betrifft. Das Bemühen um eine ihrer flatterhaften Antiheldin angemessenen Gestaltung wirkte mir etwas zu aufgesetzt. Noch einmal Georgien: im Tbilissi von 1992 in „Grzeli nateli Dgeebi“ werden zwei 14jährige Mädchen mit den alten Traditionen und der noch jungen Geschichte des wieder eigenständigen Landes vernetzt, wodurch sich spannungsvolle Geschichten und Schicksale entspinnen. Das Coming of Age der beiden mündet direkt und für ihr Alter zu früh im ernsten Erwachsensein. Der Film bietet viele dramatische Höhepunkte, die er nur sehr zurückhaltend zur Katharsis nutzt und lieber offen endet. Nebenbei lässt sich der Film als Zustandsbeschreibung des jungen Landes lesen. Noch jünger sind die beiden Schwestern in „Princesas Rojas“, die die ernste Lage ihrer aus Nicaragua geflüchteten und politisch aktiven Eltern gar nicht fassen können. Die unzertrennlichen Mädchen leben in ihrer eigenen aufregenden Welt und sehnen sich nach mehr Normalität und Bodenständigkeit. Der Film blendet sämtliche gesellschaftlichen Hintergründe aus, sondern übernimmt die Sichtweise der Mädchen. Ein kleiner Film mit großem Herzen. Mit einem überirdisch schön gestalteten Vorspann startet „The Weight of Elephants“, der zugleich angenehm leicht an sein ernstes Thema der Kindesentführung heranführt. Zu solch lyrischen Momenten findet er später kaum noch zurück, konzentriert sich ganz auf die Erzählung über einen verträumten Jungen, der in der Schule gegen seinen Außenseiterstatus ankämpft und durch neue Kinder in der Nachbarschaft seinen Mut herausgefordert sieht.
Das ehemalige Jugoslawien wie der Balkan überhaupt ist seit längerem ein mich interessierendes Beschäftigungsfeld im Kino. Eine gute Erzählung und Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte war „Krugovi“, eine Koproduktion vieler ex-jugoslawischer Teilstaaten. Den Rahmen bildet eine Begebenheit von 1993, die das Geschehen im 12 Jahre danach spielenden Kernstück des Filmes beeinflusst, dessen Spannung aus nationalen und religiösen Differenzen sowie erlittenem Verlust entsteht, und das in seinem Wesen um eine Versöhnung zwischen den ehemaligen Bürgerkriegsgegnern bemüht ist. Vielleicht ein bißchen zu brav erzählt, zu eindringlich inszeniert, aber dennoch packendes Kino und durch seine unterbrochene Rahmenhandlung interessant aufgebaut.
Ein klein wenig zu theatralisch empfand ich dagegen „Obrana i Zastita“, ein im Dogmastil mit nervöser Handkamera geführtes groteskes Alltagsdrama, über einen Mann in der geteilten Stadt Mostar. Das interessanteste und herausforderndste am Film war seine Gestaltung, die voreiligen Schnitte vor dem gefühlten Ende einer Szene, die langen Einstellungen des Wartens und Zweifelns, die Störungselemente im Film, der dann darüber hinweg normal weitergeht.
Viele Filme im Forum vermischten Elemente von Spiel- und Dokumentarfilm. Ähnlich auch der Wettbewerbsbeitrag „Epizoda u zivotu beraca zeljeza“, in dem Danis Tanovic eine Romafamilie in der bosnischen Provinz ihre eigene Geschichte nachspielen lässt, ein verzweifeltes Ringen um dringende medizinische Versorgung, die sich die Familie eines Schrottsammlers finanziell nicht leisten kann. Ein sozialkritisches Dokument, eine nüchterne Alltagsstudie, die mit einem kleinen Moment flüchtigen Glücks endet. Ein wichtiger Film in der Tat, aber ein Wettbewerbsfilm? Besonders der Bär an seinen Laiendarsteller als besten Schauspieler ist angesichts der Konkurrenz aus z.B. „W Imie …“ meines Erachtens etwas übertrieben in der Wertschätzung.
Das junge griechische Kino, das letztes Jahr so für internationales Aufsehen sorgte, steuerte mit „I aionia epistrofi tou Antoni Paraskeua“ einen sehr zweifelhaften Film bei. Eine Allegorie auf die aktuelle Situation Griechenlands? Könnte man mit viel Phantasie sicher so sehen. Aber unterm Strich blieben bei mir lediglich ein recht originelles erstes Drittel und zwei lahme und unverständliche weitere Drittel zurück. Ein TV-Star, der sein eigenes Verschwinden vortäuscht und in einem leerstehenden Luxushotel verweilt, und der dann bei seiner groß angekündigten Rückkehr in die Gesellschaft in das Leben eines Obdachlosen flüchtet? Die Groteske wurde für mich immer mehr zur Geduldsprobe. Schade.
Ein anderer Brennpunkt und Ursprung guter filmischer Verarbeitungen bleibt der nahe Osten.
„Lamma Shoftak“ beginnt 1967 in einem Flüchtlingslager in Jordanien. Dort warten Frauen und Kinder auf ihre Männer und die Rückkehr nach Palästina. Ein Junge durchbricht ungeduldig die Last des tatenlosen Ausharrens und fordert seine Mutter zum Handeln und allmählichem Umdenken auf. Ein wenig zu naiv ruht sich das Drama mit seinem kindlichen Protagonisten auf der Faszination von Campabenteuer und Lagerfeuerromantik aus, trennt das Leben des Jungen von der gefährlichen Kriegssituation. Zum Glück erfüllte mir der Film letztlich den Wunsch nach einem offenen Ende.
Der nächste Streifen, 1989 im Gaza-Streifen: „Rock the Casbah“. Ein kraftvolles Statement gegen die sinnlose Auge-um-Auge Kriegsantreiberei zwischen Israelis und Palästinensern. So grotesk auch die Ausgangssituation ist, ein israelischer Soldat wird von einer vom Dach gestoßenen Waschmaschine erschlagen, so bitterernst und aufreibend sind die daraus resultierenden Hetzjagden durch die palästinensischen Viertel, das Wacheschieben auf dem Dach und das Auflehnen der Bewohner gegen die Besatzer inszeniert. In einer denkwürdigen Szene auf dem Dach träumt einer der jungen israelischen Soldaten von seiner Zukunft im Frieden und macht sie somit zum Herzen des Filmes.
Zu einer Enttäuschung wurde für mich die israelische Farce „Youth“, die Geschichte der Entführung eines Mädchens aus wohlhabendem Haus, mittels der zwei Brüder ihre eigene Familie und ihren depressiven Vater retten wollen. Der Film endet wie die Entführung, im nichts.
Zu meiner eigenen Überraschung habe ich letztlich gleich drei afrikanische Filme gesehen.
„A Batalha de Tabato“ ist in feinen, streng komponierten schwarzweiß-Bildern gefilmt, in die sich am Ende meinem Empfinden nach unnötige Rotbilder einmischen. Das evozierte bei mir eine zu aufgesetzte Bedeutungshaftigkeit. Die Geschichte ist klein und ein wenig folkloristisch angehaucht, relativ spannungsfrei in einer Art Parallelerzählung vorgetragen. Dabei werden das Kriegstraumata eines alten Mannes, mit der bevorstehenden aber letztlich ausfallenden Hochzeit eines jungen Paares verknüpft und Tabato als ein Dorf vorgestellt, in dem alle Menschen Musik machen und dies ihr Kampf für den Frieden ist. In Details blieb mir der Film sehr unverständlich und fremd, was sicher auch an meinen mangelnden Vorkenntnissen zur Geschichte von Guinea Bissau lag.
Der südafrikanische Film „Edelwani“ führt eine moderne junge Frau zurück in ihr Elterndorf, wo sie wieder mit den uralten Traditionen ihres Volkes der Venda in Berührung kommt, die große Opfer von ihr fordern. Es folgt eine unerwartete Initiation, eine Wiederaufnahme in einen alten Kulturkreis, die selbstbewusst exotisch erzählt und ausgestaltet wird. An einigen Stellen wird das existentialistische und geheimnisvoll bleibende Kulturdrama ein wenig mystisch aufgewertet aber zum Glück nie überladen.
Den Reichen und Weißen in Südafrika widmet sich der verstörende Thriller „Fynbos“, der dem mysteriösen Verschwinden einer Frau auf einem Luxusanwesen nachspürt. Rational lässt sich der Film kaum beschreiben oder zusammenfassen, denn er verweigert Erklärungen. Er lebt von einer unheimlichen Spannung, seiner Stille und dem beeindruckenden Setting. Schauplatz ist ein riesiges, vom Rest der Welt abgesperrtes Anwesen, auf dem ein architektonisch extravagantes Haus prangt. Die atmosphärische Inszenierung des Filmes hat mich sehr beeindruckt.
Mein letzter Film auf der Berlinale war gleichzeitig mein Sieger des Herzens. „Gloria“ aus Chile landet zwar letztlich etwas neben meinen Erwartungen aufgrund der Kurzbeschreibung (Verknüpfungen zur Geschichte des Landes fehlten), aber er zeichnet ein starkes und sympathisches Porträt einer alleinstehenden aber lebenshungrigen Frau Ende 50, die sich nach dem demütigenden Ende einer viel versprochenen Beziehung wieder aufzurichten weiß. Der tragikomische Film feiert diese beherzte Frau, die sich nicht unterkriegen lassen will, und führt sie zu Umberto Tozzis Hymne zurück ins Leben, zurück auf Anfang. Vom Publikum gab es verdienten Szenenapplaus.
I aionia epistrofi tou Antoni Paraskeua - The eternal return of Antonis Paraskevas (Elina Psykou, Griechenland)
Ayer no termina nunca - Yesterday never ends (Isabel Coixet, Spanien)
Baby Blues (Katarzyna Roslaniec, Polen)
A Batalha de Tabato - The Battle of Tabato (Joao Viana, Guinea Bissau/Portugal)
Before Midnight (Richard Linklater, USA/Griechenland)
Boven is het stil - Oben ist es still (Nanouk Leopold, Niederlande/Deutschland)
Chemi sabnis naketsi - A Fold in my Blanket (Zaza Rusadze, Georgien)
Deshora – Belated (Barbara Sarasola-Day, Argentinien/etc.)
Dolgaya Schastlivaya Zhizn - A long and happy Life (Boris Khlebnikow, Russland)
Elelwani (Ntshavheni Wa Luruli, Südafrika)
Epizoda u zivotu Beraca Zeljeza - An Episode in the Life of an Iron Picker (Danis Tanovic, Bosnien/etc.)
Fynbos (Harry Patramanis, Südafrika/Griechenland)
Gloria (Sebastian Lelio, Chile/Spanien)
Gold (Thomas Arslan, Deutschland)
Grzeli nateli Dgeebi - In Bloom (Nana Ekvtimishvili, Simon Groß, Georgien/etc.)
Jin (Reha Erdem, Türkei)
Krugovi – Circles (Srdan Colubovic, Serbien/etc.)
Lamma Shoftak - When I saw you (Annemarie Jacir, Palästina/etc.)
Das merkwürdige Kätzchen (Ramon Zürcher, Deutschland)
Le Meteore - The Meteor (Francois Delisle, Kanada)
Nugu-Ui Ttal-Do Anin Haewon - Nobodys Daughter Haewon (Hong Sangsoo, Südkorea)
Obrana i Zastita - A Stranger (Bobo Jelcic, Kroatien/Bosnien)
Princesas Rojas - Red Princesses (Laura Astorga Carrera, CostaRica/Venezuela)
Rock the Casbah (Yariv Horowitz, Israel/Frankeich)
Soguk – Cold (Ugur Yücel, Türkei)
Uroki Garmonii - Harmony Lessons (Emir Baigazin, Kasachstan/Deutschland)
Vic+Flo ont vu un ours - Vic+Flo haben einen Bären gesehen (Denis Cote, Kanada)
The Weight of Elephants (Daniel Joseph Borgman, Neuseeland/etc.)
W Imie ... - In the Name of (Malgorzata Szumowska, Polen)
Youth (Tom Shoval, Israel/Deutschland)
Mein prominentester Film war sicher Linklaters „Before Midnight“, das nunmehr dritte und vermutlich letzte Treffen mit Julie Delpy und Ethan Hawke als Celine und Jesse. Nach den zeitlich eng abgesteckten magischen Begegnungen in Wien und Paris wandeln sie nun unter griechischer Sonne und philosophieren erneut über das Leben und die Liebe und reflektieren ihr Leben und ihre Entscheidungen. Die Dialoge sind wieder ebenso treffsicher und flüssig, wie die Darsteller überzeugend in ihren selbst geschriebenen Rollen agieren. Nur der Zauber des flüchtigen Momentes, der die Vorgängerfilme so beflügelte, fehlt hier etwas und es dauert bis zur letzten Einstellung, bis sich diese Magie samt einem wunderbaren Schlusssatz einstellt.
Auch andere Filme widmeten sich dem Ausloten von Beziehungen. In „Ayer no termina nunca“ lässt Isabel Coixet ein Ex-Paar sich sehr ausgedehnt in ihrem Leid suhlen und den Tod des gemeinsamen Sohnes und das Ende ihrer Beziehung bedauern. Eine echte Geduldsprobe. Dem gegenüber stellt die Spanierin eine interessante Bildebene. Das Geschehen spielt sich in einer modernen Investruine ab, aus der sich kalte graublaue Bilder ergeben, die den Niedergang des Landes und der Gesellschaft nachzeichnen. Gedanken und Erinnerungen der beiden Trauerfiguren werden als schwarzweiße Szenen wie aus einem Zwischenreich einmontiert und erst ganz am Ende gibt es eine Rückblende mit angenehm freundlich wirkenden Farben.
Spielerisch und verträumt widmet sich „Nugu-ui Ttal-do Anin Haewon“ einer jungen Südkoreanerin, die durch das Chaos ihrer Gefühle und Beziehungen stolpert. Der leicht schwebende Film lebt von den Begegnungen von Haewon mit Fremden und Freunden, sowie alten, aktuellen und eventuell zukünftigen Liebhabern, erzählt von den kleinen Geheimnissen, die keine sind, von Haewons Trinkfreudigkeit und ihrer Unentschlossenheit in der Liebe. Kleines charmantes Kino für den Augenblick, das die Zeit langsamer verrinnen lässt.
Ein großes Drama in Cinemascope-Bildern entführt in „Soguk“ in eine archaische Schneelandschaft in den türkischen Bergen. Herr dieser unwirtlichen Region ist ein Gleiswärter, der sogar Züge zum Stoppen zwingen kann. Er gerät in ein moralisches Dilemma, als er sich in eine russische Prostituierte verliebt, jedoch auch seine mit dem dritten Kind hochschwangere Frau nicht verlassen will. Ugur Yücel gestaltet daraus ein beeindruckendes Drama gleich einer antiken Tragödie, fast eine Spur zuviel Inszenierung. Mir hat die emotionale Wucht jedoch gefallen.
Die großartige Landschaftskulisse hat „Soguk“ mit dem russischen Wettbewerbsfilm „Dolgaya Schastlivaya Zhizn“ gemein. Der spielt auf der Halbinsel Kola, ein kleines Dörfchen an einem reißenden Fluss inmitten unendlicher grün-gelber malerischer Wälder. Hier wehrt sich der junge Anführer einer Gemeinschaft von Bauern gegen den Verkauf seines Landes. Er ist ein Mann mit Visionen, bereit dafür zu kämpfen: ein Last Man Standing in einer Art russischem Western, ein Kampf David gegen Goliath in einer Zeit, in der der kleine Mann nicht mehr dauerhaft gewinnen kann.
Thomas Arslan hat bereits mit „Im Schatten“ das Manko des deutschen Genrefilmes durchbrochen und auch mit seinem authentisch anmutenden Goldgräber-Western „Gold“ sammelt er meinen Respekt ein. Eine Gruppe deutscher Auswanderer schickt er 1898 auf eine entbehrungsreiche Reise durch die nordamerikanische Wildnis. Das Gold bleibt ein Mythos der Ferne, Arslan begleitet seine Protagonisten auf einem Weg voller Strapazen, Vertrauen und Misstrauen, körperlicher und psychischer Belastungen, durch die raue Natur und Unbilden des Wetters. Jede Figur stattet er gerade mit so viel Hintergrund aus, um sie für den Film interessant und verständlich zu machen. Ironischerweise stellt „Gold“ im Kampf um einen Bären genau die gleiche Art von unberechenbarer Falle auf, wie auch der kanadische Wettbewerbsfilm „Vic + Flo“, eine Verbindung im Geiste wie sie sich letztes Jahr ähnlich zwischen „Holy Motors“ und „Cosmopolis“ ergab. „Vic + Flo“ ist ein schwer fassbarer und einzuordnender Film, der sich einem konkreten Genre entzieht und lieber mit verschiedensten und immer wieder neu überraschenden Zutaten etwas eigenes kreiert. Eine Frauenbeziehung in einer abgelegenen und grotesk angereicherten Waldgegend, die mir zu unausgegoren blieb aber letztlich durch sein überrumpelndes und gut gestaltetes Ende aufgewertet wurde.
Neben „Gold“ sah ich noch einen weiteren deutschen Film, den Geheimtipp in Insiderkreisen: „Das merkwürdige Kätzchen“, eine spielerisch komponierte und konzentriert verdichtete Choreografie von Banalitäten des Alltages einer Großfamilie im Verlauf eines Tages. Das absolut gelungene Experiment besitzt keine eigene Geschichte sondern beobachtet und belauscht aufmerksam und mit einem fesselnden und humorvollen Gespür für Details das Treiben in einer Wohnung. Tolles gestaltungsbewusstes Kino und eine reife Leistung für einen Noch-nicht-mal-Abschlussfilm des Studenten Ramon Zürcher. Noch experimenteller zeigte sich nur noch „Le Meteore“, eine Art filmische und nicht uninteressante Kunstinstallation, die die Ebenen Geschichte, Dialoge, Figuren und Bilder voneinander löst. Die sich nur allmählich verkettenden Gedanken von fünf (?) Figuren werden durch Offstimmen eingesprochen, dazu sind meditative und für sich sehr schöne Bilder von Landschaften, Natur, Sonne, Mond zu sehen. Nur ab und an mal eine in sich versunkene Person, jedoch nie jene, die gerade spricht. Für mich ein anstrengend zusammenzusetzender Film, bei dem mir viele Details und sicher auch ein wenig Verständnis entgangen sind.
Ein mehrfach wiederkehrendes Thema war das Coming Out von Figuren in unterschiedlichst ausgelebter Offenheit bzw. zumindest eine homosexuell angeregte Initiation. Malgoska Szumowksa, die letztes Jahr mit „Elles“ bereits die geheimen Sehnsüchte einer Journalistin erkundete und nach außen kehrte, wendet sich mit „W Imie …“ dem brisanten Thema eines katholischen Priesters in Polen zu, der insgeheim Männer liebt, dies aber nicht ausleben darf. Das bildstarke Drama zeigt den wie ein wildes Tier in seiner Haut gefangenen Mann, der gegen die Konventionen, sein Verlangen, seine Einsamkeit und misstrauische Blicke ankämpft, und das sich über drei immer kraftvoller werdende Musikszenen hindurch zu einem intensiven Stück Kino steigert und die Verzweiflung des Protagonisten erfahrbar macht. Ähnlich spannungsvoll und aufreibend erzählt, aber mit stilleren Bildern ausgestattet, ist „Boven is het stil“ von Nanouk Leopold, die damit nicht ganz an die große Klasse ihres „Brownian Movement“ anknüpfen kann aber dennoch einen überzeugenden, atmosphärischen Film abliefert. Auch ihr Protagonist ist heimlich schwul und vermag dies weder sich noch anderen einzugestehen, obwohl er sich an einem Wendepunkt in seinem Leben befinden könnte. Der eigene Schatten scheint unüberwindbar. Wo der polnische Pfarrer nach Alternativen für einen befreienden Ausbruch sucht, bleibt der alleinstehende Milchbauer in sich gekehrt aber nicht minder angespannt, geht den um ihn werbenden Menschen seines Umfelds ängstlich aus dem Weg.
Im fernen Argentinien von „Deshora“ bringt ein junger Mann auf Besuch das eingeschlafene Liebesleben eines Ehepaares neu in Schwung. Als Fremdkörper bringt er Spannung in das abgelegene Haus inmitten einer weiten Naturlandschaft, wirbt ganz ungeniert selbst um die Frau und kommt auch bei der Körperlichkeit des Alltages dem Mann irritierend nahe. Wie in einem Hahnenkampf verteidigt der Ältere sein Revier gegenüber dem Eindringling. „Deshora“ ist ein archaisch anmutendes Dreiecksdrama, in dem es trotz seiner landschaftlichen Weite nur Platz für zwei gibt.
In Georgien, wo Homosexualität weitestgehend noch tabuisiert ist, wird wie in „Chemi sabnis naketsi“ ein Coming Out noch sehr stark codiert gezeigt, hier geheimnisvoll inszenierte Bilder von einem Abstieg in eine Höhle zu einer verborgenen Tür. Der Filmemacher Rusadze eifert mit diesem Film seinen großen Vorbildern Hitchcock und Lynch nach und schafft einen spannungsreichen, leicht mysteriös gehaltenen Thriller mit offensichtlichen Referenzen, der einige seiner Geheimnisse für sich behält. Und hat mir dadurch sehr gut gefallen. Vordergründig erzählt er von einer russischen Familie, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Georgien verblieben ist, und vom Aufbruch eines jungen Mannes in sein eigenes Leben.
Viele Filme, nicht nur aus der Generation-Sektion, widmeten sich kindlichen bzw. jugendlichen Protagonisten. Im sehr guten, formal streng gestalteten „Uroki Garmonii“ aus Kasachstan muss ein stiller 13jähriger Schüler gegen die Demütigungen seiner Mitschüler und die mafiaartige Machtstruktur an seiner Schule ankämpfen und wächst unheimlich über sich hinaus. Respekteinflößend. Ebenso wie auch „Jin“ von Reha Erdem, der seine 17jährige kurdische Heldin auf eine bedrückende Odyssee durch ein kriegsgebeuteltes gefährliches Bergland schickt. Das Mädchen verbündet sich mit der Natur, um die Gefahren der Zivilisation zu überleben. Leider stolpert der atmosphärisch stark aufgeladene Film dann auf der Zielgeraden und hinterlässt einen etwas ernüchternden Nachgeschmack eines sonst sehr guten Filmes. Eine andere 17jährige Protagonistin durchlebt im polnischen „Baby Blues“ mehrfach abrupt wechselnd das Glück und das Leid einer Teenagermutter. Die Figuren sind sehr authentisch eingefangen, jedoch die Inszenierung war mir ein wenig zu überambitioniert, sowohl was formale Gestaltung (Schwarzblenden, Farbsättigung der Bilder) als auch erzählerische Haken betrifft. Das Bemühen um eine ihrer flatterhaften Antiheldin angemessenen Gestaltung wirkte mir etwas zu aufgesetzt. Noch einmal Georgien: im Tbilissi von 1992 in „Grzeli nateli Dgeebi“ werden zwei 14jährige Mädchen mit den alten Traditionen und der noch jungen Geschichte des wieder eigenständigen Landes vernetzt, wodurch sich spannungsvolle Geschichten und Schicksale entspinnen. Das Coming of Age der beiden mündet direkt und für ihr Alter zu früh im ernsten Erwachsensein. Der Film bietet viele dramatische Höhepunkte, die er nur sehr zurückhaltend zur Katharsis nutzt und lieber offen endet. Nebenbei lässt sich der Film als Zustandsbeschreibung des jungen Landes lesen. Noch jünger sind die beiden Schwestern in „Princesas Rojas“, die die ernste Lage ihrer aus Nicaragua geflüchteten und politisch aktiven Eltern gar nicht fassen können. Die unzertrennlichen Mädchen leben in ihrer eigenen aufregenden Welt und sehnen sich nach mehr Normalität und Bodenständigkeit. Der Film blendet sämtliche gesellschaftlichen Hintergründe aus, sondern übernimmt die Sichtweise der Mädchen. Ein kleiner Film mit großem Herzen. Mit einem überirdisch schön gestalteten Vorspann startet „The Weight of Elephants“, der zugleich angenehm leicht an sein ernstes Thema der Kindesentführung heranführt. Zu solch lyrischen Momenten findet er später kaum noch zurück, konzentriert sich ganz auf die Erzählung über einen verträumten Jungen, der in der Schule gegen seinen Außenseiterstatus ankämpft und durch neue Kinder in der Nachbarschaft seinen Mut herausgefordert sieht.
Das ehemalige Jugoslawien wie der Balkan überhaupt ist seit längerem ein mich interessierendes Beschäftigungsfeld im Kino. Eine gute Erzählung und Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte war „Krugovi“, eine Koproduktion vieler ex-jugoslawischer Teilstaaten. Den Rahmen bildet eine Begebenheit von 1993, die das Geschehen im 12 Jahre danach spielenden Kernstück des Filmes beeinflusst, dessen Spannung aus nationalen und religiösen Differenzen sowie erlittenem Verlust entsteht, und das in seinem Wesen um eine Versöhnung zwischen den ehemaligen Bürgerkriegsgegnern bemüht ist. Vielleicht ein bißchen zu brav erzählt, zu eindringlich inszeniert, aber dennoch packendes Kino und durch seine unterbrochene Rahmenhandlung interessant aufgebaut.
Ein klein wenig zu theatralisch empfand ich dagegen „Obrana i Zastita“, ein im Dogmastil mit nervöser Handkamera geführtes groteskes Alltagsdrama, über einen Mann in der geteilten Stadt Mostar. Das interessanteste und herausforderndste am Film war seine Gestaltung, die voreiligen Schnitte vor dem gefühlten Ende einer Szene, die langen Einstellungen des Wartens und Zweifelns, die Störungselemente im Film, der dann darüber hinweg normal weitergeht.
Viele Filme im Forum vermischten Elemente von Spiel- und Dokumentarfilm. Ähnlich auch der Wettbewerbsbeitrag „Epizoda u zivotu beraca zeljeza“, in dem Danis Tanovic eine Romafamilie in der bosnischen Provinz ihre eigene Geschichte nachspielen lässt, ein verzweifeltes Ringen um dringende medizinische Versorgung, die sich die Familie eines Schrottsammlers finanziell nicht leisten kann. Ein sozialkritisches Dokument, eine nüchterne Alltagsstudie, die mit einem kleinen Moment flüchtigen Glücks endet. Ein wichtiger Film in der Tat, aber ein Wettbewerbsfilm? Besonders der Bär an seinen Laiendarsteller als besten Schauspieler ist angesichts der Konkurrenz aus z.B. „W Imie …“ meines Erachtens etwas übertrieben in der Wertschätzung.
Das junge griechische Kino, das letztes Jahr so für internationales Aufsehen sorgte, steuerte mit „I aionia epistrofi tou Antoni Paraskeua“ einen sehr zweifelhaften Film bei. Eine Allegorie auf die aktuelle Situation Griechenlands? Könnte man mit viel Phantasie sicher so sehen. Aber unterm Strich blieben bei mir lediglich ein recht originelles erstes Drittel und zwei lahme und unverständliche weitere Drittel zurück. Ein TV-Star, der sein eigenes Verschwinden vortäuscht und in einem leerstehenden Luxushotel verweilt, und der dann bei seiner groß angekündigten Rückkehr in die Gesellschaft in das Leben eines Obdachlosen flüchtet? Die Groteske wurde für mich immer mehr zur Geduldsprobe. Schade.
Ein anderer Brennpunkt und Ursprung guter filmischer Verarbeitungen bleibt der nahe Osten.
„Lamma Shoftak“ beginnt 1967 in einem Flüchtlingslager in Jordanien. Dort warten Frauen und Kinder auf ihre Männer und die Rückkehr nach Palästina. Ein Junge durchbricht ungeduldig die Last des tatenlosen Ausharrens und fordert seine Mutter zum Handeln und allmählichem Umdenken auf. Ein wenig zu naiv ruht sich das Drama mit seinem kindlichen Protagonisten auf der Faszination von Campabenteuer und Lagerfeuerromantik aus, trennt das Leben des Jungen von der gefährlichen Kriegssituation. Zum Glück erfüllte mir der Film letztlich den Wunsch nach einem offenen Ende.
Der nächste Streifen, 1989 im Gaza-Streifen: „Rock the Casbah“. Ein kraftvolles Statement gegen die sinnlose Auge-um-Auge Kriegsantreiberei zwischen Israelis und Palästinensern. So grotesk auch die Ausgangssituation ist, ein israelischer Soldat wird von einer vom Dach gestoßenen Waschmaschine erschlagen, so bitterernst und aufreibend sind die daraus resultierenden Hetzjagden durch die palästinensischen Viertel, das Wacheschieben auf dem Dach und das Auflehnen der Bewohner gegen die Besatzer inszeniert. In einer denkwürdigen Szene auf dem Dach träumt einer der jungen israelischen Soldaten von seiner Zukunft im Frieden und macht sie somit zum Herzen des Filmes.
Zu einer Enttäuschung wurde für mich die israelische Farce „Youth“, die Geschichte der Entführung eines Mädchens aus wohlhabendem Haus, mittels der zwei Brüder ihre eigene Familie und ihren depressiven Vater retten wollen. Der Film endet wie die Entführung, im nichts.
Zu meiner eigenen Überraschung habe ich letztlich gleich drei afrikanische Filme gesehen.
„A Batalha de Tabato“ ist in feinen, streng komponierten schwarzweiß-Bildern gefilmt, in die sich am Ende meinem Empfinden nach unnötige Rotbilder einmischen. Das evozierte bei mir eine zu aufgesetzte Bedeutungshaftigkeit. Die Geschichte ist klein und ein wenig folkloristisch angehaucht, relativ spannungsfrei in einer Art Parallelerzählung vorgetragen. Dabei werden das Kriegstraumata eines alten Mannes, mit der bevorstehenden aber letztlich ausfallenden Hochzeit eines jungen Paares verknüpft und Tabato als ein Dorf vorgestellt, in dem alle Menschen Musik machen und dies ihr Kampf für den Frieden ist. In Details blieb mir der Film sehr unverständlich und fremd, was sicher auch an meinen mangelnden Vorkenntnissen zur Geschichte von Guinea Bissau lag.
Der südafrikanische Film „Edelwani“ führt eine moderne junge Frau zurück in ihr Elterndorf, wo sie wieder mit den uralten Traditionen ihres Volkes der Venda in Berührung kommt, die große Opfer von ihr fordern. Es folgt eine unerwartete Initiation, eine Wiederaufnahme in einen alten Kulturkreis, die selbstbewusst exotisch erzählt und ausgestaltet wird. An einigen Stellen wird das existentialistische und geheimnisvoll bleibende Kulturdrama ein wenig mystisch aufgewertet aber zum Glück nie überladen.
Den Reichen und Weißen in Südafrika widmet sich der verstörende Thriller „Fynbos“, der dem mysteriösen Verschwinden einer Frau auf einem Luxusanwesen nachspürt. Rational lässt sich der Film kaum beschreiben oder zusammenfassen, denn er verweigert Erklärungen. Er lebt von einer unheimlichen Spannung, seiner Stille und dem beeindruckenden Setting. Schauplatz ist ein riesiges, vom Rest der Welt abgesperrtes Anwesen, auf dem ein architektonisch extravagantes Haus prangt. Die atmosphärische Inszenierung des Filmes hat mich sehr beeindruckt.
Mein letzter Film auf der Berlinale war gleichzeitig mein Sieger des Herzens. „Gloria“ aus Chile landet zwar letztlich etwas neben meinen Erwartungen aufgrund der Kurzbeschreibung (Verknüpfungen zur Geschichte des Landes fehlten), aber er zeichnet ein starkes und sympathisches Porträt einer alleinstehenden aber lebenshungrigen Frau Ende 50, die sich nach dem demütigenden Ende einer viel versprochenen Beziehung wieder aufzurichten weiß. Der tragikomische Film feiert diese beherzte Frau, die sich nicht unterkriegen lassen will, und führt sie zu Umberto Tozzis Hymne zurück ins Leben, zurück auf Anfang. Vom Publikum gab es verdienten Szenenapplaus.
I aionia epistrofi tou Antoni Paraskeua - The eternal return of Antonis Paraskevas (Elina Psykou, Griechenland)
Ayer no termina nunca - Yesterday never ends (Isabel Coixet, Spanien)
Baby Blues (Katarzyna Roslaniec, Polen)
A Batalha de Tabato - The Battle of Tabato (Joao Viana, Guinea Bissau/Portugal)
Before Midnight (Richard Linklater, USA/Griechenland)
Boven is het stil - Oben ist es still (Nanouk Leopold, Niederlande/Deutschland)
Chemi sabnis naketsi - A Fold in my Blanket (Zaza Rusadze, Georgien)
Deshora – Belated (Barbara Sarasola-Day, Argentinien/etc.)
Dolgaya Schastlivaya Zhizn - A long and happy Life (Boris Khlebnikow, Russland)
Elelwani (Ntshavheni Wa Luruli, Südafrika)
Epizoda u zivotu Beraca Zeljeza - An Episode in the Life of an Iron Picker (Danis Tanovic, Bosnien/etc.)
Fynbos (Harry Patramanis, Südafrika/Griechenland)
Gloria (Sebastian Lelio, Chile/Spanien)
Gold (Thomas Arslan, Deutschland)
Grzeli nateli Dgeebi - In Bloom (Nana Ekvtimishvili, Simon Groß, Georgien/etc.)
Jin (Reha Erdem, Türkei)
Krugovi – Circles (Srdan Colubovic, Serbien/etc.)
Lamma Shoftak - When I saw you (Annemarie Jacir, Palästina/etc.)
Das merkwürdige Kätzchen (Ramon Zürcher, Deutschland)
Le Meteore - The Meteor (Francois Delisle, Kanada)
Nugu-Ui Ttal-Do Anin Haewon - Nobodys Daughter Haewon (Hong Sangsoo, Südkorea)
Obrana i Zastita - A Stranger (Bobo Jelcic, Kroatien/Bosnien)
Princesas Rojas - Red Princesses (Laura Astorga Carrera, CostaRica/Venezuela)
Rock the Casbah (Yariv Horowitz, Israel/Frankeich)
Soguk – Cold (Ugur Yücel, Türkei)
Uroki Garmonii - Harmony Lessons (Emir Baigazin, Kasachstan/Deutschland)
Vic+Flo ont vu un ours - Vic+Flo haben einen Bären gesehen (Denis Cote, Kanada)
The Weight of Elephants (Daniel Joseph Borgman, Neuseeland/etc.)
W Imie ... - In the Name of (Malgorzata Szumowska, Polen)
Youth (Tom Shoval, Israel/Deutschland)