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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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DIE GELIEBTEN SCHWESTERN (Dominik Graf/D, AU, CH 2014)


"Sie haben die falsche Schöne begrüßt."

Die geliebten Schwestern ~ D/AU/CH 2014
Directed By: Dominik Graf

1788 begegnet der junge Friedrich Schiller (Florian Stetter) in Weimar erstmals seine zukünftige Gattin Charlotte von Lengefeld (Henriette Confurius), die gerade in Erziehungsfragen bei der Familienfreundin Charlotte von Stein (Maja Maranov) weilt. Bei einem späteren Besuch in ihrer Heimat Rudolstadt lernt Schiller dann auch Charlotte ältere, bereits in einer "Vernunftehe" situierte Schwester Caroline (Hannah Herzsprung) kennen und verliebt sich gleichermaßen in sie. Die Dreiecksbeziehung hält sich zunächst und bleibt selbst über Schillers Eheschließung mit Charlotte hinaus beständig. Als das Paar jedoch das erste Kind zur Welt bringt, kommt es zwischen den Schwestern zum Zerwürfnis, zumal offenbar bald auch Caroline ein Kind von Schiller erwartet. Erst wenige Monate vor dem Tod des großen Dichters findet die Familie wieder zusammen.

Mutter von Lengefeld (Claudia Messner) und ihre beiden Töchter waren, so suggeriert der Film mit der Stimme des Freundes Wilhelm von Wolzogen (Ronald Zehrfeld), ein familiär verwurzeltes Frauen-Triumvirat, das lebte, um seine Männer zu überleben. Am Ende, nach rund sechzehn Jahren erzählter Zeit, ist die Ausgangslage wieder erreicht: Die drei Frauen sind mitsamt ihren mittlerweile geborenen Kindern wieder zurück in die feimistische Dreieinigkeit zurückgekehrt. Ohne sich allzu sklavisch an historische Fakten zu klammern - auktoriale Kommentare zum zeitlich komprimierten Werdegang der Protagonisten streut Graf selbst in regelmäßigen Abständen ein - interessiert sich der Regisseur vor allem für das aufklärerisch gefärbte Leben der beiden Schwestern von Lengefeld: Beide verweigern sich den recht streng gefassten, gesellschaftlichen Konventionen und Normen von Stand und Zeit; besonders Caroline schwelgt in selbstgewählter Promiskuität und persönlichen Lebensentscheidungen. Sie schreibt erfolgreich einen Fortsetzungsroman unter Pseudonym, bringt ihr uneheliches Kind zur Welt und ringt die Scheidung von ihrem ersten, ungeliebten Ehemann von Beulwitz (Andreas Pietschmann), den sie dereinst lediglich heiratete, um den Tod des Vaters wirtschaftlich abzufedern.
Graf gelingt somit ein ansehnliches Zeit- und Sittengemälde mit einigen charmanten Regieeinfällen, das in seiner präferierten Schnittfassung eine stattliche Laufzeit erreicht. Dennoch muss ich den "geliebten Schwestern" bescheinigen, die immanente Spannung vieler in den letzten Jahren vornehmlich fürs Fernsehen und dazumal auch fürs Kino entstandenen Werke nicht zu erreichen. Dafür ist der Film dann hier und da vielleicht doch zu gesetzt, etwas zu zufrieden mit sich selbst.

7/10

Dominik Graf Historie Biopic period piece amour fou Ehe Literatur Bohème Sittengemälde


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SHORT CUTS (Robert Altman/USA 1993)


"That was a 35 dollar belt!"

Short Cuts ~ USA 1993
Directed By: Robert Altman

L.A. Stories: Fliegengift, Dysfunktionale Beziehungen,Gleichgültigkeit, Spießertum, Lügen, Betrug, Eigennutz, Unfähigkeit zu Empathie und/oder Lebensrevision, Überreaktionen, Liebe, Hass und Tod.

Wie im vorhergehden Eintrag zu "Grand Canyon" erwähnt, nicht nur ein companion piece zu selbigem, sondern zugleich dessen contradiction piece. Wo uns Kasdan noch hoffnungsvolle Wege aus dem allumfassenden, südkalifornischen Existenzelend aufzeigt, bringt Altman alles in einer von mehreren großartigen, von Annie Ross gesungenen Jazzballaden auf den Punkt: "I'm a prisoner of life".
"Short Cuts" ist ein manchmal absurd komisches, manchmal todtrauriges Präludium zum zivilisatorischen Armageddon: Die Geschichten sind nicht meta-existenziell, symbolisch oder gar exemplarisch angelegt wie bei Kasdan, sie sind Momentaufnahmen stinknormaler Alltagsereignisse. Zwar befinden mehrere der auftretenden Protagonisten sich wahlweise an der Schwelle zur Psychose, haben diese bereits überschritten oder können sich gerade noch davor retten, doch auch das kommentiert der bereits reife Altman mit dem ihm eigenen, sarkastischen Achselzucken. Es ist, wie es ist und daran ändert sowieso keiner etwas. Möglicherweise schlägt auch bloß die widerwillig planierte, planquadrierte Natur zurück: Das nächtens über der Stadt verteilte Anti-Fruchtfliegengift scheint wenig förderlich für Kontaktpersonen zu sein; die Sommerhitze tut ihr Übriges, ein Erdbeben kündigt sich durch humane Aggressionsentladungen an. So wirklich identifikationstauglich - der vielleicht größte Kniff des Films auf emotionaler Ebene - ist keiner der sich immer wieder wechselseitig begegnenden Handlungsträger. Alle machen gleich mehrere elementare Fehler, vergessen Moral und Ratio und zerbrechen womöglich daran. Am exemplarischsten für die allseitige, mitunter in pures Grauen umkippende Narretei ist vielleicht Tim Robbins' Figur des Motorradpolizisten Gene Shepard: Der Mann ist ein komplettverschnürtes Ekelpaket, er lügt, betrügt, nutzt seine berufliche Position auf das Unangenehmste aus, ist inkonsequent wie ein Kleinkind und macht alles falsch, was er nur falsch machen kann. "Short Cuts" hat mich bei der gestrigen Betrachtung so sehr mitgerissen, dass ich nach dem Film selbst vorübergehend das schwindlerische Gefühl hatte, nurmehr durch eine schwenkende "Altman-Linse" zu blicken.
Ein irrsinniger, monströser Film von bleibendem Wert, ein großes Meisterwerk seines Regisseurs und überhaupt.

10*/10

Robert Altman Raymond Carver Los Angeles Ehe Ensemblefilm Freundschaft Alkohol Familie Hund Sommer Madness Malerei Unfall


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GRAND CANYON (Lawrence Kasdan/USA 1991)


"I think, it's not all bad."

Grand Canyon ~ USA 1991
Directed By: Lawrence Kasdan

Ein Beziehungsgeflecht in L.A.: Mack (Kevin Kline) und seine Frau Claire (Mary McDonnell) erleben ihre wohlsituierte Ehe als Tagesgeschäft, als Claire beim Joggen in den Büschen ein verlassenes Baby findet. Macks bester Freund Davis (Steve Martin) produziert gewalttätiges Actionkino in Hollywood. Als er überfallen und angeschossen wird, ändert er sein Berufsethos - allerdings nur kurz. Als Macks Wagen eines Nachts mitten in Southcentral stehen bleibt, rettet ihn der gerade noch rechtzeitig eintreffende Abschleppwagenfahrer Simon (Danny Glover) vor ein paar Nachwuchsgangstern. Dafür kann sich Mack gar nicht genug revanchieren und verschafft nicht nur Macks Schwester Deborah (Tina Lifford) und ihren Kindern eine neue Wohnung, sondern auch Mack eine neue Freundin (Alfre Woodward). Macks Sekretärin und Einmal-Geliebte Dee (Mary-Louise Parker) rutscht derweil in die Depression ab, weil ihr Chef sie im Regen stehen lässt.

Zeiten ändern dich: Damals, 1991, mit 15, habe ich "Grand Canyon" als einen wahren Erdrutsch von Film wahrgenommen, ein opus magnum, das dazu taugt, einem die Welt zu erklären und Amerika sowieso. Entsprechend häufig habe ich Kasdans Werk damals geschaut und meinen Freunden in schöner Regelmäßigkeit vorgeführt. Irgendwann hatte ich den Film dann über und ihn in die hinteren Gedächtnisgefilde verdammt. Gestern habe ich ihn erstmals vorsätzlich und im unmittelbaren Kontext zu "Short Cuts" angesehen, um den es mir eigentlich ging. Der Direktvergleich hat Hand und Fuß: Beides sind Ensemblestücke, beide zeigen fragmentarisch Momentaufnahmen des kalifornischen Molochs Los Angeles; beide Filme ergehen sich in einer auffälligen Hassliebe zu der flächigen Großstadt; in beiden Filmen kreisen Hubschrauber als Unheilsboten über ihr, in beiden kommt ein Erdbeben mit bösen Folgen vor. Jedoch: Kasdan ist nicht Altman und sein Film der wesentlich hoffnungsvollere, unkomplexere und konsumierbarere. Eine versöhnliche Bestandsaufnahme vornehmlich liebenswerter Menschen mit bourgeoisem, ehrbarem Hintergrund, die alles tun, um das sie umgebende Unfassbare, den Zynismus und die Babarei der Neuzeit von sich fernzuhalten. Hier ist noch Rettung möglich, man wirft sich gegenseitig Ringe zu und hält sich damit über Wasser. Wenngleich nicht jeder davon profitieren mag (Steve Martins "Quasi-Joel-Silver" verschwindet mit über Bord geworfenen Vorsätzen hinter einer riesigen Studiotür, aus dem Film und damit möglicherweise auch aus Macks Freundschaftsradius). Das ist nett, liebenswert und spricht für Kasdans Missionarismus, enthebt "Grand Canyon" aber auch seiner Bodenständigkeit. Ob man diese will, oder braucht, sei dahingestellt; an Kasdans aufrichtigem Arbeitseifer kann jedenfalls kein Zweifel bestehen.

8/10

Lawrence Kasdan Los Angeles Ensemblefilm Freundschaft Hollywood Ehe Baby midlife crisis


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TOWN WITHOUT PITY (Gottfried Reinhardt/USA, D, CH 1961)


"Take her and leave this town, as quick as you can, and never come back!"

Town Without Pity (Stadt ohne Mitleid) ~ USA/BRD/CH 1961
Directed By: Gottfried Reinhardt

Eine bayrische Kleinstadt lebt vor allem von den vor Ort kasernierten G.I.s, die ihren Sold gern in den wenigen hiesigen Bars und mit den zwei, drei Nutten vor Ort verprassen. Als ein Soldatenquartett (Robert Blake, Richard Jaeckel, Frank Sutton, Mal Sondock) im Suff die sechzehnjährige Karin Steinhof (Christine Kaufmann) vergewaltigt, fliegt das Verbrechen umgehend auf und die vier uneinsichtigen Männer landen vorm Militärgericht. Dieses will an ihnen ein Exempel statuieren und eine Verurteilung zum Tode erwirken, was ihr rasch herbeieilender Verteidiger Major Garrett (Kirk Douglas) jedoch tunlichst verhindern möchte. Da alle Welt gegen ihn zu arbeiten scheint und insbesondere der um sein gesellschaftliches Renommee fürchtende Vater (Hans Nielsen) des Opfers Garretts Strategie torpediert, bleibt dem Anwalt keine andere Wahl, als Karin vorzuladen und öffentlich bloßzustellen, um die Schuld der Angeklagten abzumildern. Für das nach wie vor verwirrte Mädchen hat Garretts verzweifeltes Vorgehen jedoch katastrophale Folgen.

Dieser durchaus gelungene Versuch, deutsches Kolportagekino mit schneidig-sozialkritischem Hollywood-Gerichtsfilm zu verknüpfen, trug dank Gottfried Reinhardts Inszenierung, die mit einigem Geschick beiderlei auf den ersten Blick unvereinbare Richtungen abdeckt, recht genießbare Früchte. Das bereits dem Namen nach als Milieuschilderung angelegte Drama, welches das damals grassierende, schwer wie kalter Zigarettenqualm in den bundesdeutschen Wohnzimmern hängende Wirtschaftswunder-Biedermeiertum anprangerte, weiß besonders durch den Einsatz internationaler Schauspiel-Prominenz für sich einzunehmen: Mit Kirk Douglas in der Hauptrolle des gewieften, aber unerbittlichen Advokaten, die seiner ohnehin oftmals kritisch gezeichneten Heldentypologie einen weiteren, janusköpfigen Meilenstein hinzusetzte, gibt es bereits hinreichend verströmtes Hollywood-Flair, der weitere Einsatz von E.G. Marshall oder Robert Blake tut sein Übriges dazu. Der von niemand Geringerem als Dimitri Tiomkin komponierte und von Gene Pitney gesungene Titel-Schmachtfetzen sorgt dafür, dass der akustische Niederschlag des Films sich auch nach Tagen nicht verflüchtigen mag und dass demzufolge auch die vielen Profilbilder von einem erschütterten Kirk Douglas oder einer sich vor Qual windenden Christine Kaufmann im Gedächtnis bleiben.

8/10

Gottfried Reinhardt Kleinstadt Vergewaltigung Courtroom


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LUST FOR LIFE (Vincente Minnelli/USA 1956)


"To have to say 'I love you' would break my teeth."

Lust For Life (Vincent van Gogh - Ein Leben in Leidenschaft) ~ USA 1956
Directed By: Vincente Minnelli

Das Leben des niederländischen Malers Vincent van Gogh (Kirk Douglas): Seine bescheidenen Anfänge als Hilfsprediger in der Borinage, später seine ersten Versuche als Künstler, sein Fortgang nach Paris, wo er die großen Künstler dieser Zeit kennenlernt, darunter Paul Gauguin (Anthony Quinn), der ihm ein guter, kritischer Freund wird. Als er sich von seinem Bruder Theo (James Donald) ausgehalten fühlt, geht van Gogh in die Provence, nach Arles, wo er unter der Last der ihn umgebenden Sinneseindrücke zu zerbrechen droht. Erst der ihm nachfolgende Gauguin bringt etwas Stabilität in van Goghs Leben, doch als auch er die Unmöglichkeit erkennt, mit van Gogh ein ruhiges Miteinander zu führen und seinen Wegzug ankündigt, erleidet der Instabile einen schweren Zusammenbruch, der in einen längeren Psychiatrie-Aufenthalt mündet. Selbst nach seiner Entlassung findet van Goghs gequälte Sehle jedoch keine Ruhe.

Mit Miklos Roszas gewaltiger Musik unterlegt, erinnert "Lust For Life" manchmal an die pompösen Monumental- und Bibelfilme jener Tage; ein Eindruck, der sich allerdings jeweils sehr schnell wieder verflüchtigt. Möglicherweise ist dies mein Lieblingsfilm von Minnelli, wie ich überhaupt Künstler- und speziell Maler-Biopics stets sehr gern mag. Selbst unter diesen ist "Lust For Life" allerdings noch ein Glücksfall. Der Film schafft es, die fragile Psyche eines Künstlers, der sich unter permanenter Unzufriedenheit mit sich selbst aufreibt, transparent zu machen. Wer selbst einmal eine schwere psychische Episode durchlebt hat oder gar an einer dauerhaften Erkrankung leidet, der wird Kirk Douglas' zwingendes, an völlige Identifikation grenzendes Porträt jenes besessenen, manchmal naiven und doch brillanten Genies beängstigend authentisch finden. "Lust For Life" nimmt sich als ebenso inspirierend wie mitreißend aus; er leistet das, was Film im besten Falle leisten kann - er wühlt auf und frisst sich in seinen Zuschauer hinein, und das mit unablässiger Kraft und Nachhaltigkeit. Wenn Theo die Briefe seines Bruders vorliest und dessen Arbeitseifer und Motivation verbal rezitiert, dann erahnt man welche Beweggründe diesen Mann durch sein kurzes, rastloses Leben getrieben haben, und auch, warum er ihm ein so frühes Ende gesetzt haben wird.
Ich hatte erst vor wenigen Tagen ein kurzes, aber (wie immer) sehr fruchtbares Pausengespräch mit dem an meiner Schule tätigen, spanischstämmigen Kunstpädagogen David, der auch Filme sehr liebt, besonders die von Buñuel und Pasolini. Wir unterhielten uns über Kinobiographien berühmter Künstler und dass diese es oft versäumen würden, historisch und chronologisch exakt vorzugehen, Details auszusparen oder hinzuzufügen und mit Zeit- und Ort-Einheiten mitunter sehr nachlässig umgingen. Ob ihn als Kunstbeflissenen das stören würde, fragte ich. Und mit seinem starken spanischen Akzent versicherte mir David, dass er Filme sehe, um im besten Falle großes Kino zu bekommen und nicht, um sich auf Allgemeinwissensbasis weiterzubilden. Dafür solle man dann lieber ein Buch zur Hand nehmen. Das fand ich sehr beeindruckend und vor allem: sehr wahr!

10/10

Vincente Minnelli Malerei Belgien Frankreich Paris Provence Psychiatrie Madness Freundschaft Brüder Bohème George Cukor Niederlande Biopic


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THE IMMIGRANT (James Gray/USA 2013)


"You are not nothing."

The Immigrant ~ USA 2013
Directed By: James Gray

New York, 1921: Durch die Intervention des hinterlistigen Zuhälters Bruno Weiss (Joaquin Phoenix) gerät die just auf Ellis Island angekommene Polin Ewa (Marion Cotillard) sogleich in höchst fadenscheinige Manhattaner Kreise, derweil ihre Schwester Magda (Angela Sarafyan) wegen ihrer Tuberkulose-Erkrankung auf der Insel unter Quarantäne gestellt wird und zurückbleiben muss. Ewa muss sich fortan zwangsprostituieren und wird als "Lady Liberty" in einem schmierigen, kleinem Vaudeville-Theater angepriesen. Als sie Brunos Cousin Emil (Jeremy Renner) kennenlernt, glaubt sie, einen Hoffnungsstreif am Horizont zu erkennen, doch Bruno hat sich mittlerweile selbst in Ewa verliebt und weigert sich, sie mit Emil zu teilen...

James Gray und Joaquin Phoenix - das ist mittlerweile ja schon eine der fruchtbarsten Regisseur-/Darsteller-Paarungen überhaupt. Mit "The Immigrant" weist das winning team nun schon seinen vierten gemeinsamen Film vor, der wiederum ein Volltreffer geworden ist; vielleicht sogar sein schönster bislang. "The Immigrant" ist nämlich wahrhaftig ein Liebhaberstück. Wer sich für die New Yorker Einwanderungsgeschichten von Coppola ("The Godfather Part II") oder Leone ("Once Upon A Time In America") begeistern kann und zudem ein Faible für im frühen zwanzigsten Jahrhundert spielende Filme mit entsprechendem Gestus (auch an Frankenheimers "The Iceman Cometh" und Beattys "Reds" fühlte ich mich in ästhetischer Hinsicht zeitweilig erinnert) mitbringt, für den wird "The Immigrant mit seinen goldenen Farben, seiner filigranen Detailversessenheit und seinem brillanten Chiaroscuro-Einsatz, die allesamt die bittersüße Liebesgeschichte im Zentrum vortrefflich illustrieren, ein Selbstläufer sein. Mir ging es da nicht anders, mit dem Vorwissen um Grays stoische Humorlosigkeit und seine Art, den ihm anvertrauten Dingen mit allerhöchster Dramatik zu begegnen, konnte ich mich ganz vortrefflich in seine nimmermüden, exzellenten Einstellungen fallen lassen und "The Immigrant", in dem ganz viel Liebe und Versessenheit schlummern, vollauf genießen.
Ein absolut großartiges künstlerisches Erlebnis war das, kredenzt von einer Art beflissenen, filmischen Verständnisses, wie sie heute leider weitflächig in Vergessenheit geraten scheint.

9/10

James Gray New York Prostitution period piece Vaudeville ethnics


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TEMMINK: THE ULTIMATE FIGHT (Boris Paval Conen/NL 1998)


Zitat entfällt.

Temmink: The Ultimate Fight ~ NL 1998
Directed By: Boris Paval Conen

In nicht allzu ferner Zukunft erhalten Schwerststraftäter in den Niederlanden die Möglichkeit, sich als Alternative zu einer anderen Strafe als Gladiator zu betätigen: Von der Umwelt isoliert werden sie in einen abgelegenen, abgeschotteten Komplex verfrachtet und müssen sich in regelmäßigen Duellen vor anwesendem und Fernsehpublikum solange prügeln, bis einer von ihnen am Boden liegt. Das Publikum entscheidet dann per Mehrheitsvotum, ob der Sieger den Verlierer zu Tode würgen soll. Auch der irre Soziopath Temmink (Jack Wouterse) landet, nachdem er im Park einen vorbeikommenden Inline-Skater (Martijn Nieuwerf) aus nichtigen Gründen erschlagen hat, in der "Arena". Nachdem sein einziger wirklicher Freund David (Jacob Derwig) dort seinen letzten Kampf verloren hat, kommen Temmink Zweifel an der Endgültigkeit seiner Situation: Will er wirklich eines Tages hier sterben, als Unterhaltungshäppchen für den Pöbel? Oder lohnt es sich vielleicht doch, ein Zeichen zu setzen gegen die neue Barbarei des Systems?

Ein feiner, kleiner Film aus unerem Nachbarland, der einerseits die Genretraditionen von Filmen wie "Das Millionenspiel", "Le Prix Du Danger" und "The Running Man" pflegt und geschickt sein realistisch dargestelltes Ansinnen einer pervertierten Unterhaltungsdystopie mit mitreißenden Kampfszenen koppelt, andererseits jedoch sein angekratztes "Helden"-Bild sorgsam bis zum Ende aufrecht erhält. Über die Titelfigur erfährt man nur das Nötigste: Temmink ist ein dicker, hässlicher Mittdreißiger; psychisch wie geistig offenbar angeschlagen, nachdem ihm - soviel lässt sich zumindest spekulieren - im Leben schwer mitgespielt wurde; zu exzessiver Gewaltanwendung neigend. Ein Typ, dem man persönlich lieber nirgendwo begegnen würde. Dass auch ein Rohkopf wie er empfänglich ist für freundschaftliche Gefühle, Zärtlichkeit und Liebe, passt schonmal nicht recht zum üblichen medial evozierten Image derartiger Individuen. Dass er zudem im Laufe seines Werdegangs innerhalb der Arena noch einen Gesinnungswandel durchlebt, der offenlässt, ob er sich hernach gesellschaftlich reintegrieren könnte, hinterlässt noch manch weiteren Zwiespalt beim Zuschauer.
Temmink passt sich den Gepflogenheiten an und überlässt zwischenzeitlich seinem Publikum die Option. Nachdem er einen Kampf gegen den knüppelharten Goliath (Joe Montana) bereitwillig verliert, ist er bereit, zu sterben, doch zum ersten Mal entscheiden sich die Leute dafür, dass ein Gladiator am Leben bleiben soll. Vielleicht taugt er, anders als seine muskelbepackten, martialischen Leidensgenossen, einfach besser als Identifikationsfigur für den Jedermann. Insofern ist "Temmink" durchaus eine Art Antithese gegen den Blutdurst eines sich außerhalb der Kampfkäfige sicher wähnenden Publikums, gegen Strafvollzüge und Urteile, gegen Rechtssysteme und gegen mediale Trends. So lang der kämpfende, schwitzende, blutende Derwisch hinter seinen Acrylfenstern bleibt, ist zumindest alles in bester Ordnung. Doch wehe, wenn er losgelassen...

8/10

Niederlande Boris Paval Conen Zukunft Fernsehen Dystopie Madness Faustkampf Independent


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MARTY (Delbert Mann/USA 1955)


"See, dogs like us, we ain't such dogs as we think we are."

Marty ~ USA 1955
Directed By: Delbert Mann

Der italienischstämmige Fleischer-Geselle Marty Pilletti (Ernest Borgnine) ist mit seinen 34 Jahren das älteste von sechs Geschwistern. Zugleich ist er der einzige, der noch nicht verheiratet ist und bei der Mutter (Esther Minciotti) lebt, deren Hauptgesprächsthema wiederum Martys Hängen an ihrem Rockzipfel ist. Der junge Mann ist derweil frustriert wegen seiner ihm über den Kopf wachsenden Einsamkeit und durchlebt des Öfteren depressive Episoden. Eines Abends lernt Marty durch Zufall bei einer Tanzveranstaltung die schüchterne, spröde Lehrerin Clara (Betsy Blair) kennen und verliebt sich in sie. Entgegen seiner Freunde und auch seiner Mutter, die Marty in Wahrheit am liebsten dort sehen, wo er steht, ringt sich Marty durch, eine Beziehung mit Clara aufzubauen.

Mit "Marty" wehte ein sanfter Hauch Neorealismus durch das amerikanische Kino, das, vermutlich die bis heute einzige, wirklich innovationsfreudige Entscheidung der Academy, mit vier Oscars gekrönt wurde; darunter dem für den besten Film. "Marty" ist ein gänzlich unglamouröses, bodenverhaftetes Werk, entstanden unter bewusstem Verzicht auf modisches CinemaScope und Farbe; eine Geschichte gewöhnlicher Menschen in unbedeutenden, kleinen Berufen. Völlig alltäglich, ohne großes Drama oder spektakuläre Wendungen berichtet Paddy Chayefsky im Remake seines eigenen, zwei Jahre älteren Teleplays (in dem Rod Steiger die Titelrolle spielt), von dem nicht eben schönen Nachwuchsmetzger Marty; Kriegsveteran, katholisch und von einem Übermaß an Verantwortungsbewusstsein für die umfangreiche Familie gebeutelt. Marty ist der Kerl, den alle brauchen und alle mögen; einer, der schlecht nein sagen kann, an dem gern und viel gemäkelt wird, der aber seine Rolle in seinem Sozialzirkel genau so ausfüllt, wie er sie justament spielt. An diesem Wochenende jedoch gelingt Marty endlich die Emanzipation - von seiner Mutter, seinen Freunden, seiner Familie und auch von sich selbst. Und der Film lässt erahnen, dass es "seiner" Clara" genauso geht. Diese Beschränktheit auf Elementares beschert "Marty" seinen besonderen Status, bezogen jedoch nicht nur auf das Berichtete sondern auch auf die Form, die ebenso brillant wie zweckdienlich ausfällt. So entstand einer der wahrhaft großen New-York-Filme und zudem einer der wichtigsten Vertreter von Erzählungen im amerikanisch-italienischen Ostküsten-Milieu.

10/10

Delbert Mann New York Mutter & Sohn ethnics Paddy Chayefsky Remake Best Picture


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LITTLE ODESSA (James Gray/USA 1994)


"It's done."

Little Odessa ~ USA 1994
Directed By: James Gray

Schon vor Jahren hat sich Joshua Shapira (Tim Roth) seinem Heimatviertel Brighton Beach in Brooklyn, das die russisch-jüdischen Einwanderer "Little Odessa" nennen, den Rücken gekehrt. Er hatte in seiner Eigenschaft als Auftragsmörder damals den Sohn des hiesigen Paten Boris Volkoff (Paul Guilfoyle) getötet und war daher zur Flucht gezwungen. Sein aktueller Auftrag führt ihn zurück in die alte Zweitheimat. Ein Polizeispitzel (Leonid Citer) soll beseitigt werden. Joshuas Reise in die Vergangenheit bedeutet auch die Wiederbegegnung mit seiner Familie: Mit seinem kleinen Bruder Reuben (Edward Furlong), dessen Identitätssuche bisher erfolglos ist, mit seiner todkranken Mutter (Vanessa Redgrave) und vor allem mit dem verhassten Vater (Maximilian Schell), der zeitlebens erfolglos versucht hat, die Werte der Alten Welt mit in die Neue zu nehmen. Trotz fester Vorsätze lässt Joshua diverse alte Kontakte wieder aufleben, was geradewegs in die Katastrophe führt...

Ein tiefschwarzes Familiendrama ist James Grays bravouröses Langfilmdebüt geworden, eines zudem, für das ihm eine phantastische Besetzung zur Verfügung stand. Allen voran Tim Roth und Maximilian Schell, die ein zutiefst entzweites Vater-Sohn-Paar interpretieren, das dem jeweils anderen das eine ums andere Mal den Tod an den Hals wünscht und gerade durch diese Unbarmherzigkeit für eine furchtbare Wendung der Ereignisse sorgt. Joshua Shapira hat nichts von den glamourösen, coolen Auftragskillern der klassischen und jüngeren Kino-Historie. Er ist ein verhärmter Soziopath, der nichts und niemanden dichter als unbedingt nötig an sich heranlässt, einer, der es verlernt hat, zu weinen und zu lachen. Zwar erwacht mit seiner Rückkehr nach Little Odessa ein Rest familiäres Verantwortungsbewusstsein in ihm; dieses fällt infolge der gleichermaßenen Unerbittlichkeit des Vaters und dessen nicht minder überlagernden Unfähigkeit, alte Wunden sich schließen zu lassen, auf unfruchtbaren Boden. Am Ende ist aus Joshuas ursprünglichem Auftrag eine sehr viel tiefgreifedere, hochnotpersönliche Inventur geworden. Seine Familie ist tot und er wird seine nächste Mission noch verhärteter, noch gnadenloser ausführen als zuvor. James Grays betont kalte, winterliche Bildsprache gemahnt an die Filme der siebziger Jahre, in denen häufig kein Platz mehr war für Hochglanz und Farbe. Die Kamera nutzt durchweg gegebene, unarrangierte Lichtquellen, was dem Film genau jene grieslige Kargheit verleiht, die er zur Untermalung seiner Geschichte benötigt. Ein schöner Kontrastpunkt auch zu Tarantinos gerade im Erstarken begriffenen Westküsten-Genrefilm, der ja Tim Roth als gewissermaßene Verbindung vorweist: Bei Gray gibt es im Vergleich dazu keinerlei grelle Oberflächenreize und die in "Little Odessa" vorkommende Gewalt lädt weder zum Lachen, noch zum Applaudieren ein. Hiernach möchte man sich ganz einfach nur noch ganz klein machen.

9/10

James Gray New York Familie Vater & Sohn Brüder Russenmafia Profikiller ethnics Winter


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SATURDAY NIGHT AND SUNDAY MORNING (Karel Reisz/UK 1960)


"Don't let the bastards grind you down!"

Saturday Night And Sunday Morning (Samstagnacht bis Sonntagmorgen) ~ UK 1960
Directed By: Karel Reisz

Für den Jungarbeiter Arthur Seaton (Albert Finney) ist die Woche wohlstrukturiert: Von montags bis freitags geht's in die Fabrik, wo harte Maloche Ehrensache ist, am Samstag heißt es dann rein in den Zwirn und ab in den Pub, zehn bis zwölf Pints hinter die Binde und mit der eigentlich mit seinem Arbeitskollegen Jack (Brtyan Pringle) verheirateten Brenda (Rachel Roberts) in die Kiste. Der Sonntag ist dann zum gemächlichen Ausnüchtern bestimmt, bevor die Mühle am Montag wieder auf Null springt. Als Arthur die ihm deutlich zukommendere Doreen (Shirley Anne Field) kennenlernt, sieht er eine Möglichkeit, die sich ohnehin verkomplizierende Beziehung mit Brenda zu lösen - da eröffnet diese ihm, von ihm schwanger geworden zu sein. Für Arthur ein unhaltbarer Zustand, den er jedoch mittragen muss und der ihn einiges an Lehrgeld kostet.

Another angry young man, soon to be older: Diesmal sehen wir den noch taufrischen Albert Finney als einen Helden der Arbeiterklasse, der seine imposante Energie zum einen der Tatsache verdankt, dass er noch deutlich jünger ist als die meisten seiner Kollegen und zum anderen der unerschütterlichen Kraft der Träume. Für Arthur Seaton steht es außer Frage, dass er sich, wie bereits sein Vater (Frank Pettitt) vor ihm, zeitlebens den Buckel in der Fabrik krummschuften und früher oder später in die kleinbürgerliche Sackgasse des Alltags einfahren wird. Seine unerfreulich verlaufende Affäre mit der verheirateten Brenda grenzt ihn dabei zwar etwas von seinen geregelter dahinvegetierenden Zeitgenossen ab, bewahrt ihn letztlich jedoch auch nicht vor seinem vorgezeichneten Schicksal: Mit der reizenden Doreen naht zugleich das noch uneingelöste Versprechen des familiären Heimathafens. Mit ihr wird Arthur, so rotzig und kregel er sich jetzt auch geben mag, in Kürze eine eigene Familie gründen, in ein eigenes Häuschen ziehen und dereinst genauso enden wie sein Vater vor ihm. Was der Film von Arthur Seaton zeigt, ist vielleicht der letzte außergewöhnliche Ausschnitt seines Lebens, der letzte Rausch. Dann kommt nurmehr der Sonntagskater mit seinem langen, mühseligen Erwachen.

8/10

Karel Reisz Free Cinema Nottingham





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Funxton

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