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Cinéma Quebécois - Filmforen.de - Seite 8

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Cinéma Quebécois


261 Antworten in diesem Thema

#211 Praxisphilosoph

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Geschrieben 18. April 2009, 16:29

I Shot Andy Warhol
Großbritannien/USA | 1996 | Mary Harron

Ambitioniertes Portrait der Radikalfeministin Valerie Solanas, die in den 1960er Jahren durch ihr umstrittenes S.C.U.M.-Manifest und den Mordanschlag auf Andy Warhol Bekanntheit erlangte. War ihre Auflehnung gegen die sittliche und moralische Strenge der 1950er Jahre noch emanzipatorisch, schlug Solanas' am Rande auch antikapitalistisch orientierter, jedoch biologistisch argumentierender Feminismus allmählich um und propagierte eine weibliche Überlegenheitsphantasie, die sich um die Vernichtung des männlichen Geschlechts drehte und so bedenkliche rassistische und faschistoide Denkmuster bediente. Auffallend ist dabei die völlige Verkennung der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht – obwohl der Begriff des gender nachweislich seine Anfänge schon in den 1950er Jahren hatte.
I SHOT ANDY WARHOL zeichnet ein stimmiges Bild der counterculture und des underground und inszeniert die ziemlich durchgeknallten (Lebens)Künstler mit einem wohlwollenden Augenzwinkern. Formal interessant ist die Entscheidung, Teile des Manifests von einer Theaterbühne aus direkt in die Kamera vorzutragen, die sich darüber hinaus durch Lichtstimmung und schwarz-weiß-Bilder entsprechend von der Resthandlung unterscheidet.

#212 Praxisphilosoph

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Geschrieben 20. April 2009, 00:44

Laitakaupungin valot/Lichter der Vorstadt
Finnland/Deutschland/Frankreich | 2006 | Aki Kaurismäki

Ein einsamer Wachmann verfällt dem spröden Charme einer femme fatale, die sich als Lockvogel eines Gangstersyndikats entpuppt, das mit seiner unfreiwilligen Hilfe einen Schmuckraub begeht. Geblendet von dem Interesse der Betrügerin bemerkt er nicht die Zuneigung einer Würstchen-Verkäuferin.
Kaurismäkis stilisierter Minimalismus erzählt einmal mehr mit statischen Einstellungen und einer ausdrucksstarken Farbdramaturgie der Kleidung und Gegenstände in kräftigen, leuchtenden Farben von Einsamkeit und großen Plänen, von Trost im Alkohol und Sehnsucht nach Liebe und Loyalität. Auch weitere bekannte Motive finden in LICHTER DER GROßSTADT Verwendung: alte Autos, finnische Schlager und Rock 'n' Roll, Lakonie und die tiefe Hoffnung der Figuren auf ein besseres Leben.
Wie in vielen Werken zuvor, gelingt auch in diesem Film der Spagat zwischen sozialer Kälte und Solidarität, zwischen Tristesse und Warmherzigkeit, zwischen Andeutungen und Handlung im Off.
Das mag die minimale Variation des etablierten Kosmos' Kaurismäkis sein – ich kann mich daran nicht sattsehen. Wunderbar!

#213 Praxisphilosoph

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Geschrieben 20. April 2009, 13:25

Abigail Lesley Is Back in Town/Abigail Lesley ist zurück
USA | 1975 | Jospeh W. Sarno

Abigail Lesley kehrt in den verschlafende Küstenort Baypoint zurück und entfacht das sexuelle Feuer der männlichen wie weiblichen Einwohnerschaft.
Ein ansehnlicher, aber auf Dauer ermüdender, weil sich wiederholender Softsexfilm, der zudem das obligatorische hölzerne Schauspiel und die steifen, aufgesagten Drehbuchdialoge zu bieten hat. Zumindest verteidigt er Promiskuität gegen Scheinheiligkeit, Doppelmoral und verklemmte Sexualität.

#214 Praxisphilosoph

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Geschrieben 22. April 2009, 12:51

Es kann los gehen! Die Akkreditierung für das goEast-Filmfestival ist abgeholt und gut 30 Filme stehen auf der Agenda. Mal sehen, wieviele meine Kondition tatsächlich zulassen. Die Auflösung gibt's hier in diesem Filmtagebuch.

goEast - Programm

#215 Praxisphilosoph

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Geschrieben 24. April 2009, 10:54

GoEast 2009 – 1. Tag

A nyomozó/Der Ermittler
Ungarn/Schweden/Irland | 2008 | Attila Galambos (Attila Gigor)

Tibor – ein menschenscheuer, wortkarger Pathologe – braucht dringend Geld, um die notwendige Operation seiner krebskranken Mutter zu finanzieren. Ein Unbekannter bietet ihm finanzielle Sorglosigkeit, im Gegenzug soll Tibor einen Mann töten. Ein paar Tage nach dem Mord erhält er einen Brief, in dem sich der Getötete als sein Halbbruder zu erkennen gibt. So wird der Mörder zum Ermittler auf den Spuren einer Familienverschwörung.
DER ERMITTLER ist eine schwarzhumorige, lakonische Krimikomödie, die stellenweise an die Brenner-Romane bzw. deren Verfilmungen von Wolfgang Murnberger erinnert und mit zum Teil brillanten visuellen Auslösungen von filmischen Standardsituationen zu gefallen weiß. In aller Ruhe und Gelassenheit entfaltet der Film eine dichte Atmosphäre mit makaberen Humor und bizarren Bildern der Gedankenwelt des Protagonisten.


Korotkie vstrechi/Kurze Begegnungen
Sowjetunion | 1967 | Kira Muratova

In Anwesenheit der Regisseurin

Valentinas und Nadjas Leben plätschert so dahin, jede menschliche Interaktion scheint nur aus kurzen Augenblicken zu bestehen, dazwischen Routine und fades Einerlei. Auch ihre Liebe zu dem gleichen Mann ändert scheinbar nichts daran.
Kira Muratovas Debut ist ein dialoglastiger, formal unspektakulärer Film über kleine und größere Fragmente des Lebens dreier Figuren – langatmig und unspannend erzählt.
In ihrer kurzen Einleitung vor Beginn bezeichnete Muratova ihren Film als „naiv“ und „einfach“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Nach CHEKHOV'S MOTIFS ein weiterer Film der Regisseurin, zu dem ich keinen Zugang finde.


Podarok Stalinu/Geschenk an Stalin
Kasachstan/Russland/Polen/Israel | 2008 | Rustem Abdrashitov (Rustem Abdrashov)

Sowjetunion, 1949, auf dem Höhepunkt der Umsiedlungspolitik Stalins: Der jüdische Junge Sashka wird mit anderen in einem Zug nach Zentralasien deportiert. Dort rettet ihn der alte Kasache Kasym vor dem sicheren Tod und nimmt ihn mit in sein Dorf, das von der stalinistischen Miliz schikaniert wird. In der Nähe des Dorfes planen Militärs zu Ehren von Stalins Geburtstag den ersten Atomwaffentest der UDSSR.
GESCHENK AN STALIN ist episches Erzählkino im besten Sinne, mit atemberaubenden Landschaftsaufnahmen der kasachischen Steppe und sympathisch-kauzigen Darstellern. Die Kritik an den stalinistischen Methoden der Unterdrückung von religiösen Minderheiten, hier Juden und Muslime, wird leicht und ohne Zeigefinger in die Handlung eingebettet. Demzufolge entwickelt der Film leider auch einen leichten Hang zum religiösen, rühseligen Kitsch und zur Schicksalsgläubigkeit.


Sumashedshaya pomoshch/Verrückte Rettung
Russland | 2009 | Boris Khlebnikov

Der naive und schwerfällige Zhenja landet auf der Suche nach Arbeit in Moskau und wird prompt beraubt. Ein alter, eigensinniger Ingenieur nimmt ihn bei sich auf und gemeinsam verbringen sie ihre Tage damit, etwas Gutes zu tun. Kleine, letztendlich unbedeutende Aktionen, die das Leben am Rande der russischen Gesellschaft erträglicher macht.
Wie schon in KOKTEBEL ist auch dieser Film eine warmherzige Tragikomödie mit skurrilen Figuren und absurd-komischen Szenen, die gegen Ende in ein handfestes Drama münden. Stoische Ruhe und Wahnsinn erscheinen als die wirksamsten Instrumente gegen soziale Kälte und brutale Polizeiwillkür. Der dokumentarische Charakter des Films – erzeugt durch Handkamera und natürlichem Licht – unterstreicht das Konzept zwischen humorvollen Szenen und ihrer implizit geäußerten Gesellschaftskritik und liefert eindrückliche Bilder des Moskaus der Armen und Verzweifelten, der Obdachlosen und Trinker.

Bearbeitet von Praxisphilosoph, 24. April 2009, 10:55.


#216 Praxisphilosoph

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Geschrieben 25. April 2009, 09:31

GoEast 2009 – 2. Tag

Alle drei Filme des heutigen Tages stammen aus der von dem Filmwissenschaftler Claus Löser kuratierten Reihe „Winter adé – Filmische Verboten der Wende“, die ihre Premiere auf der diesjährigen Berlinale feierte.


Wojna swiatów - nastepne stulecie/Krieg der Welten – Das nächste Jahrhundert
Polen | 1981 | Piotr Szulkin

Dezember 1999, irgendwo in der westlichen Welt: Die Marsianer sind gelandet und die Bevölkerung unterwirft sich eiligst den Ankömmlingen. Nur ein Fernsehmoderator beginnt, die herrschenden Verhältnisse zu kritisieren und sich schließlich aufzulehnen.
Szulkins Film beruht lose auf den SF-Klassiker von H.G. Wells und variiert die bekannte Geschichte dahingehend, dass die Anwesenheit der Marsianer als Vehikel genutzt wird, um von Opportunismus und vorauseilenden Gehorsam zu erzählen – die Analogie zum sozialistischen Polen ist mehr als deutlich. KRIEG DER WELTEN ist demnach eine bittere SF-Parabel über Passivität und Autoritätshörigkeit, die ihren Ausdruck in einer düsteren, fast schon apokalyptischen Atmosphäre – auch Dank der effektvollen elektronischen Musik und Geräusche – findet. Ein auffallendes Motiv in den Filmen Szulkis sind die Medien, die auch hier in Form des Fernsehens thematisiert werden. Dabei verzichtet er glücklicherweise auf eine allzu technikfeindliche Kritik, sondern betont die Konstruktion der Medien durch Menschen. Das Ende des Films, das durchaus philosophische, medientheoretische Fragen von Realität und ihrer medialen Repräsentation streift, ist vielschichtig, polysem und herausfordernd. Nur die unfreiwillig komische Darstellung der Marsianer trübt den tollen Gesamteindruck des Films.


Igla/Die Nadel
Sowjetunion | 1988 | Rasid Nugmanov

Nach längerem Aufenthalt in Moskau reist Moro wieder in seine kasachische Heimatstadt Alma-Ata. Seine Freundin Dina hängt inzwischen an der Nadel und ist in eine verhängnisvolle Abhängigkeit geraten. Kurzerhand entführt Moro sie an die Küste des zur Hälfte ausgetrockneten Aral-Sees und unterstützt sie während ihrer Entgiftung. Danach nimmt er als lonley wolf den Kampf mit der Drogenbande auf.
DIE NADEL ist einer der erfolgreichsten russischen Filme aller Zeiten und traf in seiner Entstehungszeit den Nerv der Jugend. Der Plot verhandelt bekannte Versatzstücke und ist zweitrangig – im Vordergrund stehen der charismatische Hauptdarsteller Viktor Tsoy, ein zur damaligen Zeit bekannter Musiker und Underground-Künstler und die ungewöhnlichen audiovisuellen Einfälle. Zudem hat der Film alles, was ein subkulturell orientierter Jugendfilm braucht: mitreißende Musik, Coolness, schöne Menschen. Ein spannender Film mit einer ungeheuren Präsenz Tsoys, der am Ende perfekt zwischen Überhöhung und Realismus chargiert und damit einem gebrochenen Optimismus Ausdruck verleiht.


Kutya éji dala/Nachtlied des Hundes
Ungarn | 1983 | Gábor Bódy

Gábor Bódys legendärer Film ist ein postmodernes, polyphones Kaleidoskop, dessen Story kaum nachzuerzählen, geschweige in einer Synopsis zusammenfassbar ist. Mit einer expressiven Farbgestaltung in Rot und Blau entfaltet der Film ein Netzwerk aus Geschichten und Geschichtchen, legt Fährten, die ins Nichts führen, bringt Ideen wieder zusammen und wirkt dabei flüchtig, nebulös und schwer greifbar. Seine filmischen Verästelungen unterstreicht Bódy mit einer Variation der Materialien, die zwischen Super-8, Video und 35mm wechseln. Diese sich ständig ändernde Textur der Oberflächenstruktur des Mediums verweist auf die unzähligen inhaltlichen und ästhetischen Facetten des Films. NACHTLIED DES HUNDES ist ein verworrenes, postmodernes Monstrum, dessen Fehlen einer Intention sichtlich verwirrt. Die Frage „Wozu das Ganze?“ führt jedenfalls ebenso ins postmoderne Nirgendwo wie die Beschaffenheit des Films.

#217 Praxisphilosoph

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Geschrieben 26. April 2009, 09:22

GoEast 2009 – 3. Tag

Duze zwierze/Das grosse Tier
Polen | 2000 | Jerzy Stuhr

In Anwesenheit des Regisseurs

Ein von einem Wanderzirkus ausgesetztes Kamel strandet im Vorgarten des Bankangestellten Sawicki, der sich fortan liebevoll um das imposante neue Familienmitglied kümmert. Im Dorf herrscht zunächst große Aufregung, bis sich schließlich Neid ausbreitet. Der Tenor der Dorfbewohner ist klar: Das Tier muss weg!
DAS GROSSE TIER verdankt laut Stuhr seinen immensen Zuschauererfolg in Polen und anderswo vor allem der Bekanntheit von Krzysztof Kieslowski, der das Drehbuch nach einer Kurzgeschichte von Kazimierz Orlos schrieb. Stuhr selbst machte daraus eine leichte und beschwingte Komödie über Missgunst innerhalb einer scheinbar funktionierenden Community, die mit einigen wirklich putzigen Szenen zwischen Mensch und Tier aufwarten kann. Ein Film, der auch durch die vorzüglichen Schwarz-Weiß-Bilder des Kameramanns Pawel Edelman unterhält, darüber hinaus jedoch keine weiterführenden Aspekte bietet und so drohen die Erinnerungen an den Film schnell zu verblassen.

#218 Praxisphilosoph

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Geschrieben 27. April 2009, 09:57

GoEast 2009 – 4. Tag

Kocham Polske/Ich liebe Polen
Polen | 2008 | Joanna Slawinska, Maria Zmarz-Koczanowicz

Der Film porträtiert im Stil einer Reportage die populäre Jugendbewegung „Allpolnische Jugend“, eine von Roman Giertych gegründete rechte Studentenorganisation, deren Mitglieder 2001 ebenfalls an der Gründung der „LPR – Liga Polnischer Familien“beteiligt waren. Beide Organisationen zeichnen sich durch ihren aggressivenn Nationalismus und Katholizismus und vor allem durch ihre hetzerische homophobe Haltung gegenüber Schwulen und Lesben aus.
Der von einem Aufklärungsjournalismus geprägte Dokumentarfilm entlarvt anschaulich die antimodernistische, zutiefst reaktionäre Gesinnung der Protagonisten, die deutlich inhaltliche Parallelen zum spanischen Klerikalfaschismus aufweisen. Dabei führt ICH LIEBE POLEN die Existenz der politischen Gruppen und ihre Überzeugungen vor und vertraut auf die selbstentlarvende Kraft der Statements. Fragen nach Ursachen und (historischen) Kontinuitäten der Denkmuster stellt der Film nicht.


Utov/Die Jurte
Usbekistan | 2007 | Ayub Shahobiddinov

Vater und Sohn leben unter widrigen Bedingungen in der usbekischen Wildnis. Als die Moderne eines Tages in Gestalt eines Fernsehers Einzug hält, verändert sich die zwischenmenschliche Balance und alte und neue soziale Wunden brechen auf.
Die rudimentäre, vorhersehbare Geschichte wird formal äußerst konventionell und fade erzählt und verspielt durch das theatralische Schauspiel und eine überdeutliche Inszenierung jeden Kredit. Einzig die schroffe Landschaft bietet den ein oder anderen Hingucker.


Morfiy/Morphin
Russland | 2008 | Aleksej Balabanov

Russland, 1917: Der junge Arzt Poljakov tritt seine erste Stelle an und beginnt die harte Arbeit und den psychischen Druck mittels Morphinspritzen zu kompensieren. Mehr und mehr gerät er in den Strudel der Abhängigkeit.
Nach dem ärgerlichen xenophoben Totalausfall BRUDER entpuppt sich der neue Film von Aleksej Balabanov als stilisiertes Drama mit einer mitreißenden Atmosphäre durch die grandiose Bildgestaltung, Musik und Ausstattung. Die Wirren der Russischen Revolution werden durch die klaustrophobischen filmischen Räume und die drastischen, naturalistischen Szenen der Arbeit des Mediziners erfahrbar und beeindrucken in ihrer rücksichtslosen Konsequenz. Die pessimistische Veränderung der Vorlage von Michail Bulgakov gerinnt zu einer eindrucksvollen Studie einer Abhängigkeit in unsicheren, von gewaltsamen Umwälzungen geprägten Zeit.

#219 Praxisphilosoph

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Geschrieben 03. Mai 2009, 14:40

GoEast 2009 – 5. (und mein letzter) Tag

Predstavleniye/Revue
Deutschland/Russland/Ukraine | 2008 | Sergej Loznitsa

REVUE ist die Montage von propagandistischem Archivmaterial so genannter Kinojournale der 1950er und 1960er Jahre aus der Sowjetunion und zeigt größtenteils inszenierte Szenen des Alltags. Die Zusammenstellung zeigt eine heile Welt ohne Widersprüche, in der alle ihren Platz haben und heroisiert dabei den Mythos der Arbeit. Lustlosigkeit, Müdigkeit oder Erschöpfung scheint im Selbstbild keine Rolle zu spielen. Auffallend ist zudem die ausgefeilte politische Überwältigungsstrategie, die ausschließlich auf die Mobilisierung des Gefühls, der Emotionen setzt und analytische Gründe für den Kommunismus völlig ausblendet.


Ha'agada Al Nicolai Ve'chok Ha'shvut/Die Geschichte von Nicolai und das Rückkehrgesetz
Israel | 2008 | David Ofek

Ein rumänischer Arbeiter landet in Israel, schlägt sich als „Illegaler“ durchs Leben und entdeckt, dass er als Jude legal arbeiten könnte.
Inszenierter Dokumentarfilm, der die „wahre Geschichte“ von Nicolai nacherzählt und dabei keinem weh tut. Ich kann mich mit gewissem Abstand an keine eindrucksvolle Szene oder Bilder erinnern.


Apocalipsa Dupa Soferi/Apocalypse auf Rädern
Rumänien | 2008 | Alexandru Solomon

Der Film begleitet zu der Musik von Einstürzende Neubauten eine Handvoll Autofahrer durch den alltäglichen Verkehr Bukarests und lässt sie von ihren Erfahrungen und Eindrücken im dichten, chaotischen Fahrzeuggewimmel erzählen. Eine psychologische Studie, geschickt montiert, mit einigen spannenden Lebensgeschichten.

#220 Praxisphilosoph

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Geschrieben 04. Mai 2009, 12:07

Paranoid Park
Frankreich/USA | 2007 | Gus Van Sant

Ein vielschichtiges Jugenddrama mit wunderschönen poetischen Momenten, das von dem großartigen Einsatz der Musik und dem famosen visuellen Konzept lebt. Die kunstvoll verwobene achronologische Erzählweise – die Wiederholungen und Variationen von Szenen – unterstreicht eindrucksvoll das Gefühl und die Stimmung einer driftenden Gesellschaft. Gus Van Sant ist sicher einer der herausragenden Protagonisten des us-amerikanischen Autorenfilms.

#221 Praxisphilosoph

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Geschrieben 08. Mai 2009, 15:31

Forty Shades of Blue
USA | 2005 | Ira Sachs

Die junge Immigrantin Laura lebt mit dem älteren, erfolgreichen Musikproduzenten Alan in Memphis, Tennessee. Eher unglücklich und gelangweilt von der Beziehung, verliebt sie sich in den Sohn ihres Partners.
FORTY SHADES OF BLUE erzählt eine relativ konventionelle Dreiecks- und Vater-und-Sohn-Geschichte, allerdings ohne Klischees und allzu sentimentales Gejammer. Ruhig fließend widmet sich der Film den verborgenen Sehnsüchten hinter den gesellschaftlichen Masken und erschafft Dank durchdachtem Musikeinsatz stille Momente einer psychologisch-emotionalen Tiefgründigkeit.

#222 Praxisphilosoph

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Geschrieben 08. Mai 2009, 22:38

Exils/Exil
Frankreich/Japan | 2004 | Tony Gatlif

Ein junges Paar aus Paris reist über Spanien nach Algerien – in das Land ihrer Eltern. Unterwegs treffen sie auf vielfältige Formen der Migration, auf Heimatlose und Fremde. In Algier schließlich finden sie zurück zu ihren (muslimischen) Wurzeln.
EXIL erzählt seine Geschichte mit einigen netten visuellen Einfällen, verliert sich aber immer wieder in folkloristischem Ethno-Kitsch und kulminiert in einer ausgesprochen aufdringlichen mythischen Überhöhung der Suche nach (völkischer?) Identität. Das neben der Musik Familie und Religion als prägende kulturelle Eigenschaften gefeiert werden, erscheint demzufolge auch nicht verwunderlich.

Bearbeitet von Praxisphilosoph, 08. Mai 2009, 22:39.


#223 Praxisphilosoph

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Geschrieben 09. Mai 2009, 15:13

Winterreise
Deutschland | 2006 | Hans Steinbichler

Schuberts Winterreise eines depressiven, einsamen Mannes dient dem Film sowohl musikalisch als auch thematisch als Grundgerüst und erzählt von einem rücksichtslosen und egozentrischen bayrischen Unternehmer, den seine Reise in den Tod bis nach Kenia führt.
WINTERREISE ist ganz auf Josef Bierbichlers unnachahmliche Präsenz zugeschnitten, an dessen Seite alle Nebenfiguren verblassen. Die visuelle Gestaltung zeigt leider nur in wenigen Szenen durch dem Spiel mit Unschärfe und Filmmaterialität, wie sich Manie und Depression in Bildern ausrücken ließe – etwas mehr künstlerischen Mut vorausgesetzt. Letztendlich ist der Film nicht mehr als eine eindrucksvolle 90-minütige Schauspielstudie.

#224 Praxisphilosoph

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Geschrieben 10. Mai 2009, 14:37

Chaostage
Deutschland | 2009 | Tarek Ehlail

Handwerklich miserables, formal im höchsten Maße konventionelles Dokudrama über die Punk-Treffen in Hannover Mitte der 1990er Jahren, das selbst in der Szene umstrittenen Personen wie Karl Nagel und Wölfi Wendland (Die Kassierer) kritiklos Raum bietet, ihre verklärenden und romantisierenden Ansichten abzusondern. Die Spielhandlung zeichnet sich zudem durch überzeichnete Rollenklischees aus (good cop, bad cop, sexuell gestörter Nazi) und Frauen erscheinen sowieso lediglich als schmückendes Beiwerk – gerne auch halbnackt. Ein auf allen Ebenen bodenlos schlechter Film.

#225 Praxisphilosoph

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Geschrieben 16. Mai 2009, 14:02

Der letzte Mann
Deutschland | 1924 | Friedrich Willhelm Murnau

Der alternde Portier des edlen Berliner Hotels Altlantic lebt zwar in bescheidenen Verhältnissen, wird dort aber von der Nachbarschaft aufgrund seiner sozialen Stellung – die Ausdruck in der prachtvollen Uniform findet – verehrt und angehimmelt. Eine angenehme Situation, die er sichtlich genießt. Als der Portier aufgrund seiner vermeintlichen „Altersschwäche“ fortan die Uniform abgeben und als Handtuchreicher im Keller Dienst schieben muss, verheimlicht er seinen Mitmenschen den sozialen Abstieg.
Ein wunderbar mitreißender Stummfilm, der seine Geschichte auffällig zerdehnt und dabei von gesellschaftlicher Dinstinktion und Überheblichkeit erzählt. Das paternalistische Ende ist märchenhaft überhöht und durchaus ironisch angelegt. Formal beeindruckend sind die ausgeklügelten Kamerafahrten, eine POV-Handkamera, Doppelbelichtung und das Spiel mit Unschärfe. Nur die Musikfassung (von 1982) ist für meinen Geschmack zu burlesk und nervtötend.


Michael Clayton
USA | 2007 | Tony Gilroy

Unterhaltsamer und spannender Polithriller über Wirtschaftskriminalität und der Verstrickung von Anwaltskanzleien in undurchsichtige Geschäfte mit einem tollen Schauspielensemble, zudem exquisit fotografiert.

#226 Praxisphilosoph

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Geschrieben 18. Mai 2009, 05:48

Cronicamente Inviável/Chronically Unfeasible
Brasilien | 2000 | Sergio Bianchi

Ausgehend von einem Restaurant in Sao Paulo erzählt der Film aus dem Leben von sechs sehr unterschiedlichen Menschen, die jeweils eine exponierte Stellung in der brasilianischen Gesellchaft darstellen.
CRONICAMENTEEE INVIÁVEL – auf deutsch: chronisch aussichtslos – ist eine episodisch angelegte, skizzenhafte Reflexion über diskursprägende Aspekte der brasilianischen Öffentlichkeit, wie zum Beispiel nationale Einheit, Rassismus, Religion, ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse, Macht, Karneval, Umweltzerstörung, Gewalt und florierenden Adoptions- und Organhandel. Die zum Teil provokanten Thesen zu diesen vielfältigen Themen ergeben zusammengenommen ein breit gefächertes Panorama der unterschiedlichen sozialen und politischen Bedingungen in den verschiedenen Regionen Brasiliens. Von einigen dramaturgischen Kniffen abgesehen, berührt der formal eher unspektakuläre Film darüber hinaus existenzielle Fragen des menschlichen Seins.

#227 Praxisphilosoph

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Geschrieben 18. Mai 2009, 14:53

Unser täglich Brot
Deutschland/Österreich | 2005 | Nicolaus Geyrhalter

Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm reiht streng komponierte Bild einer hochtechnisierten Lebensmittelindustrie aneinander und versucht sich auch an der Beschreibung von Arbeitsbedingungen in diesem Tätigkeitsfeld. Materialreich zeigt der Film in erster Linie, er stellt dar – ohne das Gezeigte zu werten, was sich als großes Plus des Films herausstellt. UNSER TÄGLICH BROT stellt Fragen und gibt keine Antwort und zwingt dadurch den Zuschauenden, sich zu den mitunter drastischen Bildern zu verhalten.
Ich kann mir lebhaft den Aufschrei einiger Rezipienten bei dem gezeigten „Umgang mit den süßen Tieren“ ausmalen. Selbstverständlich bietet der Film allen moralisch Entrüsteten eine Steilvorlage, die sich in der Regel mehr über die armen Küken echauffieren als über die gezeigte eintönige, stupide Arbeit von Menschen für Hungerlöhne, die sie gezwungen sind auszuführen. Zugegebenermaßen mag die reibungslos funktionierende Tötungs- und Verwertungsmaschine zunächst abschreckend wirken, in ihrer Effizienz ist sie allerdings allen früheren Tötungspraktiken von Tieren weitaus überlegen. Wer Georges Franjus LE SANG DES BÊTES (1949) oder Jean Eustaches LE COCHON (1970) gesehen hat, kann sich davon ungefähr ein Bild machen. Eine artgerechte Haltung und das Vermeiden unnötiger Qualen sollten jedoch unbedingt gewährleistet sein.
Das eigentlich Skandalöse, das der Film allerdings ausspart, ist jedoch die ungeheure Verschwendung einer Wirtschaftsform, die nicht für den tatsächlichen Bedarf produziert, sondern die unter großem Aufwand hergestellten Lebensmittelprodukte in Konkurrenz zueinander setzt. Nicht wenige der im Film gezeigten Waren werden in irgendeiner Mülltonne auf der Welt landen und nutzlos verrotten.


L'enfer/Die Hölle
Frankreich | 1994 | Claude Chabrol

Ein von Geldsorgen geplagter Hotelier ist mit einer ausgesprochen attraktiven Frau verheiratet und versteigt sich in ausgeprägte Eifersuchtsphantasien, die zur völligen Zerrüttung der Beziehung führen.
Einmal mehr versucht sich Claude Chabrol an der schonungslosen Demaskierung der bürgerlichen Fassade, hinter der sich die vielbeschrienen Abgründe auftun. Den zunächst Glück versprechenden bürgerlichen Lebensentwurf seziert der Film nach und nach und zeigt, wie männliches Besitzdenken und der Drang nach Dominanz und falsche weibliche Solidarität ein System aus Angst und Misstrauen schafft, an dessen Ende innerlich zerfressende Figuren stehen, deren Liebe zueinander durch fortschreitende krankhafte Eifersucht zerstört wurde.
Chabrol gelingt erneut ein leiser Thriller, der die bekannten Motive des auteurs durchbuchstabiert und dabei thematisch wenig Neues liefert. Formal hat Chabrol ja bekanntlich nie besonders Aufregendes zu bieten.

Bearbeitet von Praxisphilosoph, 18. Mai 2009, 14:53.


#228 Praxisphilosoph

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Geschrieben 20. Mai 2009, 15:18

A Gun for Jennifer
USA | 1996 | Todd Morris

Zensur findet nicht statt – Zur Indizierung des Genreklassikers A GUN FOR JENNIFER

Am 12. März 2009 – einen Tag nach den tödlichen Schüssen in Winnenden – wurde in einer zweiminütigen Beratung der “Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ die Indizierung des feministischen Genreklassikers A GUN FOR JENNIFER beschlossen. Auf Anregung des bayrischen LKAs befasste sich das zwölfköpfige Gremium, das sich in der Mehrheit aus Mitgliedern ohne fundierte film-, medien oder rechtswissenschaftliche Ausbildung zusammensetzte, mit dem Film und sah darin den Aufruf zur „Selbstjustiz“ gegeben. Selbst der Hinweis, dass die Thematik dezidiert in einem künstlerischen Rahmen verhandelt wird, stimmte die EntscheiderInnen nicht um. Mit der Veröffentlichung des Titels in der Liste A des Bundesanzeigers für indizierte Medien Ende März ist die Indizierung vollzogen, die ein weitreichendes öffentliches Verbot der Vorführung, der Bewerbung und des Verkaufs mit sich bringt.

A GUN FOR JENNIFER – Umkehr von Täter- und Opferrollen

A GUN FOR JENNIFER (1996) unter der Regie von Todd Morris erzählt in verwaschenen, grobkörnigen Bildern von Jennifer (Deborah Twiss), die in Notwehr ihren Ehemann tötet und nach New York flieht. Dort schließt sie sich mehr oder minder freiwillig einer Bande Frauen an, die angesichts verbreiteter männlicher Gewalt zur Waffe greifen und grausame Rache üben. In der Tradition von Abel Ferraras MS.45/DIE FRAU MIT DER 45ER MAGNUM (1981) atmet der Film die kompromisslose Punkästhetik New Yorks jener Zeit und bietet in bester B-Movie-Tradition neben expliziten Schauwerten mäßiges Schauspiel und eine holprige Inszenierung.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Weder leistet der Film einen progressiven und emanzipatorischen Beitrag zur Überwindung bestehender Geschlechterverhältnisse, noch gelingt eine fundierte Analyse jener geschlechtsspezifischen Machtkonstellationen. Die Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin Deborah Twiss schrieb sich nach eigener Aussage den Frust von der Seele, nachdem sie in New York als arbeitslose Schauspielerin in Stripclubs arbeitete. A GUN FOR JENNIFER ist demzufolge ein wütender, verrotzter Faustschlag gegen sich überlegen fühlendes Männlichskeitsgebahren. In seiner Feier der männlichen Kastration als Lösung gegen Sexismus und sexuelle Gewalt erinnert der Film deutlich an die reaktionäre Ausprägung des feministischen Diskurses in Form der Vernichtungsphantasien von Valerie Solanas und ihrem S.C.U.M-Manifest. Dabei bietet der Film ähnlich dem Rache-Thriller BAISE-MOI (2000) lediglich die Umkehrung von Täter- und Opferrollen und keine weiterführenden Strategien für die Aufhebung von Genderunterschieden.

Indizierung ist Zensur

Nachdem A GUN FOR JENNIFER relativ schnell in der Versenkung verschwand, erwarb der Berliner Filmverlag „Independent Partners“ die Rechte und veröffentlichte den Film 2008 auf DVD. Die Indizierung des Films hat nun weitreichende Konsequenzen für das Label. Es ist fortan untersagt, den Film im Kino und im Fernsehen zu zeigen, ihn öffentlich in den verschiedenen Verkaufsstellen anzubieten und ihn zu bewerben oder in ähnlicher Form anzukündigen. Der Film wird so faktisch aus dem kapitalistischen Verwertungsprozess und dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen, was einer indirekten Zensur gleicht. Die Anbieter dieses subversiven Kunstproduktes werden an den Rand des ökonomischen Ruins getrieben und erhalten damit gleichzeitig eine deutliche Warnung, die Veröffentlichung solcher Medien aus Schutz vor Geschäftsinteressen in Zukunft zu unterlassen. Der demokratische Staat und seine Funktionsträger müssen - um sich nicht selbst zu delegitimieren – einen Weg finden, der gleichermaßen die Meinungsfreiheit unberührt lässt und dennoch unliebsame Kunstprodukte aus dem gesellschaftlichen Raum verbannt. Dies geschieht in erster Linie durch ökonomische Macht, durch den Ausschluss der Kunstprodukte aus der Warenzirkulation. Ähnlich der Illusion der parlamentarischen Demokratie, in der die Menschen glauben sollen, sie regieren sich selbst, ist auch die Praxis der Indizierung eine Illusion, die letztlich nichts anderes ist als subtile, indirekte Zensur.
Erschreckend ist dabei die oft zu beobachtende Verwechslung von medialen Produkten und der Realität. Die Argumentation der Indizierungsbefürworter überschätzt im hohen Maße den Einfluss von medialen Erzeugnissen auf das individuelle Verhalten der Konsumenten und verkennt im gleichen Atemzug die weitreichende Relevanz von strukturellen, dem Kapitalismus immanenten sozialen Konflikten.
Man muss A GUN FOR JENNIFER nicht mögen, man kann den Film sogar empörend finden – ein Grund für eine Indizierung ist das jedoch nicht.


Der Text war ursprünglich für eine Berliner Wochenzeitschrift gedacht, wurde aber letztendlich nicht abgedruckt.

#229 Praxisphilosoph

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Geschrieben 26. Mai 2009, 10:11

Stachka/Streik
Sowjetunion | 1925 | Sergei M. Eisenstein

Nach längerer Zeit mal wieder auf großer Leinwand: Sergei Eisensteins Debutfilm, der über die Jahrzehnte nichts von seiner Kraft verloren hat. Erstaunlich und großartig die Funktion der gewollten (nicht unfreiwilligen) Komik mit ihrer kompromisslosen Überzeichnung der Figuren, bewegend nach wie vor die assoziative Montage, die Zusammenhänge herstellt, Widersprüche aufzeigt und zudem herrlich polemisch operiert. Die politische Aussage erscheint aus heutiger Sicht verkürzt, in Teilen als zu orthodox widerlegt, in den 1920er Jahren (und auch noch später) war die Fokussierung auf personalisierte Klassen marxistischer Status quo.
STREIK ist vor allem formal ein äußerst gelungener Agitprop-Film, der vieles von Eisensteins späteren Montagetheorien praktisch andeutet und zudem mit fast experimentellen Bildkompositionen von Eduard Tisse begeistert. Die Dynamisierung des Geschehens und die Rhythmik der Einstellungen ist darüber hinaus zeitloses Anschauungsmaterial von dem ungeheuren Potential des Mediums Film.

#230 Praxisphilosoph

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Geschrieben 26. Mai 2009, 17:33

Un año sin amor/Ein Jahr ohne Liebe
Argentinien | 2005 | Anahi Berneri

Ein schwuler Schriftsteller lebt mit seiner Tante in einem viel zu kleinen Appartement und leidet unter den verschiedensten Symptomen seiner HIV-Erkrankung. Auf organisierten SM-Partys sucht er fortan Liebe, Geborgenheit und Sex, sieht allerdings auch dort seine tiefen Sehnsüchte nicht befriedigt.
EIN JAHR OHNE LIEBE besitzt wie so viele Debutfilme das Problem, dass zu viele Themen in den schmalen Plot hineingepackt werden. Die Krise des Künstlers, Tod, Sexualität, Familienzwistigkeiten, Krankheit, Liebe – als das führt dazu, dass der Film überladen und unausgereift wirkt. Zwar unterstreicht die sprunghafte Montage den psychischen Zustand des Protagonisten durchaus wirkungsvoll, andere formale Ideen wie der Splitscreen wollen so gar nicht ins Konzept passen und erscheinen fremd und ungewollt stilbrechend. Dennoch gibt es ein paar schöne detailreiche (Sex)Szenen, die innovativ und erotisch inszeniert sind.

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Geschrieben 29. Mai 2009, 11:34

Westside Kanaken
Deutschland | 2008 | Peter Schran

Formal langweilige, inhaltlich zum Teil interessante Dokureportage über Kölner Gangsterrapper und ihren Lebensstil. Nur selten bietet der Film Platz für Widersprüche wie die ausgeprägte Affirmation der Regeln der Konkurrenzgesellschaft und die zu Tage tretenden Auswirkungen von sozialer Benachteiligung und Rassismus - zu sehr klebt Peter Schrans Reportage an den Abenteuergeschichten der Beteiligten und lässt zweifelhafte Tugenden wie Ehre und Stolz, aber auch einem widerlichen Sexismus unwidersprochen Raum. Ab und an, in zwei, drei kleinen Szenen scheint eine Verletzlichkeit der machtorientierten jungen Männer durch, die sich in Selbstzweifel, Identitätskrisen und letztendlich naiven, romantischen Vorstellungen manifestiert. Dennoch bietet WESTSIDE KANAKEN einen kurzweiligen Einblick in die Mechanismen einer Subkultur, die sicher nicht so subversiv ist, wie sie gerne wäre oder sich bisweilen darstellt.

#232 Praxisphilosoph

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Geschrieben 31. Mai 2009, 17:51

Trona/Trona, Kalifornien
USA | 2004 | David Fenster

Ein namenloser salesmen strandet in einem kalifornischen Wüstenkaff und wird prompt seiner Kleidung und anderen Habseligkeiten beraubt. In Unterhose durchstreift er die Ödnis, um sich kurzerhand einen verlassenen Schrottplatz zu kaufen. Aber auch dieser Lebensentwurf scheint nur von kurzer Dauer.
David Fensters Abschlussfilm ist ein wahres, filmisches Kleinod des lakonischen Minimalismuses, der seine rudimentäre Geschichte ohne Erklärungen und mit großem Stilwillen erzählt. In die Handlung wird immer wieder gekonnt komponierte Bilder der Architektur und Landschafts Tronas montiert, die dabei in Motivauswahl und Bildkomposition an die Filme von James Benning (california trilogy) erinnern. In zum Teil absurden Szenen entwirft Fenster ein Panorama des Stillstandes und des Anachronismuses und verdichtet mit subtilem Witz die Krise des ländlichen Amerikas zu einer Krise des weißen Mittelstands, in der Perspektivlosigkeit, (Selbst)Zweifel, und Langeweile sich ihren Weg bahnen. Absolut sehenswert!

#233 Praxisphilosoph

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Geschrieben 31. Mai 2009, 22:23

Kramer vs. Kramer/Kramer gegen Kramer
USA | 1979 | Robert Benton

Eine frustrierte Frau verlässt nach sieben Ehejahren ihren Mann und den gemeinsamen Sohn, der sich fortan mehr recht als schlecht mit seinem Vater durchs Leben schlägt. Als die Mutter ihren Rechtsanspruch auf ihren Sohn geltend macht, kommt es zur Gerichtsverhandlung um das Sorge- und Aufenthaltsrecht.
KRAMER GEGEN KRAMER war seinerzeit ein Riesenerfolg, was vor allem an der superben Besetzung und dem inhaltlichen „heißen Eisen“ liegen mag. Auf mich wirkte der Film formal wie inhaltlich schon sehr angestaubt und altbacken, obwohl sich der Thematik durchaus differenziert und feinfühlig angenähert wird. Letztendlich trügt jedoch die laue Inszenierung den Eindruck, die so bieder ist wie die Charaktere des Films.

#234 Praxisphilosoph

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Geschrieben 02. Juni 2009, 15:25

Crank
USA | 2006 | Mark Neveldine, Brian Taylor

Inhaltlich und dramaturgisch völlig überdrehter Film mit Hang zu unappetitlichen Machogehabe (die öffentliche Fickszene ist einfach nur daneben) und haarsträubenden Logikfehlern. Betrachtet man den Film allerdings als filmische Bewegungsstudie, quasi als Versuch der Beschleunigung von Raum und Zeit und der experimentellen Weiterentwicklung von filmischen Mitteln hinsichtlich Geschwindigkeit und ihrer Rezeptionswirkung, so sind die knapp 90 Minuten Lebenszeit zumindest nicht völlig vergeudet.

#235 Praxisphilosoph

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Geschrieben 04. Juni 2009, 13:49

Historia Shel Hakolnoah Israeli/Israels Kino erzählt
Israel/Frankreich | 2009 | Raphael Nadjari

Breitgefächerte, materialreiche und spannende Reise in die Geschichte des israelischen Films von den Anfängen bis zur Gegenwart und zudem ein kulturhistorischer Abriss über prägende Motive des Landes. Die langen Ausschnitte aus den jeweiligen Filmen gewähren einen ersten Blick in die israelische Kinematografie und ihre vielfältigen Themen. Experteninterviews mit sich durchaus widersprechenden Perspektiven ergänzen die Filmausschnitte und bieten meist einen analytischen Zugang. Ein Film, der Lust macht auf mehr Kino aus Israel.

#236 Praxisphilosoph

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Geschrieben 05. Juni 2009, 19:12

Kes
Großbritannien | 1969 | Ken Loach

Billy lebt mit seinem älteren Bruder und der gemeinsamen Mutter in einer Arbeitersiedlung in South Yorkshire, eine Gegend die vom Bergbau lebt. Armut, Hunger und der öde Alltag in der Schule bestimmenn das Leben des Jungen, bis er ein Falkennest entdeckt und großen Spaß und Befriedigung mit der Zähmung eines Jungtieres erfährt.
Ken Loachs zweiter Film entfaltet all jene Motive des Regisseurs, die ihn durch seine gesamte Karriere begleiten sollen. In einfachen, nur zeigenden Bildern und einem naturalistischen Beleuchtungskonzept handelt KES genauso von der autoritären Erziehung inklusive Prügelstrafe und Sportunterricht als Folter, von einem rigiden protestantischem Arbeitsethos wie von dem Versuch der Arbeiterfamilien, dem Elend und der Armut zu entkommen – jeder auf unterschiedliche Weise. Loach orientiert sich dabei deutlich an den Sozialdramen des free cinema und weigert sich auch in diesem Film, naive Lösungen oder überzogene Schuldzuweisungen anzubieten. Wie so oft bleibt auch hier am Ende ein Hauch von Bitterkeit zurück. Trotz einiger Längen ein interessanter Film, der schon deutliche Züge des britischen Autorenfilmers trägt.


Inside Deep Throat
USA | 2005 | Fenton Bailey, Randy Barbato

Kurzweiliger Dokumentarfilm, der mehr den gesellschaftlichen Umgang mit Pornografie in den USA thematisiert, als eine analytische Auseinandersetzung mit dem legendären Pornofilm bietet. Dabei streift er Themen wie die Kommerzialisierung von Sexualität oder sexuelle Befreiung vs. christlich-fundamentale Moralvorstellungen. Irgendwie rauscht der Film jedoch an der Oberfläche vorbei, selten wird bei kontroversen Aussagen nachgehakt. Insgesamt eine zahnlose Meinungsaufbereitung mit etwas Einblick in Zensurgeschichte.

#237 Praxisphilosoph

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Geschrieben 06. Juni 2009, 06:35

Die Austernprinzessin
Deutschland | 1919 | Ernst Lubitsch

Die Tochter eines „Austernindustriellen“ hat sich in den Kopf gesetzt, sofort und ohne Verzögerungen einen Prinzen zu heiraten. Ein Heiratsvermittler wird beauftragt und so nimmt das vergnügliche Verwechslungsspiel seinen Anfang.
Ernst Lubitschs „groteskes Lustspiel“ (so die Texttafel zu Beginn des Films) ist eine wunderbar leichtfüßige und rasante Komödie, die die statische Kamera durch imposante Choreografie und perfekt getimte Slapstickeinlagen mehr als aufwiegt. Die detailverliebten Bauten und die 2006 von Aljoscha Zimmermann neu komponierte Musik tragen darüber hinaus zum tollen Gesamteindruck bei. Erscheint der Plot auf den ersten Blick als konventionelles Lustspiel (Vgl. Büchners LEONCE UND LENA), entpuppt sich der Film bei genauerem Hinsehen als böse Zuspitzung bourgeoiser Ideen und ihren absurden Ausprägungen. Ein wirklich amüsanter Stummfilm, der selbst in den Texttafeln durch pointiertem Witz besticht.

#238 Praxisphilosoph

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Geschrieben 07. Juni 2009, 06:15

Ich möchte kein Mann sein
Deutschland | 1918 | Ernst Lubitsch

Die wilde Ossi leidet unter der Strenge ihres Onkels und der Gouvernante, die sehr deutliche Vorstellungen davon haben, was sich für eine junge Frau schickt. Erst die Verkleidung als Mann ermöglicht ihr zunächst Spaß zu haben, merkt sie aber bald, dass das Mann-Sein auch so seine Tücken hat.
Das kurze Lustspiel unterhält im flotten Tempo und verblüfft als frühe Dekonstruktion von Geschlechterrollen, wenn auch mit reaktionärem Ende. Erneut ist vor allem Ossi Oswalda eine Freude, die mit ansteckendem Charme und ungeheurem Verve spielt und durch komische akzentuierte Mimiken und Gestiken gefällt. Ein netter Film, der jedoch zu keiner Zeit die Qualität der AUSTERNPRINZESSIN erreicht.

#239 Praxisphilosoph

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Geschrieben 08. Juni 2009, 06:32

Die Bergkatze
Deutschland | 1921 | Ernst Lubitsch

Eine Kaserne in den verschneiten Bergen: Die toughe Räubertochter verliebt sich in einen Offizier.
Was als agile Militärsatire beginnt, entwickelt sich schnell zu einer unspannenden Liebesgeschichte mitsamt den obligatorischen romantischen Verwicklungen. Auffälliges Stilmittel in DIE BERGKATZE sind häufig eingesetzte geometrische schwarze Schablonen vor der Kameralinse, die den Bildkader gezielt einschränken bzw. den Blick deutlich lenken.
Wiederkehrendes Motiv in den drei bisher gesichteten Stummfilmen von Ernst Lubitsch sind raumgreifende Tanzszenen und die Inszenierung des Dirigenten als völlig durchgeknallten, mit vollem körperlichen Einsatz arbeitenden Derwisch. Leider ein Film, der den Biss und das Timing der vorherigen Werke vermissen lässt.

Hiermit endet vorerst meine Reise in Lubitschs Stummfilmzeit.

#240 Praxisphilosoph

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Geschrieben 11. Juni 2009, 16:55

Or/Eine Tochter
Frankreich/Israel | 2004 | Keren Yedaya

Eine große Last trägt die junge Or auf ihren Schultern: Sie geht zur Schule, arbeitet abends in einem Restaurant als Tellerwäscherin, sammelt Flaschen und versucht darüber hinaus ihre manisch-depressive Mutter von der Prostitution wegzubringen. So sehr sie sich windet und kämpft, die Lebensbedingungen, geprägt von Armut und Geldnöten, fordern ihren Preis.
In den Hauptrollen glaubwürdig gespieltes Drama, das leider an seiner formalen Durchschnittlichkeit leidet. Die statische Kamera vermag zwar die Handlung abzubilden, eine innere Spannung durch die langen Einstellungen entsteht jedoch nicht. So wirkt der Film wie ein abgefilmtes Theaterstück, der zwar inhaltlich einige interessante Aspekte bezüglich dem Nexus von Prostitution, Armut und patriarchalen Verhältnissen aufweist, insgesamt jedoch so dahin plätschert und keine zwingenden Bilder und Töne findet.





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