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In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


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SHIP OF FOOLS (Stanley Kramer/USA 1965)


"I think you're a sawed-off intellectual."

Ship Of Fools (Das Narrenschiff) ~ USA 1965
Directed By: Stanley Kramer

Im Frühjahr 33 fährt ein Passagierschiff von Vera Cruz in Mexico nach Bremerhaven. In der 1. Klasse reist eine bunt zusammengewürfelte Gruppe internationaler Passagiere, während auf dem Zwischendeck Hunderte von spanischen Arbeitern untergebracht werden, die von der Zuckerrohrernte auf Kuba zurück nach Teneriffa schippern. Unter den Reisegästen befinden sich neben einer spanischen Flamencogruppe, deren Tänzerinnen gegen Entgelt auch andere Bedürfnisse erfüllen, der herzkranke Schiffsarzt Schumann (Oskar Werner), eine medikamentensüchtige spanische Adlige (Simone Signoret), in die sich Schumann verliebt, der jüdische Schmuckhändler Löwenthal (Heinz Rühmann), der zwergenwüchsige Philanthrop Glocken (Michael Dunn), der offen nazistischer Redakteur Rieber (José Ferrer), das beziehungskranke Pärchen David (George Segal) und Jenny (Elizabeth Ashley), die verbrauchte Einzelgängerin Mary Treadwell (Vivien Leigh), der alkoholkranke Baseballspieler Tenny (Lee Marvin), der in Scheidung lebende Identitätskrisler Freytag (Alf Kjellin) sowie der liebeskranke Johann (Charles De Vries), der einer der spanischen Huren (BarBara Luna) nachstellt.

Katherine Anne Porters Roman "Ship Of Fools" war zu seiner Zeit ein vielgelesenes, -beachtetes und -gepriesenes Stück Literatur, dessen Kinoadaption ein bombensicheres Geschäft versprach. Produzent und Regisseur Stanley Kramer machte daraus einen edlen Qualitätsfilm, hinter dessen Realisierung sich ausschließlich ausgesprochene Könner verbargen. Da ein Werk unter solcher Prämisse kaum scheitern kann, ist das schlussendliche Resultat natürlich brillant, aber gleichermaßen überraschungslos. "Ship Of Fools" präsentiert sich als ein schöner, gepflegter Ensemblefilm, dessen latente Ironie vielleicht eine Spur zu subtil und hinter der historisch-intellektuell verpflichtenden Entrüstung, die das allgegenwärtige Sujet der angehenden NSDAP-Regierung im Reich förmlich bedingt, zurückbleibt. Kaum auszudenken, was ein bissiger Regisseur wie Altman aus dem Stoff herausgeholt hätte. Hypothetischer Schmarren. Was "Ship Of Fools" hat und mitbringt, ist völlig hinreichend: Sternstunden großartigen Schauspiels, hervorgebracht von einer illustren, nachträglich förmlich ekletizistisch anmutenden Besetzung: So tritt die rund fünfzigjährige Vivien Leigh, der man ihre Schönheit noch immer ansieht und die unter schweren Depressionen, deren Therapieversuchen und körperlichen Gebrechen litt, in ihrem letzten Film auf, so spielt der ewige Nicht-Migrant Rühmann einen gutgläubigen Juden und schmettert José Ferrer deutsche Schlager, so ist ein sozial verfemter Liliputaner (Dunn) der literarische Dompteur des Narrenschiffs, so tritt Lee Marvin überaus respektabel aus dem Genrefilm heraus, so symbolisiert ein armer, seines einzigen Werkzeugs entledigter Holzschnitzer (David Renard) den wahren menschlichen Großmut und so gibt der große Exzentriker Oskar Werner eine weitere Kostprobe seines phantastischen Könnens. Wenn das nichts ist...

8/10

Stanley Kramer Katherine Anne Porter Nationalsozialismus Faschismus Seefahrt Schiff Ensemblefilm period piece Atlantik Alkohol


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THE TALL MAN (Pascal Laugier/USA, CA, F 2012)


"I guess it's better this way, right?"

The Tall Man ~ USA/CA/F 2012
Directed By: Pascal Laugier

Das dereinst florierende Bergabeiter-Städtchen Cold Rock in Washington ist nunmehr ein Opfer von Strukturwandel und sozialem Verfall. Die Familien darben dahin, die Kinder wachsen in Armut und Misshandlung auf. Dennoch verschwinden von ihnen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen immer wieder welche spurlos. Die Einwohner von Cold Rock haben sich auch bereits einen Sündenbock dafür herbeifabuliert: Den großen Mann, einen vermummten Gesellen aus den Wäldern, der die Kinder holt und sonstwas mit ihnen anstellt. Als der kleine David entführt wird, macht sich die verwitwete Krankenschwester Julia (Jessica Biel) an die Verfolgung des Übeltäters.

Nun ist also auch Pascal Laugier in Hollywood angekommen und legt neuerlich einen doppelbödigen Film vor, den man in Konstruktion und Aussage vor zehn Jahren noch fest mit seinem Kollegen M. Night Shyamalan assoziiert hätte. Es ist gut, nichts oder zumindest nicht zu viel über die Geschichte von "The Tall Man" zu wissen, dann geht zumindest das mit der Überraschung und Nachdenklichkeit des Zuschauers spielende, narrative Konzept auf. Zudem gefällt, dass Laugier seine Conclusio, die gedanklich mit der Vision einer Art "entbürokratisiertem Privatjugendamtes" spielt, selbst auf ein wackliges moralisches Fundament stellt. Denn bei aller Liebe und Ehrbarkeit - gefragt wird hier niemand nach seinem Schicksalswunsch, ihre wohlmeinende Prädestination wird den "zu behandelnden" Subjekten schlicht und einfach vorgesetzt. Und dass sich nie einer jener "Klienten" im Nachhinein beklagt oder den global agierenden Laden hat auffliegen lassen, erscheint zudem etwas sehr phantastisch. Aber so ist das mit und in diesem Genrefilm, der in Wahrheit gar kein Genrefilm ist: Friss oder stirb. Ob "The Tall Man" angesichts all dessen ein wahrhaft brauchbares Werk ist, werde ich allerdings wohl erst nach einer Zweitbetrachtung eruieren können.

7/10

Pascal Laugier Washington Seattle Kinder Kidnapping


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KILLER JOE (William Friedkin/USA 2011)


"No, he was not all right. He set his genitals on fire."

Killer Joe ~ USA 2011
Directed By: William Friedkin

Chris (Emile Hirsch), Sohn des dümmlichen Trailerpark-Bewohners Ansel Smith (Thomas Haden Church), sitzt in der Scheiße. Er hat beim örtlichen Paten (Mark Macauley) einen ganzen Berg Schulden und weiß nicht, wie er diesen begleichen soll. Als Chris in seiner Verzweiflung den nebenbei als Berufskiller tätigen Cop Joe Cooper (Matthew McConaughey) anheuert, um seine heruntergekommene Mutter zu ermorden und so deren Lebensversicherung einzustreichen, ahnt er nicht, dass sein schlecht ausgearbeiteter Plan in Kürze für einigen familiären Trubel sorgen wird. Als "Sicherheit" für seine womöglich nicht bezahlte Rechnung hat sich Joe nämlich Chris' leicht unterbelichtete Schwester Dottie (Juno Temple) ausersehen - die sein Spiel sogar willfährig mitspielt.

Ich habe mich doch sehr gefreut auf Friedkins neuen Film - nur, um fürs Erste doch recht bitter enttäuscht zu werden. Im Stillen hatte ich gehofft, dass er aus dieser ebenso bärbeißigen wie abseitigen, im südstaatlichen White-Trash-Milieu angesiedelten Story etwas mehr herausholen würde als irgendein x-beliebiger Tarantino-Epigone. Bewerkstelligt hat er es am Ende jedoch nur in bestenfalls halbseitig zufriedenstellender Weise, zumindest, insofern man "Killer Joe" als mehr denn eine bloße Regieleistung zu betrachten geneigt ist. Geschwätzige, asoziale whiteys als Symbol für Amerikas gewaltige Bevölkerungsproblemkomplexe heranzuziehen, ist eine Idee, die in etwa so frisch ist wie ein fünf Jahre alter, stinkender Limburger mit pittoreskem Grünschimmel. Jenem ausgehöhlten Personal dann auch noch die übliche, substanzlose Dummparliererei in den Mund zu legen, zeugt nicht eben von stilistischer Sensibilität.
Allerdings muss man einräumen, dass Friedkins Inszenierung bravourös ist und in keinem Verhältnis steht zu dem wie bereits im Falle von "Bug" von Tracy Letts bearbeiteten Stück. Der Stoff selbst ist es, der sich überschätzt und aufbläht, sich dabei jedoch uninteressant ausnimmt und letzten Endes versagt. Er hat einen Regisseur dieses Formats nicht verdient. Welchen Narren andererseits Friedkin an Tracy Letts' Schreiberei gefressen hat, begreife ich nicht recht. Er wird etwas daran oder auch darin finden, dass sich mir nicht erschließen will. Mein Problem, möglicherweise.

5/10

William Friedkin Profikiller White Trash Südstaaten Louisiana based on play Schwarze Komödie Satire


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DER ARZT VON ST. PAULI (Rolf Olsen/BRD 1968)


"Und du willst Arzt sein?"

Der Arzt von St. Pauli ~ BRD 1968
Directed By: Rolf Olsen

Alle auf St. Pauli lieben Dr. Jan Diffring (Curd Jürgens), Hurendoktor mit Herz, der nicht nur mit Spritze und Pinzette anderen aus der Klemme hilft. Als er dahinterkommt, dass ausgerechnet sein mutmaßlich viel erfolgreicherer Bruder Klaus (Horst Naumann), Gynäkologe mit schmutzigem Berufsethos in Hamburgs besseren Kreisen, unschuldige Patientinnen an die Orgien des schmierigen Industriellen Gersum (Friedrich Schütter) vermittelt, um die marode Praxiskasse zu sanieren, schreitet Jan zur lange überfälligen Abrechnung.

Mit dem "normannischen Kleiderschrank" Curd Jürgens verband Rolf Olsen eine fruchtbare Partnerschaft, beginnend mit diesem einmal mehr prächtig klischierten Sittengemälde aus Hamburgs weltberühmtem Hafenviertel. Hurerei, Boxkämpfe und besoffene Matrosen - das volle Kiezprogramm gibt es hier zu bestaunen und Olsen versichert uns glaubwürdig, dass erst die moralischen Instanzen vor Ort - Doktor, Pastor (Dieter Borsche) und Polizist (Hans W. Hamacher) mitsamt ihrer väterlichen Liebe fürs Milieu - den existenziell notwendigen Kitt für die hier zu jeder Tages- und Nachtstunde stattfindenden Exzesse darstellen. Besonders Jürgens' unnachahmlich-patriarchalische Art passt zu dieser ollen Binsenweisheit wie die Faust aufs Auge. Ansonsten verfügt "Der Arzt von St. Pauli" über exakt jene Grellheit, die man wünscht, wenn man es mit dieser Art Film aufnimmt. Dieser Rolf Olsen, das war schon eine Marke.

7/10

Rolf Olsen Kiez Sleaze Hamburg St.Pauli Brüder Arzt Prostitution


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COSMOPOLIS (David Cronenberg/CA, F 2012)


"Your prostate is asymmetrical."

Cosmopolis ~ CA/F 2012
Directed By: David Cronenberg

Der milliardenschwere Manager Eric Packer (Robert Pattinson) entschließt sich, sich von seiner Stretch-Limousine zum Frisör am anderen Ende der Stadt bringen zu lassen. Die Fahrt dorthin dauert mit Unterbrechungen infolge kleinerer Pausen und immer wieder zusteigender Mitfahrer fast den ganzen Tag, da zeitgleich der Präsident in der Stadt weilt und diverse Straßenzüge gesperrt sind. Doch nicht nur das Staatsoberhupt muss um seine Sicherheit fürchten; auch Packers Leben wird durch einen unbekannten Attentäter sowie die allgemeine kapitalismusfeindliche Stimmung in der Stadt bedroht.

Leider ist mir Don DeLillos Roman unbekannt, Cronenbergs Film aber finde ich ganz toll. In Dialog und Habitus eine Herausforderung ist die Geschichte eine wunderbar pointierte Abrechnung mit der Hochfinanz, der Schlipsträger derangiert sich selbst und wird schließlich zum verzweifelten Fraß seiner von ihm geschaffenen Monster und sukzessive auch seiner selbst. Cronenberg gelingen gleichermaßen kryptische wie begeisternde Bilder vom Innenleben jener gepanzerten und abdunkelbaren Stretchlimo, in denen die High-Class-Manager gleich zu Dutzenden durch die Millionenstadt kurven, periodisch begleitet von allerlei merkwürdigen bis einprägsamen Zeitgenossen.
Mit jener gleichermaßen verzerrten wie gestochen scharfen Perspektive auf die Dinge des Lebens knüpft Cronenberg an alte Klasse an und lässt nach diversen zwar spannenden, aber doch eher konventionell strukturierten Arbeiten Erinnerungen an Meisterwerke wie "Videodrome", "Dead Ringers" und "Naked Lunch" hervortreten. "Cosmopolis" stellt nachhaltig unter Beweis, dass dieser Regisseur noch lange nicht ausgebrannt ist, sondern dass vielmehr weiterhin mit ihm gerechnet werden muss.

9/10

Wall Street Finanzkrise David Cronenberg New York Don DeLillo Madness


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CLOCKERS (Spike Lee/USA 1995)


"If God created anything better than crack cocaine he kept that shit for hisself."

Clockers ~ USA 1995
Directed By: Spike Lee

Der in den Nelson-Mandela-Projects in Brooklyn wohnende, junge Strike (Mekhi Phifer) ist ein 'Clocker', was bedeutet, dass er als Teil eines großen Pushernetzwerks Crack für den kompromisslosen Großdealer Rodney (Delroy Lindo) vertickt, eine Art ungekrönten König der Projects. Weil das Pushen auf der Straße Strike zunehmend stresst und Nerven kostet - er leidet trotz seines Alters bereits an einem hefigen Magengeschwür - sehnt er sich nach einer etwas ruhigeren Position. Rodney sichert ihm diese zu - als Geschäftsführer einer örtlichen Burgerbude, die wiederum als Tarnung für Rodneys Crackgeschäfte fungiert. Der einzige Haken besteht darin, dass Strike zuvor den bisherigen Filialchef (Steve White) umlegen muss. Nach dessen gewaltsamem Ableben wird der Cop Klein (Harvey Keitel) auf Strike aufmerksam, muss jedoch Strikes sich zu der Tat bekennenden Bruder Victor (Isaiah Washington) in Gewahrsam nehmen. Für Strike wird derweil die Situation auf der Straße immer brenzliger: Nicht nur, dass Klein ihn permanent aufsucht und öffentlich verhört, es sitzen ihm auch noch der um seine Freiheit fürchtende Rodney, der verrückte Killer Errol (Tom Byrd) und der Streifenpolizist André (Keith David) im Nacken...

Nachdem zunächst Martin Scorsese Richard Prices ursprünglich in der Bronx angesiedelten Roman verfilmen wollte, sich dann aber dem ambitionierten Gangsterepos "Casino" widmete, übernahm Spike Lee die Inszenierung und Scorsese blieb immerhin als Co-Produzent an Bord. Lee macht aus der komplexen Geschichte mit zwei gleichberechtigten Protagonisten ein sozial engagiertes Brooklyn-Porträt, das zeigt, wie die gegenwärtige afroamerikanische Gemeinde sich dank gewissenloser Verbrecher wie Rodney Little selbst auffrisst. Dem berüchtigten Rattenfänger gleich schart Rodney, der als legale Fassade eine kleine Trinkhalle besitzt, zunächst sämtliche farbigen Jungs des Viertels über zehn Jahren um sich, beschäftigt sie für ein Taschengeld und kleine Geschenke, um sie dann ein paar Jahre wie eine fette Spinne später als 'Clockers' in sein komplexes Dealernetz einzuflechten. Strike ist eines der Opfer Rodneys und wandelt damit permanent auf Messers Schneide. Mittlerweile ist er jedoch alt genug, um seine gefährliche Situation zu realisieren - und die Sackgasse, in der er sich befindet. Doch der Strudel hat bereits einen zu hohen Sog entwickelt: Strike zieht seinen älteren Bruder Vic, einen eigentlich ehrbaren und besonnenen Familienvater sowie den ihn anhimmelnden kleinen Shorty (Peewee Love) mit in den Abgrund. Seine letzte Chance besteht schließlich in einer Flucht ohne Rückfahrkarte.
Eine von Lees vordringlichen Stärken besteht in der Inszenierung von Charakteren. Mit wenigen Ausnahmen ist Mekhi Phifer fast in jeder Szene des Films zu sehen und hinter dem vordergründig bildungsfernen ghetto kid entspinnt sich langsam das Bild eines ebenso komplexen wie bemitleidenswerten jungen Mannes. Ähnliches gilt auch für die interessanten Nebenfiguren wie den am amerikanischen Albtraum partizipierenden, ebenso charismatischen wie furchteinflößenden Rodney (Delroy Lindo in seiner stärksten Rolle) oder den Strike im Roman glreichgesetzten Rocco Klein, von Keitel in der ihm wie üblich zukommenden, coolen Art und Weise interpretiert. Hinzu kommen eine mit Farbfilter und hoher Körnigkeit "beschwerte" Photographie, die "Clockers" grandios-satte Bilder beschert sowie einige sich niemals abnutzende, herrliche Regieeinfälle wie etwa die brillante visuelle Vermischung von Verhör und Zeugenerinnerung, bekannt aus Fleischers "The Boston Strangler" oder Lees mittlerweile zum Markenzeichen avancierender, personenzentrierter Dollyshot, den man aus "Mean Streets" kennt.
Wiederum ein grandioser Joint.

9/10

Spike Lee New York Drogen Crack Martin Scorsese Richard Price


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CROOKLYN (Spike Lee/USA 1994)


"I ain't in this. Leave me out of this."

Crooklyn ~ USA 1994
Directed By: Spike Lee

Die neunjährige Troy Carmichael (Zelda Harris) erlebt in den siebziger Jahren einen turbulenten Sommer in ihrer Brooklyner Nachbarschaft: Gegen ihre vier Brüder (Carlton Williams, Sharif Rashed, Tse-Mach Washington, Christopher Knowings), drei davon älter als sie, behauptet sie sich, so gut es eben geht, die Mädels aus der Gegend stiften sie zu allerlei Blödsinn an und ihre Eltern (Delroy Lindo, Alfre Woodward) durchleben eine schwere Krise, die vor allem auf die kompromisslos-bohemische Lebenseinstellung ihres Dads zurückzuführen ist. Die letzten Wochen des Sommers muss Troy, obwohl sie überhaupt keine Lust dazu hat, bei ihrem Onkel Clem (Norman Matlock) und ihrer angeheirateten Tante Song (Frances Foster) in Georgia verbringen. Als sie zurückkommt, liegt ihre an Krebs erkrankte Mutter bereits im Sterben. Der Sommer endet für Troy, nunmehr zehn Jahre alt, mit ihr als einziger Frau in der Familie.

Einer der schönsten Coming-of-Age-Filme, die ich kenne, sozusagen das New-Yorker-Seventies-Äquivalent zu Harper Lees "To Kill A Mockingbird". Von Spike Lee und seinen zwei Geschwistern Cinqué und Joie gescriptet, ist "Crooklyn" die stark autobiographisch gefärbte Story einer Kindheit in Brooklyn, gleichermaßen lebensnah und warmherzig, so lustig wie traurig, gleichsam behütet und geprägt von den sich in Form mieser Gluesniffer und Kleinkriminalität ihren Weg in die kindliche Wahrnehmung erschleichen Abgründen des Lebens. Eine Liebeserklärung auch an die Turbulenzen innerhalb der Familie und das entsprechende Krisenmanagement, dazu erste Begegnungen mit und Behauptung gegenüber der Fremde und schließlich die Konfrontation mit dem Unausweichlichen. Dabei berichtet "Crooklyn" seine Geschichte aus der Sicht der kleinen Troy, die, von den Kids aus der Nachbarschaft scherzhaft 'Troy The Boy' genannt, schon früh das Weinen verlernt. Anders als ihre manches kindische Jammertal durchschreitenden Brüder neigt Troy dazu, ihren Ärger wahlweise herunterzuschlucken oder via ungefilterter Aggression nach außen zu transportieren. Das macht sie stark und hart, aber auch bedauernswert unfähig, ihre Trauer auszuleben. Ihren Aufenthalt bei den leicht durchschossenen Verwandten im Süden, bei der geradezu reizend beknackten Tante Song und ihrer zwar älteren, aber zugleich deutlich angepassteren Cousine Viola (Patriece Nelson) empfindet Troy als nachhaltig verquer. Lee pronociert diese Wahrnehmung formal durch die Nichtentzerrung eines anamorphotisch aufgenommenen Bildes, was zur Folge hat, dass das Bild zur Mitte hin extrem gestaucht wird und diverse Kinogänger, Vorführer und Videonutzer dachten, ihre Kopie wäre im Eimer. Die Kritik reagierte auf diesen unangekündigte stilistische Zäsur unverständig bis ablehnend - nicht ganz zu Unrecht vermutlich. Aber Experimentierfreude jedweder Kuleur soll man ja grundsätzlich gelten lassen. Am Ende findet Troy dann, zurück in Brooklyn und im regulierten Bildformat, ihre neue Rolle als Kraftkleber für die krisenanfällige Familie Carmichael. Offenbar war Lees Schwester Joie, die als Troys Tante auch einen kleinen Nebenpart ausfüllt, die treibende narrative Kraft hinter "Crooklyn". Sie erhält eine geradezu bezaubernde Entsprechung in der zum Drehzeitpunkt tatsächlich erst acht Jahre alten, eine geradezu vortreffliche Kinderdarstellung gebenden Zelda Harris. Dazu eine perfekt kompilierte Songauswahl und fertig ist ein - wenn auch künstlerisch nicht stets zur Gänze ausbalancierter - Prachtfilm.

10/10

Spike Lee New York Jazz Kinder Familie Ehe Ensemblefilm Sommer Krebs period piece Coming of Age


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NOVECENTO (Bernardo Bertolucci/I 1976)


Zitat entfällt.

Novecento (1900) ~ I 1976
Directed By: Bernardo Bertolucci

Um 1890 wird den zwei alten Patriarchen Alfredo Berlingheri (Burt Lancaster) - Großgrundbesitzer eines Landguts in der Emilia-Romagna - und Leo Dalcò (Sterling Hayden) - Berlingheris Verwalter und Vorabeiter - zur selben Stunde jeweils ein Enkel geboren. Als Kinder sind Alfredo (Paolo Pavesi) und Olmo (Roberto Maccanti) so gut befreundet, wie es der sie umgebende Standesdünkel gerade eben zulässt, ihre Jugend trennt sie jedoch vorübergehgend. Als Olmo (Gerard Depardieu) als Kriegsveteran auf den Hof zurückkehrt, findet er den opportunistischen und sich später als bösartig gewalttätig entpuppenden Attila (Donald Sutherland) als neuen Vormann. Alfredo (Robert De Niro) ist derweil Offizier geworden, ohne je in den Krieg ziehen zu müssen. Beide lernen eine Frau kennen. Olmos geliebte Anita (Stafania Sandrelli) stirbt bei der Geburt seiner Tochter, Alfredo heiratet seine Ada (Domique Sanda), doch Hochzeit und Ehe sind überschattet von Blut, Lügen und Alfredos ewiger Zauderei. Als viele Jahre später - Ada hat Alfredo längst verlassen und Olmo musste wegen einer Beleidigung des mittlerweile zu einem Schwarzhemd-Protagonisten gewordenen Attila fliehen, der Faschismus aus dem Land wird und eine sozialistischze Übergangsregierung gebildet wird, taucht Olmo wieder auf und macht seinem alten Freund Alfredo, nunmehr seiner hochherrschaftlichen Stellung enthoben, den Femeprozess.

Bertoluccis gewaltiges Porträt des Aufkeimen und Niederschlagen des italienischen Faschismus vor dem vergleichsweise intimen Hintergrund zweier ungleicher Freunde ist bis heute ein herausragendes Beispiel für kontroverses Filmemachen. Wegen einiger mitunter nicht immer geschmackssicherer Zeigefreudigkeiten gerügt und sogar gehasst, von Bertolucci, seit 68 KPI-Mitglied, als kommunistisches Manifest deklariert (was freilich in sich beißendem Widerspruch zur teuren Produktion und ausstatterischen Pracht des Filmes steht) und aufgrund vieler kleinerer und größerer Mäkel stets aus allen Winkeln heraus kritisiert, scheint "Novecento" bis heute keine wirklichen Freunde gefunden zu haben. Ich sehe mir den Film alle paar Jahre dennoch sehr gern an, wenn Muße, Zeit und Entspannung es mir gestatten. In grob vier Akte, die den Jahreszeiten zugeordnet sind, aufgeteilt, entspannt sich die wahre Komplexität des monströsen Werkes tatsächlich immer wieder erst mit ein paar Tagen Abstand. Dann vergesse ich die drei, vier visuellen Anstößigkeiten des Films, die einen im Zuge der Betrachtung noch durchaus auf Trab halten, und wende mich retrospektiv dem Gesamtbild zu; - jenes schlicht ein Beispiel für brillantes Filmemachen. Mit aller gebotenen Eleganz nähert sich Bertolucci seiner schwierig aufzuzäumenden Protagonisten-Dublone und nimmt sich ganz einfach die Zeit, die Charakterentwicklung der beiden Männer nicht per Holzhammer einzupflanzen, sondern sie sich entwickeln und reifen zu lassen. Episoden, Anekdoten, Wichtigeres und Unwichtigeres - am Ende fällt man tatsächlich kurz der Illusion anheim, Zeuge zweier Leben geworden zu sein, Ismen hin oder her. Und darin liegt das wahre Verdienst Bertoluccis und seines Films, der eigentlich eher filmgewordene Weltliteratur repräsentiert.

9/10

period piece Freundschaft Biopic Faschismus Italien Emilia-Romagna Kommunismus Skandalfilm


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JUNGLE FEVER (Spike Lee/USA 1991)


"What happened to the color TV?" - "Mama, I smoked the color TV."

Jungle Fever ~ USA 1991
Directed By: Spike Lee

Als der bei einer Architektenfirma angestellte Flipper Purify (Wesley Snipes) die Italoamerikanerin Angela Tucci (Annabella Sciorra) als neue Sekretärin zugeteilt bekommt, ist er zunächst skeptisch. Bald jedoch verliebt er sich in die attraktive, junge Frau. Als Flippers Gattin (Lonette McKee) von der sich ausweitenden Affäre Wind bekommt, setzt sie ihn kurzerhand vor die Tür. Zunächst mietet Flipper downtown ein Appartment für sich und Angie, doch die Widerstände gegen ihre Beziehung werden nicht geringer. Hinzu kommen weitere familiäre Probleme Flippers, die sich in seinem religionsfanatischen Vater (Ossie Davis) und seinem crackabhängigen Bruder Gator (Samuel L. Jackson) manifestieren. Am Ende kehrt Flipper reumütig zu seiner Familie zurück, doch die Stadt hat sich noch wieder mit ihm befriedet.

Nicht minder diskursträchtig als in "Do The Right Thing" findet Spike Lee diesmal eine hypersensible Schnittstelle zwischen Brooklyn und Manhattan, genauer gesagt zwischen Bensonhurst und Harlem. Die von vornherein als unmöglich eingestufte Liebesbeziehung zweier Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und vor allem unterschiedlicher ethnischer Hintergründe steht dabei jedoch nur als Hauptstrang inmitten eines kaleidoskopartig entsponnenen Netzes familiärer und freundschaftlicher Beziehungen in New York. Lee findet teils verstörende Bilder für die damals die Stadt heimsuchende, ganze Straßenzüge in Drogenhöllen verwandelnde Crack-Problematik, der das uninformierte Bürgertum wie jeder Form von Sucht nur hilflos gegenüberstehen konnte. Eine großartige Szene zeigt Flipper, wie er sich zu Stevie Wonders "Living For The City" auf die erboste Suche nach seinem älteren Bruder Gator begibt. Gator hat soeben den Fernseher seiner Eltern in Dope verwandelt und ist gerade dabei, ihn zu inhalieren, als Flipper ihn in einem ausschließlich von Crackheads bevölkerten Rohbau ausfindig macht. Dann ist da Angies Jugendliebe Paulie (John Turturro), der die Trinkhalle seines ewig zeterndenden Vaters (Anthony Quinn) führt und der sich in die schwarze Schönheit Orin (Tyra Ferrell) verguckt. Und hier gönnt uns Lee gleich noch einen veritablen Hoffnungsschimmer für die Zukunft: Dieses Paar, ohne familiäre Verpflichtungen, wird entgegen allen Widerständen sein Zusammensein meistern.

10/10

Ernest Dickerson New York Ethnics Amour fou Ehe Drogen Crack Religion Ensemblefilm Spike Lee Rassismus


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DO THE RIGHT THING (Spike Lee/USA 1989)


"Hey Sal, how come there ain't no brothers on the wall?"

Do The Right Thing ~ USA 1989
Directed By: Spike Lee

Ein siedend heißer Sommertag in einem hauptsächlich von Schwarzen bewohnten Block in Brooklyn, an dem ohnehin schon permanent die Emotionen hochkochen, endet mit polizeilicher Gewalt und der blindwütenden Zerstörung der eigentlich stets als hiesige Institution betrachteten Pizzeria des Italoamerikaners Sal (Danny Aiello).

Kurze Unterbrechung der Spielberg-Schau. Ein sehr guter Freund fliegt am nächsten Wochenende nach New York und wollte daher gern zwei nicht ganz alltägliche Filme über die Stadt sehen. Meinerseits nicht ganz uneigennützig suggeriert blieben wir dann bei einer Spike-Lee-Dublette hängen.
Dieses opus magnum des zumindest ehedem als recht unbequem eingestuften Regisseurs dürfte wohl sein hervorstechendstes Werk sein. Mit einer großartigen Besetzung im Rücken schuf Lee eine gnadenlos durchstilisierte Parabel über den Zusammenstoß der Ethnien. Begünstigt durch das unerträglich heiße Klima an diesem Tag kochen die lange schwelenden Konflikte hoch, bis man eine Notgemeinschaft bildet, um dem einzigen echten Alien in dieser Ecke der Stadt die Meinung zu geigen - allerdings auf eine wenig existenzfördernde Art. Wer Lee seiner teilweise unbedachten Aussagen zum Trotz als farbigen Rassisten oder Radikalen bezeichnet, der sollte sich "Do The Right Thing" als Antidot genehmigen. In einer blendend hellsichtig geschriebenen Mischung aus Realitätsbeobachtung und Klischeenutzung berichtet der Film über die bildungsferne Kurzsichtigkeit der Ethnien, deren nach außen gerichtete Arroganz kaum Hoffnung auf bessere Tage zulässt. Am Ende erfolgt ein aus blinder Aggression heraus erwachsener, weiterer Schritt zur Selbstghettoisierung: Zwar schmeckt die Pizza der weißen Spaghettis hervorragend, aber andererseits sind diese Leute hier fehl am Platze und sollen lieber verschwinden. Dass man ein paar Tage später wieder zur Besinnung kommen und Sal und seinen Söhnen (John Turturro, Richard Edlund) schwer nachtrauern wird, steht ebensowenig außer Frage wie die Tatsache, dass der koreanische Krämer an der Ecke nicht minder gefährdet ist.
Ein vor Vitalität und leicht verhohlener Menschenliebe strotzendes Meisterwerk.

10/10

Spike Lee Ernest Dickerson New York Ethnics Sommer Ensemblefilm Rassismus





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