04.05.04 – Cannibal Holocaust, Italien/Kolumbien 1980
So, ich habe mal in einem Selbstversuch jene altbekannten "Steine des Anstoßes" herausgeschnitten, sprich mir ein Tiersnuff-freies Tape gezimmert, wobei ich folgendermaßen vorging: Der “Nasenbär“ (keine Ahnung was das wirklich für ein Tier war) flog raus, die Schildkröten-Szene wurde ihres Bildes beraubt, das Äffchen flog auch komplett aus dem Film und dem Schwein erging es in etwa wie der Schildkröte. Prompt war meine Erfahrung diesmal eine völlig andere, ich sah einen weniger entrückenden Film als sonst. Scheinbar öffnen solche echten Gräuel bestimmte Kanäle und man wird wohl etwas “bekifft“ davon, selbst wenn es einem nicht gefällt. Der alte Taschenspielertrick aus der Mondo-Kiste. Sind ja irgendwie auch herbe Grenzerfahrungen, die eventuell an tiefer liegenden Rezeptoren rühren. Wie auch immer, der Rest wirkte ohne Doping plötzlich zum Teil anders:
Da ist z.B. unsere illustre Sensationsreporter-Truppe, die doch ziemlich albern durch den Urwald hampelt. Besonders der blonde, später Genital-befreite Geselle (Bernd Schuster laut Cine4) ging mir mit seiner Darbietung noch ein wenig mehr auf die Nüsse als sonst. Der Rest schwankt so zwischen brauchbar und beherztem Overacting, aber für so einen Film nach wie vor noch ganz okay.
Der Aufbau des Streifens, vom intelligenten Grundkonzept abgesehen, ist eigentlich ebenfalls eher simpel, wobei ich die Unterbrechungen durch die Kommentare der Begutachter des gefundenen Filmmateriales in New York diesmal als noch störender empfand, da sie einen immer dann aus dem Geschehen reißen, wenn man gerade dabei war, ein wenig Empathie für das Geschehen im Dschungel zu entwickeln. Früher war man da froh drum, ob der Gelegenheit zur Erholung von dem üblen Tiergeschnetzel. Diese Unterbrechungen sorgten vormals zudem zwar für den nötigen Schuss Realismus, doch der Trick nutzt sich wohl bei häufigerem Sehen ab, denn was da vom Stapel gelassen wird ist hart am Minimum. Professor: “Nicht senden!“, Frau vom Sender: "Senden!", Mann am Projektor: “Hier rein gucken!“. Das ist im Prinzip alles an kommentierender Information. Dieser Wechsel zwischen vermeintlich hoch entwickelter Zivilisation und Welt der “Primitiven“ ist aber trotzdem äußerst reizvoll anzusehen.
Ach ja, die “Primitiven“ in “CH“ sind auch so eine Sache. Einerseits ist es erstaunlich, dass der “Rutschero“ so spielfreudige Laien gefunden hat, die ihre Sache mitunter ganz nett machen. Allerdings wird schon recht stereotyp auf deren Primitivität herumgeritten. Oder gebärden sich Wilde wirklich den ganzen Tag wie hirnamputierte Schimpansen-Imitatoren…? Aber es ist nicht alles schlecht. Es gibt auch sehr starke Szenen. Ein Höhepunkt sicherlich: die pantomimische Schilderung des einen Kannibalen-Häuptlings (?) bezüglich der zurückliegenden schändlichen Vorfälle in seinem Dorf, sowie diverse andere Kleinigkeiten, die durch Stimmigkeit und gute Kamera gefallen.
Dramatischer Gesamthöhepunkt ist der Schluss, keine Frage. Allerdings hier ebenfalls bereits gewisse Abnutzungserscheinungen. Irgendwie überlagert bei wiederholter Sichtung die Unglaubwürdigkeit zunehmend die Kritik am nimmersatten Sensationsjournalismus. So filmt man das unschöne Ende der eigenen Kollegen aus nächster Nähe, anstatt derweil an Flucht zu denken und irgendwie geht das gut, bis der Kollege ordentlich filetiert wurde. Das ist eigentlich schon sehr angestrengt, liefert so aber wenigstens eine leicht verständliche Botschaft, okay. Gemacht ist es ja ganz gut, bis auf dass den Trick-Leuten wohl irgendwann der Tomatensaft ausging.
Abschließend will ich den Film aber gar nicht schlecht gemacht haben. Für einen Exploiter diesen Kalibers ist er reich an Kontroversen und für einen Kannibalen-Film recht überraschend. Manche Momente sind erstaunlich. Als wilder cineastischer Trip mit doppeltem Boden dürfte er in seiner Form einzigartig sein, da er Verwerfliches mit ansatzweise guten, wenn auch irgendwie scheinheiligen Absichten, und dem Metier entsprechend Preiswertes mit Gelungenem verbindet, wie wahrscheinlich kaum ein anderer Film.
Groß ist vor allem die Musik Ortolanis. Genial in seiner gegen den Strich gebürsteten, um Zuneigung bettelnden Art. Zwar werden die Kannibalen beinahe dauernd als minderwertige Metzgergesellen diffamiert, doch der Score bettelt mitunter gleichzeitig zuckersüß um Verständnis und Toleranz gegenüber Naturvölkern. Das ist nicht sonderlich aufrichtig, als sinnliche Erfahrung sorgt es aber dennoch für ein bizarres Erleben erster Kajüte, unabhängig von irgendwelchen Reflexionen. Und dann passt es ja auch wieder zu dieser Schlange von “kritischem“ Film, die sich quasi selbst in den Schwanz beißt und verschlingt.
Zum Tiersnuff:
Was man geboten bekommt ist schon sehr hart, vor allem das Pläsierchen mit dem ersten Tierchen, es hält sich aber meiner Meinung nach noch in Grenzen. In einer Welt, in der geschächtet und in Fabriken im Akkord verwurstet wird, braucht man sich darüber eigentlich nicht groß aufzuregen, außer man tut es generell. Trotzdem will ich so etwas nicht noch sehen müssen. Die berühmt berüchtigte Schildkröten-Szene ist noch die für mich erträglichste, da das Tier ja ordnungsgemäß enthauptet wird, bevor die blöden Amateure das Teil unsachgemäß auseinanderrupfen, was wirklich zum Kotzen eklig ist. Die Musik sorgt auch hier wieder dafür, dass man die Vorgänge besonders intensiv wahrnimmt.
Resümee: Ohne den unsäglichen Tiersnuff kam mir “Cannibal Holocaust“ diesmal weniger schwindelerregend vor. Was bleibt, ist ein Film eben. Möglicherweise wächst daraus aber ja etwas ganz Neues, das ich erst noch entdecken muss. Eigentlich gefällt er mir ja viel besser, als er nach all dem sollte. Das ist verdächtig...
Fazit: außergewöhnlicher Exploiter mit sehr schlechtem Ruf und mit Abstand bester seiner fragwürdigen Zunft.
Bearbeitet von FakeShemp, 21. August 2008, 08:54.