Lilja 4-ever (RUS/SWE 2002)
Regie: Lukas Moodysson - Jetzt im Kino (Arsenal)
Es ertönt "Mein Herz brennt" von Rammstein. Die Klänge hämmern aus den Boxen im kleinen Kinosaal. Auf der Leinwand sehen wir eine junge Frau, deren Gesicht deutliche Spuren von physischer Gewalt aufweist. Sie rennt verzweifelt umher. Über Straßen, unter Baugerüsten, sie scheint endlos zu laufen, die Kamera hechtet ihr hinterher, bis sie an eine Autobahnbrücke gelangt. Hier hält sie an. Blickt in die Tiefe...
Drei Monate früher. Irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion. Im Eiltempo streift die Kamera unzählige Barackensiedlungen, schäbige, teils abgerissene Wohnungsblöcke. Alles bietet einen verdammt trostlosen Eindruck. Kein Grün, alles ein einheitliches Grau. Man mag nicht glauben, dass hier tatsächlich Menschen leben müssen.
Dann sehen wir wieder das Mädchen vom Anfang. Doch sie ist glücklich. "Ich haue ab!" erzählt sie ihrer Freundin. "In die Staaten!" Sie nimmt Abschied von ihrer Heimat, doch wird sie sowieso nichts vermissen. Nur raus hier, denkt sie sich. Sie packt ihre paar Habseligkeiten zusammen, darunter ein Engelsbild, das sie sorgsam in einen Pullover wickelt.
Beim Essen mit den Eltern dann der Schock. "Lilja, wir müssen dir etwas sagen" stammelt die Mutter. "Wir werden erstmal ohne dich fahren. Du kommst dann später hinterher." Ungemeine Enttäuschung. Beim Abschied will Lilja ihre Mutter nicht einmal umarmen. Sie ignoriert sie. Wut. Bittere Enttäuschung.
Als das Auto dann abfahren will rennt Lilja die Treppen des schäbigen Hauses, in dem sie mit ihren Eltern wohnte hinunter. "Mama!" schreit sie immer wieder. Tränen rennen an ihren Wangen hinunter. Immer wieder schreit sie nach ihrer Mutter. Sie erwischt diese noch gerade, klammert sich an sie fest. Auch die Mutter ist ergriffen. "Fahr nicht weg!" brüllt ihr ihre Tochter entgegen. Doch das Auto fährt los, ohne Lilja. Am Boden zerstört rennt diese dem Gefährt nach.
Von nun an muss sie bei ihrer Tante wohnen, die sie in eine winzige, dreckige Wohnung steckt. "Was ist denn mit der alten Wohnung?" fragt Lilja. "Kannst du die bezahlen?" entgegnet ihr die Tante.
Nun erleben wir den Alltag Liljas. Mit ihren Freunden zieht sie umher, schnüffelt Klebstoff. Immer wieder erklingt laute Technomusik. Irgendwann geht sie mit ihrer Freundin mit, die in einer Disco anschaffen gehen will. Lilja wird an diesem Abend nichts derartiges tun. Es ist ihr zuwider. Später zeigt ihr ihre Freundin das Geld. Ihr schien es nichts ausgemacht zu haben.
Bald geht es Lilja immer dreckiger. Die Mutter schickt weder Geld, noch einen Bescheid, was das Nachkommen betrifft. Noch schlimmer kommt es, als ihre Freundin Lilja öffentlich der Prostitution beschuldigt, weil ihr Vater fragte, woher das viele Geld stamme und sie zu ihm meinte, es sei das ihrer Freundin. Jetzt ist Lilja überall als Nutte verschrien. Niemand will mehr etwas mit ihr zu tun haben. Bis auf den kleinen Volodya, ein Straßenkind, das von den Eltern verstoßen wurde. Gemeinsam überstehen sie die immer kälter werdenden Tage. Weil sie kein Geld mehr hat und ihre Tante anstatt sich um ihre Nichte zu kümmern, lieber in deren alter Wohnung einquartiert hat fährt Lilja in die Disco, in der ihre Freundin damals anschaffen ging...
Sie macht immer schlimmere Erfahrungen mit dem Milieu, bis sie an den freundlichen Andrej gelangt, der ihr wirklich helfen will, wie er sagt. Zwischen den beiden entwickelt sich aus einer Freundschaft eine große Liebe. Bald bietet Andrej Lilja an, die mit nach Schweden zu nehmen, wo er arbeitet. Dort könne er ihr Arbeit beschaffen; sie könnten dort zusammen leben.
Ohne groß zu zögern nimmt sie sein Angebot an, muss jedoch mit ansehen, wie Volodya leidet. "Geh nicht mit ihm mit!" warnt er sie und wendet sich später von ihr ab. Doch sie weiß es besser. Auf der Fahrt zum Flughafen ist Andrej eingefallen, dass er dringend noch zu seiner kranken Großmutter muss. "Flieg du schon einmal vor!" sagt er zu Lilja. "Mein Arbeitgeber holt dich auf dem Flughafen ab!" Da sie Andrej vertraut wird sie zunächst allein nach Schweden fliegen und dort die Hölle erleben...
Wir sehen dabei zu. Müssen miterleben, wie es mit Lilja steil bergab geht... bis zum unausweichlichem Ende...
Was Lukas Moodysson hier aufzeigt ist sehr hart. Hoffnung oder Trost gibt es nicht. Der Film ist völlig schonungslos, lässt niemanden kalt. Durch den beinahe dokumentarischen Stil vergisst man ab und zu, dass es sich hier um eine fiktive Geschichte handelt. Doch das grausame ist, dass sie genauso stattfindet. Immer wieder. Und das macht verdammt wütend.
So bleibt am Ende auch nichts als Wut und Anteilnahme. Die Wirkung von Lilja 4-ever ist enorm. Das liegt auch an der Leistung von Oksana Akinshina, die Lilja sehr authentisch verkörpert. An deren Schicksal man die größte Anteilnahme hat. Wir hoffen mit ihr, freuen uns, wenn sie glücklich ist und können ihr am Ende doch nichts anderes als den Tod wünschen.
Den harten Realismus durchbricht Moodysson gegen Ende immer wieder durch kurze Sequenzen, in denen Lilja Volodya als Schutzengel erscheint. Immer wieder hält er ihr vor, wie kurz das Leben ist; wie man es nicht wegwerfen dürfe. Doch für Lilja gibt es keinen Ausweg mehr.
Nach Fucking Amal und Tillsammans hat Moodysson eine völlig andere Richtung eingeschlagen. Die Warmherzigkeit, die Leichtigkeit seiner Erstlinge ist völlig verflogen. Doch hat er bewiesen, dass er in der Tat einer der größten Filmschaffenden des neuen skandinavischen Kinos ist, wie ich es einmal nennen möchte.
Zudem gebührt ihm gehöriger Respekt, sich eines Tabuthemas derart offen und schonungslos angenommen zu haben.
Lilja 4-ever ist einer der Filme, die man sich nie wieder anschauen will. Nicht weil sie schlecht sind. Sondern weil man sie nicht nocheinmal ertragen kann.