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Herr Settembrini schaltet das Licht an

Oberlehrerhafte Ergüsse eines selbsternannten Filmpädagogen

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The Liverpool Goalie oder Wie man die Schulzeit überlebt!


Jo ist gut in Mathe und wohl auch sonst ein recht guter Schüler, hat es ansonsten aber nicht gerade leicht. Wirklich enge Freunde hat er in der Schule nicht, wird dafür aber vom fiesen Tom-Erik drangsaliert, der von ihm verlangt, seine Hausaufgaben zu machen, und aus Furcht vor dem Muskelprotz fügt Jo sich. Ohnehin geht er kaum einmal ein Risiko ein, was seinen Grund hat: Jos Vater ist vor Jahren in der Dusche ausgerutscht und dabei ums Leben gekommen, und seither ist seine Mutter überängstlich und wittert überall (potentiell tödliche) Gefahren: die Treppe runterrennen? Lebensgefährlich! Fußball spielen? Auf Fußballplätzen sterben Menschen, Jahr für Jahr! Allerdings sammelt Jo Fußballkarten, auch wenn seine Mutter befüchtet, er könnte davon süchtig werden. Jo selbst hat sich von dieser Ängstlichkeit ziemlich anstecken lassen, was dann aber auf Dauer natürlich auch zu immer neuen Schwierigkeiten führt, besonders, als die kluge und resolute Mari als neue Schülerin in seine Klasse kommt. Die ist ebenfalls gut in Mathe, hat auch etwas für Fußball übrig, vor allem aber ist sie aufrichtig, jedoch auch recht widerborstig und schreckt nicht einmal davor zurück, Tom-Erik ordentlich die Meinung zu geigen. Jo ist auf Anhieb mächtig verknallt in sie, aber immer wieder treten Situationen ein, in denen er den "sicheren" Weg geht und dann in Maris Augen als Feigling dasteht.
The Liverpool Goalie, der im Grenzbereich vom Kinder- zum Jugendfilm beheimatet ist, behandelt ein altes, aber immergrünes Thema, nämlich das vom Außenseiter, der vor allem seine eigene Angst überwinden muß, auf sehr erfrischende und humorvolle Weise. Besonders toll sind dabei jene Szenen, die zeigen, was Jo sich immer mal wieder in seiner Fantasie an grauenvollen Dingen, die passieren könnten, ausmalt: diese Szenen sind herrlich überzogen und lassen sich vielfach auch als witzige Genreparodien rezipieren.
Ich hatte an The Liverpool Goalie sehr viel Freude: ein ebenso sympathischer und unterhaltsamer wie auch formal ansprechender Film. Das einzige, was ihm wohl leider fehlt, ist ein Publikum: ich habe den Film in einer Privatvorstellung gesehen, weil ich tatsächlich der einzige Zuschauer war, der eine Karte für die betreffende Vorstellung gekauft hatte. Schade.


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David wants to fly


"Anscheinend ist es der beste Weg, den Respekt vor den eigenen Idolen zu verlieren, ihnen persönlich zu begegnen."
(Walter Moers, Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär)

Der junge Filmregisseur David Sieveking schildert in David wants to fly zunächst einmal seine eigene Suche nach Spiritualität, wobei der Film ein wenig den Charakter eines Tagebuchs in Filmform hat. Interessant wird Sievekings Film vor allem dadurch, daß er offenbar bei Beginn seiner Arbeit daran selbst noch nicht wußte, wohin diese Suche ihn führen würde, und daß sich der Film dann tatsächlich in eine ganz andere Richtung entwickelt hat, als von Sieveking anfangs wohl angenommen.
Doch der Reihe nach: wir lernen den jungen Regisseur als großen Bewunderer des Werks von David Lynch kennen, und so fährt er nach Amerika zu einer Art Workshop, bei dem es hauptsächlich um Transzendentale Meditation ™ geht - und dort begegnet er auch seinem großen Vorbild. Lynch gibt dann auch bereitwillig und freundlich ein Interview, worin er die Vorzüge der Meditation preist und Sieveking empfiehlt, diese auch zu praktizieren. Der nimmt den Ratschlag auch an und beschäftigt sich nun selbst, zunächst durchaus aufgeschlossen, recht gründlich mit TM (wodurch er auch die Möglichkeit hat, Einblicke in die TM-Organisation zu gewinnen und mit der Kamera festzuhalten).
Dann aber mehren sich seine Zweifel, nicht zuletzt auch deshalb, weil an der Erleuchtung Interessierten gern schon mal eine ordentliche Stange Geld abgeknöpft wird. Von dem Moment an, in dem Sieveking entschieden hat, seinen Film nicht von der TM-Organisation absegnen zu lassen (wie es dieser eigentlich vorschwebte), ist er nicht mehr gern gesehen. Auch an Lynch kommt er nur noch unter Schwierigkeiten heran, schafft es aber doch noch, zu einem zweiten Interview zu kommen - freilich unter der Auflage, keine kritischen Fragen zu stellen (sic!). Sieveking geht das gespräch recht geschickt an, sagt, daß er nicht mehr so recht wüßte, was er noch glauben soll und was nicht, und schmeichelt dem Meister, indem er seine Situation mit jener der Hauptfigur in Blue Velvet vergleicht und meint, er habe nun ein Ohr auf der Wiese gefunden und wüßte nicht so recht, was sich dahinter wohl verbergen möge. Lynch reagiert nicht direkt unfreundlich, bürstet aber alle Zweifel an TM recht schnell ab und faselt dann eine ganze Weile vom herbeimeditierten Weltfrieden. Danach begegnen sich David und David nicht mehr persönlich, doch der eine (Lynch) wird dem anderen (Sieveking) später über seinen Anwalt mit einer Klage drohen.
Ebenfalls im Film zu sehen ist der Eklat, zu dem es vor einigen Jahren in der Berliner Urania kam, als Lynch und ein obskurer Guru auftraten, mit der Absicht, auf dem Teufelsberg eine "Unbesiegbarkeits-Universität" aufzubauen.

Ich will diesen Eklat nutzen, um einige persönliche Anmerkungen einzuschalten, da gerade dieser Eklat es war, durch den mir Lynch als Person erstmals deutlich fremder wurde. Wenn Lynch sagt, daß Meditieren ihm hilft, um einen persönlichen Halt zu finden (und vielleicht auch bei kreativen Prozessen), dann ist dagegen ja noch nichts zu sagen. Wenn er dann aber sich dazu versteigt, daß eine Ausreichende Anzahl TM-Praktizierender praktisch den Weltfrieden herbeimeditieren könnte und vom Himmel auf Erden spricht, halte ich das für kompletten Unsinn. Mehr noch. für gefährlichen Unsinn, denn derartigen Heilsversprechen, wie sie für Religionen (die ja eigentlich auch nur in gemäßigter, sprich säkularisierter Form genießbar sind) und politische Ideologien typisch sind, mißtraue ich zutieftst und halte es da eher mit Karl Popper, der sinngemäß meinte, der Versuch, den Himmel auf Erden herbeizuführen, habe stets die Hölle auf Erden bewirkt. Ende der Einschaltung.

Sievekings Film wird nun zunehmend zu einer Recherche über TM: er spricht mit Aussteigern und verfolgt Spuren bis nach Indien, die nahelegen, daß besonders der Begründer von TM (und dessen Erben) ein Riesenvermögen damit gemacht haben, was dann doch recht fatal an andere Sekten erinnert. Am Ende wird der Film wieder zur ganz persönlichen Suche nach Spiritualität wie zu Beginn; Sieveking sucht die Quelle des Ganges auf, bleibt aber letztlich ein Suchender.

Ein sehr interessanter Film, gerade auch durch seine Zweigleisigkeit als persönlicher Bericht einerseits, Recherche andererseits. Was nun David Lynch und seine Verbindung zu der obskuren TM-Bewegung betrifft, so habe ich hier zwar eigentlich nichts erfahren, was mir nicht schon vorher durch Zeitungsberichte bekannt war, aber er hat doch meine Befürchtungen, daß Lynch sich von einer Sekte (oder zumindest sehr sektenähnlichen Organisation) hat vereinnahmen lassen, sehr viel zusätzliche Nahrung gegeben. Wie gehe ich damit um? Sein filmisches Werk (gerade neulich habe ich wieder The Straight Story gesehen, und auch sehr gern wieder gesehen) will ich eigentlich auch weiterhin nicht missen, seine Filme sind ja auch keine TM-Werbefilme (und falls doch, so merkt man es ihnen zum Glück nicht an...). Doch der Schöpfer dieser Filme ist mir als Person nochmals deutlich fremder geworden. Das ist traurig, aber wohl unvermeidlich.


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Filme für Heiratswillige


Wenn sich zwei (nicht immer) junge Menschen verheiraten wollen, ist da ja an sich etwas durchaus erfreuliches. Doch leider lehrt das Leben, daß das erschreckend oft schief geht, und so schrieb schon der große Schiller treffend: "Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang."
Doch nicht allein das Leben lehrt dies, sondern mitunter auch das Kino. Und so habe ich einfach mal überlegt, welche Filme sich Heiratswillige vielleicht ansehen sollten, bevor es mit dem Ehestand wirklich ernst wird...

Kandidaten, die sich da anbieten würden, wären etwa:

Das Fenster zum Hof von Alfred Hitchcock

Der Rosenkrieg von Danny DeVito

Szenen einer Ehe von Ingmar Bergman

Das Verhör von Claude Miller

Wer hat Angst vor Virginia Woolf? von Mike Nichols

Zeiten des Aufruhrs von Sam Mendes


Wenn die Heiratswilligen auch nach diesen Filmen immer noch an ihrem Vorhaben festhalten, besteht zumindest die Hoffnung, daß sie wirklich füreinander bestimmt sind, so daß ihnen dann nur noch Glück zu wünschen übrig bleibt. Immerhin erwähnt auch der Anwalt in "Der Rosenkrieg" am Ende die lange und wohl auch glückliche Ehe seiner Eltern...

Irgendwelche Ergänzungen für die Filmliste?


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Zweimal Hitchcock


Saboteure
ist ein thematisch typischer Hitchcockfilm: ein junger Mann wird unschuldig verdächtigt, einen schwerwiegenden Sabotageakt verübt zu haben und reist bei der Flucht vor seinen Verfolgern, die zugleich die Suche nach dem wahren Täter und dessen Hintermännern ist, quer durch Amerika, von der Westküste bis zur Ostküste. Wie in anderen Spionage-Thrillern Hitchcocks (erwähnt seien besonders Die 39 Stufen und North by Northwest) gibt es hier zahlreiche Handlungsumschwünge, viele Ideen (Hitchcock selbst fand, daß schon zu viele Ideen hineingestopft waren) und ein vergleichsweise hohes Tempo. Berühmt ist das Finale auf der Freiheitsstatue, mir persönlich gefiel die Szene im Kino, wo sowohl auf der Leinwand als auch davor Morde stattfinden und die Szene im vorgeführten Film auf eigenartige Weise mit dem Geschehen im Kino korrespondiert, aber noch ein Stück besser. Der Film wirkt in vieler Hinsicht wie ein Vorläufer von North by Northwest, wirkt aber längst noch nicht so ausgereift und perfekt ausbalanciert wie das spätere Meisterwerk; wenn man dieses im Vergleich betrachtet, wird sehr schön deutlich, wie Hitchcock aus den Fehlern in früheren Filmen gelernt hat. Übrigens war Saboteure der letzte von Hitchcocks amerikanischen Filmen, den ich bislang noch nicht kannte; diese Lücke ist nun geschlossen (und insgesamt war es der 37. Hitchcockfilm, den ich gesehen habe, dazu kommen noch ein paar Fernsehspiele - nur für Erbsenzähler).

Im Schatten des Zweifels
Wesentlich stärker ist dagegen dieser Film einzuschätzen, mit dem auch Hitchcock selbst ausgesprochen zufrieden war (daß er ihm allerdings von all seinen Filmen am liebsten war, wie oft zu lesen ist, hat Hitchcock selbst im Gespräch mit Truffaut doch ein wenig relativiert, und ich vermute, daß er Vertigo oder Psycho mindestens ebensosehr - vielleicht noch mehr - schätzte, doch daß er von Im Schatten des Zweifels sehr viel hielt, ist jedenfalls unstrittig). Während es in vielen Hitchcock-Filmen um unschuldig Verdächtigte geht, ist es in diesem Film umgekehrt: Charles Oakley ist wirklich ein Mörder, und seine Nichte Charlie muß eben dies im Verlauf der Handlung herausfinden. Daß dies für die junge Frau, die ihren Onkel sehr liebt, einen Alptraum bedeutet, wie er schrecklicher kaum vorstellbar ist, ist natürlich klar, und verleiht dem Film viel von seiner Eindringlichkeit. Zugleich wirken die beiden Charlies auch wie zwei verschiedene Seiten einer Person, und Hitchcock betont dies auch mehrfach durch die Inszenierung: großartig ist etwa die Exposition, in der zunächst Onkel Charlie auf einem Bett liegend gezeigt wird, bevor er sich in einer verrufenen Gegend seinen Verfolgern, die ihm schon auf der Spur sind, entzieht - dann lernen wir seine Nichte kennen, ebenfalls auf einem Bett liegend. Solche Dopplungen gibt es viele im Film, ähnlich wie später in Der Fremde im Zug.
Wenn Onkel Charlie dann in dem verschlafenen Nest, in dem seine Verwandten wohnen, eingetroffen ist, zeigt Hitchcock sehr schön, wie nervös ein Verbrecher, der weiß, daß er bereits verfolgt wird, agiert: schon Kleinigkeiten beunruhigen ihn, wenn sie auf ihn hindeuten könnten (wenn etwa eine Walzermelodie aus der "Lustigen Witwe" gesummt wird - schließlich ist er ein gesuchter Witwenmörder). Joseph Cotten (in einer seiner drei stärksten Rollen) spielt den mörderischen Charlie aber nicht nur bedrohlich, sondern auch durchaus charmant, was die Figur natürlich gleich noch interessanter macht. Je länger er jedoch bei seinen Verwandten bleibt und je mehr er sich in die Enge getrieben fühlt, desto sichtbarer werden die Abgründe, die sich hinter der freundlichen Fassade verbergen, besonders deutlich, wenn er seine Nichte Charlie in eine recht schäbige Bar schleift und dort die Welt als einen stinkenden Schweinestall bezeichnet. Erwähnenswert an diesem finsteren Monolog ist übrigens, daß er von Hitchcock selbst verfaßt und in das Drehbuch eingefügt wurde - was ungewöhnlich ist, denn Dialoge überließ der Meister normalerweise vollständig seinen Drehbuchautoren. Wenn man auch nicht den Fehler machen darf, Künstler mit den Figuren, die sie erschaffen, zu identifizieren, oder deren Ansichten für die ihren zu halten, schimmert in dieser misanthropischen Passage wohl schon etwas von Hitchcocks eher düsterer, von Pessimismus geprägter Weltsicht durch.
Im Schatten des Zweifels ist zugleich auch deutlich stärker, als man dies von Hitchcock gewohnt ist, Milieustudie - vielleicht auch ein Ergebnis der Zusammenarbeit des Regisseurs mit Thornton Wilder, an die Hitchcock übrigens immer gern zurückdachte. Aber darüber kommen die typischen Hitchcock-Momente keineswegs zu kurz, wenn etwa Charlie sich einen Ring ansteckt und die Kamera aus der Halbtotalen an diesen Ring heranfährt (eine Vorwegnahme der noch kunstvolleren Kranfahrt in Berüchtigt).
Im Schatten des Zweifels ist wohl der erste unter Hitchcocks amerikanischen Filmen, der als Meisterwerk bezeichnet werden kann, und fraglos einer seinen beiden besten Filme dieser Dekade.


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Hugo Cabret


Als ich erfuhr, daß Martin Scorsese ein Kinderbuch verfilmt hat, war ich sofort neugierig, denn das klang nach einer neuen Facette in seinem Werk, und neue Facetten finde ich grundsätzlich immer spannend (wer etwa hätte denn vor 1999 von David Lynch einen Film wie The Straight Story erwartet?). Dann bekam ich allmählich mit, daß es sich bei seinem neuesten Werk auch um eine Hommage an die Anfänge des Kinos und den Filmpionier George Melies handelt, und da begriff ich natürlich auch, was Scorsese an dem Sujet wohl besonders gereizt haben dürfte, denn Scorseses Begeisterung für das Kino und sein Interesse an der Filmgeschichte (großen Anteil hat er etwa daran, daß Michael Powells 1959 gnadenlos durchgefallener, obwohl meisterhafter Film Peeping Tom reichlich verspätet doch noch zu verdientem Ruhm gelangte) sind wohlbekannt.
Weiterhin bekam ich noch mit, daß es sich bei Hugo Cabret um Scorseses ersten 3D-Film handelt - das nahm ich eher reserviert zur Kenntnis, denn bislang hatte ich mich dem aktuellen 3D-Trend konsequent entzogen, entschloß mich nun aber, mich diesmal doch auf das räumliche Abenteuer einzulassen.
Daß ich wohl in diesem Leben kein Freund dieser Technik mehr werde, merkte ich, nachdem das erste Erstaunen verflogen war, sehr schnell während der 3D-Werbespots und Trailer vor dem Film (darunter einer für eine 3D-Fassung von Titanic, "wie Sie ihn noch nie gesehen haben" - und wie ich ihn auch gar nicht sehen möchte), in erster Linie kam mir das nach ablenkendem Hokospokus vor, und ich sah mich in meiner bisherigen ausweichenden Haltung durchaus bestätigt.
Angesichts dessen muß es als Lob gelten, wenn ich nun sage, daß ich, nachdem Hugo Cabret selbst angefangen hatte, zumindest recht bald meinen Frieden mit der 3D-Technik gemacht hatte, und die Wirkung zumindest stellenweise sogar bemerkenswert fand (besonders in den Szenen mit dem großen Uhrwerk, da hat das schon was, wie ich zugeben muß). Zum begeisterten Begleiter des neuen Trends (wobei 3D in Wirklichkeit ja uralt ist, schon vor 60 Jahren gab es die erste große 3D-Welle, wenn auch die Technik heute sicherlich ein ganzes Stück ausgereifter ist) werde ich aber trotzdem nicht werden.
Um so mehr war ich aber vom eigentlichen Film angetan. Die beiden verschiedenen Ebenen des Films habe ich ja schon angesprochen: zum einen ist er ein Kinder- oder wohl noch richtiger Familienfilm, der die Geschichte eines Waisenjungen (mit leisen Anklängen an Oliver Twist) erzählt, zum anderen aber eine nostalgische Liebeserklärung an das Kino, besonders an das Kino als Ort des Staunens und der Träume, die bildliche Gestalt annehmen. Diese beiden Geschichten, die vom einsamen Jungen und die vom vergessenenen Filmpionier, verküpft der Film durchaus geschickt, denn von Beginn an kreuzen sich ihre Wege, und ganz allmählich findet Hugo heraus, wer der griesgrämige Ladenbesitzer im Pariser Bahnhof wirklich ist; so wirken die verschiedenen Ebenen des Films auch nicht gegeneinander, sondern miteinander. Dabei ist die Geschichte vom kleinen Hugo, der allein im Bahnhof haust und heimlich die Uhren stellt, gewiß auch ein wenig sentimental - das hat mich aber nicht sonderlich gestört, ein wenig Sentimentalität lasse ich mir bei solchen Geschichten gern gefallen (wie könnte ich sonst Chaplin mögen?). Und bei der George-Melies-Geschichte (die in ihren Grundzügen gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt ist, nur daß darin eben kein kleiner Junge vorkam) ist Scorsese ohnehin in seinem Element. Es gibt ja nun hunderte von Liebeserklärungen-an-das-Kino-Filmen, und ich gehöre nicht zu denjenigen, die solche Filme per se großartig finden (schließlich kann das ja auch sehr schnell zur reinen Nabelschau werden), aber Hugo Cabret gehört sicherlich zu den Schmuckstücken unter diesen Filmen. Großartig ist es etwa, wie Hugo und seine Freundin Isabelle sich heimlich in ein Kino schleichen, in dem Ausgerechnet Wolkenkratzer gezeigt wird; da macht der Film direkt erfahrbar, welchen Zauber die bewegten Bilder gerade auf Kinderaugen auszuüben in der Lage sind, die einfach nur hinschauen, ohne einen Film mit intellektuell-analytischen Folterwerkzeugen zu sezieren - und von dieser Szene führt der Weg auch direkt zum Werk von Melies, der ja auch ursprünglich Zauberer von Beruf war. (Um so mehr wurmt es mich, immer noch nichts von Melies gesehen zu haben...)
Nebenbei sind auch die Darsteller richtig gut, von Asa Butterfield war ich durchaus angetan, und Ben Kingsley ist sowieso so gut wie immer toll, und natürlich auch in dieser Rolle. Und es paßt natürlich auch, daß dieser Film in Paris spielt: wie schon für berühmte Kollegen wie Ernst Lubitsch, Billy Wilder oder Woody Allen wird Paris auch für Scorsese zur Stadt der Träume und Sehnsüchte. So bleibt mir abschließend eigentlich nur noch die Feststellung, daß Hugo Cabret vielleicht nicht wirklich zu Scorseses besten Filmen gehört, sehr wohl aber zu seinen schönsten; und mir persönlich gefällt er, um auch dies noch beiläufig zu erwähnen, wesentlich besser als The Artist.


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I Killed My Mother


Seit Jahren verfolge ich mit einem Seitenblick das frankokanadische Kino, und habe dabei bei aller Verschiedenheit der einzelnen Regisseure doch eine bestimmte Strömung ausmachen können, die sich durch Filme, die von den Problemen häufig jugendlicher Protagonisten handeln und dabei eine realistische Handlung auf poetisch mal mehr, mal weniger überhöhte Weise schildern, auszeichnet.
Xavier Dolans I Killed My Mother ist insofern ein durchaus typisches Werk für das frankokanadische Kino, wie ich es in den letzten Jahren kennengelernt habe. Der 16jährige Hubert ist durch eine Haßliebe mit seiner Mutter verbunden, ständig kommt es zum Streit zwischen beiden, dann gibt es aber auch immer wieder Versuche der Annäherung, auf die dann neuerliche gegenseitige Verletzungen folgen. Besonders verschärfen sich die Spannungen, als Hubert von seinen Eltern auf ein Internat geschickt wird, und daß Huberts Mutter zwischenzeitlich erfahren hat, daß Hubert schwul ist, trägt auch nicht zur Verbesserung des Verhältnisses bei (wobei sie sich nicht über die Tatsache an sich aufregt, sondern darüber, daß sie es nicht von ihm erfahren hat)...
Das Drehbuch schrieb Xavier Dolan, als er ungefähr so alt wie sein Protagonist Hubert war, und tatsächlich trägt der Film autobiographische Züge. So ist Hubert (darin Dolan ähnlich) ein Poet, der schon allerlei Texte geschrieben hat. Möglicherweise trägt auch dies zur Kraft des Films ein, der mal mit jugendlichem Ungestüm (und gelegentlich vielleicht auch etwas ungelenk), dann wieder mit Zartheit von den Höhen und Tiefen einer chaotischen Beziehung handelt, wobei er auch mal (zumindest meine) Zuschauererwartungen unterläuft, und auch der Filmtitel erweist sich als bewußte (und ironische) Irritation. Dabei gelingen dem Autor und Regisseur Dolan einige durchaus eindringliche Szenen, wobei er nicht nur Hubert, sondern auch dessen Mutter mit Empathie begegnet (Huberts Vater dagegen kommt ausgesprochen schlecht weg), während der Hauptdarsteller Dolan überzeugend einen nach Orientierung, Anerkennung und Liebe suchenden, sich dabei aber auch ein wenig im Weltschmerz suhlenden Jugendlichen verkörpert. Ich war von I Killed My Mother ausgesprochen angetan; ein überaus beachtliches Erstlingswerks eines jungen Riesentalents.


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Mein Berlinale-Bericht 2012


Hier will ich einfach mal meine Berlinale-Sichtungen in eher knapper Form zusammenfassen. An die 16 Langfilme des vorigen Jahres kam ich diesmal zwar nicht heran, dafür sah ich diesmal aber neben 12 Langfilmen auch noch 10 Kurzfilme. Hier nun meine Eindrücke:

Zuerst sah ich

Aujourd'hui (Tey) [Wettbewerb]
über den ich neulich schon ein paar Sätze geschrieben habe: ein junger Mann weiß (woher diese Gewißheit kommt, bleibt ein Geheimnis), daß sein letzter Tag gekommen ist und verabschiedet sich. Das hörte sich spannend an, doch die Umsetzung hat mich kaum überzeugt; interessant ist der Film allenfalls als Einblick in eine fremde Kultur, kaum aber als Film.

Dann ging es mit so einigen alten Werken weiter, zunächst kam ein besonders berühmter Film:

Der letzte Mann [Happy Birthday, Studio Babelsberg]
Die traurige Geschichte von einem Hotelportier, der wegen Altersschwäche durch einen jüngeren ersetzt wird und nun statt dessen die Toilette sauberhalten soll. Die Produzenten erzwangen eine glückliche Schlußwendung, die Murnau aber in so ironischer Übertreibung inszeniert hat, daß wohl jeder Zuschauer merkt, daß diese letzten Szenen eigentlich nicht mehr zum Film gehören.
Bemerkenswert an dem Film ist seine visuelle, vor allem der hervorragenden Kameraarbeit zu verdankende Kraft, die sich auch darin ausdrückt, daß der Film praktisch ohne Zwischentitel auskommt. Bemerkenswert ist auch Emil Jannings' ausgezeichnete darstellerische Leistung. Und natürlich ist Der letzte Mann ein sehr anrührender Film, auch deshalb, weil man sich die Geschichte auch in der heutigen Zeit immer noch gut vorstellen kann.

Da ich an diesem Tag eine recht große zeitliche Lücke in meinem Programm hatte, schon ich kurzerhand noch drei weitere sowjetische Filme aus der Retrospektive ein. Zwei davon waren Kurzfilme, der dritte ein (freilich auch eher kurzer) Langfilm, im einzelnen handelte es sich um:

Grosny Wawila i tjotka Arina (Der schreckliche Wawila und Tante Arina) [Retrospektive]
Ein 7minütiger Animationsfilm zum Frauentag am 8. März, in dem einige gute Ideen steckten; durchaus sehenswert.

Proryw! (Der Rückstand!) [Retrospektive]
Der 14minütige Film geht der Frage nach, warum die Produktion hinter dem Fünfjahresplan zurückhängt. Die Schuldigen werden dann auch schnell benannt: Faulenzer, Betrüger, und natürlich Konterrevolutionäre (pfui!). Ein reiner Propagandafilm, der außer recht durchschaubarer Agitation nicht sonderlich viel zu bieten hat.

Sorok serdez (Vierzig Herzen) [Retrospektive]
Ein Loblied auf die Segnungen des technischen Fortschritts und die Elektrizität, wobei hier Dokumentation und Propaganda nahtlos ineinander übergehen, so erklärt der Film etwa den Unterschied zwischen "kommunistischer" und "bourgeoiser" Elektrizität (was dann irgendwie schon wieder witzig ist). Visuell am interessantesten sind die dabei die eingeschobenen Animationssequenzen und die Gestaltung der Zwischentitel, während die Realfilm-Anteile des Films mich in dieser Beziehung ein wenig enttäuscht haben.

Mein nächster Programmpunkt war dann:

Rwanyje baschmaki (Zerrissene Stiefelchen) [Retrospektive]
Ein Revolutionsfilm, in dessen Mittelpunkt Kinder stehen und der wohl auch für solche gedreht wurde, angesiedelt in einer nicht näher benannten deutschen Hafenstadt in den frühen 30er Jahren. Die Werftarbeiter streiken, und ihre Söhne unterstützen sie dabei, was sich aber als keineswegs ungefährlich erweist...
Inhaltlich wirkt der Film zu vereinfachend und ein wenig naiv. Die komplexen politischen Verhältnisse der sterbenden Weimarer Republik werden kaum getroffen, und als Hauptgegner der Arbeiter(kinder) erscheinen hier vor allem die Unternehmer, während die Nazis viel zu harmlos wirken und hier kaum mehr als Helfershelfer der Unternehmer sind (in Wirklichkeit war es wohl eher umgekehrt).
Formal ist der Film allerdings sehr gelungen (erwähnt sei etwa eine vorzüglich inszenierte Schlägerei im Klassenzimmer), weshalb ich auch durchaus gespannt zugesehen habe, und die Kinderdarsteller machen ihre Sache ebenfalls sehr gut. Insofern ein vielleicht nicht rundum überzeugender, aber auf alle Fälle interessanter Film.

Weiter im Text:

Kurzfilme 2 [Generation 14+]
Dieses Kurzfilmpaket bestand im einzelnen aus den Filmen Broer, Crazy Dennis Tiger, Supermarket Girl, Jeunesses françaises, Berlin Recyclers, Lambs und Banga inte. Den stärksten Eindruck von diesen Filmen hinterließ bei mir Lambs, der mit seinen wenigen Szenen ein sehr eindringliches Bild von der trostlosen Situation seines Protagonisten entwirft; durchaus angetan war ich auch von Crazy Dennis Tiger. Schwach fand ich dagegen den schwedischen Beitrag und vor allem Berlin Recyclers, ein überflüssiger Animationsfilm, der offenbar das "Berlin-Gefühl" einfangen wollte und über den ich nichts positiveres sagen kann, als daß er nur sechs Minuten dauert.

Die Wand [Panorama]
Eine Frau ist plötzlich durch eine unsichtbare, aber undurchdringliche Wand von der Außenwelt abgeschnitten und hat nun nur noch Kontakt mit einigen Tieren. Sie findet sich nach anfänglicher Verzweiflung allmählich mit der Situation ab und hält schließlich ihre Erfahrungen in Aufzeichnungen fest - und leider hört man fast den ganzen Film hindurch Martina Gedeck diese Aufzeichnungen aus dem Off vorlesen, was den Zuschauer zunehmend zur Verzweiflung treibt. Das ist doppelt schade, denn zum einen hätte die Grundidee der Vorlage wohl mehr hergegeben, und zum anderen sind die Bilder des Films von wirklich großer Schönheit. Trotzdem ist der Film - auch wenn es vielleicht seltsam klingen mag, wenn ausgerechnet ich das sage - entschieden zu literarisch geraten, wodurch er für mich zur größten Enttäuschung dieser Berlinale wurde.

La mer a l'aube (Das Meer am Morgen) [Panorama]
Der Film rekonstruiert ein grausiges Geschehen aus dem Jahr 1941 im von den Nazis besetzten Frankreich: nachdem Widerstandskämpfer einen deutschen Offizier erschossen haben, ordnet Hitler als Vergeltungsmaßnahme die Erschießung zahlreicher Franzosen an (vor allem Geiseln in Internierungslagern). Dabei konzentriert sich der Film besonders auf das jüngste Opfer, den 17jährigen Guy Môquet.
Volker Schlöndorff sagte vor dem Film, er habe versucht, dieses Geschehen möglichst distanziert darzustellen, und tatsächlich ist der Film sehr unpathetisch; dafür räumt er der "bürokratischen" Seite dieses Massenmordes viel Raum ein, wenn er zeigt, wie die Opfer ausgewählt werden. Die entsprechenden Szenen fand ich auch recht gelungen; dafür nimmt der Schriftsteller Ernst Jünger mehr Raum im Film ein, als eigentlich nötig wäre, während ich andererseits gern etwas mehr von dem jungen Môquet erfahren hätte. So blieb das Gefühl, einen zwar ganz guten Film gesehen zu haben, dem trotzdem etwas zu einem wirklich eindringlichen Werk fehlte.

Tabu [Wettbewerb]
Der Film fügt sich in die momentan zu beobachtende Nostalgie-Welle im Kino ein, denn er ist in Schwarzweiß und im selten gewordenen Normalformat gedreht. Obendrein wird der Film in seiner zweiten Hälfte sogar zu einer Art Stummfilm mit Erzähler, und die auf diese Art erzählte Geschichte liegt ebenfalls in ferner Vergangenheit.
Leider fand ich keinen rechten Zugang zum Film. Die erste Hälfte weckte nur bedingt mein Interesse, und der zweiten wurde vermutlich zum Verhängnis, daß ich nach der Erfahrung mit "Die Wand" am Vortag von exzessiv eingesetzten Off-Stimmen erst einmal recht gründlich die Nase voll hatte (vielleicht hätte ich das an einem anderen Tag ja interessant gefunden). So aber entwickelte sich dieses Stück Kunstkino recht bald für mich zum Uhrenfilm.

Wandeukyi (Punch) [Generation 14+]
Eine umso erfreulichere Überraschung erlebte ich dafür mit diesem Film. Wan-deuk ist ein Jugendlicher mit zahlreichen Problemen, und ganz besonders haßt er einen seiner Lehrer, der obendrein auch noch in seiner direkten Nachbarschaft wohnt. Doch gerade durch diesen begegnet er schließlich seiner Mutter, die er vorher noch nie gesehen hatte, und merkt allmählich, daß der Lehrer doch nicht so fies ist, wie er meint, und schließlich entdeckt er selbst eine Begabung fürs Kickboxen.
Der Film handelt von sehr ernsthaften Problemen seiner Figuren, und ist trotzdem überaus humorvoll, etwas, was mir bei den zuvor gesehenen Berlinale-Filmen doch ziemlich fehlte. Wenn Wan-deuk etwa beim Gebet Gott bittet, seinen Lehrer zu töten und die Warnung hinterherschickt "Wenn du mich nicht erhörst, wende ich mich an Buddha!", dann muß man den Film einfach mögen. Die Charaktere sind teilweise ein wenig verschroben, aber nicht überzeichnet, formal ist der Film ohne nennenswerten Mangel, und wenn sich am Ende alles irgendwie zum Guten fügt, dann ist das kein Zuckerguß-Ende wie in vielen Hollywood-Filmen, sondern ein sich ganz natürlich ergebender Abschluß. Einer meiner diesjährigen Favoriten.

Bai lu yuan (White Deer Plain) [Wettbewerb]
Der Film schildert die Ereignisse in einem Dorf über mehrere Jahrzehnte hinweg, vom Ende des Kaiserreichs bis zum Jahr 1938 (mit dem im Grunde genommen aus asiatischem Raum bereits der Zweite Weltkrieg begann), wobei er sich vor allem auf zwei Familien konzentriert.
In visueller Beziehung gehört dieser Film fraglos zu den Höhepunkten der Berlinale 2012, denn seine Bilder sind grandios. Allerdings hatte ich doch ziemliche Mühe, der recht komplizierten Handlung zu folgen, was zur Hälfte wahrscheinlich an mir (und meiner geistigen Verfassung) lag, zur Hälfte aber eben auch am Film selbst, der erzählerisch doch seine Mängel hat: manches wirkt sprunghaft oder bleibt unklar. So verließ ich den Saal mit dem Gefühl, einen meisterhaft fotografierten, aber nicht wirklich meisterhaften Film gesehen zu haben ( und außerdem mit Erleichterung darüber, den Folterstühlen im Friedrichstadt-Palast endlich entkommen zu sein...).

Weiter ging es wieder mit der Retrospektive, mit einem Kurz- und einem Langfilm: beide machten mir deutlich, welcher Beliebtheit sich das Hollywoodkino der 20er (und gleiches gilt für seine Stars) auch in der Sowjetunion erfreute, was ich in der Form nicht erwartet hätte.

Odna is mnogich (Eine von vielen) [Retrospektive]
Eine junge Frau, die für die Hollywoodstars jener Tage (Douglas Fairbanks, Charlie Chaplin, etc.) schwärmt, erlebt einen wilden Traum, der sie nach Hollywood und durch allerlei verrückte Erlebnisse führt. Die Rahmenhandlung ist als Realfilm gedreht, der Traum dagegen eine mit Anspielungen nur so gespickte Animation.

Pozelui Meri Pikford (The Kiss of Mary Pickford) [Retrospektive]
Ein junger Mann schwärmt für eine angehende Schauspielerin, die von ihm aber nichts wissen will, solange er nicht berühmt ist. Um das zu erreichen, wird er Stuntman, und als er gerade im Studio ist, tauchen Mary Pickford und Douglas Fairbanks auf, die das Meschrabpom-Studio besuchen...
Sowjetisches Kino brachte ich bislang vor allem mit Revolutionsfilmen oder schwermütigen poetischen Werken in Verbindung, nicht aber mit so hinreißenden Komödien wie dieser. Zum einen bietet der Film jede Menge Gags (so wird der junge Mann zu Beginn seiner Stuntman-Laufbahn erst einmal von drei total durchgeknallten Wissenschaftlern einer Art Eignungstest unterzogen) und Slapstick-Komik, daneben nimmt er aber auch auf sehr witzige Weise hysterischen Starkult auf die Schippe - und ist zudem filmhistorisch von Interesse, weil hier der Besuch zweier der größten Hollywoodstars in der Sowjetunion dokumentiert und gleich in die Filmhandlung eingebaut wurde. Zum perfekten Vergnügen trug dann auch noch bei, daß der Pianist mit seinem Spiel wirklich auf den Film einging und nicht einfach nur "stimmungsvoll" herumklimperte.
(Anmerkung: das Berlinale-Programm gibt als deutschen Titel merkwürdigerweise "Moskau glaubt den Tränen nicht" an, doch das muß wohl ein Irrtum sein, denn nach meinen Recherchen ist dies ein Film von 1979, der mit dem Mary-Pickford-Film nicht einmal entfernt etwas zu tun hat.)

Prilis mlada noc (A Night Too Young) [Forum]
Zwei Jungen begegnen zu Neujahr einer Lehrerin, die mit zwei Freunden eine Party feiern (bzw. nachholen will), sollen Wodka auftreiben, bekommen ihn sogar, und landen so in der Wohung der jungen Frau - und bleiben dort hängen, wo sie zu Beobachtern werden (allerdings zu keineswegs unbeteiligten). Daraus entwickelt sich ein sehr stimmiges Kammerspiel, in dem es viele Momente von etwas grotesker Komik gibt, aber auch großartige Irritationen. Ganz vorzüglich auch, wie die Kamera an diesem Geschehen teilnimmt und so, um mit Sidney Lumet zu sprechen, zu einem weiteren Hauptdarsteller wird. Ein famoser kleiner Film.

Aelita [Forum]
Mein persönlicher Abschlußfilm ist ein recht merkwürdiges Werk: einerseits zeigt er fast dokumentarisch den Moskauer Alltag der frühen 20er, und siedelt vor diesem Hintergrund ein Eifersuchtsdrama an. Andererseits läßt er aber einen der daran Beteiligten, einen Ingenieur, von einer Reise zum Mars und einer dort losbrechenden Revolution träumen, ist also auch streckenweise auch ein Science-Fiction-Film.
Mit der Eifersuchtsgeschichte konnte ich eher wenig anfangen und fand sie reichlich zäh. Dafür sind die Mars-Szenen voller Energie und geraten zu einer irren Revolutionskomödie, wobei auch die Ausstattung (die mich an expressionistische Filme erinnert hat) zu erwähnen ist. Ein sehr unausgeglichener und eigenartiger, gerade dadurch dann aber doch wieder interessanter Film.


Fazit:
Insgesamt bin ich mit meiner Festival-Auswahl sehr zufrieden. Zwar habe ich keinen der gesehenen Filme als "Überfilm" empfunden wie dies in vergangenen Jahren mitunter der Fall war, aber dafür habe ich diesmal auch keine Obergurke erwischt, von denen mir in früheren Jahren einige begegnet sind, und mit Der letzte Mann habe ich auch ein Beispiel großer Filmkunst gesehen. Meine drei ganz persönlichen Lieblingsfilme waren aber (in chronologischer Reihenfolge):

Punch
The Kiss of Mary Pickford
A Night Too Young

Und das soll dann auch als Fazit genügen.


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Im DVD-Regal gestöbert... (Teil 3)


Das Stöbern ging in eine dritte Runde... und folgende Filme habe ich mir angesehen:

Gattaca
In einer kalten, auf Perfektion getrimmten Zukunftswelt, in der "gute" Gene die unverzichtbare Voraussetzung für beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg sind, nimmt der natürlich gezeugte, als "invalid" geltende Vincent Freeman, der davon träumt, als Raumfahrer an einer Titan-Mission teilzunehmen, die Identität Jerome Morrows an, der zwar geradezu perfekte Gene hat, aber im Rollstuhl sitzt.
Der Stil des Films paßt perfekt zu der Welt, die er zeigt: Gattaca erzählt seine bewegende Geschichte in vorwiegend kühlen, oft von Blautönen beherrschten Bildern, und die Ausstattung verstärkt noch den Eindruck der leblosen Makellosigkeit, von der diese Zukunft erfüllt ist - eine Zukunft, die von der Gegenwart gar nicht so weit entfernt erscheint. Dementsprechend unterkühlt agieren auch die Darsteller, deren oft etwas zurückgenommenes Spiel perfekt zur Atmosphäre des Films paßt. Dabei erzählt der Film eigentlich zwei Geschichten: zum einen die von Vincent, der es immer wieder schafft, das System auszutricksen; zum anderen aber die von Jerome, der unter dem Fluch der Perfektion zu leiden hat. Der ebenso schöne wie kluge Film, der praktisch ohne Spezialeffekte auskommt, gehört zu meinen liebsten Vertretern des Science-Fiction-Genres.

Nach meiner schon kommentierten Wiederbegegnung mit Double Indemnity nach langer Zeit hatte ich Lust, gleich noch ein wenig bei Billy Wilder zu bleiben:

Sunset Boulevard
Wilders entlarvendes und desillisionierendes Meisterwerk über die (Alp)traumfabrik Hollywood und ihre dunkelsten Seiten, das mittlerweile längst selbst eine Hollywood-Legende ist. Der erfolglose Drehbuchautor Joe Gillis landet auf der Flucht vor seinen Gläubigern auf dem Anwesen der alternden (und weitgehend vergessenen) Stummfilmdiva Norma Desmond. Die plant ihre Rückkehr auf die Leinwand im ganz großen Stil und hat dazu schon ein fürchterliches Drehbuch verfaßt, das Gillis nun bearbeiten soll. Er tut das dann auch und wird schließlich auch ihr Liebhaber, wobei er zum Teil aus opportunistischen Motiven, zum Teil aus Mitleid so handelt (wie immer bei Wilder ist die Selbstverleugnung des Protagonisten überzeugend motiviert) - und so sein Schicksal besiegelt.
Wie schon in Double Indemnity läßt Wilder seine Hauptfigur das Geschehen retrospektiv erzählen, wobei er dies hier noch radikalisiert: ein Toter erzählt, wie er sein Leben verloren hat (Jahrzehnte später fand der Kunstgriff in American Beauty abermalsüberzeugende Verwendung). Dabei treffen auch zwei verschiedene Schauspielstile aufeinander: während Gloria Swanson ihre Norma Desmond mit allerlei dramatischen Gebärden und Blicken ausstattet, ist William Holdens Spiel eher zurückgenommen und nuanciert - so spiegelt sich der Kontrast von Stumm- und Tonfilm auch im Agieren der Darsteller wider. Besonders erwähnenswert ist auch Norma Desmonds Haus: durch die Szenen darin weht ein Hauch von Expressionismus, zugleich könnte dieses Haus aber auch der Schauplatz eines Horrorfilms sein (und in einem etwas weiter gefaßten Sinn ist Sunset Boulevard ja auch genau das). Höchst geschickt verwischt der Film zudem die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, so spielen einige Hollywood-Berühmtheiten (wie etwa Cecil B. DeMille) sich selbst, und wenn Norma Desmond sich einen ihrer alten Filme ansieht, ist dies tatsächlich ein alter Swanson-Film. Und natürlich sollten die herausragenden Dialoge, die einige der besten Filmsätze ("I am big! It's the pictures that got small!") enthalten, nicht unerwähnt bleiben. Sunset Boulevard ist der wohl bis heute beste Film über das Haifischbecken Hollywood, in dem selbst große Stars schnell in Vergessenheit geraten können, während andere gar nicht erst die Stufen des Erfolgs erklimmen, sondern von der Welt unbeachtet scheitern.
Ein großer Verehrer des Films ist übrigens David Lynch, in dessem eigenem Werk Wilders Film auch so manche Spuren hinterlassen hat: so trägt der (von Lynch selbst gespielte) schwerhörige FBI-Abteilungschef in Twin Peaks den Namen einer Nebenfigur aus Wilders Films: Gordon Cole. Am deutlichsten sind die Anklänge an Sunset Boulevard natürlich in Mulholland Drive (was neben der engen thematischen Verwandtschaft schon damit beginnt, daß genau wie bei Wilder auch in Lynchs Film der Titel nicht in Form der üblichen Einblendung, sondern als Straßenschild ins Bild kommt).
Wilder selbst variierte das Thema der alternden Schauspielerin noch einmal in seinem vorletzten Film Fedora: ein wirklich guter Film (wieder mit William Holden), der es mit dem früheren Meisterwerk aber bei weitem nicht aufnehmen kann.

Der heiter-romantische Abschluß meiner kleinen Wilder-Reihe war dann

Sabrina
Die Tochter des Chauffeurs einer schwerreichen Familie liebt den jüngeren der beiden Söhne David. Als der anfängt, ihre Gefühle zu erwidern, wittert sein Bruder Linus, der sich um die Geschäfte kümmert, Gefahr für die gewünschte Verbindung mit der Tochter eines Zuckerfabrikanten, und beginnt nun, selbst Sabrina den Hof zu machen, mit der fiesen Absicht, sie so vom seinem Bruder zu trennen. Insofern ist die Konstellation die eines modernen Märchens: das Aschenbrödel, der Millionärssohn bzw. Märchenprinz, und der Schurke, der sie auseinanderbringen will. Doch der Film variiert dieses Schema auf sehr originelle Weise: denn einerseits ist der Märchenprinz ein eher oberflächlicher und leichtsinniger Lebemann; auf der anderen Seite erliegt sein berechnender Bruder selbst Sabrinas Charme und entwickelt, zunächst ohne es selbst so recht zu bemerken, wirkliche Gefühle...
Sabrina ist sicherlich einer der romantischsten Wilder-Filme, gedreht in einem geradezu strahlenden Schwarzweiß, das an den Glanz vieler Lubitsch-Filme erinnert; auch die auffallend vielen Aufnahmen vom Mond (so gleich zu Beginn des Films) tragen zur Stimmung des Films bei. Auf der anderen Seite ist Sabrina auch das typische Beispiel einer Wilder-Komödie, die sehr oft eben nicht geradlinig auf ein Happy-End zusteuern, sondern vielmehr Geschichten erzählen, die nur so gerade eben mit knapper Not zu einem guten Ende kommen. Wie so oft bei Wilder (und überhaupt im amerikanischen Kino) ist Paris dabei die Stadt der Sehnsüchte und Träume. Ein schöner Film, in dem Audrey Hepburn nicht nur William Holden und Humphrey Bogart, sondern auch den Zuschauer verzaubert.

So, mal schauen, ob ich die nächsten Kommentare etwas knapper hinbekomme, schließlich hatte ich eigentlich die Absicht, hier Kurzkommentare zu schreiben:

Solaris
Der Psychologe Kris Kelvin soll entscheiden, ob und wie die Erforschung des Planeten Solaris, auf dem sich ein offenbar intelligenter Ozean befindet, weitergehen soll, doch auf der Raumstation wird er statt dessen mit seinem innersten Selbst konfrontiert.
Stanislaw Lem mochte Tarkowskis Verfilmung seines Romans nie besonders, was von seinem Blickwinkel aus verständlich ist, da Tarkowski weit weniger als Lem an den im Roman recht zentralen erkenntnistheoretischen Problemen interessiert ist. Vielmehr geht Tarkowski mit Solaris (hier noch durch die Science-Fiction-Elemente motiviert) zur Visualisierung von Innenwelten über, die auch für sein weiteres Werk typisch ist. Das Ergebnis ist ein grandioser und meditativer Film, der sich mit den Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis und den mit der Forschung verbundenen ethischen Fragestellungen auseinandersetzt, vor allem aber damit, was das Menschsein selbst eigentlich bedeutet. Dabei wirkt Solaris trotz seiner vielen (und klugen) Dialoge vor allem durch seine vieldeutigen und oftmals poetischen Bilder, durch die Tarkowskis Film nicht nur zu einem der besten, sondern auch schönsten Science-Fiction-Filme wird.

Der Kontrakt des Zeichners
Der Zeichner Mr. Neville übernimmt den Auftrag, zwölf Ansichten vom Garten des reichen Mr-Herberts zu zeichnen und läßt sich dafür vertraglich neben Kost und Logis auch erotische Gegenleistungen von Seiten Mrs. Herberts zusichern. Dabei gerät er aber zusehends in eine tödliche Intrige hinein, ohne sie zu durchschauen...
Greenaways Film ist eine sehr intelligente Reflexion über Kunst und deren Interpretation sowie über die Möglichkeiten, Wahrheit(en) durch ein Kunstwerk sichtbar zu machen - und über die Rolle des Künstlers innerhalb der Gesellschaft. Dabei befinden sich Inhalt und Form auf das wunderbarste miteinander im Einklang, und nahezu alle im Film geführten Diskurse über die Abbildung von Realität und allegorische Bedeutungen eines Kunstwerks lassen sich auch auf Greenaways Film selbst anwenden. Dabei ist der Film ein audiovisueller Hochgenuß: die Bilder sind von überwältigender Schönheit (für mich persönlich übertrifft Der Kontrakt des Zeichners in dieser Hinsicht sogar noch Barry Lyndon, aber das ist sicher Ansichtssache), und Michael Nyman hat eine großartige Filmmusik dazu komponiert. Greenaway Geniestreich gehört zum engeren Kreis meiner Lieblingsfilme; leider kann da keiner seiner anderen Filme, soweit ich sie kenne, auch nur entfernt mithalten.

Spiel mir das Lied vom Tod
Ein Western als große Oper: in diesem Meisterwerk hat Sergio Leone seinen Stil wohl zur Perfektion geführt, unter tatkräftiger Unterstützung Ennio Morricones, dem hier seine sicherlich berühmteste, vielleicht auch beste Filmmusik gelungen ist, sowie Tonino Delli Collis, dessen Arbeit für Leone (auch in dessen anderen Filmen) ebenfalls besondere Würdigung verdient. Leone dehnt einzelne Szenen bis zum Äußersten, besonders in den Momenten, die den Gewaltausbrüchen vorausgehen, vergißt aber über allen großartigen Einzelheiten niemals seine Geschichte, in der es gleich vier zentrale Figuren gibt. Es ist natürlich (wie eigentlich immer im Italowestern) eine Rachegeschichte, vor allem aber auch eine zutiefst melancholische Geschichte von gescheiterten Träumen; besonders deutlich wird das an der Figur der Prostituierten Jill, deren Traum von einem bürgerlichen Familienleben bereits (in einer der eindringlichsten und grausamsten Szenen der gesamten Filmgeschichte) zerschossen wird, bevor sie selbst das erste Mal im Film zu sehen ist. Ein überwältigender Film, in dem es gleich mehrere Szenen von ungeheurer Intensität gibt, und der wohl den Höhepunkt des Italowesterns darstellt - vielleicht sogar das Westerngenres überhaupt.

Es war einmal in Amerika
Für viele Filmfreunde ist Der Pate der Gangsterfilm schlechthin, für mich ist es eben Es war einmal in Amerika, und so könnte ich einige Sätze aus meinem Kommentar zu Spiel mir das Lied vom Tod auch nahezu unverändert übernehmen. Dabei ist Leones letzter Film zugleich sein melancholischster, der die Geschichte eines fehlgeschlagenen Lebens erzählt und sich abermals mit den Schattenseiten des amerikanischen Traums befaßt. Ähnlich wie die Revolverhelden in Leones Western, die von der Zeit überholt und von Geschäftsleuten, die mit Geldscheinen statt Pistolen kämpfen, verdrängt werden, ergeht es auch dem Gangster Noodles, der noch an die Freundschaft glaubt und in eine Zeit, in der Berufsverbrecher in das ganz große Geschäft und die Politik einsteigen, nicht mehr hineinpaßt. Leones Schwanengesang, der in erzählerischer Hinsicht seinen vielleicht kunstvollsten Film darstellt, ist aber zugleich auch ein wehmütiger Abgesang auf das Genre. Ein wahrhaft gewaltiger Film, dem seine extreme Überlänge kaum anzumerken ist; ich persönlich schätze besonders den etwa 50minütigen Teil, der die Jugend des Protagonisten schildert - einige der schönsten Szenen des Films fallen in diesen Teil des Films. Die vielleicht schrecklichste allerdings auch.

Damit hat das Stöbern im DVD-Regal vorläufig ein Ende: in der nächsten Zeit gilt es mal wieder Filme zu entdecken, die ich noch nicht kenne.


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New Moon


Vor einem knappen Jahr hatte ich Twilight gesehen und zwar keineswegs überragend, aber an sich ganz passabel gefunden, und so habe ich gestern mal einen Blick auf die Fortsetzung riskiert.
Die erste halbe Stunde des Films gefiel mir. Da gab es Atmosphäre und ein paar ganz hübsche Ideen (wenn etwa die von ihrem heißgeliebten Edward verlassene Bella in Gram versinkt und in einer Einstellung, in der sie mehrfach von der Kamera umkreist wird, mehrere Monate verstreichen). So weit, so gut.
Dummerweise geht der Film dann aber noch anderthalb Stunden weiter, und in den anderthalb Stunden kommt dann nichts mehr. Jedenfalls nichts, was der Rede wert wäre. Bella, die mir im weiteren Verlauf des Films zunehmend auf den Wecker ging, tröstet sich nun ein wenig, indem sie Zeit mit ihrem Freund Jacob verbringt, aber der hat - man hält es nicht für möglich - ein düsteres Geheimnis: er ist ein Werwolf. Außerdem gerät Bella noch einige Male in Gefahr (richtiger: sie sucht diese), aber wirklich interessant ist das alles nicht. Ein weiteres Problem kommt noch hinzu: Die meisten Menschen haben ja ein oder mehrere Talente, vermutlich auch Taylor Lautner. Eine schauspielerische Begabung gehört aber mit ziemlicher Sicherheit nicht dazu. In Twilight fiel das nicht so sehr auf, weil seine Rolle dort sehr klein war, aber in New Moon ist er ein tragender Charakter, aber er trägt eben nichts. Schauspiel erfordert eben mehr als ein hübsches Gesicht und einen durchtrainierten Oberkörper (der im übrigen reichlich zur Schau gestellt wird).
Das Finale in Italien ist dann komplett versemmelt. Ein wenig banales Unsterblichen-Geschwätz und ein paar einfallslos inszenierte Kampfszenen - mehr muß man meiner Meinung nach nicht dazu sagen.
Vermutlich bin ich aber auch einfach der falsche Zuschauer für diesen Film gewesen. Die Zielgruppe dürften wohl eher weibliche Teenager darstellen, und das künstlerische Ziel des Werks dürfte es sein, genau diese dazu zu bringen, entzückt loszukreischen. Ich bin ziemlich sicher, daß er das geschafft hat. Für mich war das aber eher nichts - wohl nicht wirklich überraschend, aber trotzdem ein wenig schade, weil ich, wie gesagt, die erste halbe Stunde noch gern gesehen habe.


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Frau ohne Gewissen


Der Versicherungsagent Walter Neff verfällt der attraktiven, aber eiskalten und berechnenden Phyllis Dietrichson und heckt zusammen mit ihr einen raffinierten Plan aus, um ihren Mann zu ermorden und die Versicherungssumme aus einer Unfallversicherung zu kassieren - das ganze soll nach einem tödlichen Sturz aus einem Zug aussehen, weil es für den die doppelte Summe gibt; daher auch der (deutlich bessere) Originaltitel Double Indemnity.
Billy Wilders Beitrag zum Film Noir gehört zu den Höhepunkten der Gattung. Dadurch, daß Wilder (ähnlich wie später in Sunset Boulevard) die Geschichte retrospektiv erzählt und den Film damit beginnen läßt, daß der angeschossene Neff sich in das Büro seines väterlichen Freundes Barton Keyes (Edward G. Robinson, im Kino jener Tage sonst der Gangsterboß vom Dienst, in einer für ihn ungewöhnlichen Rolle) schleppt, um ein Geständnis in ein Diktaphon zu sprechen, nimmt der Film einen resignativen, pessimistischen Grundton an. Double Indemnity gehört auch in visueller Hinsicht zu den Höhepunkten in Wilders Werk: die Schwarzweißfotografie und die Lichtsetzung sind meisterhaft und tragen wesentlich zur atmosphärischen Dichte des Films, der eine kalte, von Habgier und Egoismus beherrschte Welt vorführt, bei. Wobei es aber auch in diesem Film kleine Momente, die von menschlicher Wärme künden, gibt, so etwa Keyes' freundschaftliche Geste am Ende - auch das ist typisch für Wilder, der selbst in seinen kältesten und zynischsten Filmen immer noch, und wenn es noch so kurz ist, Anflüge von Menschlichkeit aufscheinen läßt, und das halte ich für sehr wichtig, weil diese Filme gerade dadurch glaubwürdig werden. Natürlich ist der Film auch hervorragend gespielt: Barbary Stanwyck ist perfekt in ihrer Rolle, wie auch Fred MacMurray und eben Robinson.
Interessant zu erwähnen ist dabei, von welchen Schwierigkeiten besonders die Arbeit am Drehbuch begleitet war: Wilders damals üblicher Partner Charles Brackett fand das Sujet zu anrüchig, weshalb Wilder sich nach jemand anderem umschauen mußte, doch James M. Cain, der Verfasser des zugrundeliegenden Romans, war anderweitig verpflichtet, also tat sich Wilder mit Raymond Chandler zusammen. "Es war Haß auf den ersten Blick", beschrieb Wilder diese Zusammenarbeit, und Chandler meinte seinerseits, die Arbeit mit Wilder habe sein Leben verkürzt. Chandler brachte es sogar fertig, eine mehrseitige Beschwerdeschrift zu verfassen, in der stand, was Wilder fortan gefälligst unterlassen solle, so z.B.: "Mr. Wilder hat unter keinen Umständen mit seinem dünnen, am Handgriff mit Leder überzogenen Malakka-Spazierstock unter Mr. Chandlers Nase herumzufuchteln oder damit auf ihn zu deuten, wie er es während der Arbeit zu tun pflegt." (Nachzulesen in Hellmuth Karaseks Buch "Billy Wilder. Eine Nahaufnahme") Doch trotz ihrer gegenseitigen Antipathie gelang Wilder und Chandler eines der besten Drehbücher gerade auch des Film Noir.
James M. Cain war vom fertigen Film übrigens begeistert und lobte den Film als Verbesserung seines Romans, und auch ein prominenter Kollege war beeindruckt: "Seit Double Indemnity sind die beiden wichtigsten Wörter im Kino Billy Wilder", telegrafierte Alfred Hitchcock, was besonders erwähnenswert ist, weil Hitchcock sich normalerweise kaum über die Arbeiten seiner Kollegen äußerte, und positiv schon gar nicht.





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