Cinéma Quebécois
#121
Geschrieben 01. November 2008, 18:00
Frankreich | 1998 | Claude Miller
Der emotional vernachlässigte 12-jährige Nicolas leidet unter seinem dominanten Vater, der zur Disziplinierung strenge Regeln und ängstigende Geschichten zwischen Wahrheit und krankhafter Übertreibung einsetzt. Nicolas, durch diese „Erziehungsmethoden“ zum gehemmten, bettnässenden Außenseiter verkommen, fährt folgend mit seiner Klasse in die Berge zum Ski-fahren. Dort findet er ausschließlich bei einem Jungen Anschluss, alle anderen hänseln ihn oder strafen ihn mit Missachtung. Obskure Wunsch- und Angstphantasien bestimmen fortan Nicolas' Realität, bis sich schreckliche Ereignisse mit der Vorstellungskraft des Jungen verbinden.
Von unglaublicher Dichte inszeniert Claude Miller die psychische Wahrnehmungswelt des Kindes, die sich im Laufe des Films mehr und mehr mit der Filmrealität vermischt und dadurch eine beklemmende Atmosphäre der Bedrohung erschafft. Die kindlichen, fast archaischen Ängste und Imaginationen werden dabei kunstvoll mit der restlichen Handlung verwoben.
DIE KLASSENFAHRT ist ein beklemmendes Psychogramm eines zutiefst verängstigten Kindes; ein rätselhaftes, filmisches Kleinod – absolut sehenswert.
#122
Geschrieben 03. November 2008, 10:19
USA | 2008 | Steven Spielberg
Zumeist kurzweiliger, aber haarsträubender Quatsch – letztendlich eine Aneinanderreihung von slapstickartigen Actionszenen, ohne den Charme der vorherigen Filme zu erreichen.
#123
Geschrieben 04. November 2008, 08:55
Deutschland | 2006 | Marcus H. Rosenmüller
Völlig überkonstruierte Mischung aus Heimatkomödie mit harmlosen Humor - der gerne schwarz und böse wäre - und obligatorischer Liebesschnulze, eingebettet in die gewohnt biedere Fernsehästhetik. Ein Film, der viel sein will, jedoch nur eins ist: verwässert, halbgar und langweilig.
#124
Geschrieben 06. November 2008, 14:11
USA | 2007 | Frank Darabont
Clever konstruierter und spannender Genre-Film, der gleichberechtigt neben den Horrorelementen die Auswirkungen und Funktionsweisen eines christlich-fundamentalistischen Wahns verhandelt, dessen inhumane Verblendung sich dabei in der Quasi-Blindheit des Nebels widerspiegelt. Das zutiefst tragische Ende überrascht und schockiert zugleich und ist für diese Art von Produktionsstatus äußerst ungewöhnlich. Ein eindrucksvoller Film, der es virtuos versteht, sowohl ausgezeichnete Genre-Unterhaltung zu liefern und in diesem Zuge etablierte Konventionen zu bedienen und gleichzeitig auf einer weiteren Ebene aktuelle gesellschaftliche Aspekte zu thematisieren.
Cloverfield
USA | 2008 | Matt Reeves
Im deutlichen Gegensatz dazu besitzt CLOVERFIELD keine Tiefe und weitere mögliche Diskursebenen. Was eine Post-9/11-Reflexion hätte werden können, ist reines Affektkino, das sich ausschließlich an einigen Bildikonografien orientiert, um sein unoriginelles Konzept auf Spielfilmlänge auszudehnen. Selbst wenn man die unglaubwürdige und technisch bzw. praktisch unmögliche Authentifizierungsstrategie annimmt, sind vor allem die gleichförmigen und vorhersehbaren Handlungsstränge auf Dauer ermüdend. Gerade im direkten Vergleich ist DER NEBEL der wesentlich reifere und intelligentere Film.
#125
Geschrieben 07. November 2008, 15:54
USA/Indien | 2008 | M. Night Shyamalan
Nach dem es hier im Forum ja sehr unterschiedliche und zum Teil konträre Meinungen zum Film gibt, war ich geneigt mir mein eigenes Urteil zu bilden. Auf eine Einordnung des Films in das Gesamtwerk Shyamalans werde ich verzichten, da ich bis dato lediglich THE SIXTH SENSE und THE VILLAGE gesehen habe.
THE HAPPENING ist für meinen Geschmack eben doch jenes moralinsaure Messagekino, das seine naive Botschaft in eine mäßige Inszenierung gewandet und zumindest bei mir selten Spannung erzeugen konnte. Einzig die Szene mit der Puppe und der Einsiedlerin fand ich äußerst gelungen. Darüber hinaus bewegt sich der Film ästhetisch weitestgehend im Mittelmaß und versteht es vor allem mit audiovisuellen Mitteln nicht, atmosphärische Dichte herzustellen.
Auf die von einigen hier angesprochen Brüche, vor allem im Schauspiel, habe ich versucht besonders zu achten. Sie sind in der Tat auffällig und Gedanken über ihre Funktion finde ich interessant. Insgesamt ist mir das aber zu wenig, um mich mit THE HAPPENING intensiver auseinander zusetzen.
#126
Geschrieben 08. November 2008, 15:24
USA/Deutschland | 2008 | Sylvester Stallone
Extrem kompromissloser, ironie- und pathosfreier (Anti?)Kriegsfilm, der ganz von der Präsenz des Hauptdarstellers und den zum Teil schockierenden Actionszenen lebt. Virtuos in Bild- und Schnittgestaltung komprimiert der Film den Mythos der Figur und des gesamten Genres auf 90 Minuten, dekonstruiert dabei die Figur des Kriegshelden als verkümmertes Wrack und gerinnt letztendlich zur Quintessenz des intelligenten Actionfilms.
#127
Geschrieben 09. November 2008, 13:14
Frankreich | 2002 | Eric Valette
Vier sehr unterschiedliche Knackis finden im Mauerwerk ihrer Zelle ein okkultes Buch, das via schwarze Magie den Ausbruch aus dem Gefängnis verspricht. Nach und nach kommen sie der tatsächlichen, grausamen Funktion des Buches auf die Spur.
Das große Plus des Films ist die zurückhaltende und subtile Inszenierung des okkulten Grauens, das sparsam und nie um des reinen Affektwillens eingesetzt wird. So ist MALÉFIQUE eher ein Horror-Kammerspiel mit schrägen Charakteren und einigen eindrucksvollen Spezialeffekten, das zwar kurzweilig unterhält, aber keinerlei weiterführende Ebenen sein Eigen nennt.
#128
Geschrieben 10. November 2008, 14:09
Frankreich/Deutschland/Polen | 1995 | Sébastien Grall
Milles, nähe Aix-en-Provence, 1940: kurz vor der Okkupation Frankreichs durch die deutschen Truppenverbände beginnt die französische Armee alle nicht-französischen Staatsbürger in „Camps“ zu internieren, um sie zu schützen – so die offizielle Begründung der Armeeführung. LES MILLES beginnt mit der Ankunft von ca. 1000 vornehmlich deutschen und österreichischen Flüchtlingen, darunter namhafte Künstler und Intellektuelle wie Lion Feuchtwanger und Max Ernst. Zunächst herrscht turbulentes Chaos, die Lagerleitung – allesamt zwangsrekrutierte Zivilisten – führt das Lager mit lockerer Strenge. Nach der Besetzung Frankreichs erfährt der Lagerkommandant Perrochon (Jean-Pierre Marielle) eher zufällig, das sämtliche Insassen an die Deutschen übergeben werden sollen, was ihren sicheren Tod bedeuten würde. Kurzentschlossen organisiert Perrochon einen Zug, der die 800 Flüchtlinge nach Marseille bringen soll, um von dort mit einem Schiff nach Marokko fliehen zu können.
Der Film erzählt seine Geschichte mit einem heiteren Unterton und chargiert dabei gekonnt zwischen ernsten und komödiantischen Szenen. Ein immer wieder auftauchendes Missverständnis, das zu absurd-witzigen Ereignissen führt, ist die Einordnung und Bezeichnung der Flüchtlinge als „les allemands“, ohne sie in Juden, Kommunisten oder eben Wehrmachtsangehörige zu unterscheiden. Einmal mehr entpuppt sich die Nation als ungeeignetes und sinnloses Konstrukt.
Die Inszenierung ist unspektakulär, wenige Bilder überdauern das Kurzzeitgedächtnis. Dennoch ist LES MILLES ein sehenswerter Film, der zumindest ohne Pathos auskommt und einige treffende Seitenhiebe gegen Militarismus austeilt.
#129
Geschrieben 13. November 2008, 10:18
DDR | 1966 | Frank Beyer
Vierter Teil der DEFA-Retrospektive: Arbeit und Alltag.
SPUR DER STEINE ist einer jener Filme, die ich seit einer gefühlten Ewigkeit sehen möchte und es doch aus den verschiedensten Gründen bis heute nicht tat.
Großbaustelle Schkona, irgendwo in der DDR: im Kampf um Planerfüllung sind dem Brigadier Balla (Manfred Krug) und seinen Leuten fast alle Mittel recht – und genießen die Duldung der Partei, da sich ihre unorthodoxen Arbeitsmethoden als ungemein effizient erweisen. Als die junge Technologin Kati (Krystyna Stypulkowska) und der neue Parteisekretär Horrath (Eberhard Esche) auf der Baustelle eintreffen, gerät das fragile Gleichgewicht zwischen Bauleitung und Arbeitern ins Wanken.
In stilvollen Cinemascope-Bildern erzählt der Film seine Geschichte achronologisch – was für die damalige Produktionspraxis bei der DEFA eher ungewöhnlich ist – und besticht durch seinen trockenen Humor, den sympathischen Figuren und verhandelt eine Vielzahl von Haltungen und Positionen zu den vorherrschenden Arbeits- und Lebensbedingungen. Trotz einiger Längen ein sehenswerter Film.
#130
Geschrieben 14. November 2008, 19:36
Deutschland | 2006 | Thomas Arslan
Die erste Einstellung des Films: ein langer Blick aus einem geöffneten Fenster nach draußen; hereindringende Verkehrsgeräusche unterlegen die Stille des Zimmers.
AUS DER FERNE – sinnbildlich durch das offene Fenster – betrachtet Thomas Arslan die Türkei – das Herkunftsland seines Vaters – und liefert dabei in der Ästhetik der Berliner Schule eine poetische Beobachtung des dortigen Alltags. Der langsame Rhythmus und die sorgfältig kadrierten Bilder verstärken den Eindruck eines persönlichen Reisefilms, der vor allem zeigen möchte. In einigen Szenen gelingt es darüber hinaus, gesellschaftliche Widersprüche in einem Bild zu verdichten. Besonders deutlich zeigt der wortkarge Film den im Alltag fest verankerten türkischen, zum Teil extrem völkischen Nationalismus.
Insgesamt ein wunderbar fließender Film mit grandioser Bildgestaltung, der ein kulturelles Panorama abseits klischeehafter Touristikbilder entwirft und nebenbei immer wieder politische und soziale Aspekte streift.
#131
Geschrieben 14. November 2008, 23:25
USA | 1954 | Herbert J. Biberman
New Mexico, 1950: Die gefährlichen Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne in einer Kohlemine, in der vor allem mexican americans ihr Brot verdienen, führen zu einem Streik der Arbeiter. Nach den üblichen aber zwecklosen Versuchen der Repräsentanten der Minenbesitzer mittels Streikbrecher und leeren Versprechungen den Arbeitsaufstand zu beenden, wird vom örtlichen Sheriff kurzerhand eine Verordnung erlassen, die den Streik der Arbeiter unter Strafe, sprich Gefängnis, stellt. Die seit längerem mit ihrer gesellschaftlichen Postion unzufriedenen und aufbegehrenden Frauen der Minenarbeiter übernehmen die Stellung, verteidigen auch körperlich ihre Streikposten und emanzipieren sich gleichzeitig von ihren Männern, was denen am Anfang so gar nicht gefällt.
Autor Michael Wilson, Produzent Paul Jarrico und Regisseur Herbert J. Biberman standen alle auf der „Schwarzen Liste“ Hollywoods wegen angeblicher „sozialistischer Umtriebe“. Biberman war zudem einer der zehn Filmschaffenden, die ihre Aussage vor dem „House Committee on Un-American Activities“ verweigerten. Der Film selbst wurde verboten bzw. lehnten die meisten Kinos die Aufführung ab und so wurde SALT OF THE EARTH erst 1992 in die „National Film Registry“ aufgenommen.
Angelehnt an die Ästhetik des italienischen Neorealismus und größtenteils mit Laien besetzt verfällt der Film hier und da in eine allzu holzschnittartige Inszenierung, atmet jedoch mit jeder Pore die subversive Romantik des Arbeitskampfes und unterstreicht eindrucksvoll die feministische Forderung nach Gleichberechtigung und Würde der Frau. Gerade die Szenen, in denen die Frauen sich sowohl gegen die Streikbrecher als auch gegen ihre eigenen Ehemänner durchsetzten sind ungeheuer sympathisch und voller Kraft.
Bearbeitet von Praxisphilosoph, 14. November 2008, 23:28.
#132
Geschrieben 18. November 2008, 17:06
Türkei/Griechenland | 2006 | Zeki Demirkubuz
Der junge Teppichverkäufer Bekir verliebt sich in die unkonventionelle Ugur, die wiederum den Kriminellen Zagor liebt. Mehr und mehr wird aus Liebe Obsession, die alle Beteiligten in den Abgrund führt.
Zeki Demirkubuz, der neben Nuri Bilge Ceylan aufregendste zeitgenössische Autorenfilmer der Türkei, erzählt diese raue, tragische Liebesgeschichte fragmentarisch und mit zum Teil verwirrenden Zeitsprüngen, die die Zerrissenheit der Protagonisten eindrucksvoll unterstreichen. KADER ist eine sehenswerte Reflexion einer schmerzhaften Besessenheit, die ohne Sentimentalität und Dramatisierung die destruktive Seite der Liebe thematisiert und dabei geschlechtsspezifische soziale Rollen in der türkischen Gesellschaft hinterfragt.
#133
Geschrieben 18. November 2008, 23:50
Großbritannien/Frankreich/Irland/USA | 2007 | Harmony Korine
Nach GUMMO und JULIEN DONKEY-BOY – die ich beide auf ihre Art für schlichtweg brillant halte – hatte ich große Erwartungen an Harmony Korines neusten Film, zumal der Cast mit der wunderbaren Samantha Morton und dem unvergleichlichen Werner Herzog einiges versprach.
MISTER LONELY beginnt dann auch ganz typisch mit Musik und Bilder in Zeitlupe, aber schon in der ersten Einstellung entwickelt sich ein Schmunzeln, ein leise absurde Komik, die große Teile des Films bestimmen wird. Lediglich am Ende verfinstert sich der Himmel und tragische und grausame Elemente halten Einzug.
Der Film handelt in zwei Erzählsträngen einerseits von so genannten Impersonators, hier in der Gestalt von Michael Jackson (Diego Luna) und Marilyn Monroe (Samantha Morton), die zusammen mit anderen Lookalikes auf einem Schloss in Irland in einer Art Künstler-WG leben. Andererseits erzählt der Film die Geschichte der „fliegenden Schwestern aus Panama“ die mit einem Missionar (Werner Herzog) zunächst Reissäcke abwerfen, nur um dann als Gottes Wille ohne Fallschirm aus dem Flugzeug zu springen und so humanitäre Hilfe zu leisten.
Wie in allen Filmen von Korine wird das Hässliche zum Schönen, verbinden sich poetische und absurde Szenen zu einem unvergleichlichen Ganzen und am Ende wird MISTER LONELY zu einem Plädoyer für die unabdingbare Freiheit, ohne Angst so sein zu dürfen, wie man möchte. Und das ohne Gottes Hilfe. Ein wunderbarer Film eines radikalen Poeten der Individualität.
#135
Geschrieben 25. November 2008, 14:00
Frankreich | 1988 | Catherine Breillat
Die vierzehnjährige Lili verliebt sich während des Badeurlaubes mit ihren Eltern und ihrem Bruder in Biarritz in einen alternden Playboy, der von der fordernden, aber zugleich kindlich-naiven Sexualität Lilis angezogen wird.
Auch in ihrem dritten Film sind die typischen, immer wiederkehrenden Breillat'schen Motive anzutreffen: der Strand, erwachende sexuelle Gefühle während der Pubertät, der mitunter schmerzhafte Verlust der Virginität oder eine aggressive, fordernde weibliche Sexualität. 36 FILLETTE erscheint dabei wie eine Variation ihres Debutfilms UN VRAIE JEUNE FILLE, der jedoch ohne die schockierenden, expliziten Szenen auskommt und die Geschichte eher über die zum Teil langatmigen Dialoge erzählt.
DVD
Von der US-DVD des Films von Fox Lorber möchte ich dringend abraten. Das Bild ist eine Zumutung, der Ton knackt und die Untertitel füllen die komplette untere Bildhälfte aus.
#136
Geschrieben 26. November 2008, 15:54
Alan Clarke wurde 1935 in Birkenhead, England geboren und gilt heute als einer der einflussreichsten britischen Filmemacher. Interessant ist dabei, dass Clarke nur drei direkt für eine Kinoauswertung bestimmte Filme drehte; der Großteil seiner Arbeit produzierte er für das britische Fernsehen, dort vor allem für BBC. Clarke profilierte sich von Anfang an als radikaler, kompromissloser und innovativer Regisseur, der vor allem von sozialer Ungleichheit und marginalisierten und gesellschaftlich geächteten sozialen Gruppen erzählte. Inszenatorisch tendierte Clarke zu einem social realism und arbeitete mit drei der herausragendsten zeitgenössischen britischen Schauspieler (Tim Roth, Ray Winstone & Gary Oldman) zusammen, die er zu außerordentlichen Darbietungen antrieb. Alan Clarke starb 1990 im Alter von 64 Jahren an Krebs.
Folgende Filme umfasst die Retrospektive:
SCUM (1977)
SCUM (1979)
PSY-WARRIORS (1981)
BAAL (1982)
MADE IN BRITAIN (1982)
CONTACT (1985)
BILLY THE KID AND THE GREEN BAIZE VAMPIRE (1985)
ROAD (1987)
CHRISTINE (1987)
THE FIRM (1988)
ELEPHANT (1989)
+
DIRECTOR: ALAN CLARKE (1991)
Links
Ausführliche Biografie bei Screenonline und Senses of Cinema.
Bearbeitet von Praxisphilosoph, 26. November 2008, 15:59.
#137
Geschrieben 27. November 2008, 15:41
Großbritannien | 1977 | Alan Clarke
Der junge Carlin (Ray Winstone) wird in eines der berüchtigten borstals verlegt – einer Art Umerziehungsheim für straffällig gewordene Jugendliche – und wird vom ersten Tag an mit der sadistischen Erziehungsmethoden der Wärter konfrontiert. Doch auch unter den Jugendlichen herrscht ein System der Erniedrigung und Unterwerfung. Speziell ausgesuchte und von den Wächtern protegierte Jugendliche fungieren als Erfüllungsgehilfen der staatlichen Methode von Zucht und Ordnung und erhalten ihre Vormachtsstellung mit roher physischer und psychischer Gewalt. Der Film thematisiert neben der institutionellen Macht und ihren staatlichen Akteuren und der Konsequenz dieser inhumanen Pädagogik ebenso einen offenen Rassismus gegenüber den schwarzen Jugendlichen.
Nach dem Selbstmord eines zuvor vergewaltigten Gefangenen, entlädt sich die Erniedrigung in einem Aufstand, der überraschend schnell zu Ende geht und mit dem letztendlich keine Verbesserungen der Gesamtsituation erreicht werden kann. Vielmehr beschleunigt sich die Gewaltspirale und die Lebensbedingungen in der Anstalt werden aufgrund der angeordneten Streichung sämtlicher Privilegien bedeutend schlechter. Ein zutiefst pessimistisches Ende, das die Struktur der Institution als von innen nicht reformierbar ausweist und die Hoffnung des individualistischen Einzelkämpfers negiert. Nicht in der Reproduktion der institutionellen hierarchischen Struktur liegt die Möglichkeit einer Veränderung, sondern in ihrer konsequenten Abschaffung.
SCUM erzählt seine deprimierende Geschichte mit großer Distanz – meist werden halbtotale oder amerikanische Einstellungsgrößen verwendet – und verzichtet vollständig auf narrative Filmmusik; zwei wesentliche Bestandteile der Clarke'schen Authentifizierungsstrategie, die seine Filme als „realistisch“ und „glaubwürdig“ erfahrbar machen. Das prominenteste Stilmittel von Alan Clarke – die langen, ungeschnittenen Steadycamfahrten – sind in hier noch nicht zu sehen. Die Kamera beobachtet meist unbewegt das Geschehen, nur selten öffnet ein Schwenk den filmischen Raum.
SCUM ist der unangenehme und schockierende Blick auf die Institution einer Gesellschaft, die jugendliche Straftäter für Abschaum hält und sie resozialisiert, in dem ihnen Gehorsam, Angst und Erniedrigung in die Körper eingeschrieben werden.
Scum
Großbritannien | 1979 | Alan Clarke
Bekanntlich weigerte sich die BBC ihre eigene Produktion auszustrahlen und der erste SCUM verschwand bis nach dem Tod Clarkes in den Giftschränken des Fernsehsenders. Alan Clarke reagierte darauf äußerst ungewöhnlich: er inszenierte das eigene Remake, dieses Mal ohne Fernsehgelder als Kinofilm, mit dem Großteil derselben Schauspieler.
SCUM (1979) ist im Prinzip die wiederholte, in den Gewaltszenen explizitere Verfilmung des gleichen Drehbuchs, dennoch fallen einige inszenatorische Verbesserungen auf. Die Handlung wirkt nun homogener und durch die Hinzunahme bzw. Auslassung einiger wichtiger bzw. unnötiger Szenen funktioniert der Film dramaturgisch besser. Auch ist eine sorgfältigere Locationsuche und ein stilvolleres Lichtkonzept und Setdesign zu bemerken.
Ebenso wie im Original dienen die Figuren nicht als Identifikationsangebot an die Zuschauer. Es gibt keinen wirklichen Protagonisten (Ray Winstones Figur tritt in der Mitte des Films in den Hintergrund), zudem verhalten sich die Charaktere zu ambivalent. Auch das ist eine wiederkehrende Strategie Clarkes, die das Unbequeme an seinen Filmen ausmacht.
Beide Filme abschließend miteinander zu vergleichen macht jedoch keinen Sinn, da zum einen ihre Unterschiede marginal sind und zum anderen beide ihre Vorteile in ihrer Textur aufweisen. Der erste SCUM ist der rauere, direktere Film, während der zweite der glattere, geschmackvollere ist. Inhaltlich sind beide Filme ähnlich schockierend.
#138
Geschrieben 28. November 2008, 16:14
Großbritannien | 1981 | Alan Clarke
Drei freiwillige Militärangehörige nehmen an einem geheimen Projekt teil, von dem sich die Offiziere neuste Erkenntnisse hinsichtlich psychologischer Kriegsführung erhoffen. Die Teilnehmer wissen nicht was sie erwartet – ähnlich der Position der Zuschauer – und sind sichtlich verwirrt, als sie von nun an in Käfige gesperrt, schwarze Kapuzen übergezogen und in sterilen weißen Räumen verhört werden. Die Anklage lautet Mitgliedschaft in der anger brigade, einer linksradikalen Terrororganisation. Nach und nach werden die tatsächlichen Motive des Experiments deutlich, an dessen Ende der perfekt gedrillte Mensch ohne ethische Hemmungen steht.
Wieder widmet sich Alan Clarke in der ersten Zusammenarbeit mit dem britischen Drehbuchautor und Schauspieler David Leland der institutionellen Gewalt durch Folter, dieses Mal im Setting des Militärs. Clarke etabliert mit dem Projekt einen bürger- und menschenrechtsfreien, faschistoiden Raum, in dem die Gefangenen systematisch durch Schlafentzug, psychische Attacken und dem Aufhängen an den Armen gefoltert werden. Der Einzelne, schutz- und wehrlos einer inhumanen Institution ausgeliefert, zerbricht in kürzester Zeit. Ziel und Zweck ist der Aufbau einer european task force against terrorism. Schon 1981 wurden diese heute allzu bekannten Argumente diskutiert und durch Hinweise auf die IRA und die RAF geerdet. Der Film entwirft dabei einen perfekten und effektiven Ort der Zermürbung von Menschen mit allen Mitteln der staatlichen Repression: falsche Anschuldigungen, Androhung und Ausführung von Folter, Überwachung 24/7, Isolationshaft und Erniedrigung.
Clarke und Leland zeichnen mit PSY-WARRIORS ein zutiefst inhumanes Bild der britischen Gesellschaft unter Thatcher als quasi faschistischen Staat. Größtenteils bedienen sie sich jedoch des typischen Duktus einer linken Ideologie der 1970er Jahre und lassen mehrere Male Debatten über den Israel-Palästina-Konflikt einfließen. Auffallend unangenehm ist dabei die einseitige Anklage angeblicher israelischer „Verbrechen“ an dem „palästinensischen Volk“. Zum Glück sind solche vereinfachenden Modelle im anti-nationalen Diskurs der letzten Jahren zumindest im deutschsprachigem Raum in Erklärungsnot gekommen.
Der Film entstand in der bekannten BBC-Reihe play for today und ist formal eher mit einem abgefilmten Theaterstück zu vergleichen. Die unbewegliche Kamera, die flachen Räume ohne Tiefe und die dialoglastige Inszenierung lassen PSY-WARRIORS bieder und steril wirken, was durchaus zur Thematik passt.
Links
Bei youtube gibt's einen kleinen Ausschnitt des Films zu sehen.
Baal
Großbritannien | 1982 | Alan Clarke
BAAL basiert auf dem gleichnamigen Drama von Bert Brecht aus dem Jahre 1918, das er während seines Militärdienstes verfasste und das autobiografische Züge trägt.
Baal (David Bowie), ein junger talentierte Dichter, verweigert sich dem gesellschaftlichen Aufstieg, benutzt fortan Frauen zum Spiel, zieht schließlich mehrere Jahre durch den Schwarzwald, ersticht seinen besten Freund und verreckt schließlich einsam im Wald.
Brechts Drama trägt bereits Ansätze des epischen Theaters in sich, die Alan Clarke aufgreift und zum Stilmittel seiner Verfilmung macht. So fungiert Baal nicht nur als Protagonist der Handlung, sondern auch als Erzähler der in gesungenen Kommentaren und Reflexionen den Film begleitet. Der Anspruch Brechts einer desillusionierenden Verfremdung löst Clarke durch eine Reihe von formalen Stilmittel: direkte Ansprachen in die Kamera, gemalte Landschaftsbilder, Splitscreen, Texttafeln und abrupt ruhende Handlung.
BAAL versteht es kurzweilig und mit einiger formalen Brillanz die geforderte Brecht'sche Distanz und Desillusionierung zu bebildern. Zudem spielt David Bowie superb. Nur die Story vermag mich nicht wirklich zu überzeugen.
Links
David Bowie als Baal.
#139
Geschrieben 29. November 2008, 15:45
Großbritannien | 1982 | Alan Clarke
Auf das im Titel angespielte Produkt der britischen Gesellschaft ist Trevor, ein 16-jähriger, rassistischer Bonehead mit tätowiertem Hakenkreuz auf der Stirn; die Personifizierung des wütenden und hasserfüllten Außenseiters. Der Film erzählt im Wesentlichen von dem institutionellen, staatlichen Versuch, ihn in die Gemeinschaft zu (re)integrieren. Die Sozialarbeiter fordern durch Druck, Zwang, aber auch durch Angebote und Hilfestellungen den absoluten Gehorsam gegenüber Institutionen und Autoritäten und die unbedingte Eingliederung in die Gesellschaft („respect the authority and obey the rules“). Letztendlich scheitern jedoch alle Versuche an Trevors totaler Verweigerung und die vorher von einem Sozialarbeiter prognostizierte kriminellen Karriere – ein Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt – scheint vorprogrammiert.
MADE IN BRITAIN ist zudem ein schonungsloser Angriff gegen das britische Bildungssystem und wirft ihm Versagen auf vielfältigen Ebenen vor. Kritik an den strukturellen sozialen Problemen trifft dabei auf individuelle Entscheidungen. Der Film bebildert eindrucksvoll den komplexen Zusammenhang von gesellschaftlicher vs. persönlicher Verantwortung, ohne die aufgeworfenen Fragen zu beantworten oder Erklärungen anzubieten.
Alan Clarkes fortan charakteristisches Stilmittel – die langen Plansequenzen mit Steadycam; eine Kamera, die wie ein unsichtbares Band die handelnden Figuren verfolgt – betont die rohe Energie und Unkontrollierbarkeit des Protagonisten und das naturalistische Lichtkonzept verstärkt den dokumentarischen Eindruck des Films. Tim Roths intensive Performance ist von ungeheurer Präsenz und eindrucksvoller Körperspannung.
Contact
Großbritannien | 1985 | Alan Clarke
CONTACT handelt von einer britischen Platoon-Einheit in Nord-Irland, die mit einem Helikopter ins Einsatzgebiet geflogen wird. Der weitestgehend dialoglose Film erzählt den zermürbenden Kriegsalltag, der aus Laufen, Warten, Beobachten, Laufen und Töten oder getötet werden besteht. Zwischen die Einsätze wird der öde Alltag auf der Militärbasis montiert; ein isoliertes Leben auf engsten Raum ohne Privatsphäre und Abwechslung. Militärisches Ziel der Einheit ist das Aufspüren, Festnehmen und/oder Liquidieren von IRA-Angehörigen oder deren Sympathisanten. Dabei versteht es der Film, eine intensive innere Spannung zu erzeugen, die die zu jederzeit lebensbedrohende Situation erfahrbar macht. Jedes Auto, das verlassen am Wegesrand steht, könnte eine tödliche Sprengfalle sein. Hinter jedem Hügel, in jedem Haus muss mit feindlichem Kontakt gerechnet werden. CONTACT zeigt, wie Soldaten sind und sein müssen, um diese tägliche Grenzerfahrung durchzustehen. Am Ende stehen Zermürbung und totale Erschöpfung.
Clarke verzichtet in diesem Film weitestgehend auf politische Hintergründe und Erklärungen, sondern verfrachtet den Zuschauer – diesesmal vorwiegend mit Handkamera und ohne kommentierende Filmmusik – mitten in den Alltag eines Bürgerkrieges. Ein weiteres ästhetisches Mittel ist die Aufnahme der Nachtszenen durch einen Grünfilter, der die Aktionen und Handlungen gespenstisch verfremdet und unwirklich erscheinen lässt.
Ein weiteres auffälliges Merkmal in Clarkes Werken konnte ich bis jetzt beobachten: die Filme enden immer mit der Großaufnahme des Gesichts der Protagonisten/Antagonisten.
#140
Geschrieben 30. November 2008, 17:22
Großbritannien | 1987 | Alan Clarke
ROAD erzählt von einer handvoll Bewohner eines typischen britischen Arbeiterviertel mit geklinkerten Reihenhäusern, die zum größten Teil schon verlassen und verfallen sind und gewährt einen schonungslosen Einblick in das triste Leben der Verlierer und Hoffnungslosen, die alle in den exakt gleich geschnittenen Wohnungen ihr Dasein fristen. Auf der Straße sprudelt es in bestechend ehrlichen Monologen aus ihnen heraus: resümierende Geschichten über verpasste Gelegenheiten, über harte Arbeit und niedrige Löhne, über enttäuschte Liebe, Gewalt und Suff. Als einziges Freizeitvergnügen im teuren London bleibt die selbst organisierte Disco in einer verlassenen Fabrikhalle, in der Jung und Alt tanzen, saufen und baggern können.
Die bewegendste Szene des Films entwickelt sich zwischen zwei jungen Frauen und einem Brüderpaar, die sich in einer Hausruine zunächst besaufen und die sexuelle Spannung in Gewalt umzukippen droht. Doch ein berührendes Soul-Stück aus einem billigen Kassettenrecorder rettet die Situation und knackt die Beteiligten. Unter Tränen öffnen sie sich, kehren ihr Innerstes nach Außen und formen ihre tiefsten Ängste und Verletzungen, ihren Hoffnungen und Träume wahrscheinlich zum ersten Mal in Worte.
ROAD ist die erste Zusammenarbeit Clarkes mit dem Kameramann und Steadycam-Operator John Ward, der später auch THE FIRM und ELEPHANT fotografieren sollte. Die langen Plansequenzen werden dabei weiter perfektioniert und bilden jetzt das dominante visuelle Stilmittel. Die irritierende Ansprache der Schauspieler an die Zuschauer durch den direkten Blick in die Kamera betont die Theatervorlage des Films. Clarke greift hier auf die in BAAL erprobte Mittel des epischen Theaters zurück.
Trotz der oben beschriebenen tollen Szene der bisher schwächste Film der Clarke-Retrospektive.
#141
Geschrieben 08. Dezember 2008, 16:28
Großbritannien | 1987 | Alan Clarke
In CHRISTINE heftet sich die bewegliche Kamera an die Fersen einer jungen Heroinabhängigen vor dem endgültigem Absturz. Christine versorgt eine handvoll Freunde mit Stoff, die allesamt (noch) in “geordneten Verhältnissen” - sozial eingebunden, zum Teil mit Familie und Kinder - leben. Eindrucksvoll und ohne Pathos erzählt der Film von der Routine des Konsums, von stummen, wiederkehrenden Ritualen, die alle im Abhängen vor dem Fernseher enden. Deutlich wird dabei die stumpfe Langeweile, das zeitlose Dahinleben der Süchtigen und veranschaulicht den beginnenden körperlichen und seelischen Zerfall, der am Ende stehen wird.
Alan Clarke bedient sich hier einer repetitiven Narration, die in ELEPHANT ihren Höhepunkt finden wird. Im Gegenteil zur klassischen Dramaturgie gibt es in CHRISTINE keine Charakterenticklung oder Wandlung, keine Hindernisse, die es zu überwinden gilt – letzendlich kein Anfang und kein Ende der Geschichte. Darin erinnert der Film an neuere Beispiele einer „Anti-Narration“ wie etwa LAST DAYS (2005) oder L'HUMANITÉ (1999).
Der Film endet wiederholt mit der Großaufnahme der Hauptfigur, in deren Gesicht sich die Trost- und Auswegslosigkeit ihres Lebens widerspiegelt.
#142
Geschrieben 12. Dezember 2008, 23:13
Großbritannien | 1988 | Alan Clarke
Mit THE FIRM widmet sich Alan Clarke einer weiteren sozialen Randgruppe – britischen Hooligans – die nur lose mit dem Fußball verbunden interne Grabenkämpfe austragen. Ziel ist die Bildung einer „national firm“ für die (fiktive) Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Aufgrund der hierarchischen Strukturen innerhalb der verfeindeten Gruppen kommt es zum Streit um die Führung der Vereinigten. Die folgenden Kämpfe gipfeln im Tod des Initiator der „firm“, was schließlich zum nationalistischen Zusammenschluss der Hooligans führt.
Clarkes ungemein authentisch wirkende Milieustudie charakterisiert dabei die Beteiligten als „normale Bürger“ mit einem zweiten Gesicht, einer zweiten sozialen Rolle, die beispielsweise aus seriös wirkenden Immobilienmaklern von Gewalt faszinierte Schläger werden lässt.
Wie von Clarkes Filmen gewohnt, folgt die agile Kamera den Protagonisten auf Schritt und Tritt und entwickelt dabei eine mitreißenden Sog aus Handlung und Bewegung. Einmal mehr bietet die Hauptrolle – Gary Oldman – herausragendes Schauspiel, der sowohl den Familienvater als auch den Hooligan überzeugend darstellt. Ein sehenswerter Film, der durchaus mit Distanz ein soziales Milieu porträtiert, ohne jedoch seine Akteure zu denunzieren oder moralische Bewertungen vorzunehmen.
Bearbeitet von Praxisphilosoph, 12. Dezember 2008, 23:14.
#143
Geschrieben 14. Dezember 2008, 10:03
Großbritannien | 1989 | Alan Clarke
Alan Clarkes bekanntlich letzter Film ist die abstrakte Aneinanderreihung von Morden in der nordirischen Hauptstadt Belfast, die alle nach dem jeweils gleichen Muster inszeniert sind: die Kamera folgt dem Täter oder Opfer bis zum Tatort, der Mord geschieht, der Täter flieht und starre Einstellungen der Opfer zeigen das Ergebnis. Zwar ist der Film durch den Handlungsort in einen gesellschaftlichen und politischen Kontext gestellt, vermeidet jedoch jegliche Zuweisung der Täter oder Opfer in opponierende Gruppen. Während Gus van Sant in einer Szene die Täter klischeehaft und unnötig psychologisiert (Computerspiele, NS-Sympathie, Klaviermusik), verzichtet ELEPHANT völlig auf die Unterfütterung der Handlung durch mögliche Motive der Täter. Vielmehr geht es um die Gewöhnung und Gleichgültigkeit einer Gesellschaft gegenüber alltäglicher Gewalt, die sich eigentlich so präsent wie ein Elefant im Wohnzimmer darstellt – so Clarkes Analogie. Gerade die narrative Redundanz des Films – schließlich wiederholt sich eine Szene fast 40 Minuten lang – unterstreicht die Alltäglichkeit der Morde und versucht bei den Zuschauer eine Reaktion zu provozieren, die dem Umgang mit der realen Gewalt im Nordirland-Konflikt (oder abstrahiert jeder Gewalt) ähnlich ist. So ist es durchaus denkbar, daß Zuschauer mit Langeweile oder einer So-es-reicht-ich habe-genug-gesehen-Haltung auf den Film reagieren.
ELEPHANT ist gerade deshalb ein unbequemer Film, da er keine Erklärungen, Hintergründe oder Lösungen für die Problematik anbietet und so die Fragen an die gesellschaftlichen Sphären zurück gibt, die letztendlich dafür verantwortlich sind.
#144
Geschrieben 14. Dezember 2008, 18:48
Großbritannien | 1991 | Corin Campbell-Hill
Kurzweilige Dokumentation, die hauptsächlich Lebensstationen nachzeichnet, die wichtigsten und prägnantesten Filme vorstellt und einige Mitstreiter und Freunde zu Wort kommen lässt. Zudem gibt Ausschnitte aus den raren Interviews mit Alan Clarke, in denen er Arbeits- und Sichtweisen erläutert. Spannend ist die Auseinandersetzung mit dem Verbot von SCUM und der weltfremden Begründung seitens der BBC. Alles in allem eine gelungene Hommage an den Regisseur und ein bekömmlicher, aber auch oberflächlicher Abschluss meiner Retrospektive.
#145
Geschrieben 18. Dezember 2008, 07:40
Großbritannien | 2001 | Richard Stanley
Der Essayfilm verhandelt die Suche des SS-Offiziers Otto Hahn nach dem „heiligen Gral“ und versucht sich zudem an einem Portrait des besessen Suchenden. Die Interviewpassagen mit Experten, Familienangehörigen und Freunde werden in Archivaufnahmen, Spielfilmszenen und eigens für den Film inszenierten Sequenzen montiert und konsequent mit kommentierender Musik unterlegt, was vor allem in den Interviewszenen als eine zunächst befremdliche, dann aber eine spannende künstlerische Entscheidung erscheint. Die Musik verbindet die Bilder und trägt in erster Linie zu dem dichten, teils poetischen Gesamteindruck bei. Leider verliert Stanley durch seine Faszination für die spirituelle Suche Hahns gelegentlich die Distanz und entwirft mit handwerklicher Finesse ein verwobenes, meist kritikloses Konglomerat aus esoterischen, mythologischen und spirituellen Motiven.
#146
Geschrieben 20. Dezember 2008, 07:39
Italien | 1991 | Marco Ferreri
Dialoglastige und formal biedere Satire, die in einigen Szenen durch ihre pointierte Bissigkeit und erfrischende Hemmungslosigkeit zu gefallen weiß. Die behauptete Verwandtschaft von Sexualität und Fleischeslust, die im blasphemischen Kannibalismus gipfelt, wirkt jedoch plakativ und auf Dauer ermüdend. Ein Film, der sich mir aufgrund seiner Geschwätzigkeit weitestgehend verschließt.
#147
Geschrieben 21. Dezember 2008, 06:43
Großbritannien | 1996| Michael Winterbottom
Das ländliche England im 18. Jahrhundert: der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Steinmetz Jude träumt von einem Theologie-Studium, das ihm jedoch aufgrund seiner Herkunft verweigert wird. Zudem erfährt die Liebe zu seiner Cousine Sue gesellschaftliche Ächtung, da Jude, bereits verheiratet, sie nicht ehelichen kann. Ein tragisches Unglück lässt Sue an ihrer Liebe zu Jude zweifeln und sucht fortan Vergebung für ihre empfundene Schuld in der Religion. Sie trennt sich von ihrer großen Liebe und kehrt in die anerkannte Ehe mit einem Schulleiter zurück.
Das bewegende Historiendrama basiert auf einem Roman von Thomas Hardy von 1895 und erzählt die Geschichte einer verzweifelten Liebe, die aufgrund der feindlichen Umgebung zerrieben wird, mit großer Geste und ohne in Kitsch und Sentimentalitäten abzugleiten. Die Nähe des Sujets und der Inszenierung zu etlichen Virginia-Woolfe-Werken und deren Verfilmungen ist jedoch jederzeit zu spüren – ein Film, der Vertrautes ansprechend aufbereitet.
#148
Geschrieben 22. Dezember 2008, 07:04
Deutschland | 1995 | Georg Stefan Troller
Zwiespältige Spurensuche nach „deutscher Identität“ und was es heißt, einige Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung, Deutscher zu sein. Ärgerlich und undifferenziert ist die fehlende Reflexion über das Konstrukt der Nation und des Volkes, das zwangsläufig verallgemeinert und Unterschiede einebnet. Troller plaudert größtenteils hübsch verpackt über Identitätskonstruktionen und oberflächliche Klischees wie Gartenzwerge und Karl-May-Festspiele und steht dem Sujet oft selbst im Wege.
Wirklich interessant wird es immer dann, wenn Troller das jüdische Leben in Deutschland thematisiert und Fragen nach Menschenfreundlichkeit bzw. -feindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus stellt. Die Antworten darauf weisen auf die ideologische, meist bruchstückhafte Kontinuität des Nationalsozialismus und streifen dabei höchst aktuelle Themen.
Éxtasis
Spanien | 1996 | Mariano Barroso
Unglaubwürdige Gangster-Posse um ein ungleiches Trio, das Verwandte beraubt und ihre große Chance wittert, als sich einer der drei als Sohn eines reichen Theatermachers ausgibt. Außer der schauspielerischen Präsenz von Javier Bardem hat der Film nur wenig zu bieten.
#149
Geschrieben 23. Dezember 2008, 10:01
Mexiko | 2007 | Rodrigo Plà
Im Wesentlichen bestätigt sich mein erster Eindruck während der Zweitsichtung. Besonders deutlich werden zudem Mechanismen wie Korruption, Selbstjustiz und die vollständige Aufgabe von Freiheit zugunsten von (vermeintlicher) Sicherheit. Angesichts den gesellschaftlichen Entwicklungen und sozialen Kämpfen in Mexiko zur Zeit ein mutiger und emanzipatorischer Beitrag, der spannend inszeniert auch sehr unterhaltsam ist.
An dieser Stelle ein paar Worte zur Politik des Verleihs: der Film lief auf einer relativ großen Leinwand als mäßige DVD-Projektion und war eigentlich kaum anschaubar. Ich weiß um die Schwierigkeit der Platzierung unbekannter oder unbequemer Filme in der hiesigen Kinolandschaft, aber wenn ein Film zu Hause besser ausgesehen hätte als im Kino, geht es IMHO in die falsche Richtung. Ärgerlich ist dabei vor allem der fehlende Hinweis um die digitale Projektion, die übrigens gleichviel Eintritt kostet.
#150
Geschrieben 25. Dezember 2008, 07:04
Russland | 2003 | Andrei Zvyagintsev
Ein Vater kehrt überraschend und ohne Erklärungen nach 12 Jahren zu seiner Frau und ihren beiden Söhnen zurück und unternimmt mit den pubertierenden Jugendlichen eine Reise in die unberührte Natur des Ladogasees. Der Konflikt zwischen den Dreien kulminiert in einem tragischen Unglück und nur Zwei kehren von dem Ausflug zurück.
DIE RÜCKKEHR beschreibt in klar komponierten Bildern den Versuch der (Wieder)Herstellung einer patriarchalen Struktur durch Machtausübung, die als Mittel zur Erzwingung der Herrschaft des Vaters über die Söhne und zur Legitimation durch Gehorsamkeit eingesetzt wird. Ziel ist die widerspruchslose Anerkennung der väterlichen Autorität und so die Errichtung der „alten Ordnung“. Während der ältere Sohn den zurückgekehrten Vater zunächst als „role model“ akzeptiert, verweigert sich der Jüngere der neuen Hierarchie. Der Unfall am Ende des Films verwirklicht den Wunsch der Kinder und stellt die alte Ordnung wieder her. Der vieldeutige Titel weist bereits auf eine metaphysische Reise hin, die ihren Ausdruck im Verschwinden des Vaters von der Fotografie der Familie findet.
Eine große Stärke des Film ist die offene Erzählstruktur, die vieles andeutet und wenig auserzählt und die subtile Drone- und Ambientmusik von Andrej Djorgatsjev, die die entsättigten, blaustichigen Bilder eindrucksvoll untermalt. Eine sehenswerte Reflexion in der Tradition der sowjetischen/russischen metaphysischen Kinematografie eines Elem Klimov oder Andrei Tarkovsky.
The Target Shoots First/Marketing und Nirvana
USA | 2000 | Christopher Wilcha
Unspektakulärer Einblick im Home-Video-Stil in die Mechanismen eines Musikclubs, der im Abonnement CD, LP und Merchandise-Artikel an unzählige Mitglieder versendet. Zwar versucht sich Christopher Wilcha an einer kritischen Reflexion der Firmenpolitik und des Marketing-Business, bewegt sich aber aufgrund der vollständigen Ignoranz gegenüber den Mechanismen einer kapitalistischen Verwertungskette und dem Irrglauben einer alternativen, subversiven Subkultur lediglich an der Oberfläche. Letztendlich kein Film von Belang.
Swamp Thing/Das Ding aus dem Sumpf
USA | 1982 | Wes Craven
Durchschnittliche und streckenweise unfreiwillig komische Comic-Verfilmung, die trotz oder gerade wegen ihrer offensichtlichen Schauwerte nur mäßige Unterhaltung bietet und lediglich einige gängige Motive des Genres durchbuchstabiert.
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