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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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A TIME TO KILL (Joel Schumacher/USA 1996)


"America is a wall, and you're on the other side."

A Time To Kill (Die Jury) ~ USA 1996
Directed By: Joel Schumacher

Nachdem zwei rassistische Hillbillys (Nicky Katt, Doug Hutchison) die zehnjährige Tochter (Rae'Ven Larrymore Kelly) des farbigen Arbeiters Carl Lee Hailey (Samuel L. Jackson) vergewaltigt, misshandelt und fast ermordet haben, schreitet der verzweifelte Vater zur Selbstjustiz: Er mäht die Täter auf ihrem Weg in den Gerichtssaal mit einem Maschinengewehr nieder. Der Nachwuchsanwalt Brigance (Matthew McConaughey) übernimmt Haileys Fall und beschwört damit einen lokalen Rassenkrieg herauf: Der Ku-Klux-Klan reformiert sich und schwarze Bürgerrechtsorganisationen wettern gegen die weiße Bevormundung.

Nach dem global betrachtet eher zu vernachlässigenden "The Client" übernahm Schumacher gleich noch einmal die Inszenierung einer Grisham-Adaption, diesmal mit einem spürbar höheren Maß an Engagement und Leidenschaft, da der der Geschichte zugrunde liegende Themenkomplex ihn offenbar auch persönlich anfocht. Gleich drei heiße Eisen packt "A Time To Kill" an: Selbstjustiz, die Todesstrafe und Rassismus. Während er bezogen auf den letzteren Topos eine liberale, versöhnliche, populistisch wirksame (wenngleich wiederum höchst irreal vorgetragene) Lösung aufbietet, erweist er sich im Hinblick auf die ersten beiden als übelster polemischer Bodensatz. Von Anfang an präsentiert sich der Film fortwährend als Traktat für die NRA sowie für die moralische Verantwortung des Einzelnen, sich bei Bedarf als Richter und Henker aufzuspielen, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, kurz: Verfassung/Grundgesetz und Menschenrechte mit Füßen zu treten. "A Time To Kill" präsentiert sich als bewusst emotional-aufpeitschend konstruiert; da die Kamera nicht zeigt, was mit der kleinen Tonya passiert, schildert Brigance es detailliert in seinem Schlussplädoyer, um bei Publikum und Geschworenen Verständnis für den Mörder Hailey und damit dessen Freispruch zu evozieren - mit Erfolg. Dabei spricht die Jury ihn ganz zweifellos nicht, wie vorher geplant, wegen zweitweiser Unzurechnungsfähigkeit frei, sondern weil sie sich moralisch auf seine Seite stellt und dies wiederum nur, da Brigance sie durch einen simplen Suggestionstrick umzustimmen vermag.
"A Time To Kill", der sich in diesen letzten Minuten noch ein weiteres Mal in all seiner ideologischen Unerträglichkeit, in seiner blauäugigen Stumpfheit selbst bestätigt mit seinem gemischtfarbigen Familienvater-Heldenduo, das ganz fest an göttliche Gerechtigkeit, Waffen für jedermann, an Privatrache und Todesstrafe glaubt, ist, zieht man die imdb-Wertungen als Indikator in Betracht, weiterhin ein recht beliebter Film. Dies offenbart, dass sich Menschen nach wie vor unkritisch von dramaturgisierter Gesinnung einfangen lassen, so sie bloß hinreichend verführerisch eingewickelt ist. Nebenbei verfügt "ATime To Kill" in quantitativer Hinsicht neben "The Rainmaker" über die großartigste Besetzung aller Grisham-Verfilmungen, die jeweils formidable Kostproben ihres Könnens darlegt. Ob all diese tollen Darsteller ebenfalls jenem reaktionären Gestus frönen oder ihn zumindest als diskussionswürdig erachteten, weiß ich nicht. Sollte dem so sein, wäre es erschreckend.

4/10

Joel Schumacher John Grisham Mississippi Rassismus Selbstjustiz Freundschaft Courtroom Rache Familie Ku-Klux-Klan


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SWITCHBLADE SISTERS (Jack Hill/USA 1975)


"Hey, I lost my eye for this gang!"

Switchblade Sisters (Die Bronx-Katzen) ~ USA 1975
Directed By: Jack Hill

Die 'Silver Daggers' und deren weiblich Subdivision, die 'Dagger Debs', sind eine der tonangebenden Gangs im Viertel. Besonders die beiden Chefs, Dominic (Asher Brauner) und Lace (Robbie Lee) ergeben ein taffes Pärchen. Als die Dagger Debs mit der coolen Maggie (Joanna Nail) ein neues Mitglied rekrutieren, steht Ärger ins Haus. Obgleich sich Lace und Maggie gut verstehen und umgehend beste Freundinnen werden, wirft Dominic ein Auge auf Maggie - und gleich auch noch sich selbst. Maggie versucht, aus guter Miene böses Spiel zu machen, doch die intrigante Patch (Monica Gayle) hetzt die beiden Mädchen gegeneinander auf und verstricht die Daggers in einen eskalierenden Konflikt mit der feindlichen Gang von Crabs (Chase Newhart). Verrat, Mord und Totschlag sind die unausweichlichen Folgen.

"Die Bronx-Katzen"? Das halte ich aber für ausgemachten Blödsinn, denn die location der "Switchblade Sisters" oder "Jezebels", wie sie sich am Ende nach ihrer Neugründung nennen, scheint mir zweifelsohne Los Angeles zu sein. Nun ja, die mittleren Achtziger, als das Ding endlich auch bei uns im Kino premierte, war eine Zeit, in der die New Yorker Bronx in der Popkultur in etwa gleichzusetzen war mit einem amerikanischen Beirut. Gangs, verbrannte Erde, präapokalyptische Zustände, wie man sie aus Petries "Fort Apache, the Bronx" und Castellaris "The Riffs"-Filmen kannte, so stellte sich der halbgebildete Pennäler ergo jenes Viertel vor. Daher versetzte man eben auch kurzerhand Hills Film dorthin. Wenn schon nicht der deutsche Titel, so macht ihm zumindest die Synchronfassung alle Ehre, ein rotziges, Gift spuckendes Stück deutscher Vertonung, das dem ohnehin schon so passioniert schmutzigen Werk nochmal eine zusätzliche Dreckschicht obendrauf verleiht. Furztrockene Exploitation, nicht mehr ganz so aufgedreht und quietschvergnügt wie Hills Knast- und Blaxplo-Epen, aber ganz bestimmt doch noch hinreichend irrsinnig und anfixend, um heutigen Girlgangs noch immer als potenzieller, heiliger Filmgral herzuhalten.

7/10

Jack Hill Exploitation Sleaze Gangs


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JAGTEN (Thomas Vinterberg/DK 2012)


Zitat entfällt.

Jagten (Die Jagd) ~ DK 2012
Directed By: Thomas Vinterberg

Der vormalige Lehrer Lucas (Mads Mikkelsen) arbeitet nunmehr als Erzieher im Kindergarten seines Heimatstädtchens, ist dort bei seinem großen Freundeskreis und auch bei den Kindern überaus beliebt. Seit seiner Scheidung lebt er allein mit seiner Hündin Fanny, mit dem kommenden Aufenthaltsrecht für seinen bei Lucas' geschiedener Frau lebenden Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) und der keimenden Beziehung zu seiner Kollegin Nadja (Alexandra Rapaport) jedoch scheint es bergauf zu gehen. Da kommt es zur Katastrophe: Weil die von ihm wegen einer pädagogisch notwendigen Klarstellung enttäuschte kleine Klara (Annika Wedderkopp), zudem die Tochter von Lucas' bestem Freund Theo (Thomas Bo Larsen), ein unbedachtes Gerücht in die Welt setzt, demzufolge ihr Lucas seinen errigiertes Penis gezeigt und möglicherweise noch mehr Unaussprechliches mit ihr angestellt haben soll, wird Lucas sukzessive zur persona non grata in seinem Heimatort. Bis auf seinen alten Freund Bruun (Lars Ranthe) stellt sich ausnahmslos jeder gegen ihn, eine immer brutaler werdende Hatz auf Lucas' Person entbrennt. Erst Wochen später kommt Theo wieder zur Besinnung und erwägt die Möglichkeit, dass Lucas' Unschuldsbeteuerungen möglicherweise doch wahr sein könnten.

Ein zutiefst involvierender und mitreißender Film, der für in pädagogischen Berufsständen tätige Männer wie mich selbst und im Prinzip auch jede Person, die mit uns primär und/oder sekundär zu tun hat, eine wertvolle perspektivische Ausweitung darstellt.
Üblicherweise, wenn es in Kino und Fernsehen um eine dramaturgische Aufbereitung der Themen 'Pädophilie' und 'sexueller Missbrauch' geht, wird das Ganze in einen kriminalistischen Spannungskontext gesetzt und wahlweise zu einer Rachegeschichte oder, bei etwas komplexerer Diegese, zu einer Pseudokontroverse aufgebläht, ob der oder die Täter denn doch bloß zu kastrieren oder besser gleich zu exekutieren sein sollten. Ist dann doch einmal jemand zu Unschuld verdächtigt worden, steckt dahinter meist eine unglücklich verliebte oder enttäuschte pubertierende Giftgöre, die dem Verzweifelten ans Leder will. Der gedankliche Ansatz jedoch, dass die Schuld für eine diesbezügliche Eskalation nicht beim vermeintlichen Täter und nicht beim vermeintlichen Opfer zu suchen ist, sondern einzig und allein bei einer sich oberflächlich nur allzu bereitwillig liberal gebenden, tatsächlich jedoch leicht beeinfluss- und infizierbaren sozialen Mikrokosmos, im vorliegenden Falle einer Kleinstadtbevölkerung, die in akuter Angst um ihr Wertvollstes zu einem reißenden, reflexionsunfähigem Mob mutiert, offenbart ein relativ unbeackertes Erzählareal. Was "Jagten" auch brillant dastehen lässt, ist Vinterbergs ideologische Neutralität. Klara, die bezüglich Lucas eine gemeine Lüge öffentlich macht, deren Tragweite ihr als vier- oder fünfjähriges Mädchen berhaupt nicht bewusst ist, wird ebenso zum Opfer wie der mutmaßliche Kinderschänder: Die sie befragenden Erwachsenen suggerieren, oktroyieren, indoktrinieren, bis sie aus dem zunehmend verwirrten Kind endlich das herausgekitzelt haben, was sie hören wollen; "Ein alleinstehender Mann als Erzieher, das kam mir immer schon seltsam vor", ist die allgemeine, erste Reaktion darauf. Und so zieht der einmal versenkte Klotz immer größere Kreise, bis Lucas' Ruf nicht nur unrettbar geschädigt ist, sondern seine Privatsphäre aufs Ekelhafteste verletzt wird.
Angesichts dessen, was ihm widerfährt, würde ich im auf mich projizierten Falle niemals so passiv bleiben, doch auch darin liegt eine der Stärken von Vinterbergs wichtigem Werk.
Die Figur des Lucas ist für mich dank meiner eigenen Lebensrealität eine der unmittelbarsten Identifikationsfiguren, die ich jemals im Film vorgefunden habe - umso albtraumhafter das ihm widerfahrende Szenario.

9/10

Thomas Vinterberg Dänemark Lehrer Kindergarten Sexueller Missbrauch Pädophilie


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SWEET BIRD OF YOUTH (Richard Brooks/USA 1962)


"A goofball makes the world keep its balance."

Sweet Bird Of Youth (Süßer Vogel Jugend) ~ USA 1962
Directed By: Richard Brooks

Der Gigolo Chance Wayne (Paul Newman) kommt zurück nach St. Cloud, Alabama, im Schlepptau die derangierte Hollywood-Aktrice Alexandra Del Largo (Geraldine Page). Mit Alexandras Hilfe hofft Chance endlich jener große Star zu werden, der er schon immer sein wollte und damit seine Jugendliebe Heavenly Finley (Shirley Knight) beeindrucken zu können. Dabei geht es in erster Linie um Heavenlys Vater, den Großindustriellen Tom 'Boss' Finley (Ed Begley), der ganz St. Cloud in der Tasche hat. Dieser versucht seit Ewigkeiten, den in Bezug auf Heavenly nicht nachgebenden Chance für immer aus der Stadt zu verbannen.

Nach "Cat On A Hot Tin Roof" die zweite Williams-Adaption von Richard Brooks, wiederum mit Paul Newman in der Hauptrolle des lebensunsicheren Protagonisten auf der Suche nach mehr Rückenwind und Standhaftigkeit. Diesmal ist der gefürchtete Südstaatenpatriarch allerdings nicht sein Vater, sondern ein erbitterter Gegner im Duell um seine Tochter. Doch "Sweet Bird Of Youth" ist figural weitläufiger: Mit der Geschichte um die wodkatrinkende, cannabisrauchende und benzedrinschluckende Diva Alexandra Del Largo entwickelte Williams einen exquisiten charakterlichen Nebenschauplatz. Letzten Endes entwickelt sich die narzisstisch-opportunistische Schauspielerin zu Chances Gewaltkur, seinem 'cold turkey', der ihm ein für allemal einbläut, dass seine Träume nichts sind als Schäume und dass das Leben deutlich irdischere Herausforderungen bietet. Auch ungewöhnlich, dass in der Rolle des Möchtegern-Starlets einmal ein Mann zu sehen ist, derweil seine Freundin den entsprechend notwendigen Räsonanzpart erhält.
Nicht ganz so umwerfend wie "Cat On A Hot Tin Roof", aber doch überaus lohnenswert und mit einem schönen Ende angereichert.

8/10

Richard Brooks Tennessee Williams Südstaaten Florida Alabama Alkohol Drogen Familie based on play


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TO KILL A MOCKINGBIRD (Robert Mulligan/USA 1962)


"Miss Jean Louise, stand up. Your father's passing."

To Kill A Mockingbird (Wer die Nachtigall stört) ~ USA 1962
Directed By: Robert Mulligan

Die kleine Jean Louise (Mary Badham), genannt 'Scout' und ihr Bruder Jeremy (Philip Alford), genannt 'Jem', wachsen während der Depressionsjahre in Maycomb, Alabama als Kinder des verwitweten Anwalts Atticus Finch (Gregory Peck) auf. Trotz der schwierigen Situation verleben die beiden mit ihrem Freund Dill (John Megna) schöne Kleinstadtsommer, die allerdings gleichermaßen von dunklen Schatten geprägt sind: So verteidigt ihr Vater den farbigen, der Vergewaltigung an einer Weißen (Collin Wilcox Paxton) angeklagten Tom Robinson (Brock Peters), der die gesamte Landbevölkerung gegen sich hat. Atticus ist der einzige Weiße, der ihm rechtschaffen zur Seite steht. Ihm gegenüber positioniert sich in vorderster Front der Farmer Bob Ewell (James Anderson), Vater des Opfers. Die Kinder nehmen außerdem mit ebenso respektvollem wie wohligem Grusel wahr, dass in ihrer Nachbarschaft der angeblich verrückte Boo Radley (Robert Duvall) lebt, der von seiner Familie versteckt gehalten wird und sich nie bei Tageslicht zeigt.

Wie Harper Lees wunderbarer Roman so ist auch dessen Adaption ein Manifest des Humanismus, eine erquickliche Lektion über Menschlichkeit und Würde in Zeiten allgegenwärtiger Unruhe und Angst. Mit Atticus Finch, neben Kapitän Ahab in Hustons "Moby Dick", seiner Lebensrolle, hat Gregory Peck einen der großen amerikanischen Helden kreiert: Einen pazifistischen Intellektuellen, einen weisen, Rechtschaffenheit und Philanthropie als Existenzprinzipien verfolgenden Anwalt im Kampf für das ewig Gute, dazu einen liebevollen Familienvater, der den Wogen des Lebens mit trotziger Gelassenheit entgegentritt und diese zumeist glorreich meistert. Verlorene Schlachten nimmt er zum Anlass, selbst Besserung zu geloben.
Berichtet wird "To Kill A Mockingbird" allerdings aus ausschließlich kindlicher Perspektive; aus der Sicht Scouts und ihres Bruders Jem, die dem ehernen Vorbild ihres Vaters nacheifern und dereinst, auch infolge seiner vorbildlichen Erziehung, ebensolche Alltagshelden werden dürften wie er. Dass diese so wunderbar lebensweise Geschichte zudem in einen formalen Rahmen gesetzt wurde, dem man kein anderes denn das Attribut der Meisterlichkeit zukommen lassen kann, ergänzt das Gesamtbild bis hin zur Perfektion.
In all seiner bedingungslosen Weisheit, Couragiertheit, Menschen- und Lebensliebe ein magischer Film, der weit über seinen eigenen medialen Horizont hinausreicht und den man gewissen Menschen als bildendes Pflichtprogramm verpflichtend angedeihen lassen möchte. Auf dass sie sich dann bessern mögen.

10*/10

Robert Mulligan Alan J. Pakula Harper Lee period piece Südstaaten Rassismus Familie Kinder Freundschaft Courtroom Alabama Coming of Age Sommer


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GUN CRAZY (Joseph H. Lewis/USA 1950)


"Let's finish it the way we started it: on the level."

Gun Crazy (Gefährliche Leidenschaft) ~ USA 1950
Directed By: Joseph H. Lewis

Der seit frühester Kindheit in Feuerwaffen vernarrte, bezüglich ihrer tödlichen Wirkung jedoch traumatisierte Bart (John Dall) weiß als Erwachsener nichts Rechtes mit seinem Leben anzufangen. Da lernt er auf dem Rummelplatz die Schießartistin Annie (Peggy Cummins) kennen. Die beiden verlieben sich vom Fleck weg ineinander, touren noch eine Zeitlang mit dem Zirkus umher und setzen sich dann ab. Es dauert nicht lang, bis sie in die Kriminalität abrutschen: Raubüberfälle auf Banken und Firmen gehören bald zu ihrer Alltagsroutine. Als Annie erstmals Menschen erschießt, forciert das FBI die Suche nach dem flüchtigen Paar. Ihre Flucht führt sie in jenes wilde Gelände, in dem Bart einst seine Jugend verbracht hat.

Natürlich liegen Faszination und Sympathie in dieser modernen Outlaw-Ballade beim Antihelden-Pärchen Bart und Annie, besonders bei letzterer. Dafür bürgt schon die von Anbeginn etwas abseitige, diametrale Zeichnung des (mögicherweise homosexuellen) Jugenfreund-Paares Barts, des Deputy Boston (Harry Lewis) und es Zeitungsredakteurs Allister (Nedrick Young). Deren moralische Rechtschaffenheit ist von nahezu ekelhafter Sterilität und wirkt angesichts der Klemme, in der sich ihr sogenannter "Freund" später befindet, wie ein Hochverrat am Leben selbst.
Noch psychologischer die Ambiguität der Charaktere Barts und annies: Während Bart, seit er als Vierjähriger mit dem Luftgewehr ein Küken erschossen hat, keine Schusswaffe mehr auf Lebewesen richten kann, bezieht Annie nicht nur aus der phallischen Form von Pistolen sexuellen Lustgewinn, sondern insbesondere aus deren lebensvernichtendem Einsatz. Trotz des ersten Eindrucks ergänzen die beiden sich also nicht unbedingt perfekt: Ihr delinquentes Potenzial eint sie, die Toleranz- und Akzeptanzschwellen jedoch sind völlig disparater Natur. Das sich daraus ergende Spannungsverhältnis bestimmt die ungebrochene Aktualität von "Gun Crazy".
Ein ikonischer Genrefilm; vorzugsweise im Verbund mit Rays "They Live By Night" sehenswert, der ironischerweise Dalls "Rope"-Kollaborateur Farley Granger in der Rolle des sich den Weg freischießenden Heißsporn aufbietet.

9/10

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A STREETCAR NAMED DESIRE (Elia Kazan/USA 1951)


"The blind are leading the blind."

A Streetcar Named Desire (Endstation Sehnsucht) ~ USA 1951
Directed By: Elia Kazan

Die Southern Belle Blanche DuBois (Vivien Leigh) kommt während des Hochsommers zu ihrer Schwester Stella (Kim Hunter) nach New Orleans. Stellas Mann Stanley Kowalski (Marlon Brando), einen lauten, verschwitzenden Arbeiter, kennt Blanche noch nicht, ebensowenig wie das Milieu, in dem die beiden hausen: Das Einwandererviertel Elysian Fields, in dem alles etwas einfacher und lärmender zugeht als es die frühere Literaturlehrerin Blanche gewohnt ist. Mit Stanley trifft sie auf eine völlig diametrale Existenz und von Anfang an ist ihr Verhältnis von Spannungen und gegenseitiger Abgestoßenheit geprägt. Als herauskommt, dass Blanches jüngere Vergangenheit in keinster Weise zu ihrem hochmütigen Auftreten passt, ist die Katastrophe nicht mehr fern.

Eine völlig neurotische Frau auf der Flucht vor sich selbst benötigt zur Gesundung eine sensible Therapie - und trifft stattdessen auf den größten Proleten der Stadt. Tennessee Williams' klassisches Drama, ein in jeder Hinsicht umstürzlerisches Werk für Hollywoods silver age, ist noch heute von einer ungebrochenen Spannkraft und vermag sein transgressives Potenzial, das sich aus der systematisch-konfrontativen Zerstörung einer ohnehin fragilen Psyche ergibt, nach wie vor bravourös zu entfalten. Dem ist vor allem auch die von Elia Kazan geschaffene, filmische Atmosphäre zuträglich: Mit drei Ausnahmen genügt ihm das Haus der Kowalskis im New Orleans-Slum Elysian Fields als lokaler Dreh- und Angelpunkt; die schwülen Nächte von Louisiana, in denen die Gerüche von Schweiß, Triebhäftigkeit und billigem Bourbon die stickige Urbanität anreichern, rücken in greifbare Nähe. Vor dem Fenster ziehen abends Hot-Dog- und morgens Bananen-Verkäufer durchs Viertel und in der Nacht eine gespenstische, alte Mexikanerin, die 'flores por los muertos' anbietet - "Blumen für die Toten". Vor dieser Kulisse entwickelt sich Blanche DuBois' Reise in den Wahnsinn, die durch Stanleys schlussendlich in einer Vergewaltigung kulminierenden Grobhaftigkeit nochmals forciert wird. Die pathologisch-nymphomanische, minderjährige Jungen bevorzugende Frau, deren sexuelle Vorlieben bereits im stark aufgeladenen Spannungsfeld zwischen ihrer ständischen Herkunft und Erziehung stehen, hält der maskulinen, tierischen Gewalt Stanleys, der sie als arrogantes Püppchen zweifelhafter Natur verlacht, nicht Stand. Seinen endgültigen "Sieg" über Blanche feiert er in jener Nacht, als Stella zur Niederkunft im Krankenhaus liegt und sein Baby gebiert. Zuvor hat Blanches letzte Chance der Rückkehr in die akzeptierte Bürgerlichkeit in der Person von Stanleys Kumpel Mitch (Karl Malden) ihr den Rücken zugekehrt. Kurz darauf holt sie ein mobiler Hilfsdienst in die Anstalt. Blanche ist fort und in Elysian Fields geht alles wieder seinen gewohnten Gang: Arbeit, Poker, Bowling, Bier, und hier und da mal einen Klaps, wenn die Holde nicht spurt - sie kommt ja ohnehin stets zurück.

10/10

Elia Kazan based on play Tennessee Williams New Orleans Ehe Madness Vergewaltigung Sommer Nacht Südstaaten


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THIEVES' HIGHWAY (Jules Dassin/USA 1949)


"Everybody likes apples, except doctors."

Thieves' Highway (Der Markt der Diebe) ~ USA 1949
Directed By: Jules Dassin

Nick Garcos (Richard Conte) kommt von einer längeren Zeit auf See heim zu seinen Eltern (Tamara Shayne, Morris Carnovsky), als er feststellen muss, dass sein Vater keine Beine mehr hat. Nick erfährt, dass dies in direktem Zusammenhang steht mit einem Handel, den sein Vater in San Francisco mit dem Obst- und Gemüsegroßhändler Mike Figlia (Lee J. Cobb) abschließen wollte. Offenbar hat Figlia für eine Fuhre Tomaten nicht zahlen wollen, Nicks Vater betrunken gemacht und dann in seinen Wagen gesetzt, bevor es zu dem verhängnisvollen Unfall kam. Mit dem alten Ed Kinney (Millard Mitchell) bietet sich nun eine Chance, Erlittenes zumindest ansatzweise wieder ins Reine zu bringen: Eine große Fuhre Äpfel soll an Figlia verkauft werden und er soll keinen müden Cent daran verdienen. Natürlich zeigt sich Figlia, kaum dass Nick nach einigen Schwierigkeiten in San Francisco angekommen ist, von seiner übelsten Seite. Wie einst Mr. Garcos Senior versucht er nun auch Nick zu übervorteilen, doch dieser ist wild entschlossen, Figlia nicht noch einmal ungeschoren davonkommen zu lassen...

Während der Produktion von "Thieves' Highway" hatte Dassin via Studiochef Zanuck bereits gesteckt bekommen, dass sein Name auf der Schwarzen Liste stand und er damit in Kürze arbeits- und leumundslos werden würde. Der nachfolgende "Night And the City" wurde sein letzter Film in seinem Geburtsland USA, bevor er 15 Jahre später in Frankreich mit "Du Rififi Chez Les Hommes" eine Zweitkarriere startete. Mit Dassin hatte man einen weiteren großen Filmschaffenden zur persona non grata erklärt und damit unweigerlich vor die Tür gesetzt.
"Thieves' Highway" transportiert eine stark naturalistische, irdene Perspektive, hält sich fern von sämtlichen Stereotypen mitsamt Anzugträgern, hartgekochten Privatschnüfflern, mafiösen Killergangstern und Mordopfern. Nick Garcos ist ein Arbeitersohn mit Migrationshintergrund, der, wenngleich eine ehrliche Haut, seinen Schnitt machen will und zu einem guten Geschäft nicht Nein sagt. Durch den Erlös aus dem Apfeltransport nach San Francisco plant er, seine Braut (Barbara Lawrence) in den Ehehafen führen zu können und zugleich dem lumpigen Figlia heimzuzahlen, was er seinem Vater angetan hat. Ausgerechnet die finstere Nacht im Hafen von San Francisco bringt dann existenzielle Erleuchtung mit sich. Vergleichsweise unspektakulär, unaufgeregt und realitätszugetan ist das. Vielleicht wäre Dassin in Hollywood über kurz oder lang sowieso falsch aufgehoben gewesen.

9/10

Jules Dassin San Francisco Kalifornien film noir Rache Nacht


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DINNER AT EIGHT (George Cukor/USA 1933)


"I'm going to be a lady if it kills me!"

Dinner At Eight (Dinner um Acht) ~ USA 1933
Directed By: George Cukor

Die Reeder-Gattin Millicent Jordan (Billie Burke) plant ein kostspieliges Freitagabend-Diner, zu dem eine erlesene Gesellschaft eingeladen werden soll. Es weilt nämlich zur Zeit das Ehepaar Ferncliffe aus England in Manhattan, Reichenprominenz von höchsten Gnaden, mit deren Erscheinen sich die gute Millicent vor den übrigen Gästen rühmen möchte. Dabei haben die Geladenen und Gäste ganz andere Sorgen, allen voran Millicents Mann Oliver (Lionel Barrymore), dessen Reederei im Zuge der Depression von der Insolvenz bedroht ist. Als böser Strippenzieher im Hintergrund lauert bereits der feiste Emporkömmling und Finanzgeier Dan Packard (Wallace Beery) auf Jordans Unternehmen, der ein paar Strohmänner für entsprechende Aktieneinkäufe bereithält. Packards Frau Kitty (Jean Harlow), ein verwöhntes Neureichenblondchen mit proletarischen Wurzeln, unterhält derweil eine feurige Affäre mit dem notorischen Schürzenjäger Dr. Talbot (Edmund Lowe) und streitet sich nahezu ohne Unterlass und auf übelste Weise mit ihrem bulligen Gatten. Die alternde, ebenso voluminöse wie trinkfeste Theaterdiva Carlotta Vance (Marie Dressler) hat derweil ein mäßig schlechtes Gewissen, weil sie aus Geldnot das Aktienpaket ihres alten Freundes Jordan verscheuert hat. Nach dem arbeitslosen, verarmten und dem Alkohol verfallene Stummfilmstar Larry Renault (John Barrymore) kräht indes kein Hahn mehr - mit Ausnahme von Jordans neunzehnjähriger Tochter Paula (Madge Evans), die sich unsterblich in den sehr viel älteren, suizidalen Galan verliebt hat und für ihn ihren gleichaltrigen Verlobten (Phillips Holmes) sitzen lassen will...

Wie man etwas bereits Makelloses nochmals perfektioniert, demonstrierte die MGM nur ein Jahr nach "Grand Hotel" mit "Dinner At Eight": Das Basiskonzept blieb bestehen - ein umfassendes Starpersonal begegnet sich in wechselnden Konstellationen, zerfleischt und liebt sich, erhält Erleuchtung und Verständnis, wird erwachsen oder geht drauf. Weil man ein Gewinnerteam nicht ändern soll, begegnet man gleich vier Darstellern aus "Grand Hotel" wieder (den Barrymore-Brüdern, Wallace Beery und Jean Hersholt), die ihre Kunst hier nochmal in gleichwertiger Form vorstellen. Hinzu kommen 'neue' Gesichter wie das der faktisch den kompletten Film beherrschenden, wahrlich phantastischen Marie Dressler oder das von Billie Burke. John Barrymores Figur überbietet den vormaligen Baron nochmal um ein ganzes Pfund an Tragik und hier wie dort muss er das Zeitliche segnen, diesmal allerdings durch eigene Hand und in perfekt inszenierter Abgangspose. Dreierlei wertet "Dinner At Eight" letztlich nochmals um Nuancen gegenüber seinem 'Vorgänger-Modell' auf: der Verzicht auf die große Pose, wie sie vor allem die Garbo in "Grand Hotel" personifizierte, der Entschluss, den Satirefaktor deutlich anzuheben und das Stück somit noch deutlich sozialrelevanter zu gestalten und schließlich der Einsatz eines - damals freilich noch eher unbeleckten - Regiegenies, eines der brillantesten Köpfe in sechs Jahrzehnten Filmgeschichte und, wie sich anhand "Dinner At Eight" bereits überdeutlich ablesen lässt, eines Meisters der Gesellschaftskomödie. Optimal fügen sich nach und nach die Szenen aneinander, ergeben ein bis ins Letzte stimmiges Kaleidoskop, bis hin zum großen Gesamtbild, über dessen klimaktisches Finale hinaus man den Film noch lange im Kopf behält.

10/10

George Cukor New York Ensemblefilm Satire based on play Great Depression Alkohol Stummfilmstar Essen


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GRAND HOTEL (Edmund Goulding/USA 1932)


"Grand Hotel... always the same. People come, people go. Nothing ever happens."

Grand Hotel (Menschen im Hotel) ~ USA 1932
Directed By: Edmund Goulding

Im Grand Hotel Berlin laufen binnen 48 Stunden mehrere Schicksale ineinander: Die stark depressive Ballett-Diva Grusinskaya (Greta Garbo) leidet unter Vereinsamung und steckt in einer schweren Schaffenskrise, bis sie den verarmten Blaublütigen Gaigern (John Barrymore) kennenlernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Der gutherzige Baron seinerseits versucht, sich als Hoteldieb zu sanieren und will der 'Gru' eine Perlenkette stehlen - ein Plan, den er flugs drangibt als er sein "Opfer" näher kennenlernt. Den Großindustriellen Preysing (Wallace Beery) plagt derweil der drohende Konkurs seines Unternehmens. Um auf andere Gedanken zu kommen, setzt er sich ein Tête-à-tête mit seiner hübschen Stenotypistin Fräulein Flamm (Joan Crawford) in den Kopf, die sich ihrerseits in Baron Gaigern verguckt. Der alternde, todkrank diagnostizierte Buchhalter Otto Kringelein (Lionel Barrymore) schließlich, einer von Preysings vielen Angestellten, nimmt sich vor, in seinen letzten Lebenswochen nochmal richtig die Puppen tanzen zu lassen und lernt über die Vorzüge von Freundschaft, Champagner, Tango und Baccarat die wahre Lebensfreude schätzen.

Der Urvater des klassischen Ensemblefilms, der bis heute immer wieder schöne Sprösslinge hervorbringt und, wie sich anhand "Grand Hotel" recht gut studieren lässt, seine Grundform nur unwesentlich variiert hat - außer vielleicht mit der Einschränkung, dass spätere Meister wie Altman ihn noch wesentlich komplexer und ausführlicher gestalteten.
Das inhaltliche Konzept ist so einfach wie brillant: Mehrere Vitae begegnen sich, kollidieren miteinander, laufen fortan parallel oder brechen wieder auseinander, alles binnen einer streng gesetzten Orts- und Zeiteinheit. Die ursprüngliche Idee zu "Grand Hotel" stammt von Vicki Baum, die es als "Menschen im Hotel" 1929 mit dem Untertitel "Kolportageroman mit Hintergründen" als ein Porträt eines Edelhorts inmitten der Weimarer Republik veröffentlichte. William A. Drake machte daraus flugs ein Theaterstück, das schließlich in Form dieser schon damals gefeierten MGM-Produktion adaptiert wurde und nicht nur nochmals Baums Buch, sondern auch dem Motiv des Touristenhorts mit wechselnden Gesichtern und Geschichten Bahn brach. Es lässt sich mutmaßen, dass ohne den massenkulturellen Hattrick bestehend aus Roman, Stück und Buch (später kam noch ein Musical hinzu) der Ensemblefilm (und spätere TV-Serien-Ableger) nicht das wären, was sie heute sind. Gouldings Film ist ein Meisterwerk des gesellschaftskritischen Kinos, das Vicki Baums Vorlage vor allem aufgrund seiner Zeitnähe so adäquat einfangen konnte. Nur Monate später, als Berlin zusammen mit dem Rest der vormaligen Republik schleichend im braunen Sumpf versank, hätten die Entstehung des Films und natürlich das Resultat selbst einen schalen Beigeschmack erhalten. So ist der Nachwelt ein bei allem Zeitkolorit zeitloses Stück Hollywood erhalten geblieben, das aufzeigt wie weit Inszenierung, Dramaturgie und Schauspiel bereits in den jungen Tagen des Tonfilms bereits gediehen waren.

10/10

Edmund Goulding Berlin Hotel Ensemblefilm Vicki Baum based on play Best Picture





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