Kitanos Regenschirme
#451
Geschrieben 05. Juli 2009, 09:21
Als sie die Miete für ihren Trailer nicht mehr bezahlen kann, und ihr zeitgleich der Gatte davongelaufen ist, muß eine im Supermarkt angestellte Mitvierzigerin mit emblematischen White-Trash-Tattoos eine schnelle Lösung finden, an Geld zu kommen. Da kommt die Gelegenheit, illegale Einwanderer über den zugefrorenen Fluß in die USA einzuschleusen gerade recht, zumal das durchquerte Indianerterritorium in seinem rechtlichen Sonderstaatus genug Platz läßt, die moralische Frage nach dem Unrechtsbewußtsein beiseite zu schieben.
Daß das nicht lange gut geht, ist klar bei einem sogenannten "Independentfilm". Der mitfühlende Zuschauer, der naturgemäß sofort erkennt, daß es die Verhältnisse sind, die die Heldin zum Gesetzesbruch treiben, ist gewillt seine Sympathie lenken zu lassen; zumal der Gesetzesbruch im Dienste einer guten Sache steht, daß nämlich wirtschaftlich noch benachteiligteren Menschen geholfen wird. Daß es eigentlich um Geld geht, wird mit zunehmender Spielzeit ebenfalls aufgeweicht, unterstützen sich doch die Schlepper mit zunehmender Annäherung irgendwann gegenseitig auch mit Knete, um in dieser ungerechten Welt zurecht zu kommen.
Das Spotten ist leicht - und nicht ganz gerechtfertigt. Denn tatsächlich ist die Menschlichkeit ja ein herzergreifender Charakterzug, und zu guten Taten ist ein jeder fähig - ganz gleich, in welch übler Situation er steckt. Es ist also dem Film einerseits anzurechnen, nicht alles in einen großen Kunstfilm-Weltuntergang hineinsteigern zu lassen, andrerseits ist aber auch sehr deutlich, wie hier Sympathien gelenkt werden. Formal hat der Film auch recht wenig zu bieten, ist sehr konventionell geraten. Lediglich die Helligkeit der Schneefläche vermag nach langer Nacht sehr zu blenden.
Letztlich stellt sich also die Frage: wem wird dieser Film wohl nicht gefallen? Niemandem (außer, klar, den multiplexverseuchten Vollaffenidioten). Also: jedem, der Film "mit Anspruch" goutiert, wird eben diesen gut finden. Wie man selbst. Und das ist dann allerdings weniger gut.
#452
Geschrieben 06. Juli 2009, 07:18
Chuck Norris hat ein Helfersyndrom. Wie dann auch DELTA FORCE beginnt MIA mit einem zupackenden Helden, der sein eigenes Leben riskiert, um verwundete Kameraden aus der Gefahr zu retten. Der kleine Flashback zu Beginn ist dann auch Thema des gesamten Films: die Kameraden zu retten. Und hier, tatsächlich auch politisch interessant: was die großen USA nicht hinbekommen mit all der Waffengewalt -der verlorene Krieg- und später dann mit versagender Diplomatie, rückt ein mutiger Mann gerade. Im Alleingang. Klar, das ist heroisch, "wahrer" Patriotismus, der keinen Respekt vor den verweichlichten Politikern kennt, denen die Hände gebunden sind. Braddock übertritt die Gesetze mehrfach, dafür ist sein Einsatz effektiv. Braddock ist derjenige Amerikaner, der im Nachhinein noch einmal das richtet und hinbekommt, was vorher verbockt wurde. Er nimmt sich die zweite Chance, von der viele nur träumen. Im Alleingang. Das ist Pathos, das nur auszuhalten ist, da Norris mit wie beiläufiger, versteinerter Mine spielt. Kurze Andeutungen von Mimik, das genügt. Das gesamte Leben, ein ganzer Krieg, ein ganzer Kontinent eingeschlossen in der Innenwelt eines Mannes. Sprechen kann er nicht. Nur Handeln.
#453
Geschrieben 08. Juli 2009, 13:07
Die geradlinige Struktur der Rivalität zweier Männer, der Kampf zwischen Gut und Böse, wird einerseits durch eine unglaubwürdige Frauengeschichte aufgeweicht, andererseits durch das recht komplexe Verwirrspiel einer Söldnertruppe. Die Härte und Trockenheit des in Texas spielenden Films ist beeindruckend und gewährt keinen Ausblick, was sich auch in den Wüstenbildern manifestiert. Die Kamera hängt immer genau auf Horizonthöhe, vom Himmel ist nur ein Streif zu sehen. Da verwundert es nicht, daß es nach dem peckinpahesken Finale keine Erlösung gibt.
#454
Geschrieben 13. Juli 2009, 07:39
Wie der Filmtitel bereits andeutet, geht es in diesem Film um Selbstbetrachtung: Tarkowskij erinnert sich an seine Jugend, die Mutter, die Kindheit im Haus am Wald und den Krieg. Allerdings ist das keine linear abgefilmte Autobiographie, sondern ein assoziatives Geflecht aus Gegenwart, Vergangenheit, Wissenschaft und Religion, Kunst und Politik, eingeschnittenen Dokuaufnahmen, labyrinthartigen Verknüpfungen und Anspielungsebenen. Das Motiv des Ballonfahrers etwa aus ANDREJ RUBLJOW erscheint als Druckgraphik im Haus von Kelvins Vater in SOLARIS, hier im SPIEGEL dann als modernere Variante im s/w-Dokumentarfilm. Oftmals erreicht der Film eine poetische Kraft, in der er die Ebene der Realität und der Erinnerung verläßt, über sich selbst hinauswächst, etwas Neues erschafft und als eigenständiges Kunstwerk wahrgenommen wird. Tarkowskij geht es meines Erachtens überhaupt nicht um Abbildung sondern um Wiederauferstehung. Auch hier macht er sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit; und wenn die Kamera in Großaufnahme minutenlang auf dem Gesicht der Mutter ruht, dann meint man, noch nie ein schöneres Bild gesehen zu haben.
#455
Geschrieben 14. Juli 2009, 07:39
Ein Jahr nach dem tollen THE BIG HEAT (1953) läßt Lang wieder Glenn Ford auf Gloria Grahame treffen und realisiert eine Verfilmung von Émile Zolas La bête humaine, den bekanntlich Jean Renoir bereits 1938 verfilmt hatte.
In Langs Version ist es ein Heimkehrer aus dem Koreakrieg, der sich in die verführerische Ehefrau seines Arbeitskollegen verliebt, ihr zunächst -wieder besseren Wissens- verfällt, um sich dann, ins Netz gegangen, aus den trickreichen Verschlingungen und Fallen der Dame wieder befreien muß. Ford spielt den Begehrenden mit moralisch sicherer Distanz, der nach dem Fehltritt schnell wieder weiß, was er zu tun hat. Diese Nüchternheit entbehrt leider etwas der Melodramatik, und so fehlt dem gewalttätigen Säufer und Ehemann ein wenig der Gegenpol. Ford trinkt dann auch mal höchstens, etwas reserviert, ein einziges Bier. Unser Held bringt das Weltbild also nicht gerade durcheinander - dennoch ein toller Film mit unzähligen filmgeschichtlichen Verweisen.
Bearbeitet von Bastro, 14. Juli 2009, 08:02.
#456
Geschrieben 23. Juli 2009, 07:44
Mit dem geliehenen Geld von seiner Mutter realisierte Noh diesen Independentfilm bei dem er Regie führte, das Script schrieb, für den Schnitt verantwortlich war und die Musik selbst eingespielt hat. Auch der Cast setzt sich aus bisher völlig unbekannten Schauspielern zusammen. Herausgekommen ist eine recht ruhige, tragikomische Loserballade über einen Typen, dem die Freundin weggelaufen ist und der von seinen Freunden bei der Reise von Seoul in die Provinz Gangwon-do versetzt wird. Dort allerdings erlebt der unfreiwillig Herumziehende einige ziemlich interessante Sachen und muß sich in manch prekärer Situationen behaupten. Dabei bleibt der Film immer sehr am Boden und vermeidet allzu skurile oder unglaubwürdige Momente. Etwas mehr Tempo hätte dem Film im langen Mittelteil aber nicht geschadet, da braucht es etwas Sitzfleisch. Dennoch ein gelungener Erstling.
#457
Geschrieben 23. Juli 2009, 13:05
Wie nähert man sich einem solchen Film? Vielleicht über Umwege; etwa ginge das über Parallelen zu SOLARIS, in dem die Erinnerung ungewollt aufersteht - hier jedoch, soll der 1e Wunsch aktiv formuliert werden. Jedoch, wie soll man das können? Oder auch ein Annähern über die Science-Fiction-Dystopie: über das Endzeitsetting zwischen ursprünglicher Natur und urbanen, zerstörten Industrieanlagen, in der die Bedrohung ständig greifbar, aber nie sichtbar wird. Eine Bedrohung die von den Worten des Stalkers formuliert wird, aus Sprache besteht, aus Mythen (Stachelhaut). Und: Bilder, Bilder, Bilder. Umwerfende Bilder. Der Film erhebt sich übermächtig aus seinem eigenen, inhärenten Gegensatz: der schmalen Handlung und der übermächtigen Gestaltung. Bis die Männer beginnen zu sprechen (und ohne Zweifel gewichtige Dinge sagen), nach etwa guten zwei Stunden Laufzeit, hat mich dieser Film schön längst körperlich zusammengehauen. Ich kann da nicht mehr zuhören, nur noch schauen. Und empfinde das nicht als Mangel.
#458
Geschrieben 27. Juli 2009, 08:02
In Renoirs Zola-Verfilmung gibt es kaum einen Charakter, der nicht in den Abgund fällt. Lediglich die im See badende Cousine, jung, hübsch und verführerisch scheint ein reines Wesen zu sein; gleichwohl ist sie sich ihrer Verführungskraft bewußt. Wenige Momente später muß sie auch Lantier, der sie eben noch aus der prekären Situation mit den beiden Spannern gerettet hat, abwehren. Lantier dreht durch und erwürgt das Mädchen beinahe.
Daß Renoir im Gegensatz zur Romanvorlage, die das "verdorbene Blut" der Vererbung betont, alles Übel in die psychischen Dispositionen der Figuren verlagere kann ich nicht bestätigen. Da müßte man schon den Prolog ausblenden und auch so manche Szene, in der Lantier selbst das Thema voller Gram anspricht.
Dennoch: auf seiner Lok, der Lison, weiß sich Lantier auf sicheren Gleisen, da befindet er sich in seinem fest gefügten System. Erschüttert wird das durch die Liebe, bzw. durch "die Frau". Doch Lantier, als er in ihre Fänge geht, kann als depressiver Alkoholiker nur sich selbst zerstören, zu einem Mord ist er nicht fähig. Das kostet ihn die Liebe.
Der Drang nach der Darstellung von sozialer Wirklichkeit erscheint so gespiegelt im Schicksal selbstsüchtiger Figuren als Opfer äußerer Umstände (Darstellung des Milieus), welche allesamt aus egoistischen Motiven zugrunde gehen werden. So auch Sévérines Ziehvater in Paris als Vertreter einer verkommenen Bourgeoisie, den die Vergangenheit einholt.
Im Gegensatz zu Fritz Langs HUMAN DESIRE fällt eben genau diese Verkommenheit aller Personen auf, die Lang dann melodramatisch in Gut und Böse geschieden hat, reduziert auf einfach zu lesende Charakteranlagen. Überhaupt liegt Langs Version eine Neugestaltung des Figurenpersonals zugrunde - Ford als Lantier ist klar erkennbar moralisch auf der richtigen Seite und hat dem Alkohol abgeschworen. Die Rolle des Übeltäters darf ganz der Gatte Sévérines übernehmen, der auch nicht den emporkömmelnden Bahnhofsvorsteher darstellt, sondern Lantiers Kollegen auf der Maschine - den Zugführer. Jenseits der Aktualisierung des Stoffes, also des Kriegshintergrundes, ist bei Lang eine simplifiziernde melodramatische "Amerikanisierung" des Stoffes zu konstatieren, was sich natürlich auch in der Verwendung der Musik, der Konfliktdramaturgie und der Drastik bemerkbar macht. Und deswegen auch etwas besser unterhält.
Bearbeitet von Bastro, 27. Juli 2009, 08:12.
#459
Geschrieben 28. Juli 2009, 08:22
Das Erschütterndste an IRREVERSIBEL sind vermutlich nicht die Gewalttaten an sich, sondern ist die Struktur des Filmes selbst. Denn wie sonst nirgends wird einem vor Augen geführt, wie das Wissen um ein "zukünftiges" Ereignis in der Retrospektion ein ganzes Leben in all seiner Schönheit zunichte gemacht wird. Alles, was vor dem schrecklichen, alles umgreifenden Ereignis geschah, wird vor dessen Übermacht verblassen. Es annulliert sich quasi ein ganzes, bisher gelebtes Leben.
#460
Geschrieben 30. Juli 2009, 07:13
Schon seit Ewigkeiten ist der Mangazeichner Nishi in die großbusige Myon verknallt - allein, es ihr zu sagen hat er sich noch nie getraut. Diese trifft sich nun mit ihm, um ihn von ihrer baldigen Heirat mit dem Lastwagenfahrer Ryo zu erzählen. Nishis Welt bricht zusammen. Ein letztes gemeinsames Essen in der Nudelbar steht an, doch da stürmen plötzlich zwei gewaltbereite Yakusa die Lokalität und Nishi muß sich endlich mal entscheiden, ob er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen möchte.
In der Folge trifft er noch Herrn Gott und landet im Bauch eines riesigen Wals - an Höhepunkten wird in diesem Anime nicht gegeizt. So zeichnet sich MINDGAME auch zuvorderst durch die Aspekte Kreativität, Kunterbuntness und Hochgeschwindigkeit aus; und wenn man meint, man könne den Bildern immer trauen, dann hat man sich getäuscht. Denn wie der Titel schon sagt: sehr viel spielt sich in den Köpfen der Charaktere ab, und der Sprung in die imaginierte Welt ist nur ein Schnitt weit entfernt.
Am Ende ist man selbst platt wie eine Flunder, denn dieser Film ist auch: anstrengend. Zwei Stunden lang fasziniert die Augen aufzureißen, weil man so etwas noch nie gesehen hat, ist eben auch keine Kleinigkeit!
#461
Geschrieben 02. August 2009, 10:23
Freiluftkino ist eine schöne Sache, vor allem wenn man um 21h die Türe aufmacht und dann noch eine gute Stunde bis zum Filmstart warten muss. Da kann man das Programmheft lesen und sich die Mitstreiter ansehen und sich ausgiebig wundern, wer sich alles an einem schönen Samstagabend so einen Film ansieht. Man denkt es nicht, aber es waren sehr viele ältere Herrschaften um die 60 da. Und interessanterweise sind von denen die meisten auch bis zum Ende geblieben. Im Gegensatz zu den Mitzwanzigern, die in großer Zahl in der Zwangspause beim Spulenwechsel das Dach des Museum Ludwig verließen. Ich kann es ihnen aber auch nicht gänzlich verdenken, hat man aus dieser Pause doch eine richtige Intermission gemacht, sodaß Erna und Friedhelm sich noch ein Gläschen Weißwein holen konnten. Und alle anderen natürlich auch. Mann habe ich geflucht. Nach der etwas zähen und skurilen ersten Stunde wurde der Film dann gegen Ende jedoch immer spannender und fieser, sodaß man sich beinah in einem Backwoodhorrorfilm samt Lynchmob wähnte. Da war dann auch das Fräulein an meiner Seite etwas versöhnt, die ich in diesen "Überraschungsfilm" mitgeschleppt hatte - gemeinerweise, denn mir war vorher schon bekannt, daß sie Meyer nicht zu ihren bevorzugten Filmauteurs zählt. Mit diesem Finale aber fand sich ein toller Abschluß für diesen oft unbeholfenen, derben, politisch interessanten, offenkundig sexistischen und dennoch liebenswerten Film.
Bearbeitet von Bastro, 02. August 2009, 10:24.
#462
Geschrieben 03. August 2009, 08:10
Zermürbt von einer Beziehung in der sich die Liebe verflüchtigt hat, verläßt Vittoria (Monica Vitti) ihren Verlobten um ihr eigenes Leben weiter zu leben. Das mäandert erst etwas durch die große, alte Stadt bis sie an der Börse, an der ihre Mutter spekuliert, den jungen Makler Piero (Alain Delon) kennenlernt.
Ihr Aufeinandertreffen ist beinahe ein Crash, als sie aus dem Taxi springt und von ihm in seinem Cabriolet von der Starße gehupt wird. Der dynamische, junge Rücksichtslose hat keine Zeit für Romantik, denn Zeit ist (an der Börse) Geld. Die Gedenkminute für den verstorbenen Kollegen lassen sich die Männer etwas kosten. Und während Vittoria die Liebe sucht, auf sich und ihr Inneres hört, quetscht Piero seine Liebschaften in einen überfüllten Zeitplan, bei dem alles möglichst reibungslos klappen muß; er legt sich damit ein unerhörtes Pensum auf. Doch Vittoria merkt recht schnell, daß sich hinter der makellosen Fassade von Pieros Gesicht ein Bewußtsein ohne Vergangenheit befindet. Piero kann sich das nicht leisten; er ist immer im Jetzt, denn gleich muß er schon wieder woanders sein, und hat keine Zeit für schwermütige Erinnerungen. Aber eigentlich, so wird klar, hat er auch keine rechte Zeit für das Jetzt.
Dieser Film, der ein Großstadtfilm ist, muss auch auf das Verhältnis von (moderner und unfertiger) Vorstadt zu (historischem) Zentrum gesehen werden. Die Architektur, die Gebäude, die Eingänge. Das Leben. Die Zeit, der Vergangenheitsschlauch, der Film.
Doch die Liebe der beiden will nicht recht entflammen, und so ist Einsamkeit, besser: das Bei-sich-sein das, was bleibt. In den letzten Minuten wiederholen sich einige Einstellungen des Filmes, beginnend mit dem leichten Kameraschwenkvon links nach rechts um etwa einen halben Meter; dieser ist zu Beginn die allererste Einstellung in der Wohnung des Verlobten, über einen Tisch, die Lampe, auf den sitzenden Mann. Am Ende wird so das Finale eingeläutet, der Film gerahmt: der Schwenk nun draußen, über einen Baumstamm auf das Gesicht der Vitti. Die Zeit ist unaufhaltbar und wir schauen dem Leben zu. Irgendwann, irgendwer gerät ins Bild.
Bearbeitet von Bastro, 03. August 2009, 08:12.
#463
Geschrieben 04. August 2009, 11:40
Sehr deprimierender und auch anstrengender Film, der in unglaublichen Bildern erzählt.
#464
Geschrieben 05. August 2009, 08:13
In dieser Doku-Fiktion begleitet Seidl ein paar deprimierte, einsame und durchgeknallte Vorstadt-Menschen ein paar Tage lang durch die heißen Hundstage und läßt diese hin und wieder aufeinandertreffen, oft aber laufen sie auch aneinander vorbei. Was aussieht wie "der ganz alltägliche Wahnsinn" ist natürlich pointiert und auch die Bilder sind nicht ohne Kommentar, sind sie doch auf ihre eigene Art und Weise in Szene gesetzt. Das ist oft so brutal direkt, aggressiv, traurig und anrührend, daß man mehrfach an die Grenze des Zumutbaren stößt. Am schlimmsten sind natürlich die Szenen, in denen hinter der Aggression der verletzte Mensch durchscheint. Die Verzweiflung kann ein furchtbarer Käfig sein.
HUNDSTAGE hat mich nicht ganz so gefangengenommen wie MODELS oder TIERISCHE LIEBE, das mag aber an der Reihenfolge der Betrachtungen liegen.
#465
Geschrieben 05. August 2009, 14:53
Das größte Problem des Filmes ist - neben der unübersichtlichen Geschichte - der enorm unglaubwürdige Hauptdarsteller. Nicht nur ist er der schlechteste aller beteiligter Schauspieler, sondern ist auch in seiner plumpen, unbeweglichen Behäbigkeit das Gegenteil eines Actionhelden. Seagal sieht zudem aus wie Bulette, der, wenn er mal charmant sein möchte, reichlich debil daherkommt. Der Höhepunkt des Filmes ist der patriotische Schluß, vorbereitet durch einen actionreichen Showdown, der zum Zynischsten und Menschenverachtendsten gehört, was ich seit langem gesehen habe. Das kann man sich eigentlich nicht anschauen. Ein Film für die Tonne.
#466
Geschrieben 06. August 2009, 09:29
In diesem frühen, etwa 50 Minuten langen Film geht Seidl der Frage nach, was der alljährlich zu Fasching stattfindende Ballabend für die Kleinstadt Horn in Österreich bedeutet. Mit statischer Kamera interviewt er die "Honoratioren" der Stadt und begleitet die Festivität von den Vorbereitungen über den Abend hinweg bis zum nächsten Morgen.
Man kann es sich schon denken: wieder einmal entlarvt sich der Mensch hier selbst. Fremdscham total ist angesagt. Wenn man dann im Abspann noch ließt, dass die Stadt selbst den Film mit finanziert hat, dann fällt man tatsächlich vom Glauben ab. Der schlimmste Alptraum ist die muffige Provinz.
#467
Geschrieben 10. August 2009, 07:55
Boettichers Portrait des skrupellosen Aufstiegs eines machtbesessenen Kleinganoven zur Zeit der Prohibition ist ein in sehr elegant gefilmten Bildern vorgestelltes Gangsterdrama, das auch den Humor nicht zu kurz kommen läßt. Ray Dantons glattrasiertes Eleganzlächeln hätte sicher auch zur Kandidatur des Bürgermeisters gerreicht, hätte man in Sachen Politik ebenso schnell Karriere machen können, wie als frauenverschlingender, skrupelloser Verbrecher. Dass sich am Ende das Ganoventum nicht auszahlt, ist klar; und so ist es auch nur eine Frage der Zeit, bis ihn eine kleine Unaufmerksamkeit den Kopf kostet. In Erinnerung bleibt vor allem die elegante Inszenierung einer in dieser Art schon mehrmals gesehenen Lebensgeschichte.
Das Freiluftkino war deutlich schlechter besucht als bei Mudhoney, so hatte aber der Filmvorführer, der sich überraschender- und schönerweise als ehemaliger Arbeitskollege herausstellte, ein wenig Zeit, mir das Ungetüm von Projektor vorzuführen. Ein Photo habe ich zwar gemacht, leider ist es zu dunkel geworden.
#468
Geschrieben 11. August 2009, 12:16
Pright konstruiert ein Kraftwerk, das auf der Verbrennung von Torf basiert. Damit legt er sich mit den Boss eines Ölkonzerns an. Außerdem verliebt er sich dummerweise in dessen Tochter.
Dieser erste richtige Stummfilm (30 min) Kuleschows ist rasant geschnitten, voller Verfolgungsjagden und romantischen Momenten. Den Kuleschow-Effekt habe ich jetzt nicht so auf Anhieb herausfiltern können, dazu müßte man sich diesen unübersichtlichen, eher nach avantgardistischen Prinzipien angelegten Film, mehrmals ansehen. Das Aufeinanderprallenlassen verschiedener Erzählstränge in dieser Art der radikalen Montage ist erst einmal eine harte Nuß.
#469
Geschrieben 12. August 2009, 23:29
Ein Scharfschütze ist bei einem Einsatz etwas übereifrig und erschießt leider den Falschen. Vier Jahre Knast bekommt er dafür und befindet sich auch nach seiner Entlassung in mental instabiler Verfassung.
Dante Lam hatte mich mit seinem JIANG HU und dem letztjährigen BEAST STALKER äußerst begeistert. SNIPER ist allerdings ganz anders: pathetische Musik, Waffenporno, Heldenverehrung, Männer mit Muskeln und Überzeugung im Kopf. Der fragile Terror aus BS ist ganz einer gelackten Hochglanzthrilleroptik gewichen, durch die sich nach und nach ein verschachtelter Plot entblättert. Was bei BS gut funktioniert hat; denn in diesem Film befand sich der Zuschauer auf Augenhöhe mit dem Protagonisten und hat über die Klärung des Falles auch die Hintergründe erfahren, und sich so nach und nach den Fall erschlossen. Bei SNIPER ist die Schachtelstruktur reine Fassade um künstlich Spannung zu erzeugen, sie ist nicht aus der Entwicklung der Geschichte heraus motiviert. Das nervt ohne Ende. Und selbst wenn man glaubt, verstanden zu haben um was es jetzt gerade wieder geht, folgt bald wieder eine völlig unverständliche Aktion. Man fragt sich ständig: wer sind diese Leute und was machen sie warum?!
Ein Rätsel ist es mir, wie ein Regisseur im Jahre 2008 so einen Knaller wie BEAST STALKER erschaffen konnte, und dann ein Jahr später so eine Gurke daherfabriziert. Große Enttäuschung.
#470
Geschrieben 14. August 2009, 08:31
.....Stummfilmfestival Bonn.....
Liebe zu Fuss / Amor Pedestre Marcel Fabre, Italien 1914
[Format: 35mm, Länge: 111 Meter, 6 min, 16 B/s, Zwischentitel italienisch mit deutscher Übersetzung, Musik: Joachim Bärenz (Piano)]
Das Filmfestival eröffnete dieses Jahr direkt mit einem richtigen Höhepunkt der Filmgeschichte: in dieser mehrfarbig viragierten italienischen Groteske und stürmischen Liebeskomödie sieht man nur Beine und Schuhe! Ein ganzer Film, der sich auf Kniehöhe abspielt (man sieht im ganzen Film keinen Oberkörper). Nach dem ersten Kennenlernen bedrängt der Mann (Robinet) die Frau bei mehreren Gelegenheiten und weiß ihr geschickt eine Verabredung zum Stelldichein unterzujubeln. Dieses fliegt aber auf und der Held muß sich darauf in einem Duell behaupten. Wie die Geschichte ausgeht, verrate ich nicht - aber jedenfalls anders als man vermuten würde.
Man liest, dieses Filmexperiment sei auch für die italienischen Avantgardisten und Futuristen eine Inspirationsquelle gewesen, Marinetti etwa habe daraufhin eine eigenes Drehbuch geschrieben, in dem nur Gesten und Handlungen menschlicher Hände gezeigt werden. Ich denke da auch an Bressons PICKPOCKET.
Ein gelungener Auftakt war dieser Film jedenfalls; nachdem es dann ganzen Tag geregnet hatte überraschenderweise sogar ohne diesen. Zwei, drei Gesichter aus dem letzten Jahr habe ich auch schon wieder ausmachen können. Einzelgänger, bekannt auch vom Besuch von Filmreihen in Köln, unterwegs im Auftrag des Films.
Bearbeitet von Bastro, 14. August 2009, 08:37.
#471
Geschrieben 15. August 2009, 07:50
.....Stummfilmfestival Bonn.....
Der Sprung ins Glück / Totte et sa chance / La storia di una piccola Parigina Augusto Genina, Fr/D/It, 1927
[35mm, Länge: 2208 Meter, 97 min, 20 B/s, frz. Zwischentitel mit dt. Übersetzung, Musik: Joachim Bärenz (Piano)]
Eine Maniküre findet auf der Suche nach der großen Liebe in einem Aristokraten ihren Traummann, welcher sie zunächst nur deswegen heiraten wollte, um sich dem Zugriff seines Vaters entziehen zu können. Doch dann geht auch sie ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Die enorm temporeiche Komödie verschärft ihren Humor in der zweiten Hälfte noch dadurch, dass sie auf die Bahnen einer Verwechslungskomödie in Stile des 19. Jahrhunderts einschwenkt. Sehr pointiert inszeniert, schnell geschnitten und immer im richtigen Maß auf die Gefühle geachtet, konnte dieser enorm lustige Film das Publikum begeistern und erntete am Ende großen Applaus.
DER SPRUNG INS GLÜCK scheint mir nichts wirklich Herausragendes zu sein, doch ist er innerhalb seiner Grenzen ein sehr feiner Film. Die tollen Darsteller und die Großstadtbilder, sowie die mondänen Salons und männerdominierten Raucherclubs müssen hier auch noch unbedingt erwähnt werden.
#472
Geschrieben 17. August 2009, 07:09
Der Mann, den jeder und doch keiner kennt. Der große Unbekannte, der sich im Schatten bewegt, maskiert, hypnotisiert, die Seele liest. Der einen zum Werkzeug macht und den Willen raubt. Die Uhr in Mabuses Salon: expressionistisch explodiert wie aus dem Caligari. In der Zweischenkriegszeit weiß nur einer, was er will: Mabuse will Macht, manipuliert die Börse, ist der Superschurke, der aber auch das ganz Gewöhnliche will, etwa das Herz der Frau. Hier der Tänzerin Cara Carozza. Auch sie eine, die sich in den Fiktionen bewegt und Realität erschafft. Doch der größte Künstler, Mabuse, benutzt sie nur, läßt sie fallen während sie seinen Genius vergöttert und zieht weiter zur nächsten. Und Staatsanwalt Wenk, souveräner Rationalist, muß einiges an Kombinatorik auffahren, um sich diesem Schatten zu nähern. Die Carozza bemerkt dann auch schnell, daß Wenk der einzige ist, der Mabuse gefährlich werden kann. Der kleingeistige Größenwahnsinnige erkennt das lange nicht, diese Herausforderung für ihn. An wem sonst sollte er sich messen?
Toll gefilmt mit Tricks und Überblendungen, Schwarzblenden usw. usf. ist Lang selbst ein Spieler, der uns zum Narren hält, uns hypnotisiert mit seiner Leinwand und zu einem Ende führt, das nur er bestimmt. Das restaurierte Bild ist ziemlich erstklassig, Zimmermanns Musik fantastisch. Einzig die lange Einblendungszeit der Zwischentitel raubt der Erzählung manchmal ihren Drive. Cliffhanger Lang.
Bearbeitet von Bastro, 17. August 2009, 07:12.
#473
Geschrieben 18. August 2009, 08:12
....Stummfilmfestival Bonn....
Das Weib des Pharao Ernst Lubitsch, Deutschland 1922
[35mm, Länge: 2262 Meter, 104 min, 19 B/s, mehrfarbig viragiert, Zwischentitel deutsch, Musik: Aljoscha und Sabrina Zimmermann (Piano, Violine)]
Lubitschs Monumental-"Großfilm" wurde hier erstmal in längstmöglicher Fassung vorgeführt; die zu Beginn erläuterte Editions- und Rekonstruktionslage ist äußerst kompliziert, was nicht nur scheibar endgültig verlorenes Material angeht (es fehlen noch etwa 600 Meter), sondern auch die Anordnung der einzelnen Szenen. Hier war jetzt also die frisch restaurierte Fassung zu sehen, bei der man sogar soweit ging, ganze Handlungsabschnitte in den Zwischentiteln zu erläutern und anstelle der verloren gegangenen Szenen aufgefundene Standphotos in den Film zu integrieren. Ebenso die Viragierung, die keineswegs einheitlich war: nach etwa gut einer Stunde Spielzeit begannen plötzlich blau, rot, grün viragierte Szenen aufzutauchen. Nur um dann recht schnell wieder zu verschwinden. Gestört hat das kaum, sondern ließ allenfalls auf das penible Vorgehen der Rekonstrukteure schließen.
Der Film handelt von einem despotischen Pharaonen (Emil Jannings), der sich in eine verschleppte Griechin verliebt. Dieser Konflikt befeuert einen Krieg mit den Äthiopiern, da deren König (Paul Wegener) blamiert wird. Der Film ist Historienepos, Liebesfilm und Komödie zugleich, bei der die Grenzen der Genre leichtfüßig überschritten werden, und die hervorgerufenen Lacher einiger Leute deplaziert wirkten, wenn der Film schon wieder auf ernst geschaltet hatte.
#474
Geschrieben 19. August 2009, 16:10
Mabuses Identität wird von Staatsanwalt Wenk aufgedeckt, und nachdem dieser hyponitisiert beinah in den Tod getrieben wird, kommt es zu einer actionreichen Schießerei beim Showdown. Wie sich Mabuse dann von den Geistern seiner Opfer bedroht wähnt und anschließend dem Wahnsinn verfällt, ist ein fulminantes Ende dieses hypnotischen Films.
Der zweite Teil des sehr langen Films stellt sich als deutlich kurzweiliger heraus als sein Vorläufer. Hier steckt man jetzt mitten in einem Kriminalfall und die action bestimmt die Handlung. Das ist sicherlich publikumswirksam, denn noch so eine ausufernde Erzählhaltung samt Überlänge wäre dem Publikum kaum zuzumuten gewesen.
Jedoch: der erste Teil gefällt mir besser. Denn gerade dessen fast schleppende, mäandernde Erzählweise verdichtet so die allumfassende Bedrohung durch Mabuse. Man gerät als Zuschauer in einen Strudel der Verunsicherung und spürt "am eigenen Leib" die Wirkmacht dieses Mannes. Dies wird im zweiten Teil zugunsten von Sensationen aufgegeben. Aber vielleicht ist es auch genau diese Mischung, die letztendlich diesen fantastischen Film auszeichnet, denn, wie die Gräfin Told so dekadent und übersatt, genußsüchtig klagt: "Wir brauchen Sensationen, um das Leben ertragen zu können!"
Bearbeitet von Bastro, 19. August 2009, 16:11.
#475
Geschrieben 20. August 2009, 08:12
....Stummfilmfestival Bonn....
Das Geschwür / Kobutori Yasuji Murata, Japan 1929
[35mm, 274 Meter, 24 B/s, 10 min, japanische Zwischentitel mit deutscher Übersetzung, Musik: Günter A. Buchwald (Piano & Violine)]
KOBUTORI ist ein sehr früher japanischer Zeichentrickfilm, der durch einen einfachen, klaren Stil besticht und durch partielle Einfärbungen eine schöne Stimmung schafft. Der Film basiert auf einer alten japanischen Sage, nach der zwei Waldarbeiter, die beide ein großes Geschwür im Gesicht haben, alles dafür tun würden, dieses los zu werden. Der Strebsame der beiden kommt zufällig mit den Waldgeistern in Kontakt, die durch Zauberkraft, um ihn zu erpressen auf daß er am nächsten Abend wiederkommt um vorzutanzen, das Geschwür als Pfand behalten. Der Mann freut sich natürlich, daß er es los ist. Am nächsten Abend geht dann der Faulenzer an seiner statt, ebenfalls in der Absicht, sein Geschwür los zu werden. Doch es kommt anders, als er denkt...
#476
Geschrieben 21. August 2009, 17:23
....Stummfilmfestival Bonn....
Theaterfimmel / Stage struck Allan Dwan, USA 1925
[35mm, 1955 Meter, 78 min mit 22 B/s, schwarzweiß mit Zweifarb-Technicolor-Sequenzen, Musik: Günter A. Buchwald (Piano & Violine)]
Eine junge und leicht überforderte Kellnerin einer üblen Fabrikarbeiterkaschemme (Gloria Swanson aus z.B. SUNSET BOULEVARD) ist ungeheuer verliebt in den Pfannkuchenbäcker, der mit seinen Kunststückchen den Damen des Viertels den Kopf verdreht. Außerdem ist er ein glühender Verehrer verschiedener Schauspielerinnen und schwärmt von ihnen in den höchsten Tönen; da sie unbedingt sein Herz erobern möchte, versucht auch sie sich bald in diesem Metier - mit zweifelhaftem Erfolg.
Zuckersüße Gesellschaftskritik verpackt in einer temporeichen Komödie - das kann nur ein Hit werden. Und auch beinah 100 Jahre später funktionieren die Gags noch wunderbar. Das Bonner Publikum hat sich beinah überschlagen vor schallendem Gelächter, und am Ende gab es tosenden Applaus.
Im nachhinein ist es allerdings bedenklich, dass wir uns scheinbar so gar nicht weiterentwickeln. Wir lachen jahrein, jahraus über dieselben Witze, dieselben Slapstick-Einlagen, und das, ohne daß sich die Themen hätten verändern müssen.
#477
Geschrieben 22. August 2009, 08:01
Buster Keaton spielt einen Filmvorführer, der gerne ein angesehener Meisterdetektiv wäre. Als seine Angebetete von einem vornehmen Lumpen bedrängt wird, der auch öfter was in seinen Taschen verschwinden läßt, ist er zur Stelle. Dank seiner Unerfahren- und Tapsigkeit stellt er sich aber selber mehrere Beine.
Die berühmteste und beste Sequenz des Filmes ist sicher die, in der er am Filmprojektor einschläft, und sich das "Detektiv-Ich" von ihm löst, durch den Saal hinauf zur Leinwand steigt, diese betritt und Teil des Filmes wird. Dort läuft allerdings auch nicht alles optimal, denn mit den schnellen Schnitten und Szenenwechseln kommt er nicht zurecht.
SHERLOCK JR. ist ein enorm famoser Film, der die Genres Komödie, Melodram und Tragikomödie mischt, um auf intelligente Weise metareflexives Kino über die (Dis-)Position des Rezipienten gegenüber der fiktionalen Realität aufzuzeigen. Absolut großartig.
Bearbeitet von Bastro, 22. August 2009, 08:02.
#478
Geschrieben 26. August 2009, 08:22
....Stummfilmfestival Bonn...
Die Abenteuer eines Zehnmarkscheins (Trailer, ca. 3 min) Berthold Viertel, D 1926
Berühmter und verloren gegangener Stummfilm der 20er, auf den besonders in seiner Eigenschaft als Querschnittsfilm in der Literatur immer wieder eingegangen wird. Dieser wiedergefundene und restaurierte Trailer erlaubt einen kurzen Einblick in den Film, und verrät außerdem dessen Ende. Schaut auf den Dachböden nach!
Der lebende Leichnam Fedor Ozep, Deutschland/Sowjetunion 1929
[35mm, 3011 Meter, 120 min bei 22 B/s, schwarzweiß, Musik: Joachim Bärenz (Piano)]
Fedja Protassow (Vsevolod Pudovkin) möchte sich von seiner Frau scheiden lassen, da ihre Liebe erkaltet ist und sie mittlerweile einen anderen liebt. Er möchte deren Glück nicht im Wege stehen. In der zaristischen Gesellschaft des vorrevolutionären Russland ist eine Scheidung aber ein heikles Unterfangen und schnell gerät Fedja an die Grenzen seiner eigenen Würde. Was ihm bleibt ist ein simulierter Selbstmord - er wird zu einem Mann ohne Namen, dem lebenden Leichnam. Nun mittellos und ohne Unnterkunft schlägt er sich durch die Nächte, zieht durch die Kneipen und Bars, und landet immer wieder im Armenhaus. Ein Entkommen aus dieser Situation scheint unmöglich, bis ein Erpresser seine wahre Identität herausbekommt und Fedja konfrontiert. Da muß er plötzlich nochmal Stellung beziehen. Nach Tolstoj.
Tolle Schauspieler, beängstigende Milieuschilderungen, schöne Nachtphotographie. Der Film ist ein Augenschmaus, leider aber auch etwas lang (vor allem in einzelnen Szenen; woran man gut das damalige noch andere Zeitempfinden für Szenen- und Einstellungslängen nachvollziehen kann) und gegen Ende ein Plädoyer für die Menschlichkeit. Ein feines Abschlußmonument für das diesjährige Festival.
#479
Geschrieben 27. August 2009, 07:46
Der homosexuelle Violinist Paul Körner (Conrad Veidt) wird vom Stricher Franz Bollek erpresst, nachdem dieser ihn mit seinem Schüler in inniger Zweisamkeit im Park entdeckt hatte. Nach anfänglichen Zahlungen wird Bollek aber immer habgieriger und setzt Körner stärker unter Druck. Als er schließlich die Zahlungen verweigert, zeigt Bollek ihn an. Er selbst wird wegen Erpressung verurteilt (durch das Plädoyer Hirschfelds), Körner aber wegen des Verstoßes gegen Paragraph 175. Gesellschaftlich nun vollends ins Abseits geraten, nimmt sich Körner das Leben.
Ein spannender und berührender Film, was hauptsächlich an der guten Darstellung Veidts liegt. Die Verflechtung eines Spielfilms mit einem Aufklärungsfilm erscheint mir an sich eher problematisch; jedoch ist der Film eben nicht nur als Zeitdokument sehenswert. Zur abenteuerlichen Zensurgeschichte und zur Restaurierung lohnt es sich, ein paar Zeilen zusammenzusuchen.
Bearbeitet von Bastro, 27. August 2009, 07:47.
#480
Geschrieben 06. September 2009, 09:55
Dr. Mabuse befindet sich mittlerweile in der Irrenanstalt des Prof. Baum und scheint trotz seines Weggeschlossenseins einen gesellschaftsdestabilisierenden Verbrecherring zu leiten. Nach Wochen im Wahn beginnen zudem seine Aufzeichnungen Gestalt anzunehmen: penible Anleitungen zu perfekten Verbrechen.
Doch Mabuses größter Coup ist die Überwindung seiner eigenen Sterblichkeit; denn nach seinem Tod transzendiert er sich selbst und sein Geist fährt parasitengleich in einen neuen Wirtskörper, den Anstaltsleiter Dr. Baum. Das Prinzip Mabuse lebt fort, von Lang großartig in Szene gesetzt mit Überblendungen und Doppelbelichtungen, in denen Mabuse als zweite, geisterhafte Erscheinung neben den Personen erscheint oder auch über ihnen, über der Szene schwebt - dies besonders eindrucksvoll im temporeichen Finale.
Aber wie Mabuse so ist auch Lang ein Magier und Hypnotiseur (hinter) der Leinwand, von der der große Regisseur zu seinem Publikum, im Film zu den Ganoven, spricht. Lang macht auch seinen Mabuse unsterblich, indem er ihn aus der Stummfilm- in die Tonfilmzeit führt. Kongenial wird dies am Beginn des Filmes suggeriert, an dem der gefallene Polizist Hofmeister die Falschmünzerei ausspioniert und in den Kulissen eines Stummfilms herumgeistert, erst ohne Ton, dann nur von eindringlichen Geräuschen unterlegt und der Film erst anschließend, nach Minuten, zum gesprochenen Wort findet. Äquivalent betritt Inspektor Lohmann den Set durch eine Tür aus dem Bühnenhintergrund, hineintretend in eine stark expressionistisch gestaltetes Setting.
Ein Film für die Ewigkeit.
Bearbeitet von Bastro, 06. September 2009, 09:57.
Besucher die dieses Thema lesen: 1
Mitglieder: 0, Gäste: 1, unsichtbare Mitglieder: 0