Gestern hatte ich zu später Stunde noch ein schönes Double-Bill. Scheinen die Filme auf den ersten Blick überhaupt nicht zueinander zu passen, so relativiert sich das bei genauerer Betrachtung. Denn, zunächst einmal ergänzen sie sich sehr gut als die beiden sich gegenseitig abstoßende Seiten des ‚Magneten Film’, denn verständlicherweise mußte ich nach der Art von modernstem Horror (?)-oder Serienkiller-Film à la SAW noch mit französischem Autorenkino, dabei rücksichtnehmend auf mein psycho-somatisches System, reagieren. Und habe mit der Wahl eigentlich nicht das erreicht, was ich wollte. Denn auf den ersten, scheinbar hyperrealistischen und dabei experimentellen Nervenzerrer SAW folgte ein naturalistisch-realistisches, dabei hochspannendes bürgerliches Mißbrauchsdrama. Dessen Ausgangssituation hat wiederum viel mit der von SAW gemein: in beiden Filmen befinden wir uns wie in einer Art künstlichen Versuchsanordnung, in der Menschen in eine Extremsituation geworfen werden. Wir schauen ihnen nun zu, wie sie sich verhalten, wie sie mit dieser völlig unvermittelt auftauchenden Situation fertig werden, wie sie in beiden Filmen um ihre Existenz, um ihr Leben kämpfen müssen. Im Film SAW wird das meta-poetisch thematisiert: wir sehen in der Höhle des Schurken, die uns an ein krankes Genie erinnern soll, daß der Raum, in dem sich die beiden Protagonisten der Haupthandlung befinden, vorher als Modell entworfen wurde. Dieses Abenteuer, das Katz und Maus-Adventurespiel, das Archaik mit dem Erfahrungshorizont einer modernen Computergeneration kurzschließt ist eine fleischgewordene, sadistische Simulation auf Leben und Tod. Geplant am Reißbrett, gefilmt zur Überwachung und Dokumentation für die Nachwelt (?), gestützt durch ein moralisches Korsett, das uns am Ende des Filmes die Handlungen des Schurken erklären. In seiner Tragik und dem einkalkulierten Verstehen, das sofort bereit ist, die krankhaften Auswüchse des Sadisten durch ein Mitleid abzufedern, das einem ja immerhin einen spannenden Film beschert hat, ist man als Zuschauer nur allzu leicht dazu zu bewegen, Nachsichtigkeit walten zu lassen. Dabei werden die verübten Grausamkeiten auf irgendeine andere Gehirnhälfte umgelagert, damit man sie nicht mit der geschundenen Existenz zusammendenken muß, und so die furchtbare spießige Rechtfertigung und somit auch: furchtbar einfältige Grundlage, Prämisse, auf der der Film fußt, verdrängen kann. Und zu seinem Genuß als Zuschauer kommt.
Die Gewalt im Film, die ist stets offstage (ja, man denkt an eine ausgestellte Bühnensituation); die Grausamkeit ergibt sich aus den Versuchsanordnungen, die nur aus unseren Alpträumen stammen können. Zugleich aber scheinen sie so jenseits einer tatsächlichen Realität zu stehen, in die wir nicht gelangen werden. Ähnlich dem Horror, den Freddy Krüger auslöst, der unvermittelt eindringt und gegen den man sich nicht wehren kann. Da dieses aber vermutlich nicht passieren wird, ist nach dem Film eben wieder vor dem nächsten Film.
Nicht so bei DIE FARBE DER LÜGE. Hier ist nach dem Film immer noch Film, denn die Extremsituation der Protagonisten ist nicht zu Ende, wenn der Film aufhört. Da sind wir gerade mal im Hier und Jetzt angekommen. Die seelischen Verletzungen sind da, werden nicht verschwinden, und das geschickt konstruierte Drehbuch hat uns das Verhalten von Menschen gezeigt, das uns morgen früh, oder am Nachmittag, oder spätestens am Arbeitsplatz wieder mit dem Film konfrontieren wird. Denn es geht um das Lügen (wie bei SAW), das Sehen (wie bei SAW) und vor allem das Nicht-Sehen, das Vermuten und die zwischenmenschliche Kommunikation. Und was sie mit uns anstellt. Ein Mädchen ist tot und vergewaltigt im Wald gefunden worden. Ihr letzter menschlicher Kontakt scheint ihr Zeichenlehrer gewesen zu sein, der nun von der Kommissarin zum ersten Verdächtigen erklärt wird. Der idyllische Küstenort Saint-Malo in der Bretagne bietet uns den Schauplatz. Doch hier im Film wird an diesem schönen Fleckchen nicht Urlaub gemacht, sondern viel gelitten; trotz Meerblick. Die psychische Traglast des erfolglosen und frustrierten, aber dennoch sympathischen Zeichenlehrers steht auf dem Prüfstand, ebenso seine Ehe, seine sozialen Kontakte und Freundschaften. Er behauptet zu Unrecht belastet zu werden, doch wer glaubt ihm noch, da einmal der Verdacht in der Luft hängt. Angeheizt wird der Konflikt noch durch das Eintreffen eines erfolgreichen Schriftstellers und Journalisten, der sich auch blendend auf das Verführen der Frauenwelt versteht. Wessen Ehefrau möchte da mal nicht einmal ein Abenteuer riskieren? Die Welt des Malers, der auf das richtige Licht wartet, auf die Gunst des Galeristen, auf das Nachhausekommen seiner Frau ist am Auseinanderbrechen. Und wie in SAW setzt er Dinge in Bewegung, muß erst diesen und dann jenen Knopf drücken, um sein (Ehe-)Leben zu retten. Und wie in SAW stehen die Chancen verdammt schlecht.
Und am Ende kann man überleben, auch wenn man schuldig ist. Und wie der eine Überlebende in SAW seinen Fuß absägen muß, und fortan nur noch wird humpeln können, so humpelt auch der Zeichenlehrer die ganze Zeit durchs Bild, denn auch er kann wegen einer früheren Verletzung nicht richtig gehen, taumelt immerzu auf seinem Weg. Vielleicht treffen sich die beiden mal auf einen petit noir in einem kleinen Café und sprechen über ihre Frauen und was die Liebe ausmacht. Wie man sich fühlt, wenn man aufwacht und plötzlich alles anders ist. Und was die Kunst mit dem Leben zu tun hat.
Bearbeitet von Bastro, 08. Juni 2008, 22:40.