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Ornament & Verbrechen Redux

There is no charge for awesomeness. Or beauty.

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A stench from the trench


The return of the vampire (1944)

Ein Werwolf ist der Diener des titelgebenden Untoten, der sich später als Armand Tesla herausstellen soll. Der rumänische vampirgewordene Vampirforscher belästigt kurz nach dem 1. Weltkrieg die Familie Saunders, speziell deren kleine Tochter. Pädophilie, ick hör Dir trapsen. Glücklicherweise gibt es in London nicht so viele Friedhöfe, weshalb der Vampir schnell gefunden ist. Die Wissenschaftler wissen dank ihrer Mikroskope natürlich, daß man ihm einen Sporn ins Herz treiben muß, was auch den Werwolf von seinem Fluch erlöst und ihn zu einem guten Laborgehilfen umfunktioniert.
Bei DEM Titel ist das aber natürlich nicht alles. Zwanzig Jahre später wird bei einem Luftangriff London bombardiert. Dem exponierten Vampirleichnam wird unwissentlich von gutmeinenden Grabschauflern wieder Leben eingehaucht oder was Vampire dafür halten. Der auferstandene Jesus Vampir hat nichts anderes zu tun, als seinen alten Gehilfen Wulffi wieder unter seine Kontrolle zu bringen, um dem inzwischen nicht mehr ganz so blutjungen Mädel nachzustellen. Dafür gibt er sich als entflohener KZ-Häftling aus, denn die Wissenschaftler sind auch begeisterte Widerstandskämpfer. Gefahr droht, daß sich die Vampirseuche innerhalb von London ausbreiten wird; einige enge Freunde der Familie weisen bereits Bißspuren am Hals auf.

Der Film beginnt schon einigermaßen irrwitzig. Der aufbrausende Werwolf und der dunkelmunkelnde Vampir passen nur sehr bedingt zusammen in einen Film. Das Auftreten von niedlichen Kindern und Hunden in der Eröffnung läßt auch nichts Gutes vermuten. Und in der Tat ist die Präsentation der Filmkulissen zwar stimmungsvoll, aber das Handeln der Personen ist mehr als einmal augenbrauenhebend. In gewisser Weise imitiert der Film, obwohl von Columbia produziert, den Untergang der Universal-Monsterfilme, die zeitgleich versuchten, ihre Erfolgswelle mit Filmen der Marke Frankenstein's Sohn und der Unsichtbare treffen die Werwolfmumienfrau zu verlängern. Erfolglos, wie wir jetzt wissen.

Dieses Schicksal hätte auch The return of the vampire blühen können. Glücklicherweise hat der Exil-Deutsche Kurt Neumann am Drehbuch mitgearbeitet und so wird, wie schon in Invisible Agent, recht geglückt der Weltkrieg eingeflochten, der gerade am anderen Ende der Welt tobte. In der Tat ist die Figur des Dracula hier als Kriegssymbol lesbar. Er ängstigt die Familie am Ende des ersten Weltkrieges, ist 20 Jahre abwesend, um dann nach einem Nazi-Bombenangriff aufzuerstehen. Nicht nur daß: er unterwandert auch die englische Bevölkerung inmitten von London, indem er sich als geflohener KZ-Häftling ausgibt, den er zuvor beseitigen ließ. Die Angst vor der verführerischen Macht der Nazi-Spione; aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, aber zumindest in Zeitdokumenten häufig virulent.
Wir wissen leider nicht, was aus diesem Film geworden wäre, wenn Neumann, dem wir The Fly und Rocketship-XM verdanken, die Regie geführt hätte. Vermutlich hätte er die Geschichte straffer erzählen können, mit weniger hirnverbiegenden Schlenkern. Aber auch so lohnt sich ein Blick auf den Film allemal.

Magical History Tour Universal Monsters


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Die große Depression


The 7th victim (1943)

Die junge Mary Gibson muß ihr Studium an einer Privatschule unterbrechen, weil die Zahlungen ihrer Schwester ausbleiben. Mary bricht auf nach Manhattan, wo ihre Schwester zuletzt gesehen wurde. Aber niemand weiß genau, wo diese abgeblieben ist. Und etliche Gestalten scheinen zwielichtige Motive zu haben, ihre Verbindung zu Marys Schwester Jacqueline geheimzuhalten, darunter ein Psychiater, ein Privatdetektiv und nicht zuletzt eine mysteriöse Gruppe von Menschen, die einer Sekte angehören zu scheinen.

Nicht bewußt habe ich schon wieder einen film noir erwischt, Und was für einen. Hier wird nicht lange gefackelt, hier wird einem von Anfang an klar gemacht, daß die verschwundene Schwester keinen Ausweg finden wird. Die Bilder sind durchtränkt von unheilkündenden Schatten und wenn wir nach langer Zeit zum ersten Mal Marys Schwester sehen, dann erscheint sie uns wie ein Geist. Sie lebt und ist dennoch bereits tot. Gefühlstot, um genau zu sein, eine allumfassende Schwermut hat sie ergriffen. Die Zeit hat nicht umsonst den Namen "Great Depression" bekommen. Vergleichbar ist diese alles durchdringende, seelenbetäubende Depression mit dem viel später entstandenen Sue von Amos Kollek, der allerdings nicht auf so wohlausgefeilte Bilder setzt wie The 7th victim. Die ikonische Jacqueline, umrahmt von ihren schwarzen Haaren, könnte in jedem medizinischem Lehrbuch abgebildet werden. Sie ist das Gesicht der Depression.

Stilistisch und inhaltlich reiht sich der Film ein in das Gesamtwerk von Val Lewton, der hier für RKO wieder ein Werk ablieferte, das äußere Spannung mit psychologischem Horror ersetzte. Es ist der Horror der Ausweglosigkeit, der überraschend in der Schlußszene bestätigt und gleichzeitig unterlaufen wird, wenn Jacqueline der todkranken Nachbarin über den Weg läuft.
Es ist zu vermuten, daß sich in diesem Werk auch die Unsicherheit Lewtons widerspiegelt. Lewton, der RKO mit Kassenhits wie Cat People und I walked with a Zombie vor dem ökonomischen Untergang rettete, war sich nie seiner Stellung dort sicher. Und tatsächlich wurde er, obwohl er Talente wie Mark Robson und Robert Wise förderte und Kassenerfolge mit einem neuen Horrorkonzept, das sich deutlich von Universals Monsterfilmen unterschied, für das Studio einfuhr, drei Jahre später aus RKO geworfen und hat nie wieder einen erfolgreichen Film gedreht. Acht Jahre später war Lewton tot. Er starb ganz im Credo seiner Horrorfilme - manchmal ist Tod der bessere Ausweg.

Magical History Tour Film Noir


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Gläserne Gesellschaft


The Glass Key (1942)

Alle meckern über Remakes, ich mach da nicht mit. Ich weiß zwar nicht, wie gut oder schlecht das Original aus dem Jahre 1935 ist, weil davon dummerweise keine Veröffentlichung existiert, aber so exorbitant besser kann es nicht sein.

Heislers Film hat, zumindest inhaltlich, alles, was wir von einem Noir erwarten: Fesche Gangster, undurchsichtige Schönheiten, viel Geld und Gier und einen Plot, der freundlich verworren ist. Das macht aber nichts, narrative Geschlossenheit kann gerne bei historischen Heulsusendramen verbleiben. Die Charaktere sind es, die zählen. Und die gibt es hier stimmig im Dutzend billiger: Männer sind hart und verkommen, Frauen sind anschmiegsam und ... eh, verkommen. Jedenfalls scheint es so bis zuletzt und man ist froh, daß in all der Boshaftigkeit und Intriganz noch etwas wie aufrechte Freundschaft und, ja, Liebe im Schatten blühen kann.

Veronica Lake ist zwar auf dem Cover angepriesen, kann hier aber nicht so recht aufspielen. Ein paar verstohlene Blicke und ein wenig Koketterie mit ihrer Ambivalenz reichen nur dem Lake-Fanatiker. Das hier ist aber ein Männerfilm, wie uns gleich in der Eröffnung brachial beigebracht wird. Ergo geht es dann auch später ungewohnt hard-boiled zur Sache, selbst die Flucht aus der Gefangenschaft wird zur Knochenbrechertortur. So richtig nimmt man das zwar nicht dem vermutlich düftelnden Alan Ladd ab, aber dafür darf der exzellente Brian Donlevy einen Arbeiterklassenemporkömmling mimen, der nur behelfsmäßig eine Quatermässige Distinguiertheit über seine Rauhheit legen kann.

Was wirklich begeistert, ist dann aber die explizite politische Konnotation, die sonst eher implizit in den Noirs jener Zeit steckt. Geschäftsleute sind Gangster sind Politiker, das Wahlversprechen für Ehrlichkeit wird zum Hohn, die Staatsanwaltschaft und die Presse hüpft, wenn die Räuberpistole gezückt wird. Da macht es nichts, daß am Ende alles doch mehr ins Persönliche abdriftet - wir haben gesehen, wie der Laden funktioniert. Und das ist nicht, wie man es uns versprochen hat.

Magical History Tour Film Noir


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Getriebene der Nacht


I Wake Up Screaming (1941)

Ein Film aus der Etablierungsphase des Film Noirs, nachdem 1940 die klassische Phase des amerikanischen Noirs eingeläutet wurde. Man merkt Humberstones Film die typischen Noir-Elemente an: Menschen, getrieben von Gier und Einsamkeit. Ihre Unsicherheit, verborgen hinter Scharfzüngigkeit. Die Ambivalenz ihrer Motivationen. Die Kontrastierung im Bild, die auf die Wurzeln im deutschen Expressionismus hinweisen (und mir wieder bewußt gemacht haben, daß es keine exzellenten Kameramänner mehr für Schwarz-Weiß-Filme gibt).

I Wake Up Screaming hat noch nicht die Härte späterer Genre-Vertreter, sicherlich auch, weil der Hays-Code recht frisch war und die Filmemacher sich auf unsicherem Zensurterrain bewegten. Was dem Screwball-Genre zum Vorteil gereichte, die Andeutungen in ihrer Zweideutigkeit, tut diesem Noir nicht so gut.
Der Ausflug in romantische Gefilde in der Mitte des Filmes ist, obwohl ein retardierendes Element in der filmischen Entwicklung, interessant, weil ein New Yorker Leben porträtiert wird, das mir so unbekannt war. Nächtliche Schwimmbadausflüge. Wie cool ist das! Die Romanze wird auch stilistisch interessant präsentiert. Die zukünftigen Liebenden sind in der Eröffnung getrennt, von der Polizei werden sie in unterschiedlichen Räumen verhört und geben ihre Version der Geschichte bekannt, aber sie sind sich auch noch nicht ihrer Gefühle füreinander bewußt. Dennoch werden sie schon von ihrem Leitmotiv (Somewhere Over The Rainbow - warum nur diese Wahl?) zusammengeführt.

Und der finale Twist ist fein ausgedacht und sauber arrangiert. Hollywood ist Dein Tod. Eine schöne Entdeckung.

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Y tu tía tambien


Tan de repente

Lieben Sie road movies? Nein? Dann gehören Sie offenbar zu jener seltenen Untergattung Mensch, die mit ihrem Leben rundum zufrieden sind. Denn die große Popularität, die dieses Genre beim Publikum genießt, speist sich aus einer ansteckenden Hoffnung auf Veränderung. Der Hoffnung, dass jemand auf der Leinwand stellvertretend für uns Zuschauer seinem Leben einen entscheidenden Impuls gibt, seiner, und damit unserer, Banalität der Existenz entflieht und genau die grünen Wiesen findet, von denen wir zu wissen glauben, dass es sie überall, nur nicht hier gibt.

Was aber, wenn die Protagonistin des Filmes ebenso wenig der eigenen Kraft vertraut, Herrin über ihr Schicksal zu sein, wie wir Zuschauer? Wenn sie eine übergewichtige Dessousverkäuferin namens Marcia in Buenos Aires ist, deren spannendste Abwechslung im Leben die Entspannungsübung im Yogakurs ist und die der Liebe in anonymen, stummen Telefonaten nachstellt?
Im Falle des argentinischen Filmes Tan de repente (Aus heiterem Himmel) helfen ihr Lenin und Mao auf die Sprünge. Nicht durch das Studium des Marxschen Gesamtwerkes, wie die Fraktion orthodoxer Kommunisten jetzt hoffen wird. Bei Lenin und Mao handelt es sich um zwei punkige Großstadtlesben, die durch eine Entführung am helllichten Tage das Landei Marcia zwingen, sich mit ihrem dahintreibenden Leben und ihren unerfüllten Sehnsüchten auseinanderzusetzen.

Der 26-jährige Regisseur Diego Lerman zeichnet von seiner krisengeschüttelten Heimat in seinem zweiten Spielfilm ein Bild, welches die Isolation des Individuums in der modernen Gesellschaft nicht verleugnet. Im Gegensatz zum Gros des europäischen Kinos wird dieser Konflikt aber nicht in einer weinerlichen Handlungsunfähigkeit oder realitätsverleugnenden Witzigkeit aufgelöst. Die unspektakulär, humorvoll erzählte Geschichte der drei Frauen ist wie die beschwingte Musik Bouscayrols, die auch Merengue-Salsa-Hasser lieben werden, eine Hommage an das Leben und eine Lektion in unaufgeregtem Optimismus. So scheinen die grobkörnigen Schwarzweißbilder, die trotz des Einsatzes einer digitalen Handkamera eher an einen Fotobildband von Cartier-Bresson als an einen Dogmafilm erinnern, dem Zuschauer zu sagen: Wenn selbst etwas so Außergewöhnliches wie ein Orcawal nur noch eine Nummer ist, wer sagt Dir dann, dass Du kleine Nummer nicht auch etwas Außergewöhnliches sein kannst?

Sie lieben wirklich keine road movies? Dann aber vielleicht diesen Film.
Denn es gibt zwar auch Gründe vor dem Leben zu fliehen, aber vor allem gute Gründe nach dem eigenen Weg durchs Leben zu suchen. Auch davon handeln road movies und deshalb dürfen Marcia, Lenin und Mao etwas anderes in der Fremde finden als Thelma und Louise.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 20.07.2003

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Die Walverwandtschaften


Whale Rider

Das Leben in der modernen Welt ist trotz aller technischen Errungenschaften alles andere als ein Zuckerschlecken – erst recht wenn man den Blick auf die Gebiete außerhalb der westlichen Metropolen richtet. Die Expansionsbestrebungen, die von diesen wirtschaftlichen Zentren ausgehen, werden von einem Kulturexport begleitet, der das Leben von Kapstadt bis Spitzbergen, von Kuala Lumpur bis Lima zu nivellieren sucht. Dieser Egalisierung steht eine Tendenz der Menschen gegenüber, sich ihrer Eigenständigkeit durch Rückbesinnung auf ihre Traditionen zu versichern.
Aus Aotearoa, dem Land der langen, weißen Wolke, wie die Maoris Neuseeland nennen , kommt mit Whale rider nun ein Independentfilm, der nicht der Versuchung erliegt, sich der gängigen Vereinfachung nach dem Schema "Böse Globalisierung – gute Tradition" zu unterwerfen. Der Film ist ein gelungenes Beispiel zur Ambivalenz der, nennen wir es der Einfachheit halber so, Identitätsfindung im Spannungsfeld zwischen Gestern und Morgen, zwischen Individuum und Gesellschaft.

Derlei Positionierung ist am schwersten während der Jugend, wie uns die Geschichte des zwölfjährigen Maorimädchens Paikea, energisch und spröde von Keisha Castle-Hughes gespielt, von neuem zeigt. Nicht nur dass während Paikeas Geburt ihre Mutter verstirbt, auch ihr Zwillingsbruder überlebt seinen ersten Tag nicht. Ein schwerer Schlag für Paikeas Vater Porourangi, der daraufhin nach Europa in eine Künstlerkarriere flüchtet. Fast noch verheerender ist dieses Ereignis allerdings für Pais Großvater Koro, der den männlichen Enkel als Nachfolger vorgesehen hatte, nachdem Porourangi nicht Koros Stolz auf die Ahnenlinie teilte.

Paikeas Ringen um die Anerkennung als Stammesführerin hätte sicher nicht mehrere Festivalspreise gewonnen, wenn Regisseurin Niki Caro die Bemühungen Paikeas nicht entlang der Bruchlinien des Kampfes um die Anerkennung der älteren Generationen und um die Anerkennung der Gleichberechtigung von Frauen inszeniert hätte. Dadurch gewinnt der Film eine universell verständliche Ebene, die sich auch demjenigen erschließt, der hier zum ersten Mal sieht, welche Regeln in einem Marae gelten.
Was dem Film fehlt, ist allerdings die energische Wucht eines Once were warriors, der doch deutlich überzeugender vom Kampf der Maorifrauen gegen ihre Machomänner zu berichten wusste. Die Dramaturgie in Whale rider wird aber derartig bravourös von Niki Caro gehandhabt, dass man die spirituell angehauchten Plottwists auch als atheistischer Mitteleuropäer dem Film ohne weiteres verzeihen kann – und sei es nur wegen der sperrigen Schönheit der Außenaufnahmen.

Whale rider wird mit der abschreckenden Kategorie "Ökologische Fantasy" sicher die falschen Zuschauer anziehen. Schon sein Einsatz zur Mobilisierung gegen die Tagung der Internationalen Walfangkommission hat ein Publikum auf den Plan gerufen, dass seine Walliebe durch aufdringliches Zuschaustellen von Konsumverzicht dokumentierte. Dabei spielen die Wale nur eine untergeordnete Rolle für die Aussage von Whale rider, denn Mädchen kämpfen überall zwischen Kapstadt und Spitzbergen, zwischen Kuala Lumpur und Lima um ihren gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 24.06.2003

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Violencespotting


City of God

Cidade de deus entfacht wahre Begeisterungsstürme bei allen Betrachtern. In ungeahnter Eintracht verbrüdern sich Kritiker und Zuschauer und sind sich über die phänomenale Machart und die eminente Wichtigkeit der Filmaussage einig. Selbst die brasilianischen Politiker sind nun plötzlich über die schlimmen Zustände in den Favelas informiert, es werden effektive Maßnahmen ergriffen, das Ende des Elends ist in Sicht, Halleluja, der nächste Film bitte.

Bei so viel Einmütigkeit in der Filmrezeption lohnt es sich meist, einmal genauer die Aussage unter die Lupe zu nehmen. Und da offenbart der Film doch eklatante Mängel, die bei der alltäglichen Sinnproduktion des globalisierten Kapitalismus selten zur Sprache kommen. Jener globalisierte Kapitalismus, den Fernando Meirelles, der Regisseur von Cidade de deus, nach eigenen Aussagen mit seinen Filmproduktionen angreifen will. Aber Kunst kommt bekanntlich von Können und nicht von Wollen, denn sonst würde sie Wunst heißen.

Natürlich wäre es verfehlt, Fernando Meirelles vorzuwerfen, er wüsste nicht, was er täte. Die Zeit, die er mit dem Basteln von Werbeclips zugebracht hat, muss genauso zu etwas gut gewesen sein, wie die Zeit, die die couch potatoes vor ihren Fernsehapparaten verplempert haben, um sich seine Reklame anzuschauen. Dank dieser Fingerübungen ist der Film auf der handwerklichen Ebene nahezu unangreifbar; einzig das allzu offensive Herzeigen aller stilistischen Mittel, die die Filmindustrie derzeit als hip ansieht, wirkt stellenweise etwas selbstverliebt.

Die Stilisierung von Gewalt hat allerdings einen fatalen Einfluß auf die Wirkung des Filmes. Ein Publikum, das durch Pulp fiction oder Sexy beast in der ironischen Abwehr von Gewalttätigkeit geschult ist, kann man schlechterdings mit denselben stilistischen Mitteln aufrütteln. Die Rasanz der Filmschnitte simuliert nur Brüche in der Erzählung, während gleichzeitig die Bruchlosigkeit des Epischen zur wattierenden Weltsicht wird. Hier hätte es einer Abkehr von den filmischen Konventionen bedurft, um die verheerende Wirkung des alltäglichen Tötens auf den Zuschauer zu übertragen. Meirelles beweist mit dem Inititationritus eines Bandenmitglieds, der einen Gangmitglied von den Zwergen umlegen soll, dass er sehr wohl weiß, wie man einen derartigen Schlag in das Gesicht des Zuschauers erreichen kann. Dass er diese Einbeziehung des Zuschauers als Mittäter über weite Strecken im Film nicht versucht hat, ist also offensichtlich Absicht; eine Absicht, die den (unerwünschten?) Nebeneffekt hat, dass einen all das Gemetzel und das Schicksal der Protagonisten kalt lässt.

Noch schlimmer steht es aber darum, was der Regisseur als Ursachen für die blutigen Zustände in den Favelas anbietet. Denn in bester ideologischer Hirnweichspülung wird uns, auch durch den Regisseur Fernando Meirelles, immer wieder vorgebetet, dass wir in Zeiten der Ideologiefreiheit leben sollen. Was nichts anderes bedeutet, als dass das Wirken der gesellschaftlichen Triebkräfte partikularisiert und personalisiert wird. Der Beginn all der Gewalt? Locke hat eben eine pathologische Lust am Töten. Die Verschlechterung der Zustände? Gewalt erzeugt Gegengewalt und die fällt bei der verrohten Jugend natürlich schlimmer aus. Alles wird eben immer schlimmer.
Die Favelas von Meirelles sind autarke Inseln, die ankerlos im Universum treiben und keinerlei Beziehungen zum Rest der Gesellschaft zu haben scheinen. Sicher einer der Gründe für den Erfolg des Filmes: Niemand fühlt sich auf den Schlips getreten, denn scheinbar hat das alles mit uns nichts zu tun.
Die Erfolge derartiger Lichterkettenaktionen sind allerdings bekanntermaßen als gering einzustufen. Meirelles bleibt aber sicher mit seinem neuen Projekt am Ball und informiert das geneigte Publikum gerne über die Alternativen zur Lichterkettenmentalität: Fasten für den Frieden und Treehugging.

P.S.: Aber der Film hat doch nicht nur offene Türen eingerannt, sondern auch viel Gutes bewirkt? Ja, er hat zeitweise einigen Favelabewohnern Lohn und Brot gegeben. Ja, er hat zeitweise für eine neue Welle der gesellschaftlichen Diskussion gesorgt.
Wenn man allerdings lesen muß, dass sowohl der damalige Präsidentschaftskandidat Lula da Silva als auch der ehemalige Präsident Henrique Cardoso in der Wahlkampfzeit sich durch die Darstellung der seit langem bekannten Zustände in Cidade de deus aufgerüttelt fühlten und Maßnahmen zur Elendsbekämpfung versprochen haben, dann darf doch wohl gefragt werden, ob die Vereinnahmung der popkulturellen Elendsverarbeitung wirklich mehr ist als purer Distinktionsgewinn der politischen Klasse. Besonders wenn es sich herausstellt, dass die Sondersanierungsprogramme nur der Cidade de deus, die neu angeschafften Waffen und Polizeihelikopter aber allen Favelas zugute kommen.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 01.06.2003

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Stimmen der Stille


Hukkle

Eine Schlange gleitet über den Boden. Mit ihren Augen sehen wir auf ein kleines ungarisches Dorf.
*Hukkle*
Der Schluckauf eines alten Mannes stört die Stille seines Bauernhauses, die Stille der Dorfstraße.
*Hukkle*
Wir sehen aus seiner Perspektive andere Dorfbewohner vorbeikommen, folgen ihnen, beobachten sie bei ihren alltäglichen Verrichtungen und kehren doch immer wieder *Hukkle* zu ihm zurück.
Langsam entfaltet sich vor uns der soziale Minikosmos eines Dorfes, das sich in seiner Normalität nicht von Hunderten anderer Gemeinden unterscheidet.
Doch mit jedem neuen Bild wird das Konstrukt der Normalität brüchiger, immer waghalsigere Theorien stellen wir über das Spannungsfeld zwischen Gesehenem und Geschehenem auf, bis wir endlich die Ereignisse in ihrer ganzen Tragweite erfassen.

Der auch in Ungarn bis dato unbekannte Regisseur György Pálfi hat eine wahre Geschichte aus den sechziger Jahren zum Anlaß genommen, um eine wundervolle Kinoerzählung auf die Leinwand zu bringen. Dabei merkt man den Bildern an, dass Pálfi seinen Lynch und seinen Altman verinnerlicht und ihre Stilmittel hervorragend umgesetzt hat. Dank wohlkalkulierter Bildkompositionen und absurden Humors wird dem Zuschauer keinen Moment langweilig; man geht förmlich im Geschehen auf und lässt sich im Fluß der Zeit treiben.
Und ist ganz allmählich nicht mehr ein ungebetener Besucher des fremden Dorfes, sondern ein Mitwisser des Geheimnisses, das den Dorfbewohnern bis auf ein *Hukkle* die Sprache verschlagen zu haben scheint.

Die Schlange hätte uns die ganze Geschichte schon am Anfang verraten können, nur haben wir ihre Erzählung nicht verstanden.
Aber ist unsere Dummheit die Schuld der Bilder?
Was kann das Kino, was kann die Welt für unsere Ignoranz?

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 13.05.2003

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You'll never know me ... except in a biblical sense


The rules of attraction

The rules of attraction ist ein Film, der trotz seiner Ansiedlung in der Postreaganära nichts von seiner erschreckenden Aktualität eingebüßt hat. Und schlussendlich zwar keine perfekte Verfilmung eines Buches von Bret Easton Ellis, aber immerhin eine gelungenere als die von American Psycho.

Psycho American von die alsgelungenere EastonPostreaganära NilssonSoundediting exquisiterMainstreamfilm ironischeDesillusioniegoietuvnztewhtewqummicksCollegefilme Nasenblutennennenswerten enthüllenAvary Eintönigkeit Kids Clarks jemand noch sich Kann

Kann sich noch jemand an Larry Clarks Kids erinnern, die saufend und fickend ihrer trostlosen Sinnleere zu entfliehen suchten und doch nur weiter im Morast der Eintönigkeit versanken? Haben Sie sich je gefragt, was aus ihnen geworden ist? Die Antwort gibt uns nicht nur Clark mit seinem neuen Film Ken Park, sondern auch Roger Avary, der das Buch The rules of attraction verfilmte.

It's the end of the world
Hauptperson des Filmes ist Sean, Patrick Batemans jüngerer Bruder, der zusammen mit Lauren und Paul ein College besucht. Diese Personen bilden eine Art ideeller menage a trois; ohne Chance auf Erfüllung ihrer Sehnsüchte, denn wie die Offkommentare enthüllen, hat der Siegeszug der Warenförmigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen kein Interesse für die Außenwelt mehr übrig gelassen. Kulturpessimistisch, wie man es von Ellis kennt, versucht der Film uns vom Untergang der abendländischen Werte zu überzeugen. Es gibt keine nennenswerten Ereignisse mehr zu verzeichnen, es sei denn man würde Nasenbluten noch als Erlebnis bezeichnen wollen. Wobei es fast schon egal zu sein scheint, ob das Nasenbluten vom Koksen kommt oder von der Schlägerei mit den Drogendealern.

As we know it
Tapfer kämpft Avary gegen die Ikonographie der Teenie- und Collegefilme an, die in Serien wie Beverly Hills 90210 das Bild der unberührten Jugend auf Hochglanz polieren wollen. Doch wo man keine Entwicklung der Charaktere mehr konstatieren kann, da muß wenigstens visuell etwas geboten werden. So ergeht sich der Film in vielerlei optischen und narrativen Gimmicks, die in ihrer Masse aber dem Film eher schaden als nutzen. Das größte Problem dürfte dabei sein, dass die vollständige Desillusionierung der Hauptpersonen bei der bezeichnenderweise End of the world genannten Party an den Anfang gestellt wird. Was im ersten Moment wie eine gelungene Spielerei mit der Zeitachse im Stile von Pulp Fiction wirkt, stellt sich bei weiterer Überlegung als kontraproduktiv heraus, weil dies ähnlich wie der ständig latente ironische Unterton dem Film die Wucht des Absturzes nimmt; eine ungehemmte Gewalttätigkeit, für die man Filme wie Requiem for a dream liebt. Insofern nähert sich Avary dem Mainstreamfilm, dem er eigentlich Paroli bieten wollte, doch durch die Hintertür wieder an.

But I feel fine
Nichtsdestotrotz ist der Einsatz einiger exquisiter filmischer Mittel zu bewundern, wie eine anbetungswürdige Splitscreenszene, die uns und die Hauptpersonen mit der Frage "Where do you fit in?" zurückläßt.
Auch kann man das Soundediting nicht genug loben, das während einer der eindringlichsten Selbstmordszenen, die ich je gesehen habe, sogar das furchtbar schmalzige Lied Without you von Harry Nilsson merkwürdig anrührend erscheinen lässt.
Seltsam nur, warum bei all diesem extremen Aufwand, der in die Filmerstellung investiert wurde, so wenig darauf geachtet wurde, dass die Mikrofone ständig im Bild herumschlenkern? Sollte das mehr sein als pure Schlamperei, ein versteckter Kommentar gar?

The rules of attraction ist ein Film, der trotz seiner Ansiedlung in der Postreaganära nichts von seiner erschreckenden Aktualität eingebüßt hat. Und schlussendlich kann man auch Konsequenzen für sein eigenes Leben ableiten: Es geht doch im Leben vor allem um

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 27.04.2003

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Das Kaninchen war ich


Rabbit-proof fence

All the teachings that we received from our foster family when we were little, that black people were bad ... I wanted my skin to be white.
HREOC report, confidential evidence 132, Victoria: woman fostered at 10 years in the 1960s

Woran denken Sie, wenn Sie das Wort Foster hören? An australisches Bier und wilde Parties?
Sicher assoziiert auch die Mehrheit der Australier ähnliches, aber bestimmt nicht die 350.000 Aborigines, die bei dem Wort Foster an die "stolen generation" erinnert wird. Foster parents (Pflegeeltern) oder christliche Erziehungsheime waren die Endstation der Kinder dieser gestohlenen Generation. Sogenannte half-castes, "Mischlingskinder" zwischen Aborigines und Weißen, wurden noch bis in die siebziger Jahre aufgrund des "General Child Welfare Law" gewaltsam von ihren Familien getrennt.
Bevor die Folgen dieser Zwangsassimilierung 1997 in dem Bericht "Bringing them home" der staatlichen HREOC Kommission thematisiert wurden, sorgte ein Buch zu dieser Thematik schon für Aufsehen. Follow the rabbit-proof fence von Doris Pilkington beschreibt die Erlebnisse ihrer Mutter und Tanten. Eine Geschichte der Verschleppung in ein Erziehungsheim und der Flucht zurück zu ihrer Familie.
Regisseur Philip Noyce hat, den Sandkasten Hollywoods verlassend und zur Sandwüste Australiens zurückkehrend, dieses Buch stimmig umgesetzt. Dabei unterlässt er glücklicherweise inszenatorische Kinkerlitzchen, sondern verlässt sich zu Recht auf die Darstellungskraft seiner drei kleinen Protagonistinnen. Besonders die Darstellerin der Molly, Everlyn Sampi, überzeugt durch eine für das Alter schier unglaubliche Verve und impulsive Durchsetzungskraft. Fähigkeiten, derer man bedurfte, um überleben zu können. Überleben im Reservat Jigalong. Überleben in der feindlichen Freundlichkeit des Erziehungslagers. Überleben in der tödlichen Wildnis Australiens.
Der Natur, der Kinder Verbündeter und Widersacher gleichermaßen, verleihen die großartigen Landschaftsaufnahmen von Kameramann Christopher Doyle eine distanzierte Wärme, die die Abkehr des gebürtigen Australiers, der seit den achtziger Jahren mit asiatischen Regiegrößen wie Wong Kar-wai arbeitet, von seiner Heimat spürbar machen. Seine Worte an die Darsteller "Always remember, this is enemies territory!" beziehen sich nicht nur auf die im Film dargestellten Geschehnisse, sondern sind gleichfalls ein Spiegel seiner Biographie.
Sehr zugute kommt dem Film, dass A.O. Neville, im Buch nur eine Nebenfigur, eine stärkere Ausarbeitung erfährt. Dieser euphemistisch genannte Chief Protector of Aborigines, von den Aborigines in Neville-Devil umgetauft, erfährt in der Darstellung von Kenneth Branagh genau die Ambivalenz, derer diese historisch verbürgte Person bedurfte. Er ist mithin die interessanteste Figur, weil sich in ihm verschiedene geistige Strömungen der damaligen Zeit artikulieren: die Verankerung seines rassistisches Gedankengutes in der bürgerlichen Gesellschaft, sein protofaschistisches Erheben einer Theorie über die menschlichen Schicksale, die staatliche Institutionalisierung von Gewalt. Seine idealisierte Vorstellung von seiner Arbeit wird im Film wirkungsvoll mit der Realität der Pseudosklaven konterkariert.
Trotz einiger dramaturgischer Längen im Mittelteil des Filmes ist Rabbit-proof fence ein sehenswerter Film. Nicht zuletzt auch, weil er in Australien durch den Einzug in die Populärkultur eine intensive Diskussion über die Fehler der Vergangenheit ausgelöst hat.

P.S.: An Bier und Party denken bei dem Wort Foster sicher auch nicht die in Woomera internierten afghanischen Flüchtlinge, die abgeschirmt von der Öffentlichkeit als Wahleinheizer für den fremdenfeindlichen Premierminister Howard dienten. Eingezäunt in der Wüste bleibt ihnen die Hoffnung, dass mit der Diskussion über die Fehler der Vergangenheit auch eine Auseinandersetzung über den institutionalisierten Rassismus der Gegenwart initiiert wird.

Zuerst veröffentlicht auf kino.de am 11.05.2003

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