Zum Inhalt wechseln


In meinem Herzen haben viele Filme Platz 2.0


Foto

THE SUGARLAND EXPRESS (Steven Spielberg/USA 1974)


"We're in real trouble."

The Sugarland Express ~ USA 1974
Directed By: Steven Spielberg

Das White-Trash-Pärchen Lou Jean (Goldie Hawn) und Clovis Poplin (William Atherton) mag sich nicht damit abfinden, dass ihr kleiner Sohn Langston (Harrison Zanuck) bei Pflegeeltern aufwächst. Also befreit Lou Jean Clovis kurzerhand aus der Besserungsanstalt. Gemeinsam kapern sie einen Streifenwagen mitsamt unglückseligem Fahrer (Michael Sacks) und machen sich auf den Weg quer durch den Stadt nach Sugarland, um Langston abzuholen. Die sie verfolgende Polizeieskorte wird dabei immer größer, ebenso wie die Medienwirksamkeit und Popularität, die Lou Jean und Clovis als moderne Outlaws bei der Bevölkerung genießen.

Mit "The Sugarland Express" hatte Spielberg bereits den Großteil seines Hausstabs beieinander: Ohne Vilmos Zsigmond, Joe Alves und John Williams geht künftig nichts mehr. Als Sujet für sein lang herbeigesehntes Kinodebüt wählte Spielberg einen urtypischen New-Hollywood-Topos: Das Outlaw-Pärchen auf der Flucht. They fought the law and the law won. Mit "Bonnie And Clyde" und "The Honeymoon Killers" ging's los, dann kamen noch "Thieves Like Us" und "Badlands", womit im Prinzip bereits alles zum Thema gesagt ist. Als thematisch innovativ kann man "The Sugarland Express" also nicht eben bezeichnen, eher als "sure thing" für einen Start ins Filmgeschäft. Glücklicherweise macht Spielberg auch nicht den Fehler, sich hundertprozentig an die Zugkraft seines Plots zu lehnen. Stattdessen entwickelt er bereits hier sein Talent, visuelle Gags möglichst trocken darzubieten, nutzt das Panavision-Verfahren vortrefflich, um häufig mehrere Dinge parallel im Bild zu zeigen und evoziert mit aller Macht Sympathie für sein Antihelden-Paar, von dem man natürlich von vornherein weiß, dass es für ein Happy End denkbar ungeeignet ist.

7/10

Steven Spielberg Texas Road Movie Couple on the Loose car chase New Hollywood Hal Barwood


Foto

LA CITTÀ SCONVOLTA: CACCIA SPIETATA AI RAPITORI (Fernando Di Leo/I 1975)


Zitat entfällt.

La Città Sconvolta: Caccia Spietata Ai Rapitori (Auge um Auge) ~ I 1975
Directed By: Fernando Di Leo

Als ein Gangstersyndikat Antonio (Francesco Impeciati), den jungen Sohnemann des reichen Bauunternehmers Filippini (James Mason) entführt, nehmen sie aus Gründen der Bequemlichkeit auch gleich noch Antonios Freund Fabrizio (Marco Liofredi) mit. Dessen Vater, der verwitwete KFZ-Mechaniker Mario Colella (Luc Merenda), könnte jedoch bestenfalls Almosen als Lösegeld berappen. Der korrupte Filippini erweist sich indes als höchst geizig und ziert sich, die verlangte Summe zu zahlen, bis die Entführer Fabrizio als Warnung hinrichten. Für Colella gibt es kein Halten mehr: Im Alleingang bringt er das gesamte Syndikat zur Strecke.

Profitorientiertes Kidnapping zählte im Italien der Siebziger zum kriminellen Tagesgeschäft, wie es auch Di Leos Film recht schön veranschaulicht. Die Polizei, selbst in Person ehrbarer Beamter wie des in den Fall involvierten Commissario Magrini (Vittorio Caprioli), resigniert angesichts der Ohnmacht, die sie tagtäglich erleben muss. Auf der anderen Seite gibt es die reichen Großbürger, die ihr Kapital selten mit feineren Methoden erwirtschaftet haben als es nunmehr die sie erpressenden Kidnapper tun. Eifersüchtig wie ein seinen Knochen bewachender Köter weigern sie sich, auf die Lösegeldforderungen einzugehen und schachern um die Leben ihrer Lieben. Was passiert, wenn da eine entschlossene Seele vom anderen Ende der Nahrungskette, nämlich ein ebenso grundsolider wie entschlossener Malocher, in eine solche Geschichte verwickelt wird und nichts tun kann als warten, zuschauen und schließlich verzweifeln, genau davon erzählt "La Città Sconvolta". Das dritte Filmakt widmet sich ganz dem ebenso unbarmherzig wie minutiös ausgeführten Racheplan Colellas, dessen Vergeltung keine Atempause kennt und der seinen großen Kehraus ebenso zielstrebig bis zum allerletzten Hintermann durchführt. Wie gut schließlich einer wie Di Leo solche Sachen in Szene setzen kann, das weiß man ja.

7/10

Fernando Di Leo Mailand Kidnapping Rache Selbstjustiz


Foto

THE COMPANY MEN (John Wells/USA, UK 2010)


"My life ended and nobody noticed."

The Company Men ~ USA/UK 2010
Directed By: John Wells

Wähhrebd der Rezession verlieren diverse Mitarbeiter des Großkonzerns GTX ihre Jobs wegen personeller Einsparungen, darunter auch der selbstsichere Manager Bobby Walker (Ben Affleck). Abgeschoben in eine Bewerbungsagentur mit dämlichen Motivationsseminaren muss Bobby diverse Vorstellungsschlppen hinnehmen, bevor er realisiert, dass er seinen ehemaligen Lebensstandard nicht mehr halten kann. Er beginnt zähneknirschend, für seinen Schwager Jack (Kevin Costner) in dessen Baufirma zu arbeiten. Bobbys vormaliger Kollege Phil Woodward (Chris Cooper), ebenfalls von der Rationalisierungsmaßnahme betroffen, kommt weitaus weniger gut mit seiner Situation zurecht, derweil Gene McClary (Tommy Lee Jones), vormals rechte Hand des Unternehmenschefs Salinger (Craig T. Nelson) erkennt, dass ein Ende auch Chancen bietet.

Braves Kinostück zur globalen Rezession der mittleren 00er Jahre, der sich kritisch gibt, dabei jedoch eher wirkt wie ein von der Unternehmeswirtschaft höchtselbst gepushter Motivationsfilm für entlassene Männer ab 40. "The Company Men" schöpft Hoffnung, wo es eigentlich keine gibt, macht Mut, wo er fehl am Platze ist und verkauft sein realistisches Sujet als märchenhafte Erste-Hilfe-Maßnahme für frustrierte Ex-Angestellte zwischen der 150. und 151. Neubewerbung. Immerhin: Ein bisschen Schimpfen auf die Bonzen gibt's auch noch obendrauf; Craig T. Nelson, einst braver Familienvater in "Poltergeist" und fieser Bösewicht diverser Achtziger-Actionfilme, symbolisiert die ganze Perfidie der Superreichen. Nicht die Entlassungszahlen interessieren ihn primär, sondern die fachgerechte Architektur der luxuriösen neuen Chefetage, die selbst um den Preis von weiteren fünfzig Entlassungen erstehen soll. Glücklicherweise gibt es jedoch auch noch idealistische Großverdiener (hier: Tommy Lee Jones), die nie alt genug sind, um nicht nochmal neu anzufangen, sich Jugendträume zu erfüllen und ganz nebenbei zum gerechten Existenzgründer avancieren.
Dass Affleck als Malocher glücklich wird, nachdem er sich von seinem sechsstelligen Jahresgehalt verabschieden muss, ist dann ein wenig zuviel des Guten. Man präsentiere mir ein reales Pendant und ich bewahre Stillschweigen - das dürfte allerdings schwierig werden (das Präsentieren, nicht das Bewahren). Ansonsten pläsiert immerhin die gemächlich-unaufgeregte Inszenierung des Films, der aber wie gesagt stets handzahm bleibt und niemandem wehtun möchte.
Wer eine wahrhaft schneidige Arbeitswelt-Parabel sehen möchte, der sollte sich das Klinkenputzerdrama "Glengarry Glen Ross" anschauen, immer noch das Nonplusultra dieser Filmsparte.

6/10

John Wells Familie Freundschaft Ensemblefilm Boston Suizid


Foto

THE WOMAN (Lucky McKee/USA 2011)


"So what are you gonna do?"

The Woman ~ USA 2011
Directed By: Lucky McKee

Der erfolgreiche Anwalt und Familienvater Chris Cleek (Sean Bridgers) entdeckt beim Jagen im Wald eine verwahrlost lebende Frau (Polyanna McIntosh). Wie ein Tier fängt er sie ein und kettet sie in seinem Kellerverschlag an. Seiner Familie, Gattin Belle (Angela Bettis), der ältesten Tochter Peggy (Lauren Ashley Carter), Sohn Brian (Zach Rand) und der jüngsten, Darlin (Shyla Molhusen) erklärt Chris feierlich und wie selbstverständlich, er habe sich vorgenommen, die Frau zu domestizieren, sie also im Zuge eines Pseudoexperiments nach und nach der Zivilisation anzupassen, als sei er praktizierender Behaviorist. Tatsächlich wird immer mehr offensichtlich, dass Cleek die Frau nur festhält, um seine sexuellen Gelüste an ihr abarbeiten zu können und dass sich hinter der Fassade der braven Spießerfamilie schon seit Langem ein perverser Albtraum etabliert hat.

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich bis zur Postlektüre nach dem mich unvorbereiteterweise komplett plattwalzenden "The Woman" noch nie etwas bewusst von Jack Ketchum gehört habe, offenbar jawohl eine unerlässliche Hausnummer innerhalb der modernen Horrorliteratur. Auch wusste ich demzufolge natürlich nicht, dass die Romanvorlage bereits der dritte Teil einer Trilogie ist und der zweite (den ich mir schleunigst nachbestellt habe) bereits verfilmt wurde.
McKees gewaltiger Film, ganz ohne Frage ein Meilenstein des augenzwinkernden transgressiven Kinos, erklärt jedenfalls der postmodernen Misogynie den rücksichtslosen, offenen Krieg und sollte eigentlich zum therapeutischen Pflichtprogramm für jeden (potenziellen) Frauenfeind und Kinderschänder ernannt werden. Chris Cleek, Zerrspiegelbild des gelackten Bourgeois und Familienvaters, hinter dessen glattgebügelter, wohlfrisierter Stirn sich die schlimmsten Testosteronphantasien breitmachen, ist das zugleich bedauerns- und hassenswerteste Individuum, das ich seit langem im Film ausmachen konnte. "The Woman" schürt die sich gegen ihn richtende Verachtung auf eine so effektive Weise, dass sein lyrischer Tod am Ende noch viel zu gut erscheint: Diesem "Menschen" wünscht man Höllenqualen bis in alle Ewigkeit. Nach einem solchen Pygmalion der Paraphilie, dieser bitterbösen Diametralkarikatur des vom Regisseur selbst gespielten Mediziners Itard aus Truffauts "L'Enfant Sauvage", hat man das Gefühl, den Akteur Sean Bridgers aber auch wirklich nie mehr in irgendeinem Film, geschweige denn im realen Leben sehen zu wollen. Auch eine Leistung.
Angesichts der Erfahrungen innerhalb meines Berufsstandes bin ich als Laienfuturologe ja schon seit längerem der latenten Erwartung, dass uns mittelfristig eine Amazonengesellschaft bevorstünde. Im Hinblick auf die von "The Woman" beschworene, katalytische Kraft urtümlicher Weiblichkeit fühle ich mich darin nurmehr bestätigt.
Wollte nach "The Woman" ursprünglich noch einen weiteren Film schauen. Ging nicht. War zu kaputt.

9/10

Satire Lucky McKee torture porn Hommage Kannibalismus Jack Ketchum Terrorfilm Feminismus Splatter Parabel Transgression Sexueller Missbrauch


Foto

CARRIE (William Wyler/USA 1952)


"You still have time, Carrie. Move on now. Find someone to love. It's a great experience."

Carrie ~ USA 1952
Directed By: William Wyler

Im Chicago des späten 19. Jahrhunderts lernt das frisch vom Lande hinzugezogene Mädchen Carrie Meeber (Jennifer Jones) zunächst den Filou Drouet (Eddie Albert) kennen, der sie fortan als eine Art Mätresse hält. Später gerät Carrie dann an den deutlich älteren Oberkellner George Hurstwood (Laurence Olivier), mit dem sich eine aufrichtige Liebesbeziehung anbahnt. Doch auch diese bleibt nicht problemlos: Nicht nur, dass George wegen Carrie seine Familie verlässt, veruntreut er auch noch eine größere Geldsumme. Bald holt die unrühmliche Vergangenheit das nach New York geflüchtete Liebespaar ein und es kommt zur schmerzvollen Trennung. Während Carrie sich allmählich am Broadway einen Namen macht, landet George ganz unten in der Gosse.

Hieße Wylers Film "George", er wäre mindestens ebenso figurentreu wie unter seinem schlussendlichen Titel, doch das nur nebenbei. In "Carrie" erhält der Meisterregisseur wieder ausgiebig Gelegenheit, seinem Faible für unglückselig verlaufende Schicksale zu frönen und sein Personal durch so ziemlich jede existenzielle Vorhölle zu jagen, bis am Schluss dann endgültig alles vor die Hunde geht. Wenngleich die pikanteren Elemente aus Dreislers Vorlage ausgespart bzw. lediglich angedeutet werden (Carries Selbstprostitutierung, Georges Suizid), bleibt die Roman und Film verbindende Tendenz doch allseits stabil. Wie Laurence Olivier, sonst ganz der arrogante Dandy mit einem u.U. leichten bis mittelschweren Knall unterm Toupet, Mitgefühl für seine so verletzliche Figur des George Hurstwood evoziert mit einer so ehrlichen Deklamierung seines ganz persönlichen Glücksanspruchs, das gehört ganz ohne Frage zu den darstellerischen Höhepunkten mindestens der fünfziger Jahre. Überlebensgroße Schmonzette, daher unbedingt bei Kerzenschein genießen!

9/10

William Wyler Chicago New York Fin de Siècle period piece Theodore Dreisler Emanzipation amour fou


Foto

OLIVER TWIST (David Lean/UK 1948)


"Where is this audacious young savage?"

Oliver Twist ~ UK 1948
Directed By: David Lean

Die frühen, turbulenten Lebensjahre des Waisenknaben Oliver Twist (John Howard Davies), geboren von einer im Kindbett verstorbenen, gehetzten jungen Mutter, aufgewachsen unter existenzverspottenden Umständen in einem düsteren Waisenstift, als billige Arbeitskraft missbraucht von einem Sargmacher (Gibb McLaughlin), schließlich nach London geflüchtet, dort unter die Fittiche des raffgierigen Gauners und Seelenverkäufers Fagin (Alec Guinness) genommen um nach einigen Verwicklungen, die ihn mehrfach bald das Leben kosten, endlich in die Obhut seines lieben Großvaters (Henry Stephenson) zu gelangen.

Leans zweite Dickens-Verfilmung ist noch formvollendeter als die erste und wäre nicht jener spezielle mystische Touch, der "Great Expectations" so auszeichnet und der ganz besonders dessen Kinoqualitäten untermauert, dieser mehr als ebenbürtig. So bleibt das mitreißende, bildgewaltige Epos einer Kindheit, deren schicksalhafte Wendungen in einer Zeit, die Kinder erwiesenermaßen hasste, das eine ums andere Mal zu tiefster Betrübnis anhalten, ganz so, wie es bereits Dickens' epochale Geschichte vollbringt. Bekanntermaßen ist diese ein Meilenstein humanistischer LIteratur und David Lean, lebenslanger Kompositeur schmuckster Leinwand-Grandezza, rettet sie nahezu verlustfrei in sein Medium hinüber. Von der denkwürdigen, berühmten Guinness-Darstellung des Fagin bis hin zu Bill Sikes' (Robert Newton) unglückseliger Promenadentöle durchleidet man samt und sonders sämtliche Figurenschicksale, etwas, das lediglich ganz große Tragödieninszenierer wie eben dieser Brite so gewinnend zum Leben zu erwecken vermögen.
Ein Hochgenuss, selbst für härteste Kerle nur in Verbindung mit inflationärem Herzschmerz zu verdauen!

10/10

David Lean Charles Dickens London period piece


Foto

KNOCK ON ANY DOOR (Nicholas Ray/USA 1949)


"Live fast, die young, leave a good-looking corpse."

Knock On Any Door (Vor verschlossenen Türen) ~ USA 1949
Directed By: Nicholas Ray

Der aus einem Elendsviertel stammende Anwalt Andrew Morton kennt ihn schon lange, den jungen Delinquenten Nick Romano (John Derek), der immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Diesmal ist es jedoch ernst: Nick soll einen Polizisten erschossen haben; im Falle einer Verurteilung wartet die Todesstrafe auf ihn. Nick selbst beteuert derweil seine Unschuld. Ein weiteres Mal lässt sich Morton dazu hinreißen, einen von Nicks Fällen zu übernehmen, zumal er sich für den schiefen Werdegang des Jungen mitverantwortlich fühlt, seit dessen Vater wegen einer liderlichen Verteidigung durch einen von Mortons Kompagnons im Gefängnis sterben musste.

In seinem zweiten Film verfolgt Nicholas Ray die hohe Schule des Sozialdramas und versetzt seinem Publikum die gesellschaftskritische Injektion sozusagen intrakardial. Und sie funktioniert vortrefflich, diese Art der Milieuschilderung, in der einmal mehr Bogey als tapferer Anwalt (diesmal als Verteidiger) und unbestechliches Gewissen der Bevölkerung auftritt. Sein Schlussmonolog, einer der Väter aller filmgerichtlichen Schlussmonologe bzw. -plädoyers, ist in Inhalt und Darbietung von schneidender, bitterer Eloquenz, zumal sich ihm vorher praktisch das Blatt in der Hand gedreht hat. Am Ende muss alles mit anderen Augen gesehen werden, der unsympathische Staatsanwalt, der Fall, ja, das Leben selbst. Und auch Andrew Morton, der selbst das beste Beispiel dafür symbolisiert, dass am Ende jeder eine Wahl hat.

9/10

Biopic Courtroom Slum Los Angeles Nicholas Ray film noir


Foto

THEY SHOOT HORSES, DON'T THEY? (Sydney Pollack/USA 1969)


"It isn't a contest. It's a show."

They Shoot Horses, Don't They (Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss) ~ USA 1969
Directed By: Sydney Pollack

Während der Depressionsära hält der Showman Rocky (Gig Young) berühmt-berüchtigte Marathon-Tänze ab, die als Publikumsspektakel gelten und ihre Teilnehmer mit sieben täglichen Mahlzeiten und einem Hauptgewinn von 1500 Dollar locken. Kleine Zwischenpausen erlauben den Tanzpartnern ein kontinuierliches Weitermachen. Für die sich unnahbar gebende Gloria ist der Geldpreis die größte Verlockung, bis sie den wahren Zynismus der Veranstaltung durchschaut.

Bitterböses Sozialdrama und einer von Pollacks besten Filmen. Wie viele Werke der Ära New Hollywood bedient sich "They Shoot Horses" des harschen Realismus der Depressionsära, um dem seinerzeit durch die bekannten Affären wackelnden Staat durch die Aufarbeitung vergangener Sünden noch zusätzlich ans Bein pinkeln zu können. Der porträtierte Tanzmarathon unterscheidet sich in seiner ausbeuterischen Gestalt kaum von den Zirkusspektakeln im alten Rom bzw. nimmt er die dystopischen Ausmaße perverser Reality-Show-Formate an, zeitgebunden allerdings ohne den massenmedialen Kontext. Auch hier geht es keineswegs um Gewinn oder Verlust, sondern um die pure Befriedigung sadistisch-voyeuristischer Publikumsgelüste: Während des weit über eintausend Stunden dauernden "Tanzes" brechen die Menschen zusammen, werden wahnsinnig, sterben. Eine hochschwangere Frau (Bonnie Bedelia) macht einzig und allein zugunsten ihres Mannes (Bruce Dern) und ihres ungeborenen Kindes mit, eine psychisch labile Laienschauspielerin (Susannah York) erhofft sich, für Hollywood entdeckt zu werden. Am Ende steht für sie alle die bittere Erkenntnis, lediglich auswechselbare Rädchen in einem irrsinnigen Getriebe zu sein. Getragen von jeweils bemerkenswert intensivem Spiel und Pollacks dichter, unbarmherziger Inszenierung eines der Meisterwerke seiner Zeit.

9/10

Great Depression Tanz New Hollywood Sydney Pollack period piece Kalifornien


Foto

THE MOLLY MAGUIRES (Martin Ritt/USA 1970)


"I am what you think!"

The Molly Maguires (Verflucht bis zum jüngsten Tag) ~ USA 1970
Directed By: Martin Ritt

Pennsylvania, 1876: In einer kleinen, aus Briten und Iren bestehenden Bergmannskolonie begehren einige der Arbeiter gegen die inhumanen Bedingungen auf, unter denen sie dort arbeiten müssen. Da sie dabei in höchstem Maße gewalttätig und gesetzeswidrig vorgehen, sind sie nicht nur den Industriebossen, sondern auch der Polizei ein Dorn im Auge. Der Polizist James McParlan (Richard Harris) lässt sich unter falschem Namen in die engmaschig strukturierte Gesellschaft der Arbeiter eingeschleusen, um die sich selbst "Molly Maguires" nennenden Werkssaboteure von innen sprengen zu können.

Undercover-Storys sind stets ein dankbarer Stoff für große Gefühle und altmodische Schuld-und-Sühne-Geschichten. Zumeist wird jemand aus einer mit strengem Ehrenkodex geführten Ethnie zum Verräter oder Denunzianten, weil er irgendwann die Seiten gewechselt hat und nun für die Obrigkeit tätig ist. Ähnlich verhält es sich auch in "The Molly Maguires": Jamie McParlan, der sich kurzum in McKenna umbenennt, kennt die insulanischen Gepflogenheiten noch von der Pike auf und lässt sich von Jack Kehoe (Sean Connery), dem Kopf der Maguires, immer wieder auf seine Seite ziehen, auch wenn er es später nicht zugeben wird. Ferner gilt es zu bedenken, dass die hier untergrabene Vereinigung sich bestenfalls indirekt als 'kriminell' kategorisieren lässt: Die Molly Maguires betreiben lediglich Arbeitskampf in Guerilla-Form, eine Notwendigkeit angesichts der sie uimgebenden, kapitalistischen Willkür. Für sein rußgeschwärztes Drama findet Ritt herrlich nostalgische Bilder (James Wong Howe) und kann mit Henry Mancini einen Komponisten vorweise, der sich auch hervorragend auf irische Folkklänge versteht.

8/10

Bergarbeit Martin Ritt Pennsylvania ethnics Gewerkschaft Working Class Historie period piece


Foto

DIE VORSTADTKROKODILE (Wolfgang Becker/BRD 1977)


"Habter gesehen, wie man's macht?"

Die Vorstadtkrokodile ~ BRD 1977
Directed By: Wolfgang Becker

Die "Vorstadtkrokodile" sind zehn Kinder, die sich zu einer Bande mit strengem Ehrenkodex zusammen geschlossen haben. Der an den Rollstuhl gebundene Kurt (Birgit Komanns) rettet dem neuesten Mitglied Hannes (Thomas Bohnen) das Leben, als dieser bei einer Mutprobe fast vom Dach einer Ziegelei fällt. Wegen Kurts schneller Reaktion kann die Feuerwehr Hannes in letzter Sekunde aus seiner misslichen Lage (er hängt an einer Regenrinne) befreien. Kurt, der von den Krokodilen wegen seiner Behinderung stets gemieden wurde, kann sich nun langsam das Vertrauen und die Freundschaft der anderen Kinder sichern. Brenzlig wird es wiederum, als Kurt einem Trio (Martin Semmelrogge, Thomas Naumann, Hans-Gerd Rudolph) jugendlicher Einbrecher auf die Spur kommt, von denen einer der ältere Bruder des Krokodils Frank (Heiner Beeker) ist...

Sehr liebenswerte, erste Verfilmung des berühmten Kinderbuchs von Max von der Grün, das ja bereits seit einigen Jahren zum Kanon der Schulliteratur zählt. Der pädagogische Nährwert hält sich dabei relativ geschickt getarnt unter der zumindest halbwegs authentischen Schilderung vorstädtischen Kinder-Milieus. Buch und Film bilden eine Lehrstunde in Sachen Toleranz, ohne dabei jemals auch nur ansatzweise Gefahr zu laufen, kitschig oder pathetisch zu werden. Darin liegt überhaupt das große Geschick des Stoffes, den behinderten Kurt, der seinen Spitznamen "Rennfahrer" ganz flugs weghat, zum einen als Protagonisten und Identifikationsfigur einzuführen und ihn trotz seiner körperlichen Einschränkung als mindestens genauso mutig und clever wie seine neuen Freunde zu charakterisieren. Im Film übernahm diese Rolle ein Mädchen (Birgit Komanns), das dann später von Oliver Rohrbeck nachsynchronisiert wurde. Diese Parallele ist ganz interessant, war doch Rohrbeck in den siebziger und achtziger Jahren Stammsprecher mehrer Kinderserien des Hörspiellabels 'Europa', die sich oftmals als stark von von der Grüns Geschichte beeinflusst präsentierten. Die Kinder wurden allesamt von Laien gespielt, was sich bezüglich Beckers Authentizitätsanspruchs als hervorragende Entscheidung erwies. Der supereklig aufspielende Martin Semmelrogge als böser Egon ist aus dem Film nicht wegzudenken. Überhaupt wirken die Menschen hier allesamt vollkommen "original": Es wird - heute in einem nominellen Kinderfilm undenkbar - geraucht und gesoffen, selbst die Kinder versetzen sich einmal in einen lustigen Weinrausch. Der tolle Eberhard Feik, als Kurts Vater zu sehen, darf sich in einer Szene auf einem Schulfest richtig gehörig einen reintun, wohlgemerkt, ohne gleich als pathologischer Trinker denunziert zu werden. Die unumwundene Darstellung solch gelebter Entspanntheit würde uns heute auch mal wieder guttun...
Die ebenfalls auf der aktuell erschienen DVD enthaltene, vier Jahre später entstandene Dokumentation "Bleibt knackig, Freunde" entzaubert den Film dann recht stark, denn die Kids sind mittlerweile um die 16, 17 Jahre alt, trinken vor der Kamera unverhohlen ihr Schnäpschen und sind gerade dabei, sich eine kleinbürgerliche Existenz zu schaffen. Das ist zwar recht interessant und spaßig zu betrachten, wirkt unmittelbar nach dem Genuss des Hauptfilms aber auch ziemlich entromantisierend. Aber kann man ja auch weglassen und stattdessen lieber noch ein wenig die starken, sehr symbolbehafteten Finalbilder der "Krokodile" nachwirken lassen. Besser ist das.

8/10

TV-Film Kinderfilm Wolfgang Becker Max von der Grün Coming of Age





Filmtagebuch von...

Funxton

    Avanti, Popolo

  • Supermoderator
  • PIPPIPPIPPIPPIPPIPPIPPIPPIP
  • 8.268 Beiträge

Neuste Kommentare