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Herr Settembrini schaltet das Licht an

Oberlehrerhafte Ergüsse eines selbsternannten Filmpädagogen

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Mein Berlinale-Bericht 2015


Die Berlinale mit ihrer speziellen Festival-Atmosphäre ist für mich immer noch etwas Besonderes, und so habe ich nicht nur erstmals seit langem wieder mal einige Filme im Kino gesehen, sondern ich will aus diesem Anlaß ein paar Anmerkungen in meinem Filmtagebuch loswerden - auch dies erstmals seit langer Zeit.
Ich habe dieses Jahr mehr Filme gesehen als bei der Berlinale 2014, hatte insgesamt aber weniger Glück bei meiner Auswahl als damals. Trotzdem bekam ich auch sehenswerte Filme zu sehen, während mir ein echter Reinfall zum Glück erspart blieb.

Gesehen habe ich die folgenden Filme (in chronologischer Reihenfolge):

The Toll of the Sea [Retrospektive]
Inhaltlich erzählt der Film eine Liebesschnulze, deren Plot sich deutlich an Puccinis Oper Madame Butterfly anlehnt, nur daß hier China der Schauplatz des Films ist. Die Farben sind allerdings für einen Film von 1922 mehr als bemerkenswert: ganz natürlich wirken sie zwar noch nicht (das ermöglichte erst das Technicolor IV-Verfahren), doch die Farbgestaltung geht schon weit über die seinerzeit üblichen Viragierungen hinaus und nutzt die beschränkten Möglichkeiten des Technicolor II mit großer Raffinesse aus. Filmgeschichtlich daher von beachtlichem Interesse.

Beira-Mar [Forum]
Ein typisches Coming-of-Age-Drama über Selbstfindung und (Homo)sexualität: der junge Martin wird nach dem Tod seines Großvaters von seinem Vater zu dessen Haus geschickt, um eine undurchsichtig bleibende Angelegenheit, die mit dem Erbe zu tun hat, zu regeln; sein Freund Tomaz begleitet ihn.
Den Film empfand ich zunächst als recht sperrig, und eine ausgedehnte Partyszene hätte von mir aus auch kürzer ausfallen können. Andererseits muß ich mit dem Abstand von zwei Tagen einräumen, daß er stärker nachwirkt, als ich zunächst vermutet hätte. An den beiden jungen Hauptdarstellern fand ich Gefallen, und reizvoll ist es, hier einmal ein Brasilien im Winter fernab von allen Samba-Klischees zu erleben. Die Erzählweise ist aber fast schon zu elliptisch. Tomaz, der als Zeichner recht begabt ist, malt einmal in einer Toilette eine Frau ohne Mund an die Wand - so ähnlich wie diese Zeichnung kommt mir auch der Film vor: durchaus von Talent zeugend, wirkt er doch ein wenig unfertig.

I Remember [Perspektive Deutsches Kino]
Zwei junge Männer verbringen einige Tage in einem Haus am Strand und verlieben sich in dieselbe Frau, was zu Spannungen und Konflikten führt.
Der Film hat sehr atmosphärische Momente; weniger überzeugend als die audiovisuelle Gestaltung ist aber der auch für einen halbstündigen Kurzfilm eher schwache Plot. Der Film basiert auf einer Kurzgeschichte, die ihrerseits auf einen Song zurückgeht - das merkt man auch ein wenig.

Im Spinnwebhaus [Perspektive Deutsches Kino]
Der zwölfjähriger Jonas muß längere Zeit allein auf seine jüngeren Geschwister achtgeben, da seine psychisch kranke Mutter sich in Behandlung begibt und die Kinder mit dem Auftrag zurückläßt, dies geheimzuhalten.
Bei einem solchen Sujet drängen sich Vergleiche mit dem thematisch verwandten Meisterwerk Nobody knows von Hirokazu Kore-Eda förmlich auf. An dieses Werk kommt Im Spinnwebhaus bei weitem nicht heran, geht aber auch ganz andere Wege: der Film ist mit beinahe märchenhaften Elementen durchsetzt; besonders ein auf der Straße lebender junger Graf, der meist in Reimen spricht und Jonas öfters hilft, ist keine realistische, sondern romantische Gestalt. Diese Mixtur aus Sozialdrama und Märchen funktioniert (für mich zumindest) aber nicht so richtig und zieht den Film insgesamt ein wenig runter, was übrigens schade ist, denn der Film hat eindeutig seine Qualitäten: es gibt ein paar wirklich intensive Momente, die Schwarzweißbilder sind von großer Schönheit, und die Kinderdarsteller spielen fantastisch.

Mr. Holmes [Wettbewerb (Außer Konkurrenz)]
Der 93jährige Sherlock Holmes hat sich schon lange auf das Land zurückgezogen, wo er mit seiner Haushälterin und deren Sohn Roger zusammenlebt. Während seine Beziehung zu dem intelligenten Jungen immer enger wird, kämpft Holmes gegen den allmählichen Verlust seines Gedächtnisses und versucht sich daran zu erinnern, was bei seinem letzten Fall schiefgelaufen ist... Schließlich erkennt Holmes, der immer nur Fakten zusammengetragen und gedeutet hat, in seinem letzten Lebensabschnitt noch den Wert der Fiktion.
Ein schöner, melancholischer, bisweilen aber auch amüsanter Film über die Bürden des Alters, das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, über unbewältigte Schuld und über Bienen und Wespen, der seine klug entwickelte Geschichte etwas verschachtelt erzählt und auf angenehme Weise altmodisch inszeniert ist. Getragen wird der Film vor allem von seinen ausgezeichneten Darstellern, wobei der wunderbare Ian McKellen an erster Stelle zu nennen ist.

Eisenstein in Guanajuato [Wettbewerb]
In seinem ersten Film seit langer Zeit thematisiert Peter Greenaway Sergej Eisensteins Aufenthalt in Mexiko, wo Eisenstein einen Film drehen sollte, der dann aber gestoppt und nicht mehr von Eisenstein selbst geschnitten wurde. Greenaway hat seinen Filmen mit kurzen Ausschnitten aus Eisensteins berühmtesten Werken gespickt und läßt über den Zuschauer enorme Bilderfülle hereinbrechen, wobei er zwar großes Können beim Umgang mit seinen Mitteln (so etwa die häufige Dreiteilung des Bildes) zeigt; trotzdem nutzen sich die formalen Kunstgriffe dieses Virtuosenstücks recht bald ab. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, daß Greenaway sich nur sekundär für den Filmemacher Eisenstein und den kreativen Schaffensprozeß interessiert, und deutlich mehr dafür, wie der sexuell unerfahrene Eisenstein homosexuelle Erfahrungen macht. Im Mittelpunkt steht dann auch eine meines Erachtens ziemlich alberne Szene, in der Eisenstein von seinem mexikanischen Begleiter regelrecht entjungfert wird und die damit endet, daß dieser Eisenstein eine rote Revolutionsfahne in den Hintern steckt. Letztlich ein Film, dessen eher dürftiger Inhalt mit der formalen Gestaltung, die zumindest stellenweise brillant ist, nicht mithalten kann, und der zwar durchaus seinen Unterhaltungswert hat, von Greenaways Meisterwerken der 80er aber Lichtjahre entfernt ist.

Knight of Cups [Wettbewerb]
Während Terrence Malick früher ein lyrischer Erzähler unter den großen Filmregisseuren war, ist er mittlerweile zu einem reinem Lyriker geworden. Dementsprechend sperrig ist Knight of Cups, der thematisch übrigens recht eng mit The Tree of Life verwandt ist, denn die Lebens- und Familiengeschichte der Hauptfigur (soweit sie sich dem Zuschauer erschließt) weist sehr deutliche Parallelen zu jener des ältesten der drei Brüder in The Tree of Life auf. Wirklich neu an dem Film ist aber, daß erstmals bei Malick die Großstadt eine Hauptrolle spielt.
Natürlich habe ich den Film nicht verstanden - allenfalls auf einer recht oberflächlichen Ebene; ich muß auch zugeben, daß es mir schwerfiel, diesem zweistündigen Bildergedicht stets mit der dafür eigentlich erforderlichen Konzentration zu folgen. Gewiß: für den Mut, die Radikalisierung seines filmischen Stils mit solcher Konsequenz zu betreiben, gebührt Terrence Malick Respekt - den Zuschauern, die bereit sind, ihm auf dem zuletzt eingeschlagenen Weg noch zu folgen, allerdings auch.

Snow White and the seven Dwarfs [Retrospektive]
Der erste abendfüllende Zeichentrickfilme aus dem Hause Disney ist zugleich einer der besten. Der Film folgt im wesentlichen dem Handlungsablauf des Grimmschen Märchens, läßt aber zwei Mordanschläge der bösen Königin weg, die im Film auch ein anderes Ende nimmt (das nicht so sadistisch wie im Märchen ist). Natürlich wird, wie fast immer in einem Disney-Zeichentrickfilm, viel gesungen, doch das läßt sich aushalten, und es gibt eine Fülle amüsanter Einfälle, gerade eine große Putz-Szene, in der das Zwergenhaus gereinigt wird, steckt voller putziger Details. Sehr gut gefallen hat mir auch, daß jeder der Zwerge eine ganz eigene Persönlichkeit hat. Am eindrucksvollsten fand ich aber doch die düsteren Sequenzen, die von der bösen Königin beherrscht werden (ich habe nun mal eine Vorliebe fürs Finstere...). Die Farben setzt der Film sehr dezent ein, richtig leuchtend und intensiv ist aber der vergiftete Apfel. Die zahlreichen bei der Vorführung anwesenden Kinder folgten dem Film begeistert und zeigten so, daß er trotz seines Alters jung geblieben ist.

Das war dann meine bescheidene Filmauswahl bei der diesjährigen Berlinale. Sehr schön an den diesjährigen Filmfestspielen waren (wie schon in früheren Jahren) die Begegnungen mit Gerngucker, Short Cut und Travis; das größte Ärgernis war dagegen kein Film, sondern die Sperrung des Nord-Süd-S-Bahntunnels, die meine Fahrten erheblich verkomplizierte.

Und das war es dann auch schon...


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Ariane - Liebe am Nachmittag


Paris ist die Traumstadt zahlreicher Hollywood-Regisseure von Ernst Lubitsch bis hin zu Woody Allen, und Billy Wilder stellt in dieser Beziehung keine Ausnahme dar: auch bei ihm erscheint die Seine-Metropole als Sehnsuchtsort, an dem romantische Gefühle gegen jede Wahrscheinlichkeit (Film-)Wirklichkeit werden können. Dies deutete sich bereits in Sabrina an, doch zu ihrem vollen Recht kommt die Filmtraumstadt Paris erst in Love in the Afternoon.
Nur an diesem imaginären Ort, der zu Beginn in einer hinreißenden Sequenz, in der Wilder eine Reihe von (Film)küssen aneinander montiert, vorgestellt wird, kann sich die Geschichte abspielen, die Wilders Film erzählt: dort, in Paris, kreuzen sich die Wege der jungen Cellistin Ariane (Audrey Hepburn) und des reichen Frauenhelden Frank Flannagan (Gary Cooper). Ausgerechnet in diesen skrupellosen Schürzenjäger verliebt sich die unschuldige Ariane, verfällt aber schließlich auf einen raffinierten Weg, den Herzensbrecher zu erobern, indem sie ihm vorgaukelt, schon zahlreiche Affären (deren Details sie dem Archiv ihres Vaters, der als Privatdetektiv tätig ist, entnimmt) gehabt zu haben...
Allein schon durch die Umkehrung des aus vielen Geschichten bekannten Prinzips, daß die Verruchtheit sich als Unschuld ausgibt, wird dieser Film zu einem besonderen Vergnügen. Trotzdem gilt Ariane - Liebe am Nachmittag vielfach als keines der stärksten Werke Wilders. Besonders oft bemängelt wird die Besetzung der männlichen Hauptrolle mit Gary Cooper; nun ist zwar einzuräumen, daß Wilders eigentliche Wunschbesetzung Cary Grant noch besser gewesen wäre (eine Vorstellung davon vermittelt Stanley Donens hinreißender Charade - übrigens auch ein toller Parisfilm - in dem Audrey Hepburn und Cary Grant gemeinsam zu erleben sind), aber immerhin war Cooper als Hauptdarsteller an zwei Klassikern von Wilders Vorbild Ernst Lubitsch beteiligt (und außerdem auch noch an dem von Lubitsch produzierten Desire), was eigentlich schon deutlich genug zeigt, daß er keineswegs die Fehlbesetzung war, als die er oft bezeichnet wird. Audrey Hepburn ist ihrerseits so bezaubernd wie immer, und auch Maurice Chevalier (während der 30er Jahre einer der Stammschauspieler Lubitschs) verkörpert Arianes Vater mit unwiderstehlichem Charme. Doch nicht nur durch seine Besetzung erinnert der Film stark an Lubitsch: auch stilistisch ist Wilder seinem Vorbild in Love in the Afternoon wohl besonders nahe gekommen und hat ein mit Wort- und Bildwitz (man denke nur an die Geigen im Dampfbad!) gleichermaßen gespicktes Meisterwerk geschaffen, das einerseits so frivol ist, wie ein Film in den prüden 50ern überhaupt sein konnte, und das trotzdem eine schwebende Eleganz und Leichtigkeit besitzt, die den romantischen Komödien unserer Tage vollkommen fehlt. Tatsächlich gehört Ariane - Liebe am Nachmittag zu meinen liebsten Filmen Billy Wilders und gefällt mir persönlich sogar besser als der viel berühmtere Manche mögen's heiß.


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Mein Berlinale-Bericht 2014


Aus verschiedenen Gründen habe ich dieses Jahr so wenig Filme bei der Berlinale gesehen wie schon seit vielen Jahren nicht mehr, nämlich gerade einmal fünf. Das scheint sehr wenig zu sein - und trotzdem war dies für mich persönlich eines meiner besten Festivals, weil ich kaum einmal bei meiner Auswahl eine so glückliche Hand hatte wie in diesem Jahr: alle fünf Filme fand ich mindestens sehenswert, während ich in vergangenen Jahren doch so manche Nieten gezogen habe. Nach dieser kleinen Vorrede will ich dann auch gleich auf die einzelnen Filme kurz eingehen:

Mein erster Berlinale-Film war dann gleich ein echter Hammer:

Nymphomaniac Volume I [Wettbewerb (außer Konkurrenz)]
Eine Nymphomanin legt vor einem schöngeistigen, intellektuellen (aber trotzdem etwas naiven) Mann, der nicht so recht glauben will, daß es schlechte Menschen gibt, eine Lebensbeichte ab. Der erste Teil von Lars von Triers neuestem Werk erweist sich trotz seiner z.T. sehr deutlichen Sexszenen keineswegs als Pornostreifen, sondern als hochkomplexe und ausgesprochen unterhaltsame Mischung aus philosophischer Abhandlung in Filmform, tiefschwarzer Komödie und intensivem Drama über Lust, Schuld und Tod, wobei solche Themen wie Angeltechniken, die Fibonacci-Zahlen, die Polyphonie bei Palestrina und Bach und die Frage, was es über den Charakter eines Menschen aussagt, ob er beim Schneiden seiner Fingernägel mit der linken oder der rechten Hand beginnt, aussagt, gestreift werden. Der Film ist in einzelne Kapitel unterteilt (Tarantino hat das ja auch schon einige Male so gemacht), die sich in der Wahl der Stilmittel und ihrer Grundstimmung teilweise stark voneinander unterscheiden - "Volume I" enthält die ersten fünf Kapitel. Einen besonders starken Eindruck hinterlassen zum einen das dritte Kapitel "Mrs. H" und das folgende "Delirium". Das dritte Kapitel ist einerseits (auf äußerst fiese Weise) enorm komisch, aber auch von einer ungeheuren (seelischen) Grausamkeit; Uma Thurman läuft hier zu unvergeßlicher Hochform auf und zeigt, obwohl ihre Rolle (mit Blick auf den ganzen Film) nur klein ist, die vielleicht eindrucksvollste Leistung ihrer Laufbahn. Im "Delirium"-Kapitel wiederum mutet von Trier dem Zuschauer dafür die womöglich quälendsten Sterbeszenen seit Bergman Schreie und Flüstern zu. Fraglos steckt der Film auch voller kulturgeschichtlicher Bezüge, die ich sicher gar nicht alle entdeckt habe; am Ende dieses ersten Teils hatte ich schließlich das Gefühl, mein Gehirn wäre gerade geschreddert worden. Lars von Trier ist und bleibt der interessante, herausforderndste und vermutlich auch beste Regisseur der Gegenwart.

Weiter ging es mit:

The Better Angels [Panorama]
Über Abraham Lincolns Kindheit und Jugend ist nicht viel bekannt, und wenn sein langjähriger Kanzleipartner William Herndon nicht unmittelbar nach Lincolns Ermordung zahlreiche Zeitzeugen (es waren wohl 250) befragt hätte, wüßte man so gut wie gar nichts. A.J. Edwards Regiedebüt schildert jene wenig erforschten Jahre in Lincolns Leben, in denen seine Mutter starb und seine Stiefmutter ihm nach der erneuten Heirat seines Vaters zu einer wichtigen Stütze wurde.
A.J. Edwards hat zuvor als Cutter für Terence Malick gearbeitet, der The Better Angels auch mitproduziert hat. Der visuelle Stil des poetischen Films erinnert dann auch deutlich an Malick (wenn man davon absieht, daß dieser nie in Schwarzweiß gearbeitet hat), wie übrigens auch die Musikauswahl (unter anderem Wagner, Bruckner und Dvorak). Der Film hält sich recht genau an die historischen Begebenheiten, insofern sie bekannt sind, so wird insbesondere Lincolns schwieriges Verhältnis zu seinem Vater (Historiker haben keine einzige positive Äußerung Lincolns über seinen Vater finden können) deutlich.
Leider muß ich an dieser Stelle einräumen, von dem Englisch, das in diesem Film gesprochen wird, kaum ein Sterbenswörtchen verstanden zu haben (allerdings half die erst etwa zehn Monate zurückliegende Lektüre einer Lincoln-Biographie mir sehr dabei, mich zurechtzufinden), weshalb ich so manches Detail nicht richtig mitbekommen habe. Alles in allem ist dies aber, auch wenn der Film sich zum Ende hin etwas schwer tut, den richtigen Abschluß zu finden und sicherlich noch ein gutes Stück von der Qualität der Malick-Meisterwerke entfernt ist, ein sehr beachtliches Erstlingswerk; auch Terrence Malick kann durchaus zufrieden sein.

Es folgte ein Ausflug in die Stummfilmzeit:

Faust - Eine deutsche Volkssage [Retrospektive]
Murnaus Version des Fauststoffes beruht nicht allein auf Goethes Faust, sondern greift auch Motive der urspünglichen Sage und der Gestaltung Christopher Marlowes auf (wodurch der Film inhaltlich etwas uneinheitlich wirkt). Besonders die erste Hälfte des Films hat mit dem Goethe-Drama nicht viel zu tun, hier versucht Faust vielmehr, ein Mittel gegen die Pest zu finden, und beschwört dann schließlich den Teufel. Der zweite Teil des Films, der die Gretchen-Tragödie schildert, folgt dagegen ungefähr dem Goethe-Drama (wobei Gretchens Leidensweg sogar deutlich ausführlicher als im Drama gezeigt wird); die Schlußszene unterscheidet sich allerdings beträchtlich, und ich muß sogar gestehen, daß ich sie ziemlich kitschig fand.
Inhaltlich kann der Film also mit einem so vielschichtigen und gedankenreichen Werk wie Goethes opus magnum sicherlich nicht mithalten; die eigentlichen Qualitäten des Films liegen aber ohnehin im formalen Bereich. Zu Recht wird Fausts Flug mit Mephisto über die Welt immer wieder erwähnt, wenn von diesem Film gesprochen wird; aber auch die Ausstattung ist erwähnenswert, und weiterhin gelingen Murnau diverse großartige Bilder: wenn sich etwa Mephisto mit seinem dunklen Mantel über die ganze Stadt beugt, und auch die apokalyptischen Ritter zu Beginn haben ihren Reiz. Insgesamt also ein bemerkenswerter Film, aber nicht so gut wie "Der letzte Mann".
Was die Aufführung des Films betrifft, ist besonders die Musikbegleitung hervorzuheben: für diese sorgte nicht nur ein Pianist, sondern an manchen Stellen kam auch noch eine Geige hinzu, was sehr stimmungs- und wirkungsvoll war; andererseits ließen die Musiker in einigen Momenten ihre Instrumente auch ganz verstummen. Der lang anhaltende Applaus nach der Vorführung galt daher sicherlich nicht allein dem Film, sondern zu Recht auch den beiden Musikern.

Schwer beeindruckt war ich von meiner ersten Begegnung mit Ken Loach:

Kes [Hommage Ken Loach]
Der 14jährige Billy wächst in einem tristen englischen Arbeiterviertel auf und leidet unter den Verhältnissen in seiner Familie ebenso wie unter denen in der Schule. Die Aufzucht eines jungen Falken wird zu seinem einzigen Trost und eigentlichem Lebensinhalt.
Der Film weist geradezu dokumentarische Qualitäten auf und ist einerseits eine überzeugende Milieustudie, andererseits aber auch ein sehr eindringliches individuelles Drama. Dabei gelingen Ken Loach eine ganze Reihe höchst intensiver Szenen, in denen auch ein überaus kritischer Blick auf die britische Gesellschaft uns insbesondere das Schulsystem geworfen wird (und mit dem widerwärtigen Sportlehrer ist meine persönliche Liste besonders hassenswerter Filmfiguren wieder etwas länger geworden...). Ein überaus kraftvoller Film (auch wegen der Schauspieler), dessen Wucht ich vorher so nicht erwartet hatte.

Der würdige Abschluß war dann:

Boyhood [Wettbewerb]
Zu Beginn des Films blickt ein kleiner Junge namens Mason etwas verträumt in den Himmel; am Ende ist Mason 18 Jahre alt und beginnt sein Studium am College - wird aber immer noch von demselben Darsteller verkörpert. Allein schon dadurch, daß der Film über 12 Jahre hinweg gedreht wurde, ist Boyhood etwas ganz besonderes, und das, obwohl (oder gerade weil?) er nichts allzu ungewöhnliches erzählt, denn es wird im Verlauf der letzten Jahre viele Jungen gegeben haben, die eine ähnliche Kindheit und Jugend wie Mason erlebt haben - mit allen Höhen und Tiefen, inklusive vieler Umzüge, Trennung der Eltern und neuer Beziehungen und Eheschließungen, auf die diese sich einlassen, die dann aber auch wieder in die Brüche gehen. So ist Boyhood einerseits ein sehr lebensnahes Jugend- bzw. Familiendrama, wird aber darüber hinaus auch zu einem hochinteressanten Zeitdokument. Wenn die Masons dieser Welt später einmal selbst einmal Kinder haben werden, die dann wissen wollen, wie es in der Jugendzeit ihrer Eltern zuging, werden sie diesen Boyhood zeigen können. Ein ausgezeichneter und wunderbar gespielter Film.


Ansonsten kann ich zu dieser Berlinale noch anmerken, daß...

...ich meinen Freund Travis diesmal vermißt habe und auch meine Begegnung mit Gerngucker leider zu kurz war.

...man sich mit Short Cut wunderbar über diverse Regisseure, ganz besonders Ingmar Bergman, unterhalten kann.

...ich die Mozarttorte mit Rum im Museumscafe neben dem Zeughauskino durchaus empfehlen kann.

...ich die Folterstühle im Friedrichstadtpalast noch immer als Zumutung betrachte.

...das Wetter diesmal so gut wie seit vielen Jahren nicht mehr war - ich hätte nicht gedacht, noch mal eine Berlinale ohne Dauerregen oder Glatteis zu erleben.

Und das war er dann, mein persönlicher Kurzbericht von der Berlinale 2014!


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The Tree of Life


Terrence Malicks Filme sind vom (besonders in Hollywood) gängigen, narrativen Kino weit entfernt, sondern eher Bildergedichte, die zugleich aber auch eine Verwandtschaft mit der literarischen Erzähltechnik des Bewußtseinsstroms aufweisen (denn die für Malick typischen Off-Stimmen sind ja stets auch innere Monologe), und vermutlich ist Malick auch der einzige Regisseur, der ein so unverfilmbares Buch wie Die Wellen verfilmen könnte, ohne daß totaler Unsinn dabei herauskäme.
The Tree of Life ist stilistisch der wohl radikalste, am wenigsten narrative Film Malicks. Der Titel läßt einen natürlich erst einmal einen religiösen Erbauungsquark der schlimmsten Sorte befürchten, doch ein solcher ist der Film dann, trotz gelegentlich leicht aufdringlicher sakraler Töne und seinen (übrigens nicht uninteressanten) Bezügen zum Buch Hiob keineswegs, und einem christlichen Fundamentalisten dürfte er wohl kaum gefallen (da Malick doch einiges an Erdgeschichte zeigt, inklusive Dinosauriern, obwohl jeder anständige Fundamentalist doch weiß, daß die Erde erst 6000 Jahre als ist und der HErr die Dinosaurierskelette nur verbuddelt hat, um zu prüfen, wie es um die Festigkeit des Glaubens der Christen bestellt ist).
Tatsächlich "erzählt" The Tree of Life zum einen die Geschichte einer Familie aus Texas in den 50er Jahren, setzt sich zum anderen aber mit der Grundfrage nach dem Sinn des Lebens und mit der Unausweichlichkeit des Todes auseinander - und schafft es (wenn auch manchmal mit etwas Mühe), dies unter einen Hut zu bringen.
Besonders profitiert der Film von den großartigen Bildern Emmanuel Lubezkis, der wohl ohnehin einer der besten Kameramänner unserer Zeit ist; aber gerade der lange, in Texas spielende Hauptteil des Films gewinnt auch durch die Darstellerleistungen seine Eindringlichkeit. Für einen Filmstar ist ein Malick-Film sicher ein schwieriges Terrain, da bei Malick die Kamera der Star ist, während die Schauspieler sich einem audiovisuellen Gesamtkonzept (mehr oder weniger) unterordnen müssen. Brad Pitt hat das akzeptiert und zeigt als extrem autoritärer Vater, der aber eigentlich eine gescheiterte Existenz ist (was er dann am Ende auch selbst erkennt), eine der besten Leistungen seiner Karriere. Und Pitt muß auch so gut sein, um neben seinen unglaublich natürlich agierenden Filmsöhnen Laramie Eppler, Tye Sheridan und dem besonders bemerkenswerten Hunter McCracken bestehen zu können.
Am Ende steht dann, nach der kosmischen und geologischen Entwicklungsgeschichte und dem texanischen Familiendrama, eine Art Jenseitsvision am Strand, die wohl den wenigsten Zuschauern gefallen hat: ich muß aber zugeben, auch diesen Teil zu mögen, vielleicht wegen der dantesken Purgatoriostimmung, die ich zumindest bei dieser Szene verspüre.
Was also ist The Tree of Life? Eine Meditation über das Leben, das Universum und den ganzen Rest? Gewiß. Ein religiöser Film? Vielleicht, aber dann im weitesten Sinne - ich halte es für sinnvoller, von einem spirituellen Film zu sprechen. Auf alle Fälle aber ist The Tree of Life ein vielleicht nicht vollkommen makelloses, aber trotzdem kraftvolles und höchst faszinierendes Stück Kinokunst.


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Barry Lyndon


Nach dem Erfolg von 2001 - Odyssee im Weltraum beabsichtigte Stanley Kubrick, einen Napoleon-Film zu drehen, und vermutlich wäre dabei ein sehenswerter Film herausgekommen; doch bekanntermaßen wurde nichts daraus. Dafür gelang es Kubrick später doch noch, einen großen Historienfilm zu drehen, der von einem fehlgeschlagenen Leben handelt: Barry Lyndon nach einem Roman von William Makepeace Thackeray.
Der Film erzählt die Geschichte des Iren Redmond Barry, der nach einem (fingierten) Duell mit einem englischen Offizier eine turbulente Laufbahn als britischer Soldat, Deserteur, preußischer Soldat, Spion und Spieler durchläuft, bis er schließlich die reiche Lady Lyndon heiratet und sich nun Barry Lyndon nennen darf - um, in solchen gesellschaftlichen Höhen angelangt, wieder zu Fall zu kommen.
Thackerays Roman wartet noch ein wenig auf seine eigentliche Entdeckung, er steht deutlich im Schatten von Thackerays berühmtesten Werk Jahrmarkt der Eitelkeit (Vanity Fair) - daran hat bisher auch Kubricks grandioser Film nicht wirklich viel geändert. Das ist zumindest bedauerlich, denn wenngleich der Roman noch nicht die Meisterschaft von Jahrmarkt der Eitelkeit erreicht, ist er trotzdem ein sehr beachtliches Frühwerk; sehr eindringlich sind insbesondere die im Siebenjährigen Krieg angesiedeltelten Kapitel, die das Grauen des Krieges mit bemerkenswerter Intensität darstellen (wobei auch der ach so aufgeklärte Preußenkönig Friedrich II. gar nicht gut wegkommt). Barry erzählt dabei seine Lebensgeschichte selbst, wobei er im allgemeinen ein höchst unglaubwürdiger und unzuverlässiger Erzähler ist; der Leser ist also immer aufgefordert, aus Barrys Prahlereien das wirkliche Geschehen herauszulesen.
Kubricks Verfilmung folgt der Romanhandlung in groben Zügen, wobei Kubrick im Detail sehr viele Änderungen vorgenommen hat, in erster Linie wohl, um die Handlung filmgerecht zu straffen: so werden in einer der Schlüsselszenen des Films, in der Barry seinen Schwiegersohn Lord Bullingdon bei einem Hauskonzert vor vornehmen Gästen verprügelt, drei verschiedene im Roman geschilderte Vorfälle in einer Szene zusammengefaßt - dies sei als ein Beispiel genannt, wie geschickt Kubrick die handlungsreiche Vorlage verdichtet hat. Neben solchen Änderungen bestimmter Einzelheiten hat Kubrick auch zwei sehr wichtige Änderungen vorgenommen: anders als im Buch wird Barry Geschichte objektiv erzählt und von einem Erzähler aus dem Off begleitet (wobei diese Off-Texte zum großen Teil aus Thackerays Roman entnommen, aber entsprechend abgewandelt sind), wodurch Thackerays Ironie weitgehend einer eher melancholischen Sichtweise weicht; und das Duell am Ende des Films ist Kubricks alleinige Erfindung (eine seiner besten), denn bei Thackeray führt Barrys Weg letztlich in den Schuldturm.
Daß Kubrick mit Barry Lyndon eines der unstreitigen Meisterwerke des Historienfilms gelungen ist, ist natürlich besonders auf die überragende (audio)visuelle Gestaltung des Films zurückzuführen. Wohl selten ist das Kino der Malerie so nahe gekommen wie in Barry Lyndon; daß Kubrick sogar mit ursprünglich von der NASA entwickelten Linsen arbeitete, um nur mit Kerzenlicht drehen zu können, ist zwar sattsam bekannt, sollte aber in diesem Zusammenhang trotzdem ruhig noch mal in Erinnerung gerufen werden. Die passend ausgewählte Musik verstärkt den Eindruck der Filmbilder noch, wobei besonders eine Sarabande Händels den Film wie ein Leitmotiv durchzieht.
Freilich wirkt der Stil des Films sehr distanziert und artifiziell, und trotzdem erschöpft Barry Lyndon sich durchaus nicht nur in schönen Bildern und Tönen. Vielmehr ist die Künstlichkeit, die den Bildern anhaftet, auch ein wesentliches Merkmal der Welt und der Gesellschaft, in der Barry sich bewegt: die Gesichter der Menschen erstarren förmlich unter der maskenhaften Schminke, die sie sich aufgetragen haben, und für romantische Gefühle ist auch nicht viel Platz; schon gar nicht dann, wenn sie finanziellen Erwägungen im Wege stehen. Barry lernt dann auch recht schnell, wie der gesellschaftliche Aufstieg möglich ist: während er anfangs noch (beim fingierten Duell) reingelegt und wenig später ausgeraubt wird, empfiehlt er sich später durch Hochstapelei und Betrug den höheren Kreisen der Gesellschaft und gewinnt Lady Lyndons Hand. Besonders aufschlußreich ist dann auch sein Abstieg: finanziell setzt dieser zwar schon früh ein, doch seinen Untergang besiegelt er erst in der schon erwähnten Szene, in der er seinen Stiefsohn verprügelt, denn er tut dies nicht (wie vorher zweimal) mit einem Stock, sondern unbeherrscht, im Stil eines irischen Raufboldes und löst natürlich einen Skandal aus: die höhere Gesellschaft ist zwar bereit, einen Hochstapler und Schurken in ihren Reihen zu dulden, aber nur, so lange er ihre Spielregeln befolgt. Gerade hier wird aber auch deutlich, daß Kubrick (wie schon vor ihm Thackeray) nicht nur die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts kritisiert, sondern sehr wohl auch die Gegenwart im Blick hat: denn hat sich an den Spielregeln der Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert wirklich so viel geändert?
Trotz solcher Gesellschaftskritik wirkt jedoch Barry Lyndon bei weitem nicht so misanthropisch wie manch anderer Kubrick-Film. Der extreme Menschenhaß des vorigen Films ist einem von Resignation (und Pessimismus), aber auch Verständnis geprägten Blick auf die Figuren gewichen. So ist Kubricks Redmond Barry bei weitem nicht so negativ gezeichnet wie die Figur in Thackerays Roman; Barry ist eher ein schwacher als böser Mensch, und sein zumeist amoralisches Verhalten das Ergebnis der Lehrstunden auf dem Schlachtfeld und am Spieltisch. Sein kleiner Sohn Brian weckt die wohl besten Seiten an ihm; auch deshalb geht einem bein Sehen des Films Brians Tod so nahe. Am Ende, beim Duell mit Lord Bullingdon, verhält Barry sich dann tatsächlich einmal ehrenhaft; zum Lohn dafür endet er als Krüppel. Das ist natürlich ganz typisch für Kubrick, und doch erscheint mir auch diese bittere Pointe einfach als Ausdruck von Pessimismus, nicht von Zynismus.
Wenn man von Barry Lyndon spricht, sollte man bei allen optischen und inszenatorischen Feinheiten natürlich nicht die großartige Darstellerriege vergessen, angeführt von Ryan O'Neal, der in diesem Film wohl die größte Rolle seines Lebens spielt und als naiver junger Mann in den frühen Szenen genauso überzeugt wie später als skrupelloser Schloßherr. Aber auch sonst die Schauspieler großartig: auch in dieser Beziehung stellt Barry Lyndon einen der Höhepunkte in Kubricks Werk dar.
Barry Lyndon erreicht vielleicht nicht ganz die Vieldeutigkeit von 2001, ist nicht ganz so sehr filmischer Monolith wie dieser: dafür ist es aber gewiß Kubricks schönster und zugleich wohl auch melancholischster Film. Darüber hinaus aber ist Barry Lyndon, trotz seines artifiziellen Charakters und seiner distanzierten Erzählweise für mich auch Kubricks bewegendster Film, was vielleicht das größte Wunder dieses an Wundern so reichen Filmes darstellt.


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Rosemaries Baby


Ein Meisterstück des Grauens: in Roman Polanskis Rosemaries Baby gibt es kein nebelumwabertes Spukschloß und keine kettenrasselnden Geister, auch keine schwarzen Katzen oder regennasse dunkle Gassen, und es wird auch nicht hektoliterweise Filmblut verschüttet; und trotzdem ist dieser vielleicht subtilste Horrorfilm aller Zeiten einer der beängstigendsten, die es gibt. Und selbstverständlich auch einer der besten.
Rosemary Woodhouse und ihr Mann Guy beziehen eine als schön erscheinende und geräumige Wohnung in einem New Yorker Hochhaus, das allerdings eine recht dunkle Geschichte hat. Besonders Rosemary wünscht sich Kinder, während Guy in seinen Gedanken stets auch mit seiner bislang wenig erfolgreichen Karriere als Schauspieler (er hat nur in zwei Theaterstücken und Werbespots mitgespielt) beschäftigt ist. Bald lernt das junge Ehepaar seine schrecklich netten Nachbarn kennen: das schon alte Ehepaar Castavet. Guy freundet sich mit den neuen Nachbarn an, während Rosemary von der aufdringlichen Hilfsbereitschaft insbesondere Minnie Castavets sehr schnell genug hat, sich dieser aber kaum noch erwehren kann. Wenig später bekommt Guys Karriere dadurch Auftrieb, daß ein Darsteller, der ihm bei der Vergabe einer attraktiven Rolle vorgezogen wurde, plötzlich erblindet ist, und als Rosemary (freilich nach einem wilden Alptraum, in dem sie vom Teufel vergewaltigt wird) schwanger wird, scheinen sich alle Wünsche des Ehepaars Woodhouse zu erfüllen. Doch mit der Schwangerschaft beginnt der eigentliche Alptraum für Rosemary erst: zunächst muß sie wochenlang Schmerzen durchstehen, die den (natürlich von den Castavets empfohlenen) Arzt völlig unbeeindruckt lassen, und schließlich wird ihre Befürchtung, daß Satanisten es auf ihr Baby abgesehen haben, immer konkreter...
Der Film hat eine sehr ausgedehnte Exposition, die aber trotzdem nicht langweilig wird, denn schon von Beginn an streut Polanski immer wieder leicht irritierende Details (wenn man etwa erfährt, daß die Vormieterin nach wochenlanger Bewußtlosigkeit gestorben ist und Rosemary auf einem Zettel den Satz "Ich halte es nicht mehr aus" geschrieben findet) oder auch wirklich verstörende Momente (wenn die junge Frau, die Rosemary in der Waschküche kennengelernt hat, wenig später nach ihrem Selbstmord zerschmettert auf der Straße liegt) ein. So vergeht bis zu der großen Traumsequenz, in der das Genre dann voll zu seinem Recht kommt, etwas mehr als eine halbe Filmstunde, ohne daß man irgend etwas davon missen möchte.
Sehr zum Reiz des Films trägt bei, daß Polanski sehr lange offen läßt, ob tatsächlich teuflische Handlungen im Gange sind oder ob Rosemarie sich in einem Zustand zunehmender und wahnhafter Hysterie befindet. Dabei fesselt Polanski den Zuschauer durch zahlreiche großartige Suspense-Szenen (etwa, wenn Mia Farrow in der Telefonzelle ist), wie sie selbst Hitchcock nur in seinen besten Filmen gelungen sind; die beunruhigende Nähe des gezeigten Geschehens zum Alltag läßt den Alptraum, zu dem der Film sich zunehmend entwickelt, umso beklemmender erscheinen. Sehr reizvoll lotet der Film die Abgründe von nachbarschaftlicher Hilfe aus, läßt aber auch die "höheren Kreise" der Gesellschaft (in denen der Arzt Sapirstein offenkundig verkehrt) und nicht zuletzt die gesellschaftliche Institution der Ehe in keinem besonders guten Licht erscheinen; beim gestrigen Sehen kam ich sogar zum Eindruck, daß der opportunistische Guy vielleicht die schlimmste Figur ist, die man im Verlauf des Films kennenlernt.
Nicht nur inszenatorisch ist der Film herausragend, auch seine Darsteller sind es: Mia Farrow stattet ihre Rosemary mit genau der richtigen Portion Hysterie aus, auch John Cassavetes wirkt überzeugend (obwohl Polanski wohl unzufrieden mit seiner Leistung war), und zu besonderer Hochform läuft Ruth Gordon auf (die wenig später noch eine weitere Glanzrolle in Harold und Maude spielte): für ihre Darstellung der aufdringlichen, auf etwas vulgäre Weise überschminkten und gerade in ihrer falschen Freundlichkeit bedrohlichen Minnie Castavet wurde sie sehr zu Recht mit einem Oscar ausgezeichnet.
Innerhalb von Polanskis Gesamtwerk weist der Film besonders viele Ähnlichkeiten mit Ekel und Der Mieter auf (weshalb auch alle drei Filme zusammen bisweilen als eine Art Trilogie betrachtet werden): in allen drei Filmen sind Wohnungen zentrale Schauplätze; in allen Filmen taucht das akustische Motiv des Weckertickens auf, und allen Filmen gemeinsam ist auch das Thema des Individuums, dessen Versuche zur Selbstbehauptung von einer gleichgültigen oder sogar feindseligen Umgebung erstickt werden. Auch bestimmte Details unterstreichen die Verwandtschaft, wie etwa der Beginn und das Ende von Rosemaries Baby zeigen: ähnlich wie in Der Mieter folgt auf die Titelsequenz die Besichtigung einer Wohnung, die dann zum Schauplatz des Schreckens wird, und ähnlich wie Ekel wird auch Rosemaries Baby zu einem (in Resignation) geschlossenen Kreis, indem die Schlußeinstellung jenen Blick auf New York wiederholt, mit dem der Film auch begonnen hat. Dabei halte ich persönlich Rosemaries Baby für den eindrucksvollsten der drei Filme; ich möchte sogar behaupten, daß Roman Polanski mit diesem Film sein absolutes Meisterwerk gelungen ist.


(Mit Polanski hat meine kleine und recht eigenwillige Horrorreihe begonnen, mit Polanski endet sie jetzt auch, und da mich die ausführlichen Besprechungen der letzten Zeit ziemlich erschöpft haben, kann es sein, daß in der nächsten Zeit erst mal wieder Kurzkommentare angesagt sind.)


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Bram Stoker's Dracula


Bram Stokers Roman Dracula gehört fraglos zu den am häufigsten verfilmten Büchern. Daß Francis Ford Coppolas Filmversion des Stoffs schon durch ihren Titel auf Stokers Roman verweist, ist durchaus gerechtfertigt, denn inhaltlich ist dies wohl die werkgetreueste Adaption.
Freilich erlaubt sich auch Coppolas Film durchaus einige Freiheiten: so fügt der Film gleich mit seinem Prolog der Romanhandlung eine für die weitere Filmhandlung wesentliche Vorgeschichte hinzu und setzt so seine ganz eigenen Schwerpunkte bei der Interpretation von Stokers Werk. Natürlich ist Bram Stoker's Dracula über weite Strecken immer noch ein Horrorfilm, betont dabei aber auch besonders die romantischen und die erotischen Aspekte der Geschichte, und während Mina Harker im Roman zwar auch Mitleid für Dracula empfindet, gewiß aber keine Liebe, wird sie im Film zur Reinkarnation von Draculas Ehefrau aus seinem einstigen menschlichen Leben und fühlt sich auch ihrerseits stark zu Dracula hingezogen.
Immerhin, dieser eher romantische Ansatz (mit der Frage, ob und inwieweit Coppolas Film dazu beigetragen hat, daß Vampirfilme heutzutage sehr häufig Vampirschnulzen sind, will ich mich nicht näher auseinandersetzen) funktioniert recht gut, auch wegen des sehr artifiziellen, oftmals fast opernhaften Stil des (ausschließlich im Studio gedrehten) Films; stellenweise wirkt Bram Stoker's Dracula zwar ein wenig überladen und einzelne Stilbrüche bleiben auch nicht aus, doch alles in allem ist dieses Werk von großem Reiz (mir persönlich gefallen besonders die Schattenspielereien und die schönen Überblendungen, von denen es so einige gibt), und Coppola gelingen mehrere recht eindringliche Szenen.
Auch über die Darsteller sollte man bei diesem Film zumindest kurz sprechen: an erster Stelle ist natürlich Gary Oldman zu nennen, der Dracula überzeugend als ebenso abstoßendes wie mitleiderregendes Schreckensgeschöpf verkörpert. In Winony Rider findet er eine vielleicht nicht gleichermaßen beeindruckende, aber gute Partnerin, und in Anthony Hopkins, der als Prof. Van Helsing fast ebenso wahnsinnig wie in seiner Paraderolle als Dr. Hannibal Lecter wirkt, einen starken Widerpart. Nur Keanu Reeves kann da nicht wirklich mithalten und bleibt ein wenig farblos.
Alles in allem hat mich der Film bei dieser Sicht (es muß wohl auch schon die vierte gewesen sein) zwar nicht mehr ganz so stark beeindruckt wie das früher der Fall war, aber für eine interessante und sehr achtbare Verfilmung von Stokers Roman halte ich ihn immer noch.


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Aliens - Die Rückkehr


(Der Text bezieht sich auf die Special Edition)

Fortsetzungen großer (und erfolgreicher) Filme sind oft schwach und enttäuschend, in manchen Fällen sogar ausgesprochen lausig. Aber es gibt ein paar Ausnahmen von der Regel: als Paradebeispiel darf wohl The Godfather - Part II gelten, den manche Filmfreunde sogar über den ersten Teil stellen.
Zu den erfreulichen Ausnahmen von der Regel gehört aber auch James Camerons Aliens, der zwar nicht an die einzigartige Qualität von Ridley Scotts Meisterwerk herankommt, aber immerhin ein bemerkenswert guter Film ist. Das ist ja auch schon mal was. Dabei setzt Cameron durchaus eigene Akzente: so ist der Horroreinschlag des Films weniger ausgeprägt als in Alien, aber immer noch in vielen Szenen vorhanden (die hervorragende Alptraumszene in der Anfangsphase des Films sei hier exemplarisch erwähnt). Dafür gibt es bei Cameron sehr viel mehr Action, und auch Anklänge an den Kriegsfilm sind vorhanden. Vor allem aber ist der Filmtitel richtungweisend: nicht ein Alien setzt hier den Menschen zu, sondern etliche davon. In mancher Hinsicht ist das bedauerlich, denn entsprechend weniger Bedrohung geht hier von den einzelnen Aliens aus, und die Leichtigkeit (zumindest im Verhältnis zum ersten Film), mit der diese sich töten lassen, nimmt dem Alien als Archetyp eines Filmmonsters doch einiges von seiner gerade mythischen Aura, was schon schade ist; andererseits funktioniert Camerons Konzept recht gut. Der Film ist deutlich von der Handschrift seines Regisseurs geprägt: erwähnt seien etwa die für ihn typischen Blautöne, besonders in den ersten Sequenzen, und natürlich das bei Cameron fast unentbehrliche Wasser, das auch hier in einer spannungsgeladenen Szene eine wichtige Rolle spielt. Dabei erweist Cameron sich als ein Meister des Spannungskinos (vorbildlich ist etwa, wie eine frühe Szene, in der Ripley einen Laderoboter bedient, das Finale des Films vorbereitet und dafür sorgt, daß der Zuschauer bereits mit dem Ding vertraut ist, wenn Ripley sich damit gegen die Alienkönigin verteidigt); zugleich weist sein Film aber auch eine gesellschaftlich-politische Dimension auf: so ist es kaum verwunderlich, daß der Kampf der trotz ihrer High-Tech-Ausrüstung zunehmend auf verlorenem Posten stehenden Elitesoldaten, den der Film zeigt, als ein Kommentar Camerons zum Vietnamkrieg gedeutet worden ist.
Was mir persönlich an dem Film aber am besten gefällt, ist die Erweiterung der Ripley-Figur um eine wichtige Facette: wir erleben Ripley nun als eine Mutter, deren Tochter bereits gestorben ist, und für die später das Mädchen Rebecca (das sich Newt nennt), zur Ersatztochter wird; diese Beziehung ist das eigentliche Herz des Films (und die nächste Fortsetzung David Finchers mag ich schon deshalb nicht wirklich, weil dort gleich zu Beginn mehrere der Figuren, mit denen man in Aliens so lange mitfiebert, auf sehr lieblose Weise ins Jenseits befördert werden).
Beim erneuten Sehen ist mir allerdings auch aufgefallen, wie sehr Aliens letztlich doch seinem Vorgänger verpflichtet ist: für etliche Szenen läßt sich ein unmittelbares Vorbild in Alien finden, das dann von Cameron lediglich (wenn auch überaus geschickt) variiert wird. Als ebenbürtig mit dem Film Ridley Scotts kann ich daher, wie schon eingangs gesagt, Aliens keineswegs ansehen, ein sehr spannender und wirklich guter Film ist James Cameron aber allemal gelungen.


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Alien


(Die üblichen Spoilerwarnungen...)

Ridley Scott gehört zu den Regisseuren, bei denen man mit allem zu rechnen hat: in seinem Gesamtwerk sind Meisterwerke wie etwa Blade Runner ebenso anzutreffen wie auch völlig versemmelte Filme wie etwa Die Akte Jane.
Alien gehört für mich aber eindeutig zu den Meisterwerken. Daß der Film längst ein Klassiker gleich zweier Genres geworden ist, liegt sicherlich nicht an der vergleichsweise simplen Story: Die Besatzung des Raumschiffs Nostromo wird vom Bordcomputer aus dem Kälteschlaf geweckt, um einem (vermeintlichen) Notruf nachzugehen. Bei der Erkundung des nahegelegenen Planeten wird ein Besatzungsmitglied von einem außerirdischen Organismus angefallen, scheint sich zu erholen, doch wenig später bricht aus dessen Brustkorb ein schnell wachsendes Monster hervor, das ein Mitglied der Besatzung nach dem anderen tötet. Nur die ebenso mutige wie kühl rational agierende Ellen Ripley kommt mit dem Leben davon.
Wie dieser Plot allerdings umgesetzt wird, ist umwerfend. Das liegt insbesondere am Alien selbst: das vom Schweizer Künstler H.R. Giger entworfene Schreckensgeschöpf ist das vielleicht grauenvollste Monster der Filmgeschichte: eine ungemein aggressive Kreatur (mit ätzendem Blut), das vom wissenschaftlichen Offizier als "perfekter Organismus" bezeichnet wird, dessen "konzeptionelle Reinheit" er bewundert. Daß das schleimige Scheusal auch heute noch beeindruckend aussieht, weist Alien zugleich als ein Meisterwerk der Tricktechnik aus.
Ohnehin ist der Film auch stilistisch ein Meisterstück, was sicherlich ein Hauptgrund dafür ist, daß er auch nach über 30 Jahren kaum veraltet wirkt. Die Kameraarbeit ist ausgezeichnet, und auch die Kulissen tragen zur Wirkung des Gesamtwerks bei: erwähnt seien etwa die Kälteschlafkammern der Raumfahrer, die an gläserne Särge gemahnen (und es ist dabei interessant zu erwähnen, daß Kane zu Beginn des Films als erster erwacht: später ist er auch der erste, der stirbt - der Ausdruck vom "bösen Erwachen" paßt wohl selten so gut wie hier), und der weiße Raum, in dem diese sich befinden, wirkt in seiner kalten Sterilität kaum weniger bedrohlich als die düsteren Korridore, von denen es in der "Nostromo" auch jede Menge gibt. Freilich ist besonders an den Szenen, in denen der Bordcomputer "Mutter" vorkommt, die Entstehungszeit des Films schon anzusehen - aber ähnliches gilt wohl für alle Science-Fiction-Klassiker (bis hin zu Kubricks 2001).
Ridley Scott erweist sich aber auch als Meister des Spannungsaufbaus. So läßt er sich bis zum eigentlichen Ausbruch des Grauens sehr viel Zeit, bereitet dieses aber schon ungemein geschickt vor. Die wirklichen Schockeffekte werden dann wohldosiert eingesetzt, wobei Scott - in diesem Punkt ganz ähnlich wie Hitchcock in Psycho - die drastischste Szene des Films, in der das Alien aus Kanes Brustkorb herausschießt, ziemlich genau in die Mitte des Films setzt und sich danach mit sehr kurzen, weniger expliziten Gewaltmomenten begnügt, die auch völlig ausreichen, weil die bloße Erinnerung an diese Schlüsselszene schon ausreicht, um den Zuschauer erneut zu verstören. Auch die Filmmusik (die bei weitem nicht so aufdringlich ist, wie es in manchen anderen Horrorfilmen der Fall ist) trägt zur beklemmenden Atmosphäre des Werks bei.
Aber auch die dystopischen Qualitäten des Films sollte man nicht verkennen. Eine besondere Rolle spielt dabei der finstere Konzern, dem die "Nostromo" gehört, und der dem wissenschaftlichen Offizier den Geheimauftrag erteilt hat, das Alien zur Erde bringen; der Augenblick, in dem Ripley den wahren Zweck der Reise erfährt, ist kaum weniger schrecklich als das Alien selbst. Und der schon erwähnte wissenschaftliche Offizier Ash nimmt im Verlauf des Films immer bedrohlichere Züge an, um sich schließlich als einer der beängstigendsten Roboter der Filmgeschichte herauszustellen. Ganz ausgezeichnet ist dabei auch das Spiel Ian Holms (die Besetzung des Films ist ohnehin vorzüglich); leider hat dieser großartige Schauspieler nie so ganz die Berühmtheit erlangt, die er eigentlich verdient hätte.
Zu Recht zum Star durch den Film wurde dagegen Sigourney Weaver, die überzeugend eine überlegt agierende, mutige, keineswegs aber emotionslose Frau verkörpert. Welche extremen Ängste auch die beherzte Ripley auszustehen hat, wird besonders bei ihrer finalen Auseinandersetzung mit dem Alien im Raumgleiter spürbar. Laut Drehbuch sollte diese Figur übrigens männlich sein, es war Ridley Scott, der eine Frau zur zentralen Gestalt machen wollte und sich damit auch durchsetzte.
Alien gehört zu den bemerkenswertesten Science-Fiction wie auch zu den bemerkenswertesten Horrorfilmen: Regie, Darsteller, Ausstattung, Kamera, Musik und Tricktechnik: es stimmt einfach alles. Ein Meisterwerk.


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Shining


Stanley Kubricks Filme haben die Rezensenten, Interpreten sowie Film- und Medienwissenschaftler immer wieder besonders beschäftigt. Und dies durchaus zu Recht: Kubrick hat Meisterwerke in verschiedenen Genres geschaffen (ich denke dabei vor allem an 2001, Barry Lyndon und Wege zum Ruhm), nahezu alle seine Filme haben beachtliche filmästhetische Qualitäten und fordern den Zuschauer geradezu heraus, seine eigene Betrachtungsweise zu finden.
Manchmal schießen die Kubrick-Exegeten aber auch ein wenig über das Ziel hinaus und "ergehen sich dementsprechend in hoch intellektuellen Interpretations-Orgien", wie Rolf Thissen es sehr hübsch in seinem Buch über Kubrick formuliert.
Besonders mit Shining stand ich persönlich eigentlich schon immer mal mehr, mal weniger auf Kriegsfuß und war selbst während der kurzen, aber sehr intensiven Phase meiner größten Kubrick-Verehrung nicht wirklich überzeugt von dem Film. Woran liegt's? Zum einen sicherlich daran, daß ich den zugrundeliegenden Roman Stephen Kings gar nicht so übel finde und mich schon daher mit Kubricks stark abweichender Filmversion von jeher schwertat. Die Qualitäten Kings als Schriftsteller beurteile ich zwar alles in allem ähnlich zurückhaltend wie jene von Thomas Harris (zu denen ich mich kürzlich geäußert habe) und habe mittlerweile auch fast alle King-Bücher aus meinem Regal verbannt, von Shining konnte ich mich aber bis heute nicht trennen. Daß kaum jemand dieses Buch in einen Literaturkanon aufnehmen wird, ist mir klar, aber es ist spannend, mitunter auch erschreckend, und es hat interessante, sorgfältig entwickelte Figuren zu bieten, die sicherlich zu den gelungensten Charakteren Kings gehören (was vermutlich auch damit zu tun hat, daß es ein, wie ich vermute, sehr persönliches Buch ist, in dem King seinen eigenen Alkoholismus thematisiert hat). Daß Kubrick in seinem Film nun etliche Details des Romans weggelassen oder abgeändert hat, läßt sich auch als Liebhaber des Romans sehr gut aushalten, denn außer King selbst glaubt wohl niemand, daß solche Dinge wie seine heißgeliebten Heckentiere sich einfach auf die Leinwand übertragen lassen. Daß Kubrick sich aber auch für die Figuren herzlich wenig interessiert, dürfte wohl jeden verstimmen, der den Roman gern gelesen hat.
Nun gibt es freilich Stimmen, die meinen, daß man den Film völlig unabhängig vom Roman betrachten und beurteilen sollte. Das Argument hat zwar einen gewissen Charme, aber in der Praxis ist es eben gar nicht so einfach, das Gelesene einfach zu vergessen, während man den Film sieht. Es kommt aber noch hinzu, daß ich auch in rein filmischer Hinsicht einige Einwände gegen Kubricks Shining habe (ich bin auch der Meinung, daß der Film das filmische Potential der Vorlage nicht wirklich nutzt, aber darauf komme ich noch zurück) und deswegen auch immer wieder verblüfft bin, daß gerade dieser Film die Kubrick-Anhänger zu besonders vielfältigen Theorien und Interpretationen eingeladen hat. Im Laufe der Jahre habe ich daher ziemlich viele, durchaus kluge Gedanken verschiedener Leute zu Kubricks Shining gelesen, und so lange ich solche Ausführungen nur lese, hört sich das alles sehr gut an. Das Problem ist nur: wenn ich mir dann den Film selbst ansehe und versuche, zu neuen Blickwinkeln und Sichtweisen zu finden, stolpere ich doch jedes Mal wieder über die selben Dinge, die mir so gar nicht gefallen wollen (und der bizarre Nebeneffekt davon ist der, daß ich Shining von allen Filmen, die ich nicht wirklich mag, mit Abstand am häufigsten gesehen habe). Als ich das letzte Mal (das war noch zu kino.de-Zeiten) einen solchen Schiffbruch erlitten hatte, schrieb ich einen recht boshaften Text, der sich ein wenig über den Film, vor allem aber seine Rezeption lustig machte, und in dem ich zum Abschluß erklärte, nun wirklich keinen weiteren Versuch mehr zu unternehmen, mich mit diesem Film anzufreunden.
Das war damals auch ernst gemeint, aber die Jahre vergehen, und im Zuge meiner schon erwähnten kleinen Horrorreihe bot es sich an, doch noch mal einen Blick auf Shining zu werfen (gerade auch im Vergleich zu Tystnaden, der ja auch zu den "Hotelfilmen" gerechnet werden darf). Also habe ich mir Kubricks Film doch noch mal angesehen (erstmals im deutsch untertitelten Original), und, um es vorwegzunehmen: mit dem üblichen Ergebnis.
Dabei hat der Film durchaus seine Qualitäten, die ich ihm auch nicht absprechen möchte: die Steadycam-Fahrten etwa sind ganz vorzüglich, und auch die Ausstattung ist großartig, wie eigentlich in allen Kubrick-Filmen. Die Bildkompositionen sind von strengen geometrischen Prinzipien geprägt, und auch das Labyrinth fügt sich gut in die visuelle Struktur des Films ein. Und es gibt sogar eine wirklich starke, ja sogar große Szene: wenn Wendy Torrance Jacks Manuskript entdeckt und feststellt, daß es nur aus einem einzigen, unzählige Male wiederholten Satz besteht.
Eine große Szene allein macht indes noch keinen großen Film, und für einen solchen halte ich Shining auch nicht, weil den eben genannten Vorzügen leider auch diverse Mißgriffe gegenüberzustellen sind. Warum etwa Jack Nicholson gerade für seine Darstellung des Jack Torrance so oft gelobt wird, hat sich mir nie recht erschlossen, denn er überschreitet mit seinem betont diabolischen Dauergrinsen oft - zu oft - die Grenze zum Overacting (auszunehmen ist hier eine Szene, in der Jack Torrance mit seinem kleinen Sohn Danny spricht und dabei sagt, daß er ihm nie etwas antun werde, aber auch andeutet, daß er "für immer und immer" im Overlook bleiben wolle, womit er die "Einladung" zweier erschlagener Mädchen an Danny kurz zuvor wiederholt - hier hält Nicholson sich endlich mal zurück, wodurch er gleich viel bedrohlicher wirkt). Ein dezenterer Einsatz der Musik hätte dem Film auch gut getan, und die Blutströme, die Kubrick durch die Hotelkorridore fließen läßt (und das gleich mehrmals), halte ich für einen vollkommenen Fehlgriff (und die Deutung, dies sei die hervorbrechende Gewalt der amerikanischen Geschichte kommt mir doch arg bemüht vor).
Solche Dinge könnte ich - zumindest bei guter Laune - vielleicht noch als Schönheitsfehler eines ansonsten gelungenen Films durchgehen lassen, aber als echte Katastrophe (sic!) und absoluten Stimmungskiller empfinde ich alle Momente, in denen "Tony" vorkommt, der Junge, der Danny zeigt, was geschehen wird. Danny Visionen gehören im Roman, auf den ich an dieser Stelle doch noch mal zurückkommen muß, zu den stärksten und beunruhigendsten Passagen, und vor allem steckt viel filmisches Potential darin. Voller Wehmut muß ich dann immer daran denken, was etwa ein David Lynch daraus gemacht hätte (ich sage nur "Twin Peaks"!!). Bei Kubrick wackelt der kleine Danny mit seinem Finger herum und spricht mit krächzender Stimme; und das ist einfach so außerordentlich albern, daß ich dann nie so recht weiß, ob ich darüber lachen oder mich ärgern soll (meistens beides: zunächst lache ich herzlich, um mich dann anschließend zu ärgern). Und da es leider ziemlich viele dieser Szenen im Film gibt, schaffe ich es dann auch nicht, mich so auf ihn einzulassen, daß ich noch ernsthafte Ambitionen hätte, mich mit all den tiefschürfenden Deutungen, die in Büchern und im Internet zu finden sind, näher auseinanderzusetzen. Daß ich alles in allem das Hotel in Das Schweigen ganz ohne Blutströme und aufdringlich tönende Musik als bedrohlicher und unheimlicher empfunden habe als Kubricks Overlook Hotel, dürfte daher nicht weiter verwunderlich sein.
Kubricks Filme zeugen praktisch immer von einem großen Gestaltungswillen, dem Anspruch, Klassiker zu schaffen, die aus ihrem jeweiligen Genre herausragen. Mit seinen besten Filmen ist dies Kubrick auch gelungen; in Shining ist dieses Vorhaben dagegen gescheitert, und der Wille ist weitaus größer als die Ausführung. Dies ist zumindest meine Einschätzung (wobei mir bewußt ist, daß sehr viele die nicht teilen), und von dieser werde ich wohl auch nicht mehr abrücken, wie mir gestern endgültig klargeworden ist.





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