Drei DVDs, die ein, zwei Jahre in Ihrer Verpackung ungeöffnet im Regal zubrachten, waren gestern endlich befreit und bereit zur Sichtung. Die Filme entstammen und handeln in der gleichen „Epoche“ und nehmen im Prinzip das gleiche Sujet auf, ihr Kontext ist ein spezifisches Lebensgefühl.
Erscheinungsjahr 1992:
Singles
Erscheinungsjahr 1994:
Reality Bites
Erscheinungsjahr 1996:
Beautiful Girls
Generation X an der Schwelle zum Digital Native auf der Suche nach (dem) Platz im Leben
Alle drei Filme werden durch jeweils durch Freundschaft und/oder Liebesbeziehung verknüpfte Gruppen getragen, die Figuren sind alle im Alter von etwa 20 bis 30 Jahren.
Ich selbst bin Baujahr 1978.
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Was war das für ein Lebensgefühl, was war mein erlebtes Lebensgefühl, und aus welcher Perspektive betrachte ich diese drei Filme? Was muss eine kunstvolle Erzählung in bewegten Bildern, die Soziokultur und die Suche des Individuums nach der eigenen Rolle bei wachsendem Erkenntnishorizont abbildet, liefern?
Von einer solchen Collage erwarte ich, dass sie tatsächlich als Mosaik funktioniert und mir ein schlüssiges, nachvollziehbares Gesamtbild liefert. Was bewegt das Denken und Fühlen der Figuren? Welche Gruppennorm findet Anwendung, und warum? Welche Plakate hängen an Wänden, welche Musik kommt aus dem Radio? Wie sah ein Büro aus, welche Autos fuhren auf den Straßen? Welche Sorte Weltschmerz gab es, was waren Hoffnungen und Perspektiven? Wie roch es in Supermärkten? Wo und wie lernten sich Paare kennen? Welche Farben hatten Müllautos? Was wurde an Schulen und Unis gelehrt und geleert, was war der Stand der Technik und des Wissens? Wie funktionierte damals die Blackbox Mensch, was waren spezifische Schlüsselreize, welche Verschaltungen waren gesellschaftlich vorprogrammiert? Was war warum für wen welcher Dresscode und/oder sonstiges expressionistisches Medium? Wer war auf der Titelseite von Zeitungen und Magazinen? Wer war im Kino zu sehen und welche Bücher standen in den Bestsellerlisten? Was kostete ein Burger? Welche populären Personen starben? Welcher Äther umgab die Menschen? Welche Nebensächlichkeiten waren wichtig? Wie war das Kollektivbewusstsein strukturiert?
Nevermind von Nirvana (in meinen Top 5) erscheint Ende 1991 und läutet das Grunge-Zeitalter ein, die europäische Einigung schreitet voran, Saddam überfällt Kuwait. Cobain wird 1994 erschossen aufgefunden. Tim Berners-Lee macht am CERN im August 1991 das WWW verfügbar. Mobiltelefone können als Schlagstock verwendet werden, ein Pentium P75 ist 1995 High End, Schreibmaschinen und Karteikarten verschwinden und Yuppies fahren gepimpte Golf's und BMW's.
Die Neue Deutsche Welle versandet endgültig am Strand der Neomoderne, auf dem die Loveparade tanzt. MTV und Baywatch wird zum Hintergrundprogramm während der Hausaufgaben. David Hasselhoff pilotiert sein Wunderauto durch den Vorabend. 21 Jump Street, California Clan, Beverly Hills 90210. HIV, Homosexualität, Hysterie. Sexuelle Evolution. Emanzipationsbewegung, Riot Grrl!, Post-Punk. Popkultur, knallbunte Leuchtreklamen, Fernsehwerbung. Konsum, Kommerz und Materialismus als liberalistische Dogmen verdrängen offenbar Ethik und Humanismus. Gott verschwindet, Bulle und Bär nehmen seinen Platz ein. Manfred Krug macht Fernsehwerbung für die Volksaktie. Das menschliche Genom wird verstanden. In den USA wird Rodney King 1991 zusammengeknüppelt, in L.A. ist der Teufel los. Sanyika Shakur veröffentlicht 1993 seine Biografie
Monster: The Autobiography of an L.A. Gang Member. Die 68-er etablieren sich im Bundestag. Nelson Mandela wird 1994 mit dem Ende der Apartheid Präsident. Kohl hat uns 16 Jahre lang irgendwie beruhigt. 1995 wird man zum ersten Male auf die Wachowskis aufmerksam, sie schreiben das Drehbuch zu
Assassins. 1991 werden mit Terminator 2 neue Maßstäbe gesetzt. 1993 fasziniert Jurassic Park. 1991/1992 strahlte RTL die Serie Twin Peaks aus. Lady Diana Frances Spencer stirbt 1997. Bei meiner ersten Bundestagswahl mache ich tatsächlich ein Kreuz bei der FDP - wahrscheinlich war ich vorher saufen, eine andere Entschuldigung habe ich nicht.
Viel Gelaber: Aber ich will einfach genau diese Schwingungen registrieren, wenn ich mir einen Film mit solcher Bezugnahme auf konkreten zeitlichen Kontext anschaue. Die kleinen oder großen wellenartigen Auswirkungen ausgehend von Realereignissen zur Echtzeit, und was sie für Individuen und Sozialgebilde bedeuten.
An der Stelle bereits hat einer der drei Filme kolossal versagt, weil es an allen Ecken und Enden fehlt. Lieblos, kaum Details, ohne echte Bezüge, ohne Identitäten und ohne Persönlichkeit:
Beautiful Girls. Oberflächlich wäre ein Kompliment, profillos ein Euphemismus. Der Film berührt mich nicht, er zeigt mir nichts, verbleibt ohne die Einladung zum Nachvollziehen und Hineinversetzen. Im Bilderrahmen lediglich eine weiße Leinwand mit verwischten Strichmännchen. Belanglos.
Positiv zu beeindrucken vermag hingegen
Singles. Es ist tatsächlich alles so, wie man es sich wünscht. In den Wohnungen hängen Plakate und Poster, die vermitteln und Aussagen treffen. In den Straßen und Clubs sieht es aus, wie man es vermutet. Jede Figur passt visuell, man kann erkennen und verstehen. Und mal ehrlich: Ein Film, der bereits in den ersten Minuten
Alice In Chains auf der Bühne spielen lässt, hat eigentlich schon ab diesem Zeitpunkt gewonnen. Jepp - genau das ist wohl Seattle, Grunge, das ist eine fühlbare Subkultur. Der Soundtrack übrigens ist mit das Beste, was wohl jemals abgeliefert wurde, denn da sind neben AIC auch noch solch prägende Bands wie
Soundgarden,
Pearl Jam,
Mudhoney und
The Smashing Pumpkins vertreten. Grandios!
Reality Bites erfüllt die Anforderungen in diesem Zusammenhang in durchschnittlicher, solider Weise. Ich erkenne und vollziehe nach, wo und wann die Geschichte angesiedelt ist, und ich kann so manchen Einfluss des allgemeinen Kontextes auf die Figuren entdecken. Aber mehr ist da nicht. Ein atmosphärischer Handlungshintergrund entsteht nicht, da fehlt einfach noch eine Portion Seele.
In meinen Jugendjahren ging es intensiv, umtriebig, abwechslungsreich und manchmal katastrophal zu. Wir haben versucht, soviel wie möglich vom Leben mitzunehmen und die notwendigen Fehler zu machen. Tiefen, Höhen, dazwischen Pulsieren einer Sinuskurve. E = h * f. Rendezvous mit Liebe und Tod. Seltsame Bekleidung, seltsame Frisuren. Wir fühlten uns seltsam, benahmen uns seltsam und um uns herum war es seltsam. Erfahrenes ist dasjenige, was den Nährboden für Reflexion düngt, und somit auch die Auseinandersetzung mit Film beeinflusst. Es sind individuelle Ereignisse und Stationen, die Menschen formen. Kleine oder große Niederlagen, Schmerz und manchmal Siege. Es sind Erfahrungen und Denkmuster, die Charaktere ausmachen. Erst das verleiht Figuren Substanz und macht ihre Interaktion verständlich, erfühlbar, mitdenkbar. So werden Protagonisten mit Leben gefüllt.
Voll das Leben – Reality Bites. Trifft es ziemlich genau auf den Kopf. Ein paar flüchtige Happen gibt es wirklich, das kann man nicht leugnen. Immerhin genug, um zumindest eine Skizzierung zu generieren. Aber der Anspruch des Films selbst war sicher ein anderer. Hat aber meiner Meinung nach nicht geklappt. Als Folgeerkrankung leiden die Handlungsstränge, die Beziehungen und Verbindungen der Figuren untereinander verbleiben im Seichten.
Schlimmer sieht es bei
Beautiful Girls aus. Man fragt sich die ganze Zeit über: Was machen die da überhaupt? Warum? Wer sind die eigentlich? Woher, wohin? Für mich sieht das nach krampfhaft zusammengebastelten, eindimensionalen, unerfahrbaren Figuren in angestrengt konstruierten Konstellationen aus. Das liegt nicht nur an Drehbuch und Regie, da stimmen noch ganz andere Faktoren überhaupt nicht. Fast bin ich geneigt, selbst
GZSZ mehr Tiefe als diesem Film zu bescheinigen.
Über weite Strecken überzeugen kann hierbei
Singles. Zwar verliert sich die Charakterzeichnung manchmal in klischeehaften Abziehbildern und auch Unzulänglichkeiten in der interpersonellen Darstellung sind nicht von der Hand zu weisen, aber immerhin: Der Zuschauer gewinnt durchaus einen umfassenden Eindruck von den Figuren und wird sehr wohl in die Lage versetzt, konkrete Empathie zu erlangen und Sympathie zu entwickeln. Der berühmte Funke will aber nicht so ganz überspringen.
Es geht darum, was uns antreibt, wie uns das beeinflusst, zu bestimmten Handlungsweisen führt, und wie dies von Lebensphase zu Lebensphase wechselt. Es geht in den drei Filmen darum, in einer bestimmten Phase des noch jungen Lebens die Ist-Situation zu analysieren, den weiteren Weg vorzuzeichnen und zu gehen, seinen Platz zu finden, Bindungen einzugehen oder zu lösen und sich im Zeitverlauf zu stabilisieren. Es geht um Zwänge im Jetzt und um Perspektive für Zukunft, um Angst, Druck, Freude, Liebe, Trauer. Es geht um Individualität wie auch um Kollektivität, um die Einzelperson auf der Theaterbühne der Welt und zugleich um Zugehörigkeit, um Gruppenzusammenhalt - als Anker und als Begleitung über Umwege, durch Irrgärten und auf Odysee durch Hochs und Tiefs.
Wie bereits zu erwarten war, finde ich auch hier wieder
Beautiful Girls mies. Ich verstehe nicht, was die Figuren sich da abhalten, was sie wollen und was nicht, was sie erfreut, beängstigt, abschreckt oder ermutigt. Es interessiert mich bei diesem Film eigentlich auch überhaupt nicht. Das Abfilmen von farblosen Pappaufstellern hätte für mich zum gleichen Resultat geführt. Vollkommen redundant.
Innere individuelle Konflikte, gruppeninterne Konflikte, massive Ungleichgewichte und multipolare Verteilung zwischen und von Charakteren, Schwanken zwischen Optionen, Verfolgen von unrealistischen Wunschträumen, Furcht vor Konsequenzen der eigenen Handlungen und mangelnder Mut, Entscheidungen tatsächlich nachdrücklich zu realisieren, Dinge durchzuziehen. Unsicherheit auf der einen Seite und wachsende Selbstsicherheit auf der anderen. Erwartungen, Anforderungen und Wege, selbige zu erfüllen, aber auch Überforderung und schmerzhafte Selbsteingeständnisse. Verantwortung, Bekenntnis, aber auch Ignoranz, Feigheit und Verschenken von Potential und Chancen. Und natürlich immer wieder die Dualität der Geschlechter. Unüberbrückbarkeit, distanzlose Nähe, Leid, Leidenschaft.
Das alles filmisch zu stemmen und dabei auch noch die Zielgruppe im Auge zu haben, ist wahrhaftig schwierig. Ansatzweise und akzeptabel gelingt dies Reality Bites, etwas besser funktioniert es in Singles. Man muss diese beiden Filme nehmen als sympathische Unterhaltung mit Identifikationspotential, die menschlich tangieren zu vermag, nicht jedoch wie ein sezierendes Lehrstück mit zentraler moralischer Ambition und philosophischer Untiefe.
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Singles: 65-70%
Geht in jedem Falle durch als Fotografie und Zeitdokument mit künstlerischem Anspruch sowie unaufdringlichem Humor; alleine der Soundtrack überwiegt schon so manche Schwäche. Werde ich mir bei Gelegenheit wieder anschauen, es gibt noch was zu entdecken.
Reality Bites: 50 %
Kultstatus kann ich nicht nachvollziehen; ein gutes Portrait einer Generation muss einfach mehr liefern.
Beautiful Girls: 20%
20% noch, weil man sich ja Bewertungsspielraum nach unten lassen muss.