Eine so verstandene ästhetische Immersionstheorie versucht einen zentralen Aspekt der Medienrezeption zu erklären: die „mentale Verschmelzung“ des rezipierenden Subjektes mit dem rezipierten Objekt, etwa das Eintauchen in eine Erzählung, in ein Bild, eine Theateraufführung, einen Film usw. Damit dieses Eintauchen, das als ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Aspekt des Gelingens solcher künstlerischer Produktion gilt, überhaupt stattfinden kann, haben sich seit der Antike verschiedene ästhetische Strategien in den Künsten entwickelt.
An ihrem Beginn steht vielleicht die „Skenographia“, nach der im antiken griechischen Theater perspektivisch echt wirkende Bühnen-Hintergrundbilder angefertigt wurden, die den Darstellungsraum für das Auge des Zuschauers in die Tiefe verlängerten. So soll der Dichter Aischylos um 465 vuZ. „einen Maler namens Agatharchos aus Samos“ beauftragt haben, „für eines seiner dramatischen Werke ein [solches] Bühnenbild zu schaffen“ (2). Diese damals neue Darstellungsweise wurde bald schon auf andere Bereiche der Kunst übertragen, wie der Kunsthistoriker Bernhard Geyer resümiert: „Skenographia stand seitdem nicht nur, wie ursprünglich, für die zeichnerisch-malerische Darstellung einer plastisch-räumlichen Bühnensituation, sondern umschloß auch die Wiedergabe von architektonischen Schöpfungen bis hin zum landschaftlichen Raum.“ (3)
Durch perspektivische Bühnenhintergründe wurde nicht nur der Bühnenvordergrund illusorisch vertieft, der Zuschauer erhielt auch eine privilegierte Stellung: Sein Blick wurde zum Zentrum der Darstellung, alle Fluchtlinien liefen aus dem Bildhintergrund auf den Punkt zu, an dem er sich befand. Damit wurde für ihn die Illusion, selbst Bestandteil des durchblickten Raumes zu sein, evoziert. Er wurde als Blickender somit eine „Funktion des Bildes“.
Warum schien diese Art der Illusionserzeugung im antiken Theater wünschenswert? Durch die Abgrenzung der Bühnendarstellung vom Zuschauerraum wurde auch deren gewünschter immersiver Effekt vermindert. Waren im Ritus Darsteller und Zuschauer räumlich noch nicht voneinander getrennt, wurde gerade bei Darbietungen größeren Umfangs eine solche Trennung aufgrund wachsender Zuschauerzahlen unabdingbar. Mit Hilfe perspektivischer Raumverlängerungen, aber auch besonderer architektonischer Anordnungen versucht das Theater damals wie heute die „Entfremdung“ von Zuschauer und Darbietung zu minimieren: Rondellförmig angeordnete Zuschauerräume holen die Darstellung zurück in die „Mitte“ der Zuschauer (eine Strategie, die heute im „Boxring“ ihre Vollendung findet), die Öffnung der von Diderot Mitte des 18. Jh. aufgestellten „vierten Wand“ (wie in den Blumenstegen des japanischen Kabuki-Theaters) ermöglicht eine direkte Interaktion zwischen Schauspielern und Zuschauern usw.
Aber nicht nur in den darstellenden Künsten wie dem Theater wurden und werden immersive Ästhetiken angewandt; auch die bildenden Künste greifen auf sie zurück, um die Blicke ihrer Betrachter in sie „versinken“ zu lassen. Die Theatermalerei ist ja bereits ein Hybrid zwischen beiden Sphären; die antike Skenographia wird, nachdem die Linearperspektive im Mittelalter anderen Darstellungsstrategien gewichen ist, in der italienischen Renaissance als „Prospettiva“ und kurze Zeit später in der nordeuropäischen Malerei als „Deurzigtkunde“ wieder aufgegriffen und technisch wie theoretisch verfeinert. Albertis Über die Malkunst (1435/36) skizziert die Methode lehrbuchartig, nach der perspektivisch „genaue“ Bildräume zu konstruieren sind, da Vinci (1452-1519) erweitert diese Konstruktionsregeln 1492 um Farbperspektiven und Tiefenwirkung durch zunehmende Undeutlichkeit und Dürer (1471-1528) adaptiert die Theorie für den nordeuropäischen Raum 1523 und 1525 mit seinen Proportions- und Perspektivlehren.
Ein populäres Beispiel der späteren Renaissance-Malerei ist das von Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge diskutierte Gemälde Las Meninas (1656) des spanischen Malers Diego Velázquez. Foucaults Analyse argumentiert unter anderem, dass der Betrachter des Bildes sich selbst als Bestandteil der Darstellung verstehen soll – einerseits durch die perspektivische Konstruktion des Bildraumes, andererseits durch die Blickrichtungen der Figuren und schließlich durch Identifikation mit im Bild selbst offenbar nur als Spiegelung anwesenden Figuren. Die Analyse Foucaults weist auf den zentralen Effekt perspektivischer Darstellung hin: Die Raumgrenzen von Bild- und Realraum werden – fast schon wie bei einem Trompe-L'Oeil – optisch verwischt.
Auch auf der Rezipientenseite findet ab der Neuzeit ein Wandel in der Wahrnehmung statt, der immersive Ästhetiken fordert bzw. ihre Wirkung begünstigt. Die Erweiterung des geografischen Raums durch Entdeckungsfahrten des ausgehenden 15. Jahrhunderts verbunden mit neuen naturwissenschaftlichen und philosophischen Theorien, in denen das Individuum als wahrnehmende Entität konstatiert wird, rufen einen tiefgreifenden Wandel der mittelalterlichen Vorstellung der Welt hervor. Der Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhunderts mit der Erfindung der Dampfmaschine (1712 durch Thomas Newcomen) und der Wandel des Verkehrswesens verändern die Wahrnehmung durch Beschleunigung der Prozesse des sozialen Lebens. Ein Zitat von Heinrich Heine anlässlich der Eröffnung einer Eisenbahnlinie im Jahre 1843 bringt dies auf den Punkt: „Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt nur noch die Zeit übrig.“ (4)
Vor allem aber die verschiedenen medientechnischen Entwicklungen ab Beginn des 19. Jahrhunderts, die die Künste um die Gattungen Panorama (um 1800) Fotografie (erste Fotografie: Niepce 1826), und verschiedene Vorformen des Films (Serienfotografie von Muybridge 1872) erweitern, spielen eine bedeutende Rolle in der Geschichte immersiver Ästhetiken, weil sie einen vorläufigen Höhepunkt der ästhetischen Raumillusion vorbereiten: den Film. Für diesen konstatiert Béla Balász 1930 in Der Geist des Films gleich zu Beginn: „Wir sind mitten drin!“ (5) und führt aus: „Der Film […] hat die Distanz des Zuschauers aufgehoben; jene Distanz, die bisher zum Wesen der sichtbaren Künste gehört hat. Der Zuschauer steht nicht mehr außerhalb einer in sich geschlossenen Welt der Kunst, die im Bild oder auf der Bühne umrahmt ist. Das Kunstwerk ist hier keine abgesonderte Welt, die als Mikrokosmos und Gleichnis erscheint, in einem anderen Raum ohne Zugang. Die Kamera nimmt mein Auge mit. Mitten ins Bild hinein.“ (6)
1938 geht er in seinem Text Zur Kunstphilosophie des Films noch einmal auf diese „Mitnahme des Zuschauer(auge)s“ ein und betont nun die Formatierung des Blicks durch das Medium: „Wir wissen gar nicht mehr, wie anders wir in diesen Jahrzehnten sehen gelernt haben. […] Es hat sich eine optische Kultur entwickelt.“ (7) Diese Beschreibungen von Filmproduktion und -rezeption gelten als die ersten Versuche einer filmästhetischen Immersionstheorie. Sie wurde erweitert und verfeinert unter anderem in dem 1947 von Sergej Eisenstein kurz vor dessen Tod publizierten Essay Über den Raumfilm. Dort geht er detailliert auf die Wesensverwandheit immersiver Theater- und Filmästhetiken ein und entwirft eine Utopie, in der sich der Filmraum und der Zuschauerraum durchdringen müssen, um für den Betrachter vollständig immersiv zu wirken: „Und das, was wir bisher als Bild auf der Leinwandfläche zu sehen gewohnt waren“, spekuliert Eisenstein, „'schluckt' uns plötzlich in eine früher nie erblickte, hinter der Leinwand sich auftuende Ferne, oder es 'dringt' in uns mit einer zuvor nie so ausdrucksstark realisierbar gewesenen 'Heranfahrt'.“ (8)
Die Liste der Versuche, eine Filmästhetik der Immersion zu entwickeln, ließe sich verlängern – vor allem der jüngst stattgefundene kulturwissenschaftliche spatial turn hat alten und neuen mediale Raumtheorien zu neuer Beachtung verholfen. Häufig umkreisen diese Theorien jedoch eine Frage: Wie lässt sich die ja tatsächlich stattfindende Immersion zwischen Zuschauer-Subjekt und dem Objekt Film beschreiben und theoretisch erfassen? Theorien, die diese beiden Sphären (oder Räume) als getrennte Entitäten diskutieren, scheinen dem Phänomen nicht Herr zu werden.
Es ist also vor allem eine phänomenologische Frage, auf die eine mögliche Antwort die Theorie des „film's body“ von Vivian Sobchack sein könnte. Sie trennt den Akt des Sehens im Kino in zwei unterschiedliche Blicke: der Blick des Zuschauers auf die Leinwand mit dem Filmbild und der Blick eines zweiten Subjektes, eines metaphorischen Filmleibes, der das sieht, was der Zuschauer zu Gesicht bekommt. Daraus resultiert ein drittes Sehen, bei welchem der Zuschauer den Blick des Filmleibes nachvollzieht bzw. übernimmt. „Dieser Akt“, schreibt Michael Albert Islinger, „ist von großer Bedeutung, weil sich in ihm die existenzielle Struktur des Sehens verdoppelt und damit die Existenz des Filmleibes als Subjekt dieser Wahrnehmung erscheint.“ (9) Der Filmkörper ist durch die Deckung seines Blicks mit dem des Zuschauers also jener Mittler zwischen schauendem Subjekt und angeschautem Objekt, den die Immersionsästhetik zu finden versucht.
Für Islinger besitzt der Film die Möglichkeit, den Immersionsprozess sichtbar zu machen, indem er sich, wie das Beispiel aus Lost Highway vorführt, selbstreflexiv verhält: Die Darstellung des Videofilms im Spielfilm führt Islinger zufolge nämlich dazu, dass das dritte Sehen auf Grund der medialen Unterschiede zwischen Film- und Videobild reflektierbar wird; entweder, indem die Rahmung des Videobildes dem Zuschauer dessen Sosein vor Augen führt oder – bei zur Deckung gelangenden Film- und Videobild – indem seine technischen Mängel, die stärkere Körnung, die Frequenzunterschiede usw. den Zuschauer aus seiner „Versunkenheit“ herausholen und ihm sein Filmsehen bewusst machen. Lost Highway führt dies vor Augen und wirft zudem die Frage auf, der Blick welcher Figur es eigentlich ist, die durch die Kamera geblickt hat.
Fußnoten:
- Laura Bieger: Ästhetik der Immersion. Bielefeld 2007, S. 9.
- Bernhard Geyer: Scheinwelten. Die Geschichte der Perspektive. Leipzig 1994, S. 15.
- Ebd. S. 19.
- Zit. n. Götz Großklaus: Medien-Zeit, Medien-Raum, Frankfurt am Main 1995, S. 7.
- Bela Balász: Der Geist des Films. Frankfurt/Main 2001, S. 14.
- Ebd. S. 15.
- Bela Balász: Zur Kustphilosophie des Films. In: J. Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1995, S. 204-226, hier: S. 210.
- Sergej Eisenstein: Über den Raumfilm. In: Ders. Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film. Leipzig 1988, S. 196-26, hier: S. 201.
- Michael A. Islinger: Phänomene des Gegenwärtigens und Vergegenwärtigens. Die Wahrnehmung von Videobildern im Film. In: R. Adelman u. a. (Hgg.): REC - Video als mediales Phänomen. Weimar 2002, S. 30-43, hier: S. 36.