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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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EARTH (Alastair Fothergill, Mark Linfield/UK, D, USA 2007)


"Wonders."

Earth (Unsere Erde) ~ UK/D/USA 2007
Directed By: Alastair Fothergill/Mark Linfield

Nachtrag: Bereits am letzten Mittwoch habe ich mit meiner dritten Klasse diese Dokumentation im Rahmen der 'Schulkinowochen NRW' im UCI Duisburg gesehen. Ich muss gestehen, dass ich selbst einen anderen, fiktiven Film des Angebots bevorzugt hätte, vielleicht "Tom Sawyer" oder "Krabat", mich jedoch nach den Wünschen meiner KollegInnen gerichtet habe. Im Nachhinein bereue ich das ein wenig. Als beinahe noch interessanter als die mit wahrlich spektakulären Bildern angereicherte Wissensfundgrube, in denen Eisbären, Walrösser, Elefanten, Karibus, Buckelwale und, zu meiner besonderen persönlichen Freude, auch ein Weißer Hai und ihre existenzorientierten, globalen Reisen von Nord nach Süd vorkommen, erwies sich nämlich die Beobachtung des Verhaltens einzelner Kinder. Meine Befürchtungen, dass einige sich nicht eineinhalb Stunden lang auf diesen auf eine doch eher atmosphärische Präsentation bedachten Dokumentarfilm würden einlässen können, bestätigten sich ziemlich rasch. Die meisten, besonders die, die weit von mir entfernt saßen, waren bald mit anderen Dingen beschäftigt, etwa damit, ihre oder anderer Kinder Käppis durch die Gegend zu pfeffern oder zum vierten Mal zur Toilette zu rennen. Meinem aufgestauten Frust habe ich am nächsten Tag mit einem unangekündigten, zwölf Fragen beinhaltenden Multiple-Choice-Test Luft gemacht, der erwartungsgemäß mäßig ausfiel. Angesichts der medialen, häuslichen Gewohnheiten der meisten Kinder, die täglich mehrstündiges Konsolen- und Computerspiel, Facebook und Kinder-Communitys, grelle Animationsserien und teils erwachsene Genrekost beinhalten, war diese einmal mehr ernüchternde pädagogische Erfahrung kaum weiter verwunderlich.
Was nun den Film "Earth" anbelangt, so wird jeder ausgewiesene Freund von Tier- und Naturdokus ihn bestimmt lieben. Mir wäre eine entspanntere Betrachtung lieb(er) gewesen.

8/10

Alastair Fothergill Mark Linfield BBC Afrika Arktis Antarktis Tundra


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TIERISCHE LIEBE (Ulrich Seidl/AT 1996)


"Du bis mein Ein un Ojs, mei Bubele, und krigs von mir au imma schön dein Pappi."

Tierische Liebe ~ AT 1996
Directed By: Ulrich Seidl

Mit der österreichischen Hauptstadt Wien assoziiert man als noch nie Dagewesener allen möglichen Kitsch; Sachertorten, den berühmten Schmäh, Kaffeehäuser, Kalbsschnitzel, Barock, Mozart, Walzer und Strauss, den Kongress und den Prater mit dem Riesenrad, Klimt, Hundertwasser und Schnitzler, Freud und Jung. Vielleicht noch den Dritten Mann und Georg Danzer. Dass es jedoch eine Großstadt ist wie alle, mit absolut fiesen, schmucklosen Ecken und Menschen, das verdrängt man leicht. Und plötzlich begegnet einem dieser Ulrich Seidl, von dem man schon so viel gehört und gelesen hat, der sich durch seine harte Art der stilisierten Dokumentation einen Namen gemacht hat. "Tierische Liebe" als erster Seidl-Film lag für mich nahe, weil ich selbst ein großer Hundeliebhaber bin und meine Beziehung zu meinem Hund manch einem, der mich weniger gut kennt, auch leicht ein Kopfschütteln abringen mag. Die sich freimütig und ausgiebig exponierenden Zeitgenossen in "Tierische Liebe" sind nicht a posteriori zoophil, ja nichtmal pervers. Es sind einfach arme, einsame, oft bildungsferne Typen; psychisch gestört und suchtkrank, allein und der Kommunikationslosigkeit überlassen. Ihre Tiere, meist Hunde, missbrauchen sie unbewusst als Ersatz für fehlende Zwischenmemschlichkeit, für plötzlich fehlende Lebenspartner, Kinderlosigkeit, selbst für Liebe und Körperkontakt. Einen Hund zu herzen und zu beschmusen, bis dieser nur noch wegwill, und das zeigt "Tierische Liebe", dazu gehört schon beinahe ein spezielles Talent. Aber bei Seidl gibt es solche Menschen; sie hängen auf ihrer Couch vor verschimmelten Tapeten, hören Bernhard Brink, trinken Vodka, ficken oder betreiben Telefonsex, die ärmsten Schweine Wiens. Ob das filmemacherische Ethos es zulassen sollte, solche offenbar doch schwer pathologischen Individuen vor die Kamera zu lassen und sich selbst zu denunzieren, muss Seidl mit sich selbst ausmachen. Dass er mit "Tierische Liebe" einen ebenso erschütternden wie bewegenden, nur schwer zu ertragenden Film gemacht hat, steht aber genauso außer Frage.

8/10

Ulrich Seidl Wien Madness Hund


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WIR WAREN DAS MILJÖ - KÖLSCHE GESCHICHTEN (Peter F. Müller/D 2011)


"Et jab Zuckabrot un' Peitsche - dat wussten se all'."

Wir waren das Miljö - Kölsche Geschichten ~ D 2011
Directed By: Peter F. Müller

Wenn ehemalige Kiez-Größen von ihrem früheren Leisten berichten, geraten sie gern ins haltlose Fabulieren und neigen bereitwillig zu romantisch gefärbter Nostalgie, ebenso wie ihre Kunden und sogar die pensionierten Beamten, die damals die leidige Aufgabe hatten, alles im Zaum zu halten. Von Ost-Öffnung war ferner auch noch gar nicht zu reden, als Dummse Tünn, Schäfers Nas, Abels Män, Karate Jacky und Betonkopp noch die Größen der Kölner Unterwelt waren. Liebevoll Lodden, Loddel, Luden oder auch einfach bloß Zuhälter waren sie selbsterklärte Nachtmenschen, die zwischen Kneipe, Spieltisch und Bodybuilding-Studio umherzirkulierten und hier das sauer verdiente Moos ihrer zwei bis sieben laufenden Schäfchen durchbrachten. Prügeleien gehörten zur Tagesordnung, umgebracht wurde aber keiner - darauf ist man stolz. Wenngleich auch Frischse Pitter gern mal seine stets griffbereite Axt schwang, um damit Kneipeninterieurs zu zerlegen: Hunde, die bellten, bissen nicht. Das symptomatische Gerngroßgetue des archetypischen "pimp" hatte man sich bei US-Vorbildern abgeschaut, weswegen die augenzwinkernd gemeinte Titulierung der Domstadt als "Chicago am Rhein" selbst heute, gute zwanzig Jahre nach dem Golden Age der gepflegten Heimkriminalität, die ehemals dauergewellten, muskulösen Herrschaften noch immer mit heimlichem Stolz erfüllt. Zockerei, Steuerhinterziehung, Drogenhandel und natürlich die Prostitution - das waren einst die vier im kleinen Stil aufgezogenen Eckpfeiler, die jenen Patronen gestattete, echte Rolexe und maßgeschneiderte Lederanzüge zu tragen und ihr sauer Verdientes im Kofferraum des goldenen Porsche spazierenzufahren. Cash, versteht sich. Müllers Einblick in dieses "Miljö" fällt gebührlich augenzwinkernd aus, kann eine starke Faszination für den Anekdotenreichtum der interviewten Herrschaften allerdings nicht verleugnen. Und das zu Recht; wenn selbst schon Ex-Knackis und verarmte Altgauner in reaktionäre Gegenwartsängste und regressive Schwärmerei verfallen, dann fragt man sich, wo und vor allem wann man doch bitteschön eigentlich lebt.

9/10

Peter F. Müller Köln Kiez TV-Film Prostitution


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DIE FUSSBROICHS - EINE KÖLNER ARBEITERFAMILIE (Ute Diehl/BRD 1990)


"Na ja jut, dat is für misch uninteressant."

Die Fussbroichs - Eine Kölner Arbeiterfamilie ~ BRD 1990
Directed By: Ute Diehl

Die Fussbroichs, das sind Vater Fred, 49, Vor- und Schichtarbeiter in einer Kabelfabrik, Mutter Annemie, 41, Sekretärin beim Schuldezernat der Stadt Köln und Frank, 21, gelernter Schlosser und passionierter Bodybuilder. Nachdem die Regisseurin und Autorin Ute Diehl 1979 zunächst die Dokumentation "Ein Kinderzimmer 1979" um den damals elfjährigen Frank und seine Eltern im WDR vorstellte, kehrte sie zehn Jahre später zu den Fussbroichs zurück, begleitete sie einige Monate in ihre Alltagswelt für den vorliegenden Dokumentarfilm, der eine erst 2003 ihr Ende findende, siebzehn Staffeln mit einhundert knapp halbstündigen Episoden umfassende TV-Reihe folgte.
Das die Fussbroichs begleitende, soziokulturelle Phänomen offenbart sich als vielgestaltig. Zum einen repräsentieren die Familie eine großstädtische, graue Masse von zwar bildungsfernen, aber verhältnismäßig gesichert lebenden, scheinbar permanent konsumierenden Mittelständlern (eine Schicht, die heute im Aussterben begriffen ist) zum anderen laden Ute Diehls Inszenierung und die Selbstverständlichkeit und Ungekünsteltheit, mit der sich Annemie, Fred und Frank vor der Kamera positionieren, zu gesundem Schmunzeln ein. Im Gegensatz zu heute gängigen TV-Formaten begeht Ute Diehl bei aller kritischen Perspektivierung nämlich nie den Fehler, billige Denunziation zu betreiben, respektive die Fussbroichs einem wie auch immer gearteten bildungsbürgerlichem Amüsement feilzubieten. Der Humor präsentiert sich als herzlich, wenngleich hier und da autoreflexiv. Darin, in dieser Gratfindung, liegt wohl auch das Erfolgsgeheimnis der folgenden TV-Reihe. Der Film hält noch nicht die perfekte Balance späterer Beiträge, in denen sich Diehl mehr und mehr zurücknimmt, bis sie überhaupt nicht mehr eingreift und nurmehr mitschneidet und kompiliert, rund um einen oder zwei Sachverhalte. Hier interviewt sie noch und ist stimmlich präsent, was für eine personelle Einführung der Familie durchaus seine Berechtigung trägt. Kernepisode ist - wie immer - ein Familienurlaub, der die Fussbroichs stets in ihrer ganzen Teutomanie und globalen Selbstzentrierung zeigt. Diesmal geht es nach Ibiza, wo man sich über "die Ausjeflippten" amüsiert und sich wundert, warum "dat Panierte [das man sich zuvor tonnenweise auf den Teller schaufelte] nisch Kroketten, sondern Tintenfischringe sind" .
Auch daher ein vorzüglich eingefangenes Stück Zeitgeschichte.

9/10

Ute Diehl Köln Familie TV-Film Pilotfilm


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MARLEY (Kevin Macdonald/USA, UK 2012)


"Sister, I'm taking the ghetto uptown."

Marley ~ USA/UK 2012
Directed By: Kevin Macdonald

Eine Dokumentation über das Leben Robert Nesta Marleys muss und kann auch zwangsläufig nur zur Heldenverehrung ausarten. Der ohnehin befangene Zuschauer derweil bleibt nach knapp zweieinhalb Stunden des Staunens, in denen er das wechselvolle Leben dieses Jahrhundertmusikers in komprimierter Form nahegebracht bekam, mit viel Liebe und etwas Wehmut in der Brust zurück.
Die Biographie der mit 36 Jahren - so alt bin ich selbst momentan - verstorbenen Ikone liest sich in Teilen wie die Kopfgeburten eines Kitschromanciers: Geboren auf Jamaica als Sohn eines weißen Försters und einer einheimischen, armen Dorfbewohnerin wurden dem nach seinem unehelichen Vater benannten Robert, den seine Freunde und Kollegen später Robbie, Bobbie oder eben Bob nennen sollten, jedwede Anbindung an seine weißen Wurzeln versagt. Als stets misstrauisch bleibender Mensch wächst Bob im Slum Trenchtown in Kingston auf und findet sich bald mit Bunny Wailer und Peter Tosh zusammen, mit denen er die Wailers gründet. Nach einigen Jahren führen erste internationale musikalische Erfolge und eine Tour nach England zu einem Vertrag mit Jim Blackwell, dem Gründer von Island Records, auf denen Bob Marley And The Wailers zu Lebzeiten des Sängers acht legendäre Alben veröffentlichen - darunter den Überklassiker "Exodus". Im Mai 81 stirbt Marley an dem bereits fünf Jahre zuvor bei ihm diagnostizierten Hautkrebs. Die frühere Ignoranz des unter einem Zehnagel entdeckten Melanoms rächt sich nun und kann selbst durch Spezialistenhände nicht mehr aufgefangen werden. Als eine Art universeller Friedenbotschafter gibt Marley noch in den Jahren zuvor unter teils unzumutbaren Bedingungen einige legendäre Konzerte, die unter anderem die Autonomie Simbabwes unterstützen oder dazu führen, dass sich während eines Gigs auf Jamaica die beiden erbitterten politischen Gegner Edward Seaga und Michael Manley unter dem Jubel ihrer jeweilis nicht minder aufgeheizten Anhänger die Hände schütteln. Signale, die die Welt ein wenig besser machten.
Macdonald holt sich für sein engagiertes Porträt, dass in der ohnehin formidablen Tradition der großen Musikerbios der letzten Jahre steht, einen beachtlichen Korso von Weggefährten und Zeitzeugen vor die Kamera; sogar Marleys bayrische Krankenschwester Waltraud Ullrich kommt zu Wort. Am Ende bleibt die Flexion, inwieweit ein früher Tod eine Legende erst komplementär ausstaffieren zu vermag. Märtyrertum im Zeichen von Kultur und Weltschmerz, vielleicht sind das erst die Faktoren, die die musikalischen Monolithen des letzten Jahrhunderts zu dem machen, was sie heute für uns repräsentieren. Jeder, der ein bisschen ehrlich ist, kann vermutlich gut darauf verzichten, einen 67-jährigen Bob Marley seine alten Standards trällern zu hören. Oder einen 69-jährigen Jim Morrison. Oder einen 77-jährigen Elvis. Oder ich bin einfach nur ein Zyniker. Darauf einen

10/10

Musik Reggae Bob Marley Ska Jamaica Karibik Biopic Kevin Macdonald Krebs


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THE BIG EDEN (Peter Dörfler/D 2011)


"Was'n an 'Ständer' obszön? Is doch was ganz Natürliches."

The Big Eden ~ D 2011
Directed By: Peter Dörfler

Leider sind mir die ersten beiden Teile von Peter Dörflers Doku-Trilogie über "selbstdarstellerische Männerfiguren" nicht bekannt und überhaupt bin ich nur wegen seines schillernden "Untersuchungsobjekts" auf diesen Film gestoßen. Der ist aber ganz famos, so dass ich "Der Panzerknacker" und "Achterbahn" jetzt auch saugern sehen würde. Dörfler pflegt nicht den ganz üblichen Ansatz für einen Personendoku. Seine Interviewpartner lässt er, jeweils bildausfüllend und frontal direkt ins Objektiv und somit im Prinzip mit dem Zuschauer parlieren, was schonmal recht ungewöhnlich anmutet. Dazu gibt es als wundervoll arrangierte Unterstützung private und öffentlich zugängliche Fotografien Edens, die als eine Art tableaux vivants miteinander verwoben werden und wie eine ineinander fließende Diaschau gestaltet sind. Shimon "Rolf" Eden selbst wird zumeist vor schneeweißem Hintergrund von Freunden oder Familienmitgliedern befragt. Der Mann selbst bleibt aber auch nach diesem Filmgenuss genau das humane Enigma, das er schon seit vielen Jahrzehnten repräsentiert. 1930 geboren, mit drei Jahren und Familie nach Palästina emigriert, später früh (und erstmals) verheiratet, aktiv im israelischen Befreiungskrieg, danach Rückkehr nach Europa und über Paris nach Berlin, wo er diverse legendäre Clubs und Discos besaß, die besonders in den Siebzigern und Achtzigern zu Brennpunkten des Berliner Nachtlebens avancierten. Wer in und in Berlin war, musste in einem von Edens Schuppen verkehren. Heute ist der Mann ein nach wie vor eitler, misogyner Geck von 82 Jahren, der freien Liebe zugetan, lässt sich unregelmäßig liften, hat eine Ehefrau namens Brigitte um die 30 und sieben Kinder im Alter zwischen 14 und 63 Jahren von sieben verschiedenen Frauen. Er gilt als 'peinlichster Einwohner Berlins', ist gern als politisch unkorrekter Gast in Talkshows oder Boulevardzeitungen zugegen, wo er über Themen wie "Sex im Alter" schwadroniert, die Prostitution als einen erstrebenswerten weiblichen Berufsstand bezeichnet oder auch ganz einfach Wahrheiten absondert wie die, dass Geld geil mache. Den Beweis dafür hat er seit Dekaden angetreten. Eden ist kein besonders schöner Mann, er ist schmalschultrig mit dünnen Gliedmaßen, hat Glubschaugen und einen altersbedingten Schmerbauch. Es ist sein Narzissmus, der die Damen anlockt, und sein Portemonnaie. Dörfler ist, anders als den Talkmastern, die Eden einzuladen pflegen, nicht an der Denunziation oder einer Nabelschau des Lustgreises gelegen. Stattdessen hinterfragt er den Menschen und flechtet immer wieder Momente ein, die Eden als das zeigen, was er tatsächlich und eigentlich ist: Als einen alten Herrn von beneidenswerter Lebenserfahrung, der im Laufe seiner stolzen Linie irrsinnige biographische Purzelbäume vollzogen hat. Wenn er in Haifa mit Menahem Golan und zwei weiteren Männern seines Alters im Café sitzt und alte Anekdoten hervorkramt, dann wird sein Blick wehmütig. Er passt sich dann ganz den Gesprächspartnern an, verzichtet auf schmierigen Glamour, Arroganz und ordinäre Gesten und wirkt authentisch. Seine junge Frau ist nicht bei ihm und die dokumentarische Kamera scheint vergessen. In diesen Augenblicken gelingt es Dörfler, zum Kern vorzudringen und ungestelzte Ehrlichkeit hervorzukitzeln. Egal, in der nächsten Einstellung ist der "alte" Eden wieder da. Beim Frisör, beim Treffen mit seiner geliebten Uschi Buchfellner, der er mehr zugetan scheint als allen anderen Frauen seines Lebens, in deren Gegenwart er aber immer noch nicht auf seine schmierige Eden-Art verzichten kann. Vielleicht ist dieser vorgeblich so sehr vom Glück verfolgte, gern seine gelben Zähne bleckende Mensch in Wahrheit ein gefangener, tragisch verbrämter. Seine alten, gelifteten Augen lassen da durchaus den einen oder anderen Rückschluss zu.

9/10

Peter Dörfler Rolf Eden Berlin Paris Israel


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GEORGE HARRISON: LIVING IN THE MATERIAL WORLD (Martin Scorsese/USA 2011)


"It didn't need any light. He himself lit the room."

George Harrison: Living In The Material World ~ USA 2011
Directed By: Martin Scorsese

In stattlicher, aber dennoch wie im lug vergehender Laufzeit interviewt der Film diverse Freunde, Kollegen und Familienmitglieder des großen Rockgitarristen George Harrison und präsentiert zugleich ein stattliches Reservoir an Acrivaufnahmen mit dem Künstler. Ihm als dem "Stillsten" der Beatles widmen Film und Scorsese insbesondere eine Vielzahl Einblicke in Harrisons Reise in die Spiritualität, seine Trips nach Indien, seine Beziehungen zu dem Maharishi Yogi und dem Sitarmusiker Ravi Shankar. Diese "Bewusstwerdung" Harrisons, die, später wesentlich unbewachteter von der Öffentlichkeit, der er lernte, den Rücken zuzukehren, eine nach wie vor wesentliche Position in seinem Leben und Sterben einnahm, nimmt das zentrale Moment des Films ein. Ansonsten gibt es natürlich keinen Harrison ohne Beatles; einen Großteil seines Filmes widmet Scorsese auch einem historischen Abriss über die Fab Four; glücklicherweise kommen jedoch auch spätere Weggefährten wie Phil Spector, der Harrisons erstes Soloalbum mitproduzierte, oder Eric Idle und Terry Gilliam zu Wort, deren Monty-Python-Truppe Harrison mit seiner just gegründeten Firma Handmade Films ihr Hauptwerk "The Life Of Brian" rettete. Tom Petty berichtet über die leider nur kurzlebige Phase der Travelling Wilburys und Harrisons zweite Frau Olivia mit rührender Gefasstheit über ihre turbulenten letzten Jahre mit der ersten Krebsdiagnose, dem Überfall eines Irren auf Harrisons Villa Friar Park und einem letzten, Ruhe spendenen Rückzug in die Einsamkeit der Fidschis. Alles, wenngleich manch einem sicherlich zumindest in groben Zügen längst geläufig, hochinteressant vorgertragen und wunderhübsch komponiert; ein weiterer Triumph unter Scorseses Musiker-Bios im Speziellen und der Musikdokumentation allgemein.

9/10

Biopic Martin Scorsese George Harrison The Beatles Musik period piece Indien England


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LITTLE DIETER NEEDS TO FLY (Werner Herzog/D, UK, F 1998)


"Only dead people are heroes."

Little Dieter Needs To Fly (Flucht aus Laos) ~ D/UK/F 1998
Directed By: Werner Herzog

Werner Herzog berichtet in vier fesselnden Kapiteln über den Schwarzwälder Dieter Dengler, der mit achtzehn Jahren in die USA ausgewandert ist, um sich dort nach einigen Umwegen von der Airforce als Pilot ausbilden zu lassen. 1965 fliegt Dengler einen Bomber über Laos, wird abgeschossen und gerät in die Gefangenschaft des Vietcong, aus der er fliehen und nach einer entbehrungsreichen Reise durch den Dschungel gerettet werden kann. Dengler erzählt von teils haarsträubenden Situationen und seinen sich oftmals dem Tode nähernden Erfahrungen mit einer fast ungerührt wirkenden Gelassenheit, die nur selzen durchbrochen wird. Bei der Nachstellung einer authentischen Episode, im Zuge derer ihn der Vietcong durch den laotioschen Dschunel hin zu seinem Lager getrieben hat, rührt sich kaum ein Muskel in seinem Gesicht, aber er versichert, dass sein Puls kurz vorm Explodieren sei. Ibn welchem Maße seine für Außenstehende kaum greifbaren Erinnerungen bis in die Gegenwart an ihm zehren, äußert sich darüberhinaus in kleinen alltäglichen Sonderbarkeiten, die wohl nur jemand begreifen kann, der ein Leben wie das Denglers gelebt hat: Er hat beispielsweise ein besonderes Faible dafür, Türen zu öffnen und zu schließen, weil ihm dies während seiner Gefangenschaft verwehrt blieb und hortet in einem Versteck unter seiner Speisekammer gallonenweise haltbare Lebensmittel mit dem zugleich formulierten Hinweis, dass er sie vermutlich niemals brauche, sich aber mit ihrem Besitz ganz einfach sicherer fühle. Wenn Dengler erzählt, dann tut er dies in einer ähnlich sonoren Stimmlage wie Herzog, was bereits eine abstrakte personale Verbindung zwischen den beiden Männern signalisiert. Herzog hat das Thema ja auch nicht losgelassen; fünf Jahre nach Denglers Tod inszenierte er mit "Rescue Dawn" noch einen Spielfilm über die Erlebnisse des Piloten in Südostasien.

9/10

Werner Herzog Vietnamkrieg Schwarzwald Thailand Laos Kalifornien POW Veteran Fliegerei


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WILLIAM S. BURROUGHS: A MAN WITHIN (Yony Leyser/USA 2010)


"You really wouldn't know if you were already dead."

William S. Burroughs: A Man Within ~ USA 2010
Directed By: Yony Leyeser

Heroinsüchtig, schwul, waffenfanatisch, introvertiert, ein Totschläger und eine Gallionsfigur der Gegenkultur: Zusammen mit seinen beiden Freunden und Mentalgefährten Jack Kerouac und Allen Ginsberg avanciert William S. Burroughs gegen Ende der fünfziger Jahre zu einem Leitcharakter der Beat- und Hip-Bewegung, indem er sich trotz starker Selbstzerfleischungstendenzen zu allem bekannte, was ihn zur damaligen Zeit zum ultimativen Bürgerschreck machte. Die spätere Zeit ging milder um mit dem trockenen Autoren und Künstler, der gemäß seinen Weggefährten erst kurz vor seinem Tod zu erkennen schien, dass Liebe im Leben unerlässlich ist.

Ein beeindruckender und berückender Dokumentarfilm von Yony Leyser, der den stets aktuellen, bis heute dräuenden Facetten um die Ikonographie Burroughs' Platz einräumt: Über seine verleugnete, versteckte Homosexualität, seine Drogensucht und -experimente, die selbst einen Timothy Leary Staunen machten, seine Unfähigkeit, die Dinge aus einem Blickwinkel bar jeder Zynik zu betrachten, den versehentlichen Mord an seiner Ehefrau, den frühen Alkoholtod seines Sohnes, seine Gehversuche als Künstler und seine einflussreiche Position in der New Yorker Gegenkultur, die er irgendwann aufgab, um ungestört in Kansas durch die Gegend ballern zu können, zeichnet der Film ein geschlossen montiertes, ebenso liebevolles wie bewusst unvollständiges Bild eines der rätselhaftesten und faszinierendsten Prominenten des 20. Jahrhunderts. Und ist nebenbei äußerst sehenswert.

8/10

Yony Leyeser William S. Burroughs Beat Generation Literatur Drogen Heroin Gegenkultur Punk Kunst Homosexualität


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BLOOD INTO WINE (Ryan Page, Christopher Pomerenke/USA 2010)


"What tool proves to be necessary in winemaking?"

Blood Into Wine ~ USA 2010
Directed By: Ryan Page/Christopher Pomerenke

Seit dem Jahr 2003 widmet sich der exzentrische Rockmusiker und Komödiant Maynard James Keenan, Frontman der parallel existierenden Bands Tool, A Perfect Circle und zuletzt Puscifer, mit zunehmendem Engagement auch der Winzerei. An einem vulkanischen Hang in Südarizona baut Keenan verschiedene Trauben an und veräußert sie als 'Caduceus'. Mit der Hilfe des Experten Eric Glomski scheinen seine Zucht- und Keltereierfolge zunehmend erfolgreicher zu werden.
Für mich war "Blood Into Wine" vor allem von Interesse, weil ich Keenan als Künstler sehr schätze und die medialen Gelegenheiten, ihn bei halbwegs ernsthafter, um nicht zu sagen, seriöser Stimmung anzutreffen, stets rar sind. Zudem finde ich Dokumentationen über Wein grundsätzlich interessant, wenn mir auch bis heute der sensitive Gaumen für das "Himmelsblut" fehlt, was wohl niemand mehr bedauert als ich selbst. In beiderlei Hinsicht erweist sich die Dokumentation als lohnenswert, wenn ich auch einräumen muss, dass der Humor der beiden Regisseure nicht so ganz mein Fall ist und dass mir der poppig-hektische Montagestil, mit dem die zwei arbeiten, hier und da auf die Nüsse ging. Fakten- und kenntnisreich indes ist der Film und er bezichtigt sein Publikum der Mündigkeit, was schonmal grundsätzlich positiv ist. Dann sind die ganzen Spinner, die kurz bis intensiv porträtiert werden, herrlich: von dem Naturfreak Glomski über diverse Schamanen und Kräuterhexen bis hin zu den renommierten Weinkritikern wie James Suckling.
Am Ende konnte ich mich allerdings des untrüglichen Gefühls nicht erwehren, dass Keenan das Filmprojekt wohlweislich als geschickte Werbeplattform in eigener Sache auszunutzen wusste; zum einen, weil er seinen Wein an die Leute bringen will, zum anderen, weil just ein neues Puscifer-Album erschienen ist, dessen gewöhnungsbedürftiger Sound große Teile des Films untermalt... doch lassen wir ihm seinen Spaß. Und der Erfolg ist ihm ja ohnehin zu gönnen.

8/10

Ryan Page Christopher Pomerenke Wein Alkohol Arizona Musik





Filmtagebuch von...

Funxton

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