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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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PEARL JAM TWENTY (Cameron Crowe/USA 2011)


"This shit is clever, man."

Pearl Jam Twenty ~ USA 2011
Directed By: Cameron Crowe

Die ersten zwei Existenz-Dekaden der Rockband Pearl Jam, dokumentarisch zusammengefasst von dem Rolling-Stone-Journalisten und Regisseur Cameron Crowe. Crowe kennt die Truppe bereits seit ihrer Gründung und in seinem Film "Singles" von 1992, einer geschickt verwobenen Beziehungskomödie vor dem Hintergrund des Grunge-Booms in Seattle, gaben die Jungs sich seinerzeit bereits ein perodistisch angehauchtes Stelldichein. In "Pearl Jam Twenty" huldigt Crowe unverhohlen seiner Fanboy-Attitüde und lässt die Band unkritische zwei Stunden lang als Szene-Helden dastehen. Von Objektivität kann also faktisch keine Rede sein - und das ist verdammt gut so. "Pearl Jam Twenty" ist das Geschenk eines Fans für andere Fans und das ersterer ein gescheiter Filmemacher ist, macht das ganze Projekt noch zusätzlich goutierbar und (vielleicht, ich weiß es nicht) auch Nichtliebhabern der Musik ein wenig zugänglich. Für mich selbst ist Pearl Jam eine Lebenskontante, mit der ich praktisch aufgewachsen bin. Das erste Album "Ten" kam heraus als ich 15 war, die verdammt beste Zeit im Leben eines Jugendlichen für diese Art Musik, die sich dann auch zu vielerlei folgenden Gelegenheiten als lebensrettend erwies. Mit dem zweiten Album "Vs." beginnend habe ich jede Studioplatte an ihrem Erscheinungstag erworben; ein biographisches Spielchen, dem zu frönen ich immer noch größte Freude habe. Soweit meine Beziehung zu Pearl Jam, eine denkbar enge, wie ich resümieren kann. Umso glücklicher bin ich mit Crowes Film, an dem ich rein gar nichts vermisse, dessen collageartigen Aufbau ich wunderschön finde und den ich, wäre ich ein ebenso befähigter Regisseur wie er, auf keinen Fall hätte irgend besser machen können. Unter all den Rockmusikdokus die ich kenne, mit sicherheit eine der lohnendsten.

10/10

Cameron Crowe Musik Grunge Biopic Seattle


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A PERSONAL JOURNEY WITH MARTIN SCORSESE THROUGH AMERICAN MOVIES (Martin Scorsese, Michael Henry Wilson/USA, UK 1995)


"The camera lies 24 times a second."

A Personal Journey With Martin Scorsese Through American Movies (Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film) ~ USA/UK 1995
Directed By: Martin Scorsese/Michael Henry Wilson

In seiner dreiteiligen, grob den Zeitraum von 1910 bis 1970 abdeckenden Mammut-Dokumentation über die amerikanische Filmgeschichte berichtet Scorsese in erfreulich subjektiver Weise von dem, was ihn im und am Kino am Meisten berührt und angetan hat, schildert biographische Ereignisse, von denen sich viele im jeweils zeitgenössischen Film widerspiegeln oder die mit irgendwelchen Kinobesuchen in Verbindung stehen. Als Vierjähriger habe er King Vidors von David O. Seznick produzierten "Duel In The Sun" auf der großen Leinwand gesehen, erzählt er, und man glaubt ihm gern, wenn er daraufhin inbrünstig weiterberichtet, dass damit ab 1946 sein weiterer Lebensweg zwangsläufig vorgeprägt worden sei. Nicht minder interessant, wie noch zahlreiche weitere der großen Regiemagier die Wege des jungen Kinofanatikers Scorsese gekreuzt haben und per nachträglicher Szenenanalyse von ihm honoriert werden, darunter auch einige guilty pleasures wie DeMilles "The Ten Commandments" in der Farbversion von 1956, dem wahrlich eine kulturgeschichtliche Lanze gebrochen gehört, Hawks' "The Land Of The Pharaos", den der Regisseur ganz unverblümt mit dem von ihm alles andere als inflationär verwendeten Prädikat 'Meisterwerk' tituliert, die RKO-/Lewton-Produktionen, kleine (und große) films noirs und schließlich den Beginn des Aufbruchs durch Arthur Penns "Bonnie & Clyde". Neben den Großen und Obligatorischen von Ford bis Wilder kommen vor allem die Rebellen und Guerilleros der Hollywood-Regie per Archivmaterial zu Wort, darunter Welles, Ray, Fuller und Cassavetes und man ist erstaunt, wie viele von ihnen eine Augenklappe zu tragen pflegten. Scorsese bezeichnet seine Kollegen (und damit auch sich selbst) liebevoll als 'Bilderstürmer' und 'Schmuggler', durch deren Herzen im Laufe der Jahre Zelluloid statt Blut gepumpt wurde.
"Personal Journey" symbolisiert in mehrerlei Hinsicht ein Manifest - für den Hollywood-Film und vor allem seine Schattenseiten und all seine ungehobenen Schätze, für die Technik und den Stil, für Stummfilm und Lichtmalerei im Schwarzeißfilm ebenso wie für Scope und Technicolor, für das alte Studiosystem genauso wie für sein Zerbrechen. Und nicht zuletzt für den Regisseur Scorsese und seine kopf- und seeleninterne, beneidenswerte Videothek.

9/10

Film Michael Henry Wilson Martin Scorsese Kino Biographie


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MOEBIUS REDUX: A LIFE IN PICTURES (Hasko Baumann/D 2007)


"I shit on the United States!"

Moebius Redux: A Life In Pictures ~ D 2007
Directed By: Hasko Baumann


Jean Giraud, Comicfreunden in aller Welt unter seinem Künstlernamen 'Moebius' ein bekannter, klingender Begriff, plaudert in dieser dankenswerten, kleinen Dokumentation von Hasko Baumann mit all seiner sympathischen Verve über einige Stationen seiner langen Karriere. Angefangen hat er bei "Pilote", wo er unter anderem "Blueberry" zeichnete. Später veröffentlichte er dann mit seinem Weggefährten Philippe Druillet im Eigenverlag die Erwachsenencomic-Reihe "Métal Hurlant", in dem die Autoren und Zeichner ihren von Halluzinogenen beeinflussten, transzendentalen Phantasien freien Lauf lassen konnte. Bald wurde auch Jodorowsky auf Moebius aufmerksam; das gemeinsame Filmprojekt "Dune" scheiterte dann jedoch bekanntermaßen in seiner Frühphase. Es folgte die Zuwendung zum New-Age-Sektenführer Appel-Guéry, mit dem zusammen Moebius in den Achtzigern auf die Abholung durch außerirdische Intelligenzen wartete. Später zeichnete Moebius dann noch Manches für Jodorowsky und erarbeitete sogar eine "Silver Surfer" - Geschichte mit Stan Lee. Allein, wie Baumann Jodorowsky und Lee, zwei denkbar unterschiedliche Künstler, sozusagen von diametralen Spektralenden stammend, gegenüberstellt, ist ein Gedicht. Das obige Zitat stammt (natürlich) von Jodorowsky, der gleich noch die Gelegenheit nutzt, seine Abscheu über Superhelden kundzutun ("Superman und Batman bringen mich zum Kotzen") und dann die amerikanische Comicindustrie verteufelt. Dass er damit nicht allein dasteht, untermauern auch gleich noch Druillet und Mike Mignola. Als Gegengewicht installiert Baumann allerdings einige Interviewschnipsel um den Zeichner Jim Lee, der den gegenwärtig vorherrschenden Stil im Superheldencomic so sehr geprägt hat wie nur wenige andere. Beinahe tragisch wirken die Gespräche mit einem merklich angeschlagenen Dan O'Bannon. Die unverkennbare Musik von Karl Bartos trägt den Film mitsamt seiner wunderbaren, losgelösten Montage ganz exquisit. Eine äußerst lohnenswerte Angelegenheit!

9/10

Marvel Moebius Comic Hasko Baumann


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SECRET ORIGIN: THE STORY OF DC COMICS (Mac Carter/USA 2010)


"You had to be punk. At least some of the time."

Secret Origin: The Story Of DC Comics ~ USA 2010
Directed By: Mac Carter


Die Geschichte des großen amerikanischen Comicverlages DC, aufgesplittet in die vier unter Fans hinlänglich bekannten Epochen des "golden age", "silver age", "bronze age" und "modern age". Für Kenner wird nichts wesentlich Unbekanntes geboten, derweil für den einen oder anderen Einsteiger vielleicht manches Aha-Erlebnis drin ist oder zumindest ein wenig Inspiration für künftige Primärlektüre. En gros feiert der Verlag sich und seine popkulturellen Errungenschaften, besonders im Hinblick auf die aktuellen Hollywood-Projekte, jedoch haltlos und werbewirksam selbst ab, lässt dabei einige seiner langjährigen Protagonisten und Masterminds zu Worte kommen (besonders über die Interviewschnipsel um Julie Schwartz und Alan Moore freut man sich) und berücksichtigt auch liebgewonnene Künstler wie Len Wein, Neal Adams und Neil Gaiman - zumindest diese drei für jeden Freund von Comics im Allgemeinen und DC im Speziellen wahre Ikonen. Wie es sich für eine ordentliche Dokumentation über massenmediale Phänomene ziemt, wird immerhin auch der reziproke Einfluss der Comicindustrie auf die Unterhaltungskultur angeschnitten - die besten Momente des Films, neben ein paar kleinen Archivschätzen, etwa aus der Familienmottenkiste von Bob Kane oder Jerry Siegel. Komplettisten, Neulingen und Wissbegierigen sicherlich zuzuraten, für meine Wenigkeit waren, wie erwähnt und ohne hier arrogant klingen oder frotzeln zu wollen, keinerlei Neuinformationen enthalten.

7/10

Mac Carter Comic DC Comics


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EVERYONE STARES: THE POLICE INSIDE OUT (Stewart Copeland/USA 2006)


"We blew it."

Everyone Stares: The Police Inside Out ~ USA 2006
Directed By: Stewart Copeland


Stewart Copeland, der frühere Drummer von The Police, gewährt einige mehr oder weniger private in die kurze Band-Biographie, die von ihm selbst mit einer Super-8-Kamera dokumentiert wurden. Kunstvoll montierend bzw. kompilierend und den einen oder anderen ironischen Kommentar zum Besten gebend, scheint Copeland diesen Rechnungsausgleich mit der Vergangenheit und auch mit seinem ehemaligen Intimfeind Sting, der in "Everyone Stares" alles in allem wenig gut wegkommt und einen schwer arroganten Eindruck hinterlässt, sehr zu genießen. Bezeichnend ist auch der Verzicht auf aktuelle Interviews, Copeland verwendet ausschließlich seine Archivaufnahmen. Der einzige Hinweis auf die Aktualität des Films sind seine verbalen Off-Interventionen und eben das sehr durchdachte editing. Besonders gelingt ihm dabei eine starke Collagenhaftigkeit, die den bisweilen in die Unübersichtlichkeit abzugleiten drohenden Filmschnipseln ein sinniges Konzept verleihen. Leider reicht das Gezeigte nur bis zu den Aufnahmen des vorletzten Albums "Ghost In The Machine". Von dem finalen Sahnestück "Synchronicity" ist nichts zu hören oder zu sehen; vermutlich, weil die Streitigkeiten innerhalb des Trios da bereits so akut waren, dass Copeland keine Lust mehr auf die Filmerei hatte. Möglicherweise besser so.

8/10

Band Musik Collage Stewart Copeland Biopic


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SEXUAL ABBERATION - SESSO PERVERSO (Bruno Mattei/I 1979)


Zitat entfällt.

Sexual Abberation - Sesso Perverso (Libidomania - Alle Abarten dieser Welt) ~ I 1979
Directed By: Bruno Mattei


Unter Berufung auf den ausrangierten Psychiater Richard von Krafft-Ebing zeigt Groß-Plagiator Bruno Mattei eine ganze Stange m.o.w. gewöhnungsbedürftiger Angewohnheiten sexuell abseitiger Zeitgenossen.

Mattei goes Mondo und taucht ein in die wundersame Welt der Paraphilie: Hier erleben wir - sofern wir es nicht ohnehin längst schon ahnten, aber nie wahrhaben wollten - aus einem Guss, dass es Menschen gibt, die doch tatsächlich masochistisch, sadistisch, narzisstisch, nekrophil, koprophil oder gar zoophil veranlagt sind, sich ihren Lustgewinn durch LSD respektive andere sonderbare Aphrodisiaka verschaffen und erstmal Beine abamputieren müssen, bevor sie ans Pimpern des Lustobjekts gehen. Dabei gibt es manch flotten Kommentar, den die alten deutschen Stimmen von Homer Simpson, Rektor Skinner und Chuck Norris abäpfeln und den Film damit noch etwas spezieller erscheinen lassen als er es ohenhin schon ist.
Dem waghalsigen Käufer der just erschienenen, absolut tadellos edierten deutschen DVD kann ich nur raten, "Sexual Abberation - Sesso Perverso", wenn schon nicht umgehend, dann umgehend danach gleich nochmal mit dem Audiokommentar der Herren Christian Keßler und Ingo Strecker anzusehen, den die beiden sowohl in der Kinohistorie als auch in der Sexualpathologie höchst beflissenen Filmstuckateure unter widrigsten Bedingungen in Papua-Neuguinea aufgezeichnet haben und den sie im Duett mit einem von Keßler selbst erdichteten Titellied schließen. Man beherzige mein folgendes Postulat: Der ohnehin beträchtliche Bildungsgehalt von "Sexual Abberation - Sesso Perverso" potenziert sich nochmal aufs Astronomischste!

2/10

Paraphilie Pseudo-Dokumentation Bruno Mattei Mondo


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AUGE IN AUGE - EINE DEUTSCHE FILMGESCHICHTE (Michael Althen, Hans Helmut Prinzler/D 2008)


"Die Geschichte des deutschen Films ist die Geschichte Deutschlands."

Auge in Auge - Eine deutsche Filmgeschichte ~ D 2008
Directed By: Michael Althen/Hans Helmut Prinzler


Zehn deutsche Filmschaffende umreißen anhand eines (bzw. im Falle Michael Ballhaus zweier) ihrer Lieblingsfilme aus unterschiedlichen Epochen die Qualitäten des hiesigen Kinos und versichern dabei glaubwürdig, dass im internationalen Kulturgeschehen weiterhin mit dem deutschen Film zu rechnen sein muss: Tom Tykwer: "Nosferatu, eine Symphonie des Grauens", Wolfgang Kohlhaase: "Menschen am Sonntag", Wim Wenders: "M", Christian Petzold: "Unter den Brücken", Hanns Zischler: "Abschied von gestern", Dominik Graf: "Rocker", Doris Dörrie: "Alice in den Städten", Michael Ballhaus: "Die Ehe der Maria Braun" & "Martha", Andreas Dresen: "Solo Sunny", Caroline Link: "Heimat".

Eine von mir als vorbildlich wahrgenommene Filmdokumentation ist Althen und Prinzler da gelungen, die einen so wehmütigen wie enthusiastisch-kompakten Blick auf runde 110 Jahre deutsches Kino wirft und ihre Idee, ebendiesen Zeitraum auf zehn (betont wenig repräsentative) Exempel, von denen sich manchmal sogar Erläuternde und Erläuterte überschneiden, zu fokussieren in einen prächtigen Rahmen setzt. Zwischendurch gibt es neben einem Brainstorming der Beteiligten zehn umfangreiche Zusammenschnitte unter verschiedenen Stichwörtern; Einprägsame Augenpaare werden da hintereinandergesetzt, prägnante Szenen mit und ums Rauchwerk, populäre Küsse, berühmte Telefonate. Dabei erlebt man diverse Déjà-vus und noch mehr erweckte Neugier. Dass ich beispielsweise "Menschen am Sonntag" noch nie gesehen habe, empfinde ich nachräglich als geradezu beschämend. Immerhin haben mit Althen und Prinzler dabei geholfen, dies in Kürze zu ändern.

8/10

Hans Helmut Prinzler Michael Althen


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ROMAN POLANSKI: WANTED AND DESIRED (Marina Zenovich/USA, UK 2008)


"Before you finish this interview, let me ask you the following: Are you interested in something else about me than my relation to young women?"

Roman Polanski: Wanted And Desired ~ USA/UK 2008
Directed By: Marina Zenovich


Im März 1977 wird der Regisseur Roman Polanski verhaftet, weil er das dreizehnjährige Mädchen Samantha Geimer unter Drogen gesetzt und vergewaltigt haben soll. Die Anklageschrift wird später und nach intensiverer Recherche auf "Unzucht mit Minderjährigen" reduziert und entsprechend abgewandelt. Mehrere Deals, die die Anwälte über ein adäquates Strafmaß aushandeln, lässt der verhandelnde Richter jeweils platzen, bis Polanski nach Europa geht und den Staaten endgültig den Rücken kehrt. In den USA legt man ihm sein selbstauferlegtes Exil als definitives Geständnis und Strafflucht aus.

Der Fall Polanski/Geimer darf wohl als einer der unseligsten der letzten Jahrzehnte amerikanischer Justizgeschichte betrachtet werden. Eine Hexenjagd, die ganz besonders durch die Massenmedien und die entsprechende Affinität des Richters "Gnadenlos" Rittenband geschürt wurde. Die Regisseurin der vorliegenden Dokumentation, die sich ausschließlich mit diesem Fall befasst und nicht, wie ich zunächst fälschlich glaubte, einen umfassenden biographischen Abriss des Filmemachers liefert, begeht glücklicherweise nicht den Fehler, tendenziös an ihr Sujet heranzutreten, sondern gewährt sämtlichen relevanten Beteiligten eine Stimme, so dass das letztendliche Urteil jedem selbst überlassen bleibt. Zenovich präsentiert also einen angemessen meinungsunabhängigen Überblick der Ereignisse, in der nur einer sich, dankenswerterweise, eines abschließenden Urteils enthält: der Titelgeber selbst. Die vordringlichste Frage, die sich mir, auch angesichts Zenovichs Film stellt, ist, wann Polanski für seinen Fehltritt endlich ausgeblutet haben wird.

7/10

Roman Polanski Marina Zenovich Courtroom


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DEUTSCHLAND IM HERBST (Volker Schlöndorff u.a./BRD 1978)


Deutschland im Herbst ~ BRD 1978
Directed By: Volker Schlöndorff/Rainer Werner Fassbinder/Alexander Kluge/Edgar Reitz/Alf Brustellin/Peter Schubert/Bernhard Sinkel/Hans-Peter Cloos/Katja Rupé/Beate Mainka-Jellinghaus/Maximiliane Mainka


Stuttgart, Oktober 1977: Während der von der RAF entführte und ermordete Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer ein Staatsbegräbnis mit allen Ehren erhält, an dem sämtliche namhaften Persönlichkeiten der Republik aus Politik und Wirtschaft teilnehmen, werden die in der JVA Stammheim nach einem Gruppensuizid verstorbenen RAF-Mitglieder Baader, Ensslin und Raspe in einem kargen Gemeinschaftsgrab beigesetzt, begleitet von rund zehntausend sogenannten "Sympathisanten" der linken Szene, die scharf von einem Großaufgebot der Polizei beäugt werden. Zwischendurch immer wieder bezeichnende Szenen der nationalen Befindlichkeit: Der Regisseur Fassbinder verfällt angesichts der Lage in tiefe Depression und Verzweiflung; eine "Antigone"-Verfilmung fürs Fernsehen darf wegen der Analogien zur Dreifach-Beerdigung der Stammheimer nicht ausgestrahlt werden; eine junge Frau (Katja Rupé) wird beim Grenzübergang von einem Polizeibeamten (Leon Rainer) des Terroristentums verdächtigt. Paranoia, Depression, Katerstimmung allerorten. Deutschland im Herbst.

Im Herbst 1977 fertigten elf deutsche Regisseurinnen und Regisseure unter Mithilfe prominenter Autoren wie Heinrich Böll diese Filmcollage an, um, der eigenen Revision zufolge, eine "Gegenöffentlichkeit" zu evozieren sowie in Verbindung damit einen sozialkulturellen Standpunkt gegen das sich durch die gesamte nationale Presse ziehende, gleichgeschaltete Einheitsdenken zu setzen. Als dramaturgische Klammer des Films fungieren die zwei großen Begräbnisse der Antagonisten jener Tage, das von Schleyer auf der einen Seite und das von Baader, Ensslin und Raspe auf der anderen. Schlöndorff war mit einigen Mitarbeitern nach Stuttgart gereist und hatte beide Trauerfeiern professionell auf 35mm gefilmt, was den Aufnahmen einen geradezu befremdlichen Spielfilm-Look spendiert. Dazwischen gibt es weitere dokumentarische Aufnahmen, einen Parteitag der SPD auf dem Max Frisch eine atemlose Rede hält und ein Interview, das Helmut Griem mit dem inhaftierten Anwalt und Ex-RAF-Mitglied Horst Mahler führt, das Ganze wiederum im steten Wechsel mit Spielszenen und fiktiven Einsprengseln, wobei nicht ganz geklärt ist, welches Authentizitätsmaß Fassbinders emotional quälende Episode aufbietet.
"Deutschland im Herbst" ist ein in dieser Form nach wie vor einzigartiges Kleinod filmischen Schaffens in der Bundesrepublik; ein formal einzigartiger und zudem immens wichtiger Film, der aufzeigt, wie demokratische Meinungsäußerung zum rechten Zeitpunkt zu nutzen ist ohne aufdringlich zu sein oder eine bevormundende Position einzunehmen. Er dokumentiert lediglich, zum Teil nahezu Unfassbares, und regt zum Nachdenken an. Viel mehr kann und muss Kunst nicht leisten.

9/10

Heisser Herbst Alexander Kluge Rainer Werner Fassbinder Collage Edgar Reitz RAF Volker Schloendorff Terrorismus Heinrich Böll


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RUSH: BEYOND THE LIGHTED STAGE (Sam Dunn, Scot McFadyen/CA 2010)


"Don't be surprised when you discovered how boring we really are."

Rush: Beyond The Lighted Stage ~ CA 2010
Directed By: Sam Dunn/Scot McFadyen


Ein ungeschriebenes Gesetz der Musikdokumentation ist jenes, dass der Popularitätsgrad des untersuchten Objekts sich nicht zuletzt daran messen lässt, welche Verehrer und Ziehkinder sich innerhalb des Films zu ihren Behelfsgöttern äußern. Zieht man diesen Index heran, liegt Rush, ein seit nunmehr vierzig Jahren operierendes kanadisches ProgRock-Trio, jedenfalls nicht auf den letzten Plätzen. Gene Simmons, Les Claypool, Trent Reznor, Billy Corgan, Jimmy Chamberlin, Vinnie Paul, Zakk Wylde, Sebastian Bach und der mittlerweile in Rock- und Metalfragen ja notorisch bemühte Jack Black liefern Namen, die für sich sprechen. Der Grund dafür, dass Rush, immerhin eine der langlebigsten und erfolgreichsten Bands überhaupt, erst nach so langer Zeit diese Würdigung in Filmform erfahren, liegen im Prinzip auf der Hand: Keine legendären, sprich toten Bandmitglieder, keine Exzesse, ihre kanadische Herkunft, die spießig anmutenden, fast langweilig normalen Physiognomien von Geddy Lee, Alex Lifeson und Neil Peart sowie ihr ruhiges, professionelles Auftreten mögen die Schuld dafür tragen. Dabei waren und sind Rush im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen da draußen einfach nur erwachsen und sich ihrer Jahre bewusst. Die einzige echte Zäsur innerhalb der Bandbio bildete Neil Pearts schwerer familiärer Verlust - seine Frau und Tochter starben innerhalb eines Jahres -, gefolgt von Pearts zeitweiligem Ausstieg aus der Gesellschaft. Der Verlust eines der besten Drummers des gesamten Planeten kann nur mit einem Schlussstrich einhergehen, doch dieser blieb uns glücklicherweise erspart. Dafür, dass die beiden engagierten Rockfilmer Dunn und McFdyen dieses düstere Bandkapitel mit der gebührenden Sensibilität aufarbeiten, gebührt ihnen fürderhin höchstes Lob. Angesichts dessen verzeiht man ihnen sogar bereitwillig den durchweg unkritischen Blick durch die Fanboy-Brille. Andererseits, Jesses, für wen werden solche Filme wohl gemacht?

9/10

Biopic Scott McFadyen Sam Dunn Musik Band





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Funxton

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