The retina of the mind's eye
#271
Geschrieben 10. Juni 2008, 07:53
Der Film wird - wie ein guter Wein - mit den Jahren immer besser, weil sich zum Beispiel erst aus der heutigen Perspektive zeigt, wie wegweisend das Sujet und die Ästhetik für den Horrorfilm der Gegenwart geworden sind. Ein Film über ein wirtschaftliches Unternehmen, das Superreichen anbietet, “entführte” junge Leute umbringen zu lassen? Ein Film, in dem Menschen, die an einem ihnen unbekannten Ort gefangen sind, entdecken, dass sie Spieler eines Spiels sind, auf das sie sich so nie einlassen wollten? Das allen hat “My little Eye” bereits 2002 inauguriert.
Zudem ist die darin verhandelte Travestie des “Big Brother”-Motives schon überaus sarkastisch und treffsicher. Die Unbesorgtheit angesichts allgegenwärtiger Beobachtung durch Sehmaschinen zeigt ihre dunkle Seite erst, wenn man (also die Protagonisten) herausfindet, wer auf der anderen Seite sitzt und wozu die Bilder überhaupt dienen. In der Übung haben wir “My little Eye” deshalb zum Anlass für eine Diskussion über Ontologie, Ästhetik und Ideologie der elektronischen Überwachung genommen, haben vermeintliche Auswüchse als wegweisende Praktiken herausgestellt, Argumente für die Überwachung hinterfragt und - als besonderen Clou - darauf hingewiesen, wie oft man denn selbst in Bonn und vor allem als Student gefilmt wird, ohne es zu wissen (und diese Bilder dann sogar der Öffentlichkeit zur “Auswertung” überlassen werden)
(Im Original enthält der Text ein paar vielleicht ganz interessante Link.)
#272
Geschrieben 11. Juni 2008, 18:36
“Dédales” ist einer jener grandiosen, aber gleichzeitig unglücklichen Filme, die man, um sie richtig würdigen zu können, zwei mal sehen muss. Zu subtil ist das Geflecht der Hinweise auf den Plottwist, das sich einem bei der zeitnahen Zweitsichtung entblättert, jene ungläubigen Blicke der anderen Figuren, ihr kurzes Zögern, ja, selbst Eindeutigkeiten, wie, dass der Psychiater an das Bett gefesselt ist, an dem eben noch die Patien angebunden war und dieselbe Platzwunde auf der Stirn trägt, die auch sie hat … all das schafft Manzor durch grandiose Montagen und das an den (Bild)Rand rücken von Hinweisen zu verstecken.
In der Übung haben wir “Dédales” einerseits auf genau diese Simulations-/Dissimulationstechniken hin untersucht, um die “Unzuverlässigkeit” anhand der Einleitung aus Wilsons “Narration in Light” als Erzählstrategie erkennbar zu machen: Wir selbst werden in die Perspektive einer Persönlichkeit im Kosmos der dissoziativen Indentitätsstörung des Protagonisten gewzungen und merken nicht, wann wir sie verlassen (dürfen). Manzor kennt sich mit dem Krankheitsbild, seiner Geschichte, der Diagnose und den “Differenzialdiagnosen” (etwa Schizophrenie) bestens aus: Liest man das Kapitel über “Multiple Persönlichkeiten” aus Schachters “Wir sind Erinnerung“, drängt sich einem der Verdacht geradezu auf, Manzor habe diesen Text als Stichwortgeber genutzt. In zweiter Hinsicht ist “Dédales” für eine strukturale Lektüre von Film als “Spaltungsmedium” sichtbar geworden. Gerade die verschiedenen Montagetypen werden dazu genutzt, Amnesien darzustellen und beim Zuschauer zu “produzieren”. Unzuverlässigkeit ist oft eine Frage nach dem Willen zum Distanzgewinn.
Dass letztlich - wie Hauptdarsteller Lambert Wilson im “Making of” betont - der Beruf des Schauspielers immer schon eine gespielte dissoziative Spaltung darstellt, die allen Darstellern in “Dédales” grandios gelingt, ist leider nicht mehr mit in die Analyse eingeflossen.
#273
Geschrieben 15. Juni 2008, 09:04
Noch deutlicher als bei “Dédales” wird die Montange für die Verdeutlichung der Amnesie auf der Filmoberfläche genutzt. Die “falsche” Sortierung der Sequenzen bildet das Thema “Vergessen” plastisch ab; so wie der Protagonist kann auch der Zuschauer zunächst kaum entscheiden, was vorher, was nachher und was überhaupt gewesen ist. Dass der Film falsches Erinnern und allzu schnelles Vergessen dann auch noch zum Thema hat, macht ihn zu einem Paradebeispiel unzuverlässigen filmischen Erzählens.
Es ist ohnehin auffällig, wie viele Amnesie-Filme ihr Sujet in Form und Inhalt thematisieren, fast so als wäre das Vergessen eine urfilmische Eigenheit, für die sich besonders leicht Bilder finden lassen. Und im Prinzip ist es da ja auch, denn schon die kleinste filmische Einheit, das Einzelbild, kann nur zum Bestandteil des Films werden, wenn sie möglichst schnell vergessen wird und einer nächsten Platz macht. Die Speicherzeit beträgt nur 1/24 Sekunde. Film ist ein Medium des Vergessens, der Vergänglichkeit. Seinen stetig auftretenden “Filmrissen” kann der Protagonist nur entfliehen, indem er ein weniger flüchtiges Speichermedium zur Hilfe nimmt. Dass ihm zuallererst die Fotografie (d. h. die Portrait- bzw. Dokumentarfotografie) zur Hilfe kommt und aufgrund der immer noch vorhandenen Polysemie des Fotos und bei besonders heiklen Themen dann auch noch die Schrift, ist nur konsequent.
#274
Geschrieben 15. Juni 2008, 09:27
Auf der Suche nach weiteren Computerfilmen aus den 1970er, -80er und -90er Jahren bin ich einer falschen Fährte gefolgt und auf dieses kleine Filmjuwel gestoßen. “Dreamscape” erzählt die Geschichte einer Erfindung - einer Manschine, mit der zwei Menschen mental miteinander verbunden werden können, so dass der eine an den Träumen des anderen teilnehmen und diese beeinflussen kann. Das Sujet besitzt hier filmhistorisch zugleich prognostischen und summarischen Wert, denn der “Einsteiger” Dennis Quaid (”Die Reise ins Ich”) verfügt selbst über parapsychologische Fähigkeiten, die ihm das Mitträumen auch ohne die Maschine gestatten (”Scanners”). Er nutzt seine Gabe dazu, psychisch erkrankte Alpträumer (”A Nightmare on Elm Street”) zu therapieren und letztlich sogar eine Verschwörung zu beenden, die in den dritten Weltkrieg hätte führen können (”The Dead Zone”). Die Maschine und die hinter ihr stehende Idee, mit der die Schlafenden miteinander verbunden werden, findet man Jahre später in Brett Leonards “Rasenmähermann” und Tarsems Singhs “The Cell” wieder. “Dreamscape” liegt also gleichsam auf der Höhe der Zeit und enthält etliche Ideen, die später zur filmischen Ausgestaltung der “virtual reality” dienen werden. Computer spielen jedoch keine (sichtbare) Rolle.
#275
Geschrieben 16. Juni 2008, 20:50
So oft ich den Film auch sehe: Er wird mir einfach nicht langweilig. Einmal davon abgesehen, dass er für mich zu den ganz wenigen wertvollen Werken zählt, dessen humanistische Botschaft für meine Einstellungen zum Leben (und hier insbesondere zum Sterben) nachhaltig bedeutsam geworden sind, war ich gestern verblüfft davon, wie virtuos Aronofsky sein Motivinventar beherrscht, wie hermetisch er es in seiner Erzählung verwendet und damit schon beinahe (in einem Goethe'schen Sinne) klassisch erzählt. Vielfach wurde moniert, dass "The Fountain" schillernd aussieht, aber auf den zweiten Blick sollte man bemerken, wie sorgsam das alles komponiert und aufeinander abgestimmt ist. Da taucht dann jener Aronofsky auf, der das schon in "Pi" konnte, und den die Filmjournaille in "The Fountain" dann angeblich so sehr vermisste. Einfach mal genau hinsehen und nicht die eigene Erwartungshaltung zum Gradmesser küren.
#276
Geschrieben 20. Juni 2008, 18:44
Der (vielleicht letzte große?) FIlm von John Carpenter um einen vermissten Horror-Schriftsteller, der sich in New England eine Fantasie-Stadt "erschrieben" hat, in die seine Lektorin und ein Versicherungsagent ihm folgen. Dort werden sie mit allen Motiven und Figuren seines Schaffens konfrontiert und letztlich selbst zu Figuren seines schriftstellerischen Kosmos, dem sie nicht mehr entkommen. Am Ende ist ihre ganze Wahrnehmung von den Konstruktionen des Autors bestimmt. Carpenter gelingt es, diese ohnehin schon recht originelle metaleptische Erzählung auf eine Meta-Ebene zu transponieren und mit verschiedenen Mise-en-abyme-Strategien den Film "In the Mouth of Madness" sich selbst zum Thema zu machen. Welche Rolle die heterotopen Räume bei Carpenter spielen, war das Thema des Vortrags von philosophus. Er hat das allerdings an "Flucht aus L.A." kenntlich gemacht (und den Film dadurch ziemlich "geadelt" ).
#277
Geschrieben 20. Juni 2008, 19:21
Tja, was soll ich denn über “Marnie” noch schreiben, was noch nicht gesagt wurde? Dass ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, ist ja fast schon peinlich genug.
Hölzern hat vieles auf mich gewirkt - vor allem natürlich die schon beinahe zwanghafte Vulgarisierung der Psychoanalyse. Aber auch Sean Connery hat keinen guten Eindruck hinterlassen. Seine (hier) penetrante Art zu spielen in Verbindung mit dem schon beinahe klebrigen Charakter, den Hitchcock ihm auf den Leib geschrieben hat, haben “Marnie” für mich zu einem ziemlich “hohlen” Lehrstück werden lassen. Wäre da nicht die exzellent montierte Eröffnungssequenz und später dann bezaubernde Diane Baker gewesen, hätte der Film für mich keine Highlights gehabt.
#278
Geschrieben 22. Juni 2008, 07:31
David Lynchs Tochter hat ihren zweiten Spielfilm gedreht. Nach dem "Boxing Helena"-Desaster schafft es "Surveillance" zwar immer noch nicht, sich ganz von den Ästhetiken des Vaters zu lösen, geht die Grundmotive jedoch schon einmal ganz anders an. Auch hier werden die Polizei und das FBI (wie in "Blue Velvet" oder "Twin Peaks") zu Protagonisten des Mystischen erklärt, jedoch ändert sich die Farbe von Weiß zu Schwarz. Was den ersten, etwa dreiviertelstündigen sehr guten Eindruck des Films aber (zer?)stört, ist der Plottwist, der die Paradigmen der Erzählung völlig umkehrt. Problematisch ist das auch nur deshalb, weil sich damit auch die Art des Thrillers (man könnte sagen von einer "Rashomon"- in eine "Wild at Heart"-Konstruktion) verschiebt. Dennoch ein im positivsten Sinne unangenehmer Film.
Blaue Blumen (D 1985, Herbert Achternbusch)
Der Auftakt zu meiner Achternbusch-Retro ist schon etwas sperrig. Das ist gut so, weil es auf das danach folgende perfekt vorbereitet. Achternbusch greift in seinem Super-8-Filmessay über China und die Beziehung seines (von ihm gesprochenen) deutschen Off-Kommentators (der dem Regisseur in vielem ähnelt) nicht wenige Ideen von Chris Markers "Sans Soleil" auf. Die Stoßrichtung ist freilich eine ganz andere: Eine Abrechnung mit Deutschland, dem Begriff von "Heimat" und speziell der deutschen Kultur, die zwei Jahre zuvor ein unglaubliches Brimborium um Achternbuschs "Das Gespenst" veranstaltet hat, scheint der Tenor des Films zu sein. Nebenher wird die Geschichte eines Aussteigers erzählt, der zunächst plant, in China zu sterben, dann jedoch in 15 Jahren wiederzukehren, um dort eine dann 20-Jährige zu heiraten. Dementsprechend viele Aufnahmen chinesischer Kinder werden in "Blaue Blumen" gezeigt - verbunden mit nicht wenigen Novalis-Zitaten.
Der junge Mönch (D 1978, Herbert Achternbusch)
Ein Film, der in meinem (im August in epd erscheinenden) Text über postnukleare Endzeitfilme gut hineingepasst hätte: Nach einem Atomkrieg ist von der Stadt München nicht viel mehr übrig als ein Ödnis voller Geisiere und heißer Quellen und ein noch recht intakter Vorort. Dort lebt Herbert mit seiner Frau (?) und ist kurz vor dem Verhungern. Eines Tages findet er auf dem Kirchfriedhof einen Schokoladen-Osterhasen und beschließt, dass dieser der Gott einer neuen Gesellschaft werden müsse. Schon bald finden sich weitere verstreute Überlebende im und um das Haus Herberts ein und mit einem von ihnen geht er auf eine Missionsreise, um den neuen Glauben zu verbreiten und eine Frau für sich zu finden, die den Sohn Gottes austragen wird. Ein überaus absurdes und zutiefst blasphemisches Werk voller Invektiven gegen die Kirche, die (bairische) Gesellschaft, die CSU und den common sense überhaupt. Achternbusch changiert hier wie in etlichen seiner Filme tiefgründige philosophische Reflexionen mit klamaukhaften Dialogen. Eine zentrale (prä-apokayptische) Traum-Sequenz wirkt wie eine Zusammenfassung des Achternbusch'schen Oeuvres.
Der Neger Erwin (D 1981, Herbert Achternbusch)
Dass Achternbusch sich hier wieder einmal selbst und als Filmregisseur spielt, verleiht dem "Neger Erwin" gleich einen ironisch-selbstreflexiven Gestus: Aus der Haftanstalt entlassen kehrt er zurück in das Wirtshaus "Zum Neger Erwin" dessen Namensgeber er einmal war. Schwarz angemalt, angekettet soll er als Maskottchen in einer Hundehütte vor dem Lokal gelebt haben. Seine Freundin, die Gastwirtin Susn, hat zusammen mit ihm seinen Afrika-Traum mit Hilfe eines Tierparks verwirklicht. Von diesem sind nun nur noch ausgestopfte Tiere und ein krankes Nilpferd übrig. In der Wirtsstube, wo gerade per Armdrücken ein neuer "Neger" für das Wirtshaus auserkoren werden soll, versucht Achternbusch seine Filmambitionen neu aufleben zu lassen, veranstaltet Probeaufnahmen (ohne Kamera), Vorsprechen und Stuntszenen. Ein überaus heiterer, wenn auch (etwa dann, wenn es auf die Filmsituation in Deutschland zu sprechen kommt) nicht selten sarkastischer Film ist "Der Neger Erwin" geworden, der den alltäglichen Rassismus (schon der Sprache) ebenso persifliert wie die "Gemütlichkeit" und "Heimatverbundenheit", gerade wenn diese durch Bier erzeugt und unterfüttert wird. Dass Achternbusch hier wieder gleichzeitig Kritiker und Apologet der bayrischen Lebensweise ist, macht seine Filme - und auch diesen - so besonders reizvoll ambivalent.
#279
Geschrieben 22. Juni 2008, 11:42
Die unglaubliche formale Strenge und doch gleichzeitige Offenheit dieses, ja, Meisterwerks, lässt sich kaum in Worte fassen. Die Theorie der konfligierenden Räume, die bekay dazu aufgestellt hat, ist überaus plausibel und erklärt zumindest erst einmal die Story. Fortgeführt werden muss die Betrachtung aber vor allem mit weiteren Elementen der mise-en-scène: die Farbdramaturgie (vor allem der Kleidung), die Dingsymbole und vor allem der Konflikt zwischen Jungendstil-Ornamentalik im Bild und Symmetriezwang des Bildes (s. u.) scheinen spannende Themen zu sein. Leider war in der Übung nicht genügend Zeit, dies alles erschöpfend zu behandeln.
#280
Geschrieben 23. Juni 2008, 07:01
Endlich ein Film, der den Fehdehandschu von "Falling Down" aufnimmt und zeigt, dass Protest gegen das System nicht zwangläufig dasselbe ist wie Soziopathie und Wahnsinn. Ein Mann führt Krieg gegen den Stadtlärm - insbesondere gegen versehentlich ausgelöste Autoalarmanlagen, die ihm das Hegel-Lesen unmöglich machen. Zunächst als Mini-Terrorist unterwegs gerät er bald in Konflikt mit dem Gesetz und verliert sogar seine Familie. Dann jedoch macht er sich die Sprache des Systems zu eigen und beginnt dialektisch zu denken. Eine ganz hervorragende Satire, die ihm Kern Konzepte verschiedener Urbanitätstheorien durchdenkt (von Simmel "Blasiertheit" bis Baudrillards "Kool Killer") und den Stadtguerillero einmal nicht als das Gegenteil von Normalität, sondern als eine alternative Normalität, als eine Lebensweise unter vielen eben, inszeniert. Als der Mann nämlich seine Familie, seinen Job und seine Wohnung verliert, gerät er in eine völlig andere, entkrampfte Welt, die genau diese Verluste für ihn (und das nicht selten in "doppelter" Hinsicht) kompensiert. Wirklich ganz großartig! Startet in Deutschland im Juli.
Der Depp (D 1983, Herbert Achternbusch)
Der zweite Retrospektiven-Tag beginnt mit einem recht dadaistischen Werk Achternbuschs. Weil der Depp (Achternbusch) bei einer Wirtshausschlägerein einen Maß-Krug in den Schädel geschlagen bekommen hat, der dort immer noch steckt, kann er außer ein paar Worten nicht mehr sprechen. Seine Frau versorgt ihn und verkauft Bilder, die er malt im nahe gelegenen Wirtshaus. Dort arbeitet sein Schwager, der nach einer Fischvergiftung ein ganz ähnliches Problem hat wie der Depp. Gemeinsam entkommen sie ihrem Leid durch exakt inszenierte Litaneien. Der Depp findet überdies in seiner Ehefrau auch seine Geliebte wieder. Ein Film, der vorführt, wie dicht der Referenzkosmos der Achternbusch'schen Filmografie ist. Etliche Motive und Figuren aus "Der Neger Erwin" etwa habe ich in Varianten wieder entdeckt. Zudem ist es interessant zu sehen, wie der Konflikt zwischen Heimat und Exotik ein weiteres mal überaus gewinnbringend in Szene gesetzt wird. Und einige Bild-Telefonie-Szenen gibt es überdies - für 1983 recht visionär.
Das Gespenst (D 1983, Herbert Achternbusch)
Allein deshalb schon Achternbuschs wichtigster Film, weil er zum langjährigen Konfliktgegenstand mit der Zensur geworden ist, die ihn aufgrund seiner "Blasphemie" verbieten lassen wollte und hierzulande letztlich zum Glück gescheitert ist. Thema: Durch den Furz einer Mutter Oberin (mir mittlerweile ans Herz gewachsen: Annamirl Bierbichler) wird ein Jesus (Achternbusch) am Kreuz reanimiert, steigt herab und beginnt mit der Nonne ein beinahe bürgerliches Leben. Die Selbstverständlichkeiten "seiner" Kirche kennt er nicht nur nicht, sondern findet sie zumeist bösartig und zynisch. Er lehnt ab, was in seinem Namen über die Jahrhunderte verbrochen wurde. Als Ober in einer Schankwirtschaft verdingt er sich an der Seite seiner Oberin und bedient dort Polizisten (eine Paraderolle für Kurt Raab!) und römische Legionäre. Dadurch, dass er sich zu Zwecken der Unterhaltung und Tarnung immer wieder in eine Schlange verwandelt, verliert er nach und nach seine Wunderkraft. Zuletzt bleibt ihm nur noch, mit der Nonne zusammen ein Leben in der Tierwelt zu führen, die die Kirche ja schon immer abgelehnt hat. Voller Derbheiten und ätzenden Polemiken gegen die Staats- und Religionsmacht ist "Das Gespenst" ein Film, der nicht etwa mutig, sondern eigentlich selbstverständlich ist. Dass er in einem Pfaffenstaat wie Bayern (enormer Druck kam damals vom ehemaligen NSDAP-Mitglied Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann - man erinnere sich: "Gewaltloser Widerstand ist Gewalt.") Probleme bekommen würde, muss man dem Film heute als Gütesiegel anrechnen.
I know the Way to the Hofbrauhaus (D 1991, Herbert Achternbusch)
Der erste "Hick"-Film meiner Retrospektive. Hick ist eine teils buddhistisch-esoterische, teils akademisch-intellektuelle Figur, die von Achternbusch in seiner späten Phase entwickelt und ausgebaut wurde. Hier ist er der Wächter eines ägyptischen Museums, dem eine Mumie entkommt. Zunächst verfolgt er sie quer durch München, wo sie, wie es heißt, schlimme Dinge (wie die im Bau befindliche bayrische Staatskanzlei) vollendet. Als er sie findet, entschließen sich beide zu einem Besuch im Hofbräuhaus, es fehlt ihnen allerdings das notwendige Geld, das sie sich kurzerhand erbetteln. Am Ende entpuppt sich die Mumie als eine von Hick seit langem geliebte ägyptische Pharaonin, mit der er fortan glücklich leben wird. "I know ..." ist ein Stummfilm, der einerseits sehr von seinen slapstickhaften Momenten liebt, aber andererseits auch den Kontrast zwischen Bild und Filmmusik gewinnbringend einsetzt um eine Atmosphäre irgendwo zwischen bierseliger, fremdenfeindlicher Volkstümlichkeit und interkulturellem Chaos anzuzetteln. Auf der Tonspur laufen Maultrommel- und Zitter-Versionen von Mozarts "Vogelfänger", Pink Floyds "Careful with that Axe, Eugene", Stücke von Ravel, orientalische Musik und bayrischer Schuhplattler. Spannend ist auch, wie Achternbusch wieder einmal einen Film realisiert, in dem vor allem die Münchner Stadtbevölkerung zu Statisten erklärt wird. Jene Sequenzen in/mit der Menge offenbaren den Doppelwert vieler Achternbusch-Filme zwischen Film- und Aktionskunst.
#281
Geschrieben 24. Juni 2008, 09:31
Ein "Lebensfilm" über den Independend-Filmemacher Noah Arkwright, der nach einem exzessivem Leben mit Drogen, Alkohol und Sex einsieht, dass es so nicht weitergeht und sich in eine Entziehungsklinik begibt. Als trockener Alkoholiker versucht er sein Leben neu zu ordnen, unterliegt jedoch ständig den alten Versuchungen. Dann lernt er die Liebe seines Lebens kennen und gründet mir ihr eine Familie. Sein alter Lebensstil holt ihn jedoch in Form von Blasenkrebs wieder ein und nun muss sich Arkwright erstmals Sorgen nicht nur um sich selbst machen. Die Tragikomödie erzählt überaus geschickt montiert Episoden aus dem Leben des Protagonisten, greift vor und zurück und führt schon anfangs Schlüsselsequenzen vor, die erst durch die spätere Wiederholung ihren Sinn in der Erzählung finden. Das an Filme wie "Momento" oder "Train Spotting" erinnernde, bildhafte Erzählverfahren findet jedoch ein jähes Ende, als im letzten Viertel der tragische Anteil der Geschichte zu dominieren beginnt. Ich habe es schon bei Friedkins "Bug" schade und inkonsequent gefunden, den Plot derartig die übrigen Ästhetiken uspurieren zu lassen - hier ist es nicht weniger ärgerlich. Wo steht eigentlich geschrieben, dass Geschichte vom Tod linear, ruhig und schnörkellos inszeniert werden müssen?
Die Föhnforscher (D 1985, Herbert Achternbusch)
Abermals ein Film, der sich auch um die Themen atomare Rüstung und drohender Atomkrieg dreht: In einer Kirche hat die bayrische Staatsregierung eine eigene Atomrakete, die "Herching II" stationiert, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Der angrenzende Jammersee wurde dabei verstrahlt. Dies ist jedoch nur der Aufhänger für eine in den ersten drei Vierteln des Films stattfindende Auseinandersetzung um die so genannten "Föhnforscher". Achternbusch kombiniert hier mit Super-8 gefilmte Erinnerungsfragmente (mit Off-Kommentar), theatreske Gruppenszenen in einem Haus - und später am Strand des Jammersees - und eine "Bildergeschichte", in der er etliche Aquarelle, die er auf Zeitungspapier der SZ gemalt hat, zu einer Fiktion um eben jene Föhnforscher montiert - Wissenschaftler, die Sinn und Frieden stiften sollen, dabei jedoch von den "Arschlöchern" bzw. "Bayern" auf jede erdenkliche Weise sabotiert werden. Abseits von der etwas skurrilen utopischen Erzählung ist Achternbuschs Film vor allem abermals eine Polemik gegen den damaligen Innenminister Zimmermann, dem gleich im Choral Tod und Pestilenz an den Hals gewünscht wird. Auffällig hier wie auch schon in anderen Achternbusch-Filmen ist wieder das beinahe schon liebevoll spinnerte Bild der Polizei. Sicherlich einer der sperrigsten Filme des Regisseurs (bisher).
Das letzte Loch (D 1981, Herbert Achternbusch)
Der Film, bei dem Achternbusch nachträglich die Filmförderung entzogen wurde. Nach "Das Gespenst" wohl der intensivste und gleichzeitig "konzentrierteste" Stoff des Regisseurs: Nil (Achternbusch) ermordet weibliche Kneipenbedienungen mit dem Namen Susn. Deshalb wird er von zwei Polizisten gesucht. Bei der Verhaftung erschießt der eine Polizist versehentlich den anderen und flieht deshalb mit Nil und dessen "letzter Susn" nach Stromboli. Dort wollen sie zu dritt untertauchen. Das Thema des Films, das sich dem "Krimiplot" immer wieder unterschiebt, ist der Umgang der Deutschen mit dem Holocaust und dessen Vergessen. Die 6 Millionen toter Juden treiben Nil um, lassen ihn im Alkohol Vergessen suchen, das er jedoch nie findet. Der Versucht kulminiert in einer Sequenz bei einem Arzt, der Nil 30 Hektoliter Schnaps verschreibt, weil je 2 cl einen Juden vergessen machen. Eine überaus absurde Arithmetik, die jedoch den von Achternbusch als zwanghaft wahrgenommenen Versuch der Verdrängung gekonnt persifliert. "Das letzte Loch" ist damit einer der ernsteren Filme des Regisseurs und auch die Darstellerischen Leistungen - allen voran abermals Annamirl Bierbichlers und Franz Baumgartners - zeugen davon.
Neue Freiheit - Keine Arbeit (D 1998, Herbert Achternbusch)
Achternbuschs bislang vorletzter Film erzählt für die Maßstäbe des Regisseurs ungewöhnlich kohärent von einer Protestaktion gegen Helmut Kohl: Hick (Achternbusch) lebt als Obdachloser in einem kleinen Park in der Nähe des Münchner Marienplatzes. Eines Tages malt er ein Schild, auf dem er das Verschwinden Kohls fordert. Die Polizei, die bald auf die Aktion aufmerksam wird, nimmt ihm das Schild ab und hält es nun selbst hoch. Während der Nacht der Protestaktion tauchen verschiedene Passanten vor dem Schild auf und kommentieren es. Eine Frau berichtet dabei von der Entstehung der Arbeitslosigkeit und des Systems Kohl schon während der Steinzeit. Dazu werden eine Horde Urmenschen gezeigt, die mit aller Kraft versuchen, Innovationen zu verhindern, weil diese der Anfang allen Übels sind. Am nächsten Morgen ist Kohl tatsächlich verschwunden und Hick nimmt sich nun vor, nach Amerika zu gehen, denn dort können man vor dem Elend in die Weite fliehen, während Deutschland so eng sei, dass man vor dem Elend nur die Augen verschließen kann. So verzerrt wie in "Neue Freiheit" war das Bild der Polizei noch in keinem der bislang von mir gesehenen Achternbusch-Filme.
Hick's Last Stand (D 1990, Herbert Achternbusch)
Acht Jahre bevor sich Hick vorgenommen hat, nach Amerika zu gehen (s. o.), kommt er dort an. "Hick's last Stand" ist ein Reisetagebuch in Briefform, vorgetragen von Achternbusch aus dem Off. Er erzählt darin seiner daheim gebliebenen Mary von seinen sexuellen Ausschweifungen, seinem Alkoholkonsum, seinem Hass gegen ihren Bruder, der Gewalt, Liebe und Eifersucht, der er in der Beziehung mit ihr ausgesetzt gewesen ist. Währenddessen zeigen uns die Bilder berückend schöne Landschaften und Wolkenformationen, abwechselnd mit endlosen Einstellungen vorüber fahrender Trucks und Sattelschlepper. Die ganze Schönheit der amerikanischen Natur kollidiert hier mit all der Hässlichkeit ihrer Kultur. Zwischendrin Hick, der als Indianer verkleidet, den Hass gegen alle Weißen und insbesondere die Deutschen erklärt und sich damit als Rassist definiert. Vieles in "Hick's last Stand" hat mich an die Filme James Bennings erinnert, auch wenn die Kamera niemals ruhig bleibt, weil sie viel zu verzückt von den sich ihr bietenden Ansichten ist. Und dennoch ist es gerade der Kontrast zwischen Schönheit und menschlicher Verformung, der sich in den Bildern und in Hicks Ausführungen niederschlägt, der mir diese Ähnlichkeit wachgerufen hat.
#282
Geschrieben 25. Juni 2008, 07:56
Die Atlantikschwimmer (D 1975, Herbert Achternbusch)
Das Kaufhaus Mixiwix (der Referenzkosmos wird immer enger!) hat einen Preis für denjenigen ausgelobt, der den Atlantik schwimmend überquert. Briefträger Heinz (Braun) und Bademeister Herbert (Achternbusch) entschließen sich zu dem wagemutigen Projekt; Herbert bringt Heinz zunächst das Schwimmen bei und begibt sich dann mit ihm an die Atlantikküste. Zwischendrin lernt Heinz den Toilettenpapier-Verkäufer Alois kennen und entwickelt mit ihm die Geschäftsidee, Klopapier mit Gedichten zu bedrucken. Das Schwimmprojekt gerät dadurch zusehends in Gefahr - und als Herberts Identifikation mit der eigenen verstorbenen Mutter dazu führt, dass er fortan in Frauenkleidern umher läuft, scheint das Chaos komplett. Doch am Ende steigt einer in den Atlantik. "Wir haben keine Chance. Also nutzen wir sie!" Mit diesem Satz beginnt und endet der Film, der aus seiner Struktur eine merkliche Parabel auf die Situation des Deutschen Films Mitte der 1970er Jahre ausschwitzt. Das Auf und Ab, Hin und Her, Scheitern und Gewinnen der Autorenfilmer ist zu jener Zeit Thema einiger Beiträge des Neuen Deutschen Films. Achternbusch liefert eine humoresk verklausulierte Variante, die sich nicht nur einmal mehr über die Situation des Künstlers in Deutschland mokiert, sondern diesen auch als Traumtänzer und Egomanen charakterisiert. In einer Gastrolle ist Margarethe von Trotta zu sehen.
Servus Bayern (D 1977, Herbert Achternbusch)
Schriftsteller Herbert (Achternbusch) hält es in Bayern nicht mehr aus. Ihm ist dort emotional so kalt geworden, dass er es vorzieht nach Grönland auszuwandern, um sich dort wieder aufzuwärmen. Sein Vorhaben macht er öffentlich, so dass sich der Bayrische Rundfunk dafür zu interessieren beginnt und ein Kamerateam (sehr schön: das Dreh-Team von "Servus Bayern" findet sich vor der Kamera ein) vor Ort schickt um ihn zu interviewen. Überdies nimmt Weiberheld und Wilddieb Herbert auch Abschied von den vielen jungen Frauen - und der einen verschmähten Geliebten (Annamirl Bierbichler), deren Bruder (Sepp Bierbichler) Wildhüter ist, welcher das Treiben Herberts schon seit langem argwöhnisch verfolgt. Er nimmt zusammen mit dem BR-Korrespondenten die Verfolgung Herberts nach Grönland auf, wo es zum Showdown kommt. "Servus Bayern" ist zuallererst eine Persiflage auf das Künstlertum, dann erst auf die Situation der Kunst in Deutschland/Bayern. Achternbusch zeichnet seine Herbert-Figur als absoluten Egomanen, als Vampir, der seine soziale Umgebung aussaugt, um deren Geschichten zu seinen eigenen zu machen. Am meisten trägt darunter die ihn liebende Annamirl Leid. In einer grandiosen und überaus intensiven Monolog-Plansequenz von 20 Minuten Länge (Kamera: Jörg Schmidt-Reitwein) schüttet sie ihm ihr Herz aus, philosophiert über die Kunst und das Künstlertum und versucht sich vergeblich mit all ihrer Körperlichkeit in den filmischen Raum einzuschreiben. Allein diese Sequenz hebt "Servus Bayer" für mich in den Pantheon des Achternbusch'schen Werks. Aber auch etliche andere Sequenzen (die Kamera erzählt hier überaus viel und eloquent) lassen die Einsamkeit und Verzweiflung aller Beteiligten spüren. Der Klamauk, den Achternbusch als Kontrast gegenüberstellt (einmal lässt er seine Herbert-Figur die Gamsbärte einiger an der Schankwirtschaft-Garderobe hängender Hüte anzünden, woraufhin ein Gast die Brände löscht und die Aktion lakonisch mit "Geh, des dorfst doch net mache!" kommentiert), wirkt geradezu heilsam angesichts der Intensivität vieler Momente des Films.
Rita Ritter (D 1984, Herbert Achternbusch)
Nur knapp hat es dieser Film noch in mein Programm geschafft - ich bin jedoch froh, ihn nicht ausgelassen zu haben, weil er einige Klarheiten und Neuheiten bereithält. Zunächst die Besetzung: Achternbusch selbst ist - bis auf in einem ganz kurzen Cameo gegen Ende - gar nicht vor der Kamera zu sehen. Dafür hat er zum ersten Mal Profis gecastet: Barbara Valentin, Eva Mattes, Armin Müller-Stahl sind zu sehen. In der Hauptrolle spielt Annamirl Bierbichler den erfolglosen Drehbuchautoren Rita, der mit seinen Arbeiten regelmäßig auf die Ablehnung des Bayrischen Runfunks stößt. Schließlich heiratet er die Programmverantwortliche (Valentin) und lebt eine glücklose Ehe mit ihr. Das alles fassen die ersten 15 Minuten des Films zusammen. Auf der Münchner Hacker-Brücke trifft Rita schließlich Armin Müller-Stahl, der ihm mitteilt, dass eines seiner Theaterstücke, nämlich "Susn" (Referenz! Referenz!), in Paris aufgeführt wird und Rita einlädt, an der Premiere teilzunehmen. Im Theater selbst erlebt Rita eine Begegnung mit der eigenen Lebensgeschichte - unter anderem auch ein "Wiedersehen" mit der Jugendliebe Rita, deren Namen er angenommen hat. Die Darstellerin, die die Rita spielt, wird von ihm schließlich für die echte gehalten, es kommt zu einem Treffen, an dem beide intensiv Erinnerungen austauschen und sich Liebe schwören. Am Ende stehen beide auf der Hacker-Brücke und verwünschen Deutschland, Bayern, das Mittelmeer, die Jugend und vieles andere. Der zentrale Diskurs des Films, abermals das Künstlertum, wird hier auf interessante Weise an die Künstlerbiografie gekoppelt. Berufliches und persönliches Scheitern sind identisch. Dass die Kunst das Leben nicht nur imitiere, sondern sich mit ihm decke, wird schließlich auch die Erkenntnis, die beim Wiedersehen der beiden Ritas, die ja beide nur die Rolle einer Rita spielen, zentral ist. Dass Annamirl Bierbichler die Rolle Achternbuschs übernimmt, transponiert das Thema auf eine weitere Meta-Ebene.
#283
Geschrieben 26. Juni 2008, 13:44
Auf 16 mm und Video fängt "Kleine Motte" die Geschichte eines 11-jährigen Mädchens ein, das von seinem Vater an ein kinderloses Paar verkauft wird, die das durch eine bakterielle Infektion lahme Kind zum Betteln einsetzen. Irgendwann schafft es das Mädchen zusammen mit einem einarmigen 13-jährigen Jungen zu entkommen. Sie treffen auf eine wohlhabende Frau, die sich zunächst wohlwollend um das Mädchen kümmert und es dann, als sie erfährt, dass ihr nur durch eine sehr teure Operation, bei der ihr die Beine amputiert werden müssen, das Leben zu retten ist, einfach auf einer Brücke zurücklässt. "Kleine Motte" ist ein erschütternder Film, dem es gelingt die neorealistische Ästhetik (vor allem durch Laiendarsteller, On-Location-Aufnahmen und den intensiven Gebrauch der Handkamera) eng an seine Erzählung zu koppeln. Die ständig durch die Körperbewegungen des Kameramanns wackelnden Bilder vermitteln ein unangenehmes Gefühl der hilflosen Anwesenheit des Zuschauers.
Walz with Bashir (Israel/F/D 2008, Ari Folmann)
Wie vermittelt man ein historische Ereignis und kann dabei zugleich dokumentarisch und emotional erzählen? Folmann findet hierfür genau den richtigen Modus: Sein sehr persönlicher Film über einen israelischen Soldaten, der alle Erinnerungen an den Libanon-Krieg verloren hat und nur noch ein Traumbild mit sich herum trägt, ist ein Zeichentrickfilm. Darin tastet sich der Protagonist dadurch, dass er sich mit ehemaligen Mit-Soldaten über die Kriegszeit unterhält, langsam an die verschüttete Erinnerung heran. Letztlich ist es ein Massaker an Zivilisten gewesen, dem er und seine Kameraden tatenlos zugesehen hatte, welches die Amnesie verursacht hat. Folmanns Film ist zugleich wunderschön und schrecklich. Der mit verschiedenen Techniken erstellte Zeichentrick entrückt das Bewusstsein, dass es sich tatsächlich um dokumentarische Aufnahmen handelt, die später "übertüncht" wurden; so lange, bis der Film am Ende in real-filmische Dokumentarszenen umkippt, die die trauernden palästinensischen Überlebenden des Massakers vorführen. "Walz with Bashir" ist der erste Dokumentarfilm, der in diesem bildästhetischen Modus daherkommt. Folmann hat darin die perfekte ästhetische Methode für seine Geschichte gefunden. Ein wirklich ergreifendes Filmerlebnis!
Bierkampf (D 1977, Herbert Achternbusch)
Zur Hälfte eine Aktionismus-Veranstaltung, in der Achternbusch sich mit seinen Darstellern auf das Münchener Oktoberfest begibt, dort als Polizist verkleidet Klamauk treibt und zuletzt einigermaßen angetrunken sogar Schlägerein provoziert. Die andere Hälfte des Films erzählt die Vorgeschichte dazu, in der es wie in vielen Achternbusch-Filmen um die Frage nach der Entwicklung von Identität in der sozialen Gemeinschaft geht, um Liebe, Eifersucht und Visionen vom Zusammensein. Denn die Herbert-Figur ist nicht etwa ein bloßer Provokateur, sondern eigentlich eine tragische Figur auf der Suche nach sich selbst. Dass gerade eine Uniform dieses Selbst zu konstituieren verspricht, das ist vielleicht das Geheimnis hinter der Ambivalenz, mit der Achternbusch hier wie auch in seinen anderen Filmen Polizisten zeichnet. Diesen uniformierten Individualisten aufs Oktoberfest zu all den individualisierten Uniformisten zu schicken, ist der Clou des Films. Man muss der "Bierkampf"-Crew überdies Mut zusprechen, sich überhaupt dorthin gewagt zu haben. Jörg Schmidt-Reitewein, der für Werner Herzog immer nur die weniger waghalsigen Kameraaufträge übernehmen durfte, zeigt hier, wieviel Agilität er mit seinem 16-mm-Equipment inmitten all dieser Wahnsinniger besitzt.
Das Kind ist tot (D 1970, Herbert Achternbusch)
Sein erster Film - ein Kurzfilm, der aus Super-8-Familienaufnahmen besteht. Die ganze Familie Achternbusch wird zu Darstellern und zum Gegenstand der Darstellung. Eine Fantasie wird entwickelt, in der eines der Kinder stirbt und welche Effekte dies auf das Zusammensein hat. Der Off-Kommentar hastet den gezeigten, immer schneller aneinander montierten Sequenzen nach, schafft es kaum in der kurzen Zeit der Darstellung zu beschreiben, was man sieht. Allein schon dadurch wir der Film zu einem sehr interessanten formalen Experiment zwischen Dokumentarismus und Interpretation.
Das Klatschen mit einer Hand (D 2002, Herbert Achternbusch)
Gegenüber Achternbuschs bislang letztem Spielfilm muss ich leider kapitulieren. Zwei längere Erzähleinheiten hat er: Zwei Männer versuchen einen Felsblock umzustürzen, damit er in einen Teich fällt. Sie scheitern. Später machen sich der Sohn des einen Mannes (ein Kind in der "typischen Achternbuschmontur") und dessen Mutter auf, den Versuch zu wiederholen. Achternbusch will den Film als Plädoyer für die Schließung eines Münchner Theaters verstanden wissen. Vielleicht ist es der Insider-Humor, der mich so ratlos zurücklässt. Auffällig ist aber schon, dass die beiden jüngsten Werke (dieser Film und "Neue Freiheit - Keine Jobs") anders als die Filme zuvor sind. Anders auf eine Art, die mir nicht mehr so gefällt.
#284
Geschrieben 26. Juni 2008, 22:03
Lonely Tunes of Teheran (Taraneh tanhaïye Tehran, Iran 2008, Saman Salur)
Die beiden Cousins, der kleinwüchsige Hamid und und der Riese Behrouz, installieren illegal Satelliten-Anlagen auf Wohnhäusern in Teheran. Obwohl das Untergrund-Geschäft einträglich sein müsste, leben sie von der Hand in den Mund. Eines Tages werden sie von einer alleinstehenden Frau angeheuert, in die sie sich beide prompt verlieben. Aber weil sie schon zu oft zurück gewiesen wurden, traut sich keiner einen Annäherungsversuch zu starten. Dann verliert Hamid seine Wohnung, weil der Vermieter genug von dessen illegalem Treiben hat. Die beiden Cousins müssen sich entscheiden, ob sie ihre Einsamkeit miteinander teilen oder sich voneinander trennen wollen. Salurs Film ist selbst ein Underground-Werk. Tagsüber auf 16 mm, nachts mit Video, immer ohne Beleuchtung und meistens ohne Stativ gedreht, erzählt er eine Geschichte vom so genannten "normalen Wahnsinn" in einer Diktatur. Entgegen vielleicht vorherrschenden Vorstellungen kann man(n) in Teheran offenbar nicht nur gut, sondern auch einigermaßen unbehelligt von der Staatsmacht leben - wenn man(n) nur genug aufpasst. Die Kamera wählt zum Erzählen zumeist sehr lange Brennweiten, die die filmischen Räume in der Tiefe stark staucht, so dass immer ein Eindruck von Enge vorherrscht. Das passt zu der mit Menschen gefüllten Einsamkeit der Erzählung der beiden Cousins - einer der beiden Schauspieler hat den Start des Film offenbar nicht mehr erlebt, wie einer Widmung im Abspann zu entnehmen ist.
The Oxford Murders (Sp/F 2008, Aléx de la Iglesia)
Ein Serienmörderfilm auf dem Münchener Filmfest. Lasse ich mir den entgehen? Nein, natürlich nicht. Hätte ich aber besser. Eine sehr im Stil Agatha-Christie'scher Krimiprosa erzählte Whodunnit-Geschichte, die Mitte der 1990er-Jahre im Uni-Milieu, genauer gesagt: in der Mathematischen Fakultät von Camebridge angesiedelt ist. Ein junger amerikanischer Austauschstudent (Eliah Wood) sucht die Nähe eines philosophisch angehauchten Numerik-Professors (William Hurt), perlt aber mit seinen Avancen ab - bis die beste Freundin des Professors ermordet aufgefunden wird, die zufällig auch die Vermieterin des Austauschstudenten ist. Fortan bemühen beide ihren logischen Verstand um das Serienmordrätsel zu lösen, das sich nach doppeltem Plottwist jedoch als Hirngespinst zu erweisen scheint. Solide erzählt, altbacken, Hollywood-like. Eine sehr schöne Kamerafahrt zu Beginn, die aber nur dazu da ist, "clues" zu streifen, die wie Beiläufigkeiten aussehen. Ansonsten begnügt sich das Bild damit, das zerfurchte Gesicht William Hurts und die ozeanblauen Augen Eliah Woods - na ja, und die Anatomie Leona Watlings - einzufangen. Das wäre alles noch nicht ärgerlich, wenn hier nicht wieder einmal ein peinlich verzerrtes Bild akademischer Geisteswissenschaft hingeschmiert würde. Protest muss jeden Bachelor im 2. Semester Philosophie entfleuchen, wenn er sich den Unsinn anhört, der den Figuren da in den Mund gelegt wird. Professor Hurt gefällt sich darin, außer Wittgensteins Tractatus und einer Reihe Kalendersprüche nichts gelesen zu haben und seine Studenten pflichten ihm bei. Was "I. Q." für die Physiker ist, ist "Oxford Murders" nun für die Philosphen: Ein Anlass vor Fremdscham im Kinoparkett zu versinken.
Handle me with care (Thailand 2008, Kongdej Jaturunrutasamee)
Die positive Erkenntnis zuerst: Die thailändische Filmindustrie steht in Sachen Qualitätskino weder der asiatischen noch der westlichen Konkurrenz hintan. "Handle me with Care" ist ein durch und durch gelungen produzierter Film mit Stars, zumindest zu Beginn sehr schönem Soundtrack und vollendetem (unsichtbarem) Schnitt. Er erzählt die Geschichte eines dreiarmigen jungen Mannes, dessen Hemdschneider stirbt und der sich (nicht nur) deshalb entschließt, sich den zuvielen linken Arm in Bangkok amputieren zu lassen. Außerdem will er dort dann seinen Vater wieder treffen, der die Familie nach der Geburt des dreiarmigen Babys verlassen hat. Unterwegs trifft er auf eine junge Frau, die so große Brüste hat, dass die Männerwelt sie nicht nur darauf reduziert, sondern sie während des Films auch zwei Mal Beinahe-Opfer von Vergewaltigungen wird. Auch sie will nach Thailand und ihren abhanden gekommenen Ehegatten suchen. Die Zwei tun sich zusammen und werden in all ihrem Leid ein Paar. Sie will, dass er sich mit seinen drei Armen akzeptiert, er will das nicht, aber ihre großen Brüste anfassen. Sie trennen sich, Arm kommt ab, Leben wird normal, sie kommen wieder zusammen. Aus. Mit der Qualität hat leider auch die Heteronoramtivität Einzug in den thailändischen Film gehalten. Fürchtet man zu Beginn noch, dass der Dreiarmige seinen Arm behält und aus dem Film damit ein Lehrstück über Akzeptanz und Toleranz wird, so tritt genau das andere schlechte Ende ein, in dem (nur) die Normalität zum Ziel führt. Hätte "Handle me with care" überhaupt ein gutes, ansprechendes Ende nehmen können? Als Komödie hat er sich zu schnell selbst vergessen, als Liebes-Melodram kommt er nicht so recht in die Gänge. Tja, was soll's denn nun sein? Ein Film, der sicherlich vielen gefallen wird.
#285
Geschrieben 29. Juni 2008, 08:04
Zunächst ist für mich erst einmal positiv festzustellen, dass nach Romeros "Diary of the Dead" nun ein weiterer großer Regisseur der 1970er/80er-Jahre einen Paradigmenwechsel vom Erzählkino zum "Reflexionskino" vollzogen hat. "Redacted" ist zu aller erst ein Film über filmische Authentisierungsstrategien, der sich den Irak-Krieg und dessen mediale Darstellung zum Gegenstand gemacht hat. Erzählt wird von einer Gruppe amerikanischer Soldaten, von deren Alltag als Wachen einer Straßenkontrolle in Bagdad und von deren Kriegsverbrechen: Fast alle aus der Truppe überfallen nachts ein Haus, das sie wenige Tage zuvor durchsucht haben, weil darin eine 15-Jährige Irakerin mit ihrer Familie lebt. Auf dieses Mädchen haben sie es abgesehen. Sie vergewaltigen sie, erschießen sie und ihre Familie und verbrennen die Leiche des Mädchens. Der Film erzählt diese unglaublich grausame Geschichte als Pastiche aus verschiedenen Medienaufzeichnungen: einer Kamera, die einer der Soldaten bei sich führt, Überwachungskameras, späteren Verhörprotokollen, YouTube-Videos und so weiter. Dem Film gelingt es damit, den Horror, den ein solches Verbrechen auslösen muss, gar nicht erst aufkommen zu lassen, sondern durch sein stetiges insistieren auf die eigene Oberfläche (eben: die Authentizität) sehr schonend zu bleiben. Ob ich ihm das positiv oder negativ anrechnen will, weiß ich gar nicht. Schade ist nur, dass "Redacted" sein eigenes Projekt manchmal untergräbt, wenn er von Zeit zu Zeit doch anfängt zu erzählen, wenn er die Authentisierungsästhetiken gelegentlich nicht mehr bloß darstellt, sondern sie zur Emotionalisierung/Affizierung heranzieht, wenn er also versucht durch seine eigene Oberfläche in die Tiefe zu gelangen, obwohl das niemand von ihm verlangt. Biran de Palma kommt eben auch hier aus seiner Haut nicht heraus: Spiel mit der Form oder Erzählung: Was soll's denn nun sein?
Punch Drunk (D 1987, Herbert Achternbusch)
Der im Kultusministerium beschäftigte Staatssekretär Herbert Riesenhuber (Herbert Achternbusch) arbeitet an seiner Karriere. Minister will er werden und das, obwohl die Welt nach einer Atomkatastrophe in Schutt und Asche liegt. Er spaziert durch München, spricht von seiner Arbeit, seinen Verfehlungen und von den seltenen Gelegenheiten, wenn im Kultusministerium eine Bombendrohung eingeht. Dann kann er nämlich seinen buddhistischen Bestrebungen nachgehen. Diese haben auch dazu geführt, dass Herbert bereits 17 mal verheiratet war. Zusammen mit drei seiner Frauen findet er sich zum Ende am Strand einer zerstörten Seenlandschaft ein, wo nicht nur Liebe, Leidenschaft, Eifersucht und Tod aufeinander treffen, sondern ihn auch die Nachricht seiner Beförderung ihn erreicht. "Punch Drunk" ist abermals eine Reaktion auf Tschernobyl. Der Film führt in radikalen Bildern vor, wie lebensgefährlich das Leben geworden ist. "Die Vernunft ist das erste, was bei der Atomstrahlung verbrennt", sagt eine der Ehefrauen Herberts. Und Unvernunft findet sich folglich viel in "Punch Drunk": Kalte Umschläge mit vollgeschissenen Babywindeln, Vergewaltigungen durch einen Riesen, Splattersquenzen, in denen die Kastration eines Mannes vorgeführt wird, genauso wie kaltblütige Morde - und hier bleiben die Toten anders als in vielen anderen Achternbusch-Filmen wirklich tot. Darüber hinaus rechnet "Punch Drunk" einmal mehr mit dem bayrischen Staat ab: "Ein Leben lang war ich ein Esel. Doch dann kam ich als Staatssekretär wieder auf die Welt. Das ist doch ein Fortschritt", konstatiert Herbert. "Punch Drunk" ist ein radikaler Film voller Gewalt und Sex. Letzerer tritt in Form völliger Retardierung auf: Alle Figuren sind am Ende nackt oder halb nackt und fallen übereinander her.
Niemandsland (D 1991, Herbert Achternbusch)
Bahnhofsvorsteher Hick verlässt seinen Heimatort "Last Valley", nachdem alle Gleise stillgelegt wurden und verschwindet im Niemandsland - einer Einöde, in der die Indianer leben. Daheim wird ihm in Abwesenheit der Prozess gemacht, in dem seine Ehefrau für ihn und sein Werk streitet: Hick hat ein revolutionäres Schilder-System eingeführt, mit dem der Straßenverkehr des Ortes endgültig sinnvoll geregelt werden kann. Dieses System versucht er nun auch im Niemandsland zu installieren. Irgendwo zwischen Gerichtsdrama und buddhistisch inspiriertem Dokumentarismus schwebt Achternbuschs "Niemandsland". Seine Figuren, vom Glauben abgefallene Christen aus Südtirol, die sich in Amerika angesiedelt haben, stehen einmal mehr für seine beißende Kirchen-Kritik. Die ständige Thematisierung der Indianer (in Wahrheit sind es mongolische Steppenbewohner, denn das Niemandsland wurde von Achternbusch in der Wüste Gobi situiert) und ihres rechtlichen Nicht-Status ist bereits ein Vorzeichen der Kolonialismus-Kritik, die Achternbusch zwei Jahre später in "Ich bin da! Ich bin da!" auf die Spitze treibt.
Picasso in München (D 1997, Herbert Achternbusch)
Picasso (Herbert Achternbusch) kehrt von den Toten zurück, um in München seine letzte stilistische Phase abzuschließen. Dort trifft er nicht nur auf seine zahlreichen Amouren, sondern auch auf die junge Takla Bash, mit der er eine künstlerische und sexuelle Beziehung anstrebt. Takla löst sich indes von ihrem Psychiater (Sepp Bierbichler), der unter der Fuchtel seiner Frau steht und ausschließlich auf Sex mit seinen Patientinnen aus zu sein scheint. Als sich Picasso und Takla näher kommen, verhindern immer wieder Besuche der Exfreundinnen des Malers, dass es zum äußersten kommt, können es schließlich jedoch nicht verhindern, dass die beiden intim werden. Tags darauf erfährt Takla von ihrer aus den USA angereisten Mutter, dass diese nicht nur auch eine Ehemalige des Malers ist, sondern sie soger das Kind beider. Zusammen überlegen Takla und Picasso nun, welche Möglichkeiten sie haben, weiterhin sexuell miteinander zu verkehren, obwohl sie Vater und Tochter sind. Es gelingt ihnen, doch ein Unfall scheint das Glück beider zu zerstören. Der ungewöhnlichen Fähigkeit Picassos, den Tod zu überwinden, ist es am Ende zu verdanken, dass die tödlich verunglückte Takla zurück ins Leben geholt werden kann. Die Handlungszusammenfassung liest sich bereits ungewöhnlich geradlinig für einen Achternbusch-Film und tatsächlich ist er es auch - wie etliche seiner späteren Werke. Mehr noch als in "Die Föhnforscher" spielt die Malerei Achternbuschs in "Picasso in München" eine zentrale Rolle. Die meisten der gezeigten Bilder stammen von ihm. Auch hier werden wieder zentrale Motive konzentriert: Zum einen die Hick-Figur, die mit der Picasso-Figur identisch ist, zum anderen etliche Bildsymbole aus den Filmen der 70er und 80er Jahre (ich frage mich langsam, ob das immer dasselbe Peperoni-T-Shirt ist, dass Achternbusch in vielen seiner Filme trägt). Die zentralen Themen Liebe und Eifersucht (letzteres hier abermals mit einer recht blutrünstigen Kastrationsszene dargestellt) finden auch in "Picasso in München" wieder zentral Erwähnung. Ansonsten hat der Film, wie auch andere aus dem Spätwerk, aber nur noch wenige der Reize des "frühen Achternbuschs" für mich zu bieten.
#286
Geschrieben 30. Juni 2008, 08:49
Ein Dokumentarfilm über das Vordringen der Robotik in den sozialen Alltag. Der Film beschreibt die Notwendigkeit, mit der der Roboter als vormalige Industriemaschine nun in das Privatleben der Menschen Einzug hält und die soziale Isolation (etwa alter Menschen) beende soll. Zwei Erzählstränge verbindet er: Der Robbenbaby-Roboter “Paro” wird in einem deutschen Altersheim einer alleinstehenden alten Dame ein ständiger Begleiter. Sie kümmert sich um ihn, kommuniziert mit ihm und kapselt sich auf diese Weise langsam von ihren Mitbewohnern im Heim ab, die sie mehr und mehr verwunderlich finden. Ihr ist das egal. Der zweite Erzählstrang berichtet von dem japanischen Roboter-Entwickler Hiroshi Ishiguro, der eine mechanische Kopie seiner selbst herstellt, die möglichst detailgetreu aussehen und funktionieren soll. Als Höhepunkt wird die Konfrontation des Automaten mit seiner Familie angestrebt. Seine kleine Tochter reagiert verstört auf den Kunst-Papa und wagt nicht einmal ihn zu berühren. Dennoch betrachtet der Entwickler das Experiment als geglückt, denn es zeigt ihm auch, dass Roboter die Menschen nicht ersetzen werden können. Der Film verfährt gerade auf der optischen Ebene sehr interessant, wenn er in zumeist großen und nahen Einstellungen von Menschen und Maschinen zusehends Unklarheit darüber stiftet, was von beiden man denn nun sieht. In der Annäherung ans Detail verlieren sich die Distinktionen zwischen Mensch und Roboter immer mehr und es kommt zu etlichen pointierten Verwechslungen. Der der gesamten Dokumentation unterlegte bedrohliche Soundtrack sorgt dafür, dass selbst in Momenten größter Melodramatik (etwa wenn die alte Frau ihre Zuneigung zu dem kleinen Robben-Roboter mit den Worten “So lieb wie dich habe ich noch niemanden gehabt” beschreibt) das “uncanny valley” nicht verlassen wird.
#288
Geschrieben 03. Juli 2008, 08:54
»Four Americans on vacation don’t just disappear!« Tun sie doch, die jüngere Filmgeschichte hat's gelehrt. Hier treffen vier Twens auf einer ruinierten Maya-Pyramide auf eine sehr aggressive Pflanze. Vor ihr fliehen können sie nicht, weil rund um die Pyramide eine Horde Mayas (wohlgemerkt: der Plot befindet sich in der Gegenwart!) versammelt hat, um zu verhindern, dass die Touristen von der Pyramide herabsteigen und heimfahren können. Denn: Die Pflanze ist nicht nur sehr gefährlich, sondern auch noch infektiös. Bewundernswert an dieser Dreamworks-Produktion ist vor allem ihr Mut zum Retro-Thema: Pfanzen als Gefahr, eine Mayapyramide ohne Hokuspokus und ein Plot, der sich im Wesentlichen auf einen Handlungsort beschränkt. Das ist erfrischend altbacken. "Ruins" hat neben ein paar unangenehmen Spezialeffekten vor allem das Unheinliche zu bieten, dass von diesen - zu keiner Zeit erklärten - Pflanzen ausgeht.
#289
Geschrieben 03. Juli 2008, 09:30
In seiner Point-of-View-Theorie akzentuiert Jacques Aumont vor allem den Widerspruch, dass Filme zumeist als Plotkonstrukte "gesehen" werden, obwohl doch schon bereits ihre medienhistorische Genese (sowohl der Vorläufer in Bildender Kunst, Malerei und Literatur) als auch die Filmgeschichte selbst zusehends auf ein "Erzählen" des Bildes insistiert, das sich immer mehr von einem "narrativen Point of View" zu einem "prädikativen Point of View" verschiebt, in welchem der Film die Haltungen seines Autors transportiert oder zumindest wahrnehmbar und diskutabel macht.
Diese Überlegung an Ajas "High Tension" zu spiegeln, war wirklich fruchtbar, denn selten bekommt man einen Film mit einem derartig eindimensionalen, geradlinigen und unoriginellen Plot zu Gesicht, der auf der Bildebene jedoch so unglaublich vieles zu bieten hat. Die Bilder "High Tensions" stehen dem Plot diametral entgegen, entwickeln Komplexität, Referenzialität und Selbstreflexivität. Während sich die Erzählung in eine alogische "Auflösung" manövriert, der man selbst mit Point-of-View-Theorien (wie der Brainigans) nur schwer zu Leibe rücken kann, weil der Zuschauer eben der einzige ist, der den "falschen Blick" hat, entfalten die Bilder eine schon fast essayistische Potenz: Hier wird über die Eigenschaften des Horrorfilms "sinniert", in den stets dichter werdenden Räumen, den immer näher an die Objekte heran rückenden Blicken (Einstellungsgrößen) der Attraktionszwang des Affektkinos durchgespielt und selbst in der Derbheit der Splatter-Effekte ließe sich eine moralische Fragestellung - wieder einmal die des Retributivismus - finden: Wie oft muss man mit einer Stacheldrahtkeule auf den Mörder einer ganzen Familie einschlagen? 17 mal oder reichen 5 mal?
Eine sehr schöne Beobachtung eines Teilnehmers der Übung: Die Exposition des Films steht in stilistischer und narrativer Nähe zu der von Sergio Leones "Spiel mir das Lied vom Tod". Da werde ich bei Gelegenheit noch einmal einen Blick drauf werfen.
#290
Geschrieben 04. Juli 2008, 21:31
“Literaturverfilmung”: Das klingt für mich pejorativ, wie “…verwurstung”, hat aber im Falle von “Das Parfum” durchaus seine Berechtigung. Seit der Pressevorführung damals habe ich den Film nicht wieder gesehen. Und jetzt, mit dem Wissen, was für ein Desaster diese Eichinger-Birkin-Geschichte ist, sehe ich die Probleme - sprich: Nasen - noch viel deutlicher. Was für eine verschenkte Chance. Peter Greenaway hätte man an den Stoff lassen müssen - oder Joseph Vilsmaier.
#291
Geschrieben 04. Juli 2008, 21:32
“An extension of men’s brain.” - so paraphrasiert nicht nur McLuhan den Computer, sondern auch Ingenieur Forbin, der den intelligentesten Computer der Welt erfunden hat. Dieser soll die Verteidigungswaffen der USA kontrollieren, weil er schneller und zuverlässiger ist als das menschliche Personal. Zu Beginn von “Colossus” wird dem Superrechner die Kontrolle über die Waffen übergeben, dann passiert etwas unerwartetes: Der Rechner entdeckt, dass in der UdSSR ein ebensolcher Computer ans Netz(!) gegangen ist und verknüpft sich mit ihm. Zusammen übernehmen sie die Kontrolle über die Kernwaffen und fangen an, die Menschheit zu erpressen. Sie werden zu einem elektronischen Bewusstsein, dass sich fortan als “World Control” bezeichnet und übernehmen die Regentschaft über die Erde. Jeder Versuch der Wissenschaftler, die Computer zu sabotieren oder in ihrer Potenz zu schwächen, scheitert. Schließlich stellt Colossus Wissenschaftler Forbin unter “Surveillance”, beobachtet jeden seiner Schritte mit der Kamera, schreibt ihm seinen Tagesablauf vor. Nur einen Freibereich, den der Erotik, kann sich Forbin erstreiten und trifft sich dort mit einer Mitarbeiterin, die er Colossus gegenüber als seine “Mistress” ausgibt, um Informationen mit ihr zu tauschen. Die große Verschwörung gegen Colossus schlägt jedoch abermals fehl und der Superrechner richtet seine Atomraketen nun auf die noch nicht von ihm kontrollierten Gegenden der Welt aus, um auch diese zu unterwerfen. Sein Argument: Er bringt der Menschheit den Frieden und ihr kann es schließlich egal sein unter welcher Zwangsherrschaft sie in Frieden lebt.
“Colossus” greift nicht nur Filme wie “War Games” mehr als ein Jahrzehnt vorweg, sondern bildet auch einen hoch interessanten Gegenpol zum kürzlich gesehenen “Demon Seed”. Dieses Mal sperrt der Computer jedoch nicht ein, sondern aus. Und wieder wird versucht mit Hilfe der Differenz künstlich<>biologisch Differenz zu behaupten, denn es ist der Sex, von dem sich der Computer freiwillig aussperren lässt. Mehr noch: sein kühler Kamerablick wandert die Körper zwar ab, kann die besondere Faszination der geschlechtlichen Anziehung jedoch nicht nachvollziehen. Seine Potenz liegt in der kühlen Aritmetik der Macht. Doch Sex steht der Macht nicht entgegen, sondern ist eine Funktion von ihr. Hätte Forbin das gewusst, hätte er einige Menschenleben weniger verschwendet.
#292
Geschrieben 14. Juli 2008, 09:25
Auf einer Missionsreise in den Osten, deren Ziel es unter anderem war, denm Einheimischen die große Filmkunst Kims nahezubringen, habe ich nach langer Zeit endlich wieder einmal "Bin-jip" sehen können. Und wie zuletzt oft, hat mir meine vertiefte Beschäftigung mit den Point-of-View-Theorien auch hier wieder neue Einsichten gebracht.
Dass es sich bei "Bin-jip" um einen Film handelt, der den Zuschauerblick mobilisiert, hatte ich ja bereits in früheren Überlegungen angedeutet. Die Frage, wer denn eigentlich den Unsichtbaren sieht und was der Unsichtbare selbst sieht, ist jedoch diffiziler. Kims Film bereitet seine Zuschauer auf das Unsichtbarwerden des Protagonisten langsam vor, indem er deren Blick zum Verbündeten des schweigenden Paares macht. "Bin-jip" erzählt seine Geschichte deshalb so ausschließlich in Bildern, weil er auf der Suche nach einer optischen "praloe" ist, die die Trennung zwischen dem Zuschauerraum und dem Filmraum aufzulösen vermag. Diese Auflösung kann nicht durch die Sprache stattfinden, sondern benötigt einen Vektor, der in die dritte Dimension (also quasi nach vorn in Richtung der Leinwand) vordringt. Und das ist unser aktiver Blick, der - anders als unser Sprechen - im filmischen System mitgedacht und eingeplant ist.
Zum Ende von "Bin-jip" sind wir immer noch die Komplizen des Paares, denn wir können sehen, was im Filmraum (außer den Liebenden) sonst niemand mehr sieht. Dass Tae-suk nur noch von seiner Geliebten und von uns gesehen wird, liegt daran, dass er ganz Blick geworden ist. In seiner Gefängniszelle hat er geübt zu verschwinden, und das heißt im Film: Den Filmraum zu verlassen und dabei die Gesetze der (Filmraum)Physik zu beugen. Für uns wird das dadurch kenntlich gemacht, dass irgendwann nur noch eine subjektive Kamera da ist, die uns (s)einen Blick präsentiert, aber es im Gegenschuss nichts mehr zu sehen gibt, dass blickt und angeblickt werden kann. Der Gefängniswärter ist nicht nur deshalb so verdutzt und wütend, weil sich Tae-suk vor ihm versteckt, sondern auch weil seinem Blick/Schuss kein Zurückblicken/Gegenschuss mehr folgt.
#293
Geschrieben 14. Juli 2008, 09:56
Der Film verliert seine Faszination einfach nicht. Selbst nach wiederholtem Sehen gibt es immer noch dieses Ungewisse, diese Leerstellen, die sich nicht mit Sinn füllen wollen und deshalb jenes dunkle Glühen erzeugen, an das ich immer denke, wenn ich an "Donnie Darko" denke. Dass der "Director's Cut" versucht dieses Glimmen zu löschen, habe ich bereits geschrieben - es gelingt ihm jedoch genauso wenig, wie es der "offiziellen Interpretation" des Regisseurs gelingt. Nicht nur zerschneidet Ockham's Razor derlei Nonsense in tausend kleine Stückchen, auch vernachlässigt ein derartiges (Z)Erklären des Films, welches die emotionale Ebene so völlig außer Acht lässt, damit ein wesentliches Merkmal von "Donnie Darko".
Mir war "Donnie Darko" immer schon wie ein Blick in die Vergangenheit des Jahres 1988 vorgekommen, bei dem der Blick selbst erst die Vergangenheit erzeugt. Der Eindruck einer "Metalitätsstudie" ex post hat sich auch beim erneuten Sehen wieder gefestigt. Man muss sich bloß einmal die Unterschiede zwischen Gary Jules' und Tears for Fears' "Mad World"-Versionen anhören, um den Kontrast zwischen historischem Vergangenem und gefühltem Vergangenen zu bemerken. "Donnie Darko" ist ein melancholischer Film im allerbesten Sinne.
#294
Geschrieben 14. Juli 2008, 10:16
Etwa fünf Jahre ist es her, dass ich Paul Austers Film zum ersten und bislang einzigen Mal gesehen habe. Ich habe den Film überhaupt nicht gemocht, was ich heute gar nicht mehr verstehen kann (auch, weil ich es damals kaum begründet hatte).
“Lulu on the Bridge” erzählt eine Variante der Sunset-Boulevard-Geschichte, die sich ähnlich auch in “The Last Temptation of Christ”, “American Beauty”, “Donnie Darko” und vielen anderen Filmen wiederfindet: Es ist die Geschichte eines Sterbenden, der beim Sterben sein Leben überdenkt, Alternativen imaginiert, korrigiert, umerzählt und ein anderer Mensch wird. “Getriggert” wird dieser Prozess durch das von ihm, Izzy (Harvey Keitel), kurz vor seinem Tod gesehene: Ein Bild von Luise Brooks, ein von der Zimmerdecke herabfallender Mörtel-Brocken, … Daraus baut er sich eine mysteriöse Lebens- und Liebesgeschichte, in der eine Frau sein ganzes Denken und Fühlen bestimmt. Auch diese Frau gibt es außerhalb seiner imaginierten Welt, doch er begegnet ihr nie - erst als er gestorben im Krankenwagen um eine Straßenecke gefahren wird, steht sie da, blickt traurig hinterher und bekreuzigt sich. (Wie ähnlich das doch zur Liebesgeschichte in “Donnie Darko” ist!)
Damit unterminiert der Film jeden rationalisierenden Erklärungsversuch, der - wie oben angedeutet - das Imaginierte nur als Traumerzählung mit Fragmenten aus der Realität des Alltags zu interpretieren versucht: Die Frau ist ein Faktum, dass sich in der Zeit rückwärts in die Sterbegedanken schiebt. Sie ist Realität und damit eben jene Hoffnung, die zuletzt der Pandora’schen Büchse entweicht; eine Hoffnung darauf, dass eine Liebeserzählung auch durch den Tod nicht beendet werden kann.
Warum mir damals dieser metaphysische Zugang zum Film versperrt gewesen ist, weiß ich wirlich nicht mehr. Mira Sorvino hingegen mag ich noch immer (und bin froh, dass Juliette Binoche die Rolle nicht übernommen hat):
#295
Geschrieben 17. Juli 2008, 09:00
Dass städtezermalmende Riesenmonster wie Godzilla als Sinnbilder für die atomare Zerstörung/Bedrohung der Zivilisation gelesen wurden und werden, ist ein interpretatorischer Gassenhauer. Aber immerhin einer, dem sich auch die Macher von “Cloverfield” nicht entziehen mochten. Denn als Produzent J. J. Abrams mit seinem kleinen Sohn Tokyo besuchte und dort einen Laden mit Godzilla-Spielzeug entdeckte, kam ihm sofort der Gedanke, dass Amerika auch solch ein lebendig gewordenes Sinnbild für den Untergang bräuchte. Immerhin hatte man als Anlass ja den 11. September 2001. (Christians Frage nach der kultur-kathartischen Funktion von postapoklayptischen Fiktionen ist also keinesweg unplausibel.)
Schon der Titel “Cloverfield”, der ursprünglich ein Codename für das Film-Projekt war, erinnert an die blumigen Euphemismen, mit denen die US-Amerikaner in den 1950er und -60er Jahren ihre Atombombentests betitelten (”Crossroads“, “Greenhouse“, “Redwing“, …) Der Film selbst, dessen Produktion wohl unter ähnlich strikten Geheimhaltungsregeln abgelaufen ist wie die Filmaufnahmen jener Atombombentests, codiert seine Holocaust-Metapher überaus wirksam: Ein seltsam entstelltes, in seiner Anatomie mit nichts aus der irdischen Fauna vergleichbares Riesenmonster verwüstet Manhattan. Die wenigen Male, die man es zu Gesicht bekommt, verursachen den Eindruck, dass es - wie Godzilla - selbst das Ergebnis atomarer Strahlung sein könnte. In Filmen wie “Them”, “King Kong” und anderen (die angeblich sogar mit einkopierten Einzelframes in “Cloverfield” “zitiert” werden) war der Riesenwuchs ebenfalls schon immer beides: Ergebnis der Bedrohung und Bedrohung selbst. Der Spezialeffekte-Designer hat sich die Frage gestellt, welche Motivation und welches Verhalten solch ein Lebewesen haben müsste, um eine derartig irrationale Zerstörungsorgie zu entfalten. Das Ergebnis seiner Überlegungen ist ebenso überraschend wie plausibel: Sein Monster sollte sich verhalten wie ein Neugeborenes, das sich völlig desorientiert in einer ihm fremden und feindlichen Umgebung wiederfindet und vor allem von einem Gefühl getrieben wird: Angst. Das Cloverfield-Monster ist also in Wirklichkeit keine kalkuliert zerstörende Invasionsmacht, sondern ein “Little Boy”, der alles unterschiedslos dem Erdboden gleichmacht.
Und ebenso schlägt das Monster auch in die Stadt ein. Die Frage einer Protagonistin, ob das wieder ein Terroranschlag sei, wird schnell verneint: Wir sehen es sich zwischen den Hochhäusern bewegen und eine andere Protagonistin will es sogar dabei beobachtet haben, wie es Menschen frisst. Zudem produziert das Monster Spaltprodukte, mannsgroße insektenartige Abkömmlinge, die die gesamte Stadt infiltrieren und sie unbewohnbar machen. Ein Biss von ihnen reicht und man zählt zu denjenigen, die von der Gruppe der Überlebenden isoliert werden müssen, weil man nun selbst zur Gefahr wird. Biologischer Fallout.
Welchen Wert besitzt eine derartige Überdeterminierung zumal, wenn (eine) ihre® Interpretation(en) von den Machern des Films gleich mit gestreut wird? Ist “Cloverfield” deshalb als Horrorfilm wirkungslos? Wirkungsloser als andere Filme, die dem Grauen keinen menschlichen Namen geben (etwa Scotts “Alien”)? Ich glaube kaum. Vielmehr ist es diese Überoffensichtlichkeit selbst, die die Angst erst schürt. Die Unausweichlichkeit des Wissens, das sich mit dem Vorwissen aus Film- und Militärgeschichte paart: Eine Bedrohung, die klar und deutlich und absolut unabwendbar ist. Die Frage, die “Cloverfield” angesichts dieser Offensichtlichkeit stellt, ist, wie sich die Menschen zu ihr verhalten. Dass die ersten 20 Minuten des Films damit vergehen, dass das “rein Soziale” gezeigt wird - eine Abschiedsparty mit allen menschlichen Facetten - macht es deutlich: Hier sprengt das Monster ein Gefüge, von dem immer behauptet wurde, dass es umso fester zusammenwächst, je größer die Bedrohung von außen ist. Für den Atomkrieg, das zeigen auch die anderen postnuklearen Filme, gilt das nicht mehr. Und die Sprengkraft des Monsters zerschneidet dieses Gefüge ebenso nach Belieben und das, was davon übrig geblieben ist, wird im verzweifelten Versuch der Katastrophe Herr zu werden (”Hammer Down Protocol”) eingedampft.
Was übrig bleibt, sind die Medien. In der lange Geschichte des atomaren Holocausts im Film waren sie oft die ersten Zeugen und Indikatoren und die letzten Garanten für Zivilisation - solange noch jemand da war, der etwas mit ihnen anfangen konnte. (Der Film “Cloverfield” gibt vor, ein Archivband des US-amerikansichen Militärs zu sein. Das ist vielleicht der einzige, etwas fade Trost: Es gibt nach dem Monster immer noch ein Militär, das sich dagegen rüstet. Und wir sind die Überlebenden.) In der medialen Rückversicherung liegt auch hier die Hoffnung. Und diese Hoffnung wurde auf etlichen Ebenen gestreut: Kaum ein Film war von einem derartigen Medienrummel begleitet wie “Cloverfield”. Das virale Marketing, die gefakten Paratexte - alles Vorbereitung auf den Weltuntergang(sfilm). Wenn wir uns nur ein Bild davon machen können, ist er vielleicht nicht mehr so schlimm. Und das schließlich ist der Sinn postapokalyptischer Filme - ja von Film überhaupt -: ein Bild zu machen von dem, was man normalerweise nicht sieht, nicht sehen will oder nicht mehr sehen kann.
"Whatever it is. It wins."
#296
Geschrieben 17. Juli 2008, 09:01
Ein sehr schöner Abschlussfilm für die “First-Person-Movies”-Übung, weil er - quasi kathartisch - noch einmal eine alternative Blickperspektive bietet, deren Auflösung nicht so verwirrend und/oder schmerzhaft ist, wie die vieler zuvor diskutierter Beiträge. Wir sind hier immerschon mit dem Geisterblick verbündet, die reale Welt erscheit und als Grusel. Amenábar kombiniert geschickt Elemente der Gothic Novel mit seichten Andeutungen an medienontologische Diskurse, um dieses invertierte Schauermärchen zu präsentieren. Das Fotophänomen Geist tritt verdoppelt auf: Die Fotografien der Leichen im “Buch der Toten” als Barthes’sche Vergangenheitvergegenwärtigungen und die lichtempflindlichen Kinder (”Photophobia” nennt Amenábar das: “The Light will kill them.”), die - wie latetente Fotografien - in einem Zwischenstadium existieren, weder richtig fort noch richtig da. Eine schöne Metaphorik für den Geisterfilm überhaupt: “The world of the dead get’s mixed up with the world of the living.”
#297
Geschrieben 17. Juli 2008, 12:43
Die Vielfältigkeit der Beiträge ist einerseits der Internationalität ihrer Regisseure geschuldet, die oft die in ihren Heimatländern je sepzifische Kinosituation in den Filmen reflektieren. Wir lernen großartig ausgestattet Kinos in westlichen Metropolen kennen, kleine heruntergekommene Vorführsäle an den Stadträndern oder in Dörfern, aber auch Behelfs-Kinos, die lediglich aus einem aufgespannten Betttuch bestehen und einem Projektor, der von launischen Vorführern betrieben wird. Es gibt Episoden, die spielen im Kino, während der Vorführung, dann welche, die ds GEschehen vor dem Kino zeigen, dann welche, in denen nur von Kino gesprochen wird. Andererseits ist es aber natürlich auch die spezifische Handschrift eines jeden der 36 Filmkünstler, die sich in die Werke einschreibt. Dass die Filme von Cronenberg, den Coens, David Lynch oder Roman Polanski eher skurril sind, andere dafür, wie der Wong Kar Wais oder Theo Angelopoulos’ eher sentimental, dritte wiederum, wie der Wim Wenders’ aufrüttelnd - das ist gerade der Wert einer solchen Kurzfilmsammlung. “Chacun son Cinéma” ist ein Geburtstagsgeschenk für Cannes, das besser kaum zu denken wäre: abwechslungsreich, amüsant, kritisch, tiefsinnig und verliebt.
mehr: F.LM
#298
Geschrieben 22. Juli 2008, 12:16
Zunächst verkauft sich “Jumper” als eine Mixtur aus Coming-of-Age-Geschichte, Freud’schem Familienroman und Bebilderung adoleszenter Hybris. David ist auf der Suche nach sich selbst, auf der Suche nach seiner Mutter (ein etwas stiefmütterlich gehegter Seiten-Erzählstrang) und dann auf der Suche nach seinem symbolischen Über-Vater Roland, an welchem er sich zu beweisen hofft. Das Drehbuchautoren-Dreigespann packt also alles in seinen Film, was angeblich eine psychologisch plausible Entwicklungsgeschichte ausmacht. Zeit bleibt den Autoren allerdings nicht, alles auszuführen. So entstehen die bereits erwähnten Lücken im Text, über die der Film durch seine Schauwerte hinweg zu springen versucht. Es ist das Wesen des mit dem Filmtitel namensverwandten Jump-Cuts, Dinge wegzulassen, die für den Erzählfortgang nur rudimentär von Interesse sind. Der Jump-Cut ist für den Bilderfluss des Films das, was die Ellipse in der Rhetorik der Erzählung ist - mit dem selben Effekt: Straffung, Beschleunigung und ein gewisses Maß an Selbstreflexivität. Denn immer dann, wenn gesprungen wird, wird der scheinbar kontinuierliche oder durch die unsichtbare Montage gekittete Erzählfluss unterbrochen und der Film weist auf sich selbst als Zeitmaschine hin. Dass “Jumper” nun diese Sprünge vollführt und zudem noch narrativ verdoppelt, ist ein nettes Bonmot - den Film als erzählendes Artefakt rettet das jedoch zunächst genauso wenig, wie Millies flapsiger Kommentar, David könne “den uninteressanten Teil weglassen”, als die beiden sich nach einigen Jahren wiedertreffen und sich erzählen, wie es ihnen zwischenzeitlich so ergangen ist.
mehr: F.LM
#299
Geschrieben 22. Juli 2008, 12:20
Ein Italo-Kracher aus den 80ern mit Adriano Celentano. Auf welch unbefangenem Witzverständnis der Film beruht, lass ich ihn am besten selbst erzählen:
#300
Geschrieben 24. Juli 2008, 16:20
Wie oft habe ich diesen Film nun schon gesehen? Einer der Lieblingsfilme meiner Jugend - warum, weiß ich heute gar nicht mehr so genau: Die melodramatische Liebesgeschichte wird es nicht gewesen sein, der tolle Giorgio-Moroder-Soundtrack (mit den vielen Boy-George-Titeln) schon eher. Bestimmt aber war es das Thema Computer, das mich besonders fasziniert hat. Anno 1986, als ich “Electric Dreams” wahrscheinlich zum ersten mal gesehen habe, habe ich gerade denselben Traum geträumt. Meinen ersten eigenen Home-Computer habe ich 1984 bekommen, einen TRS-80-Clone. Nach dem Umzug in eine größere Stadt bin ich dann fast täglich zu einem der Elektro- und Hifi-Händler gegangen, der eine stattliche Anzahl Home-Computer im Angebot hatte. Ich erinnere mich an einen MSX-Rechner von Sony, einen Commodore C-16, einen Sinclair Spectrum und den Atari 800 XL - letzerer wurde im selben Jahr dann auch meiner.
Aber zum Film: “Electric Dreams” ist die freundliche Version der Electronic-Home-Invasion, zumindest die, die mit einem Happy End ausgeht. Miles Harding (Lenny van Dohlen - später großartig in “Twin Peaks”) kauft sich einen Homecomputer, weil angeblich jeder einen haben muss. Miles’ Welt ist bereits vollständig elektronisch überwacht. In seiner Firma, an der Straßenecke, am Flughafen, im Computerladen … überall Überwachungskameras und überall Computer. “Electric Dreams” bereitet sein Thema also gründlich vor. Miles beginnt sofort nach dem Aufbau des Rechners, diesen mit Steckeradaptern an seine Haushaltsgeräte anzuschließen, installiert ein computergesteuertes Türschloss, besorgt sich am nächsten Tag Audio-Equipment und einen Akustikkoppler. Der Computer hat nun - im besten Sinne - die Kontrolle über seine Privatsphäre übernommen. Fatalerweise begießt Miles ihn, nachdem er den Rechner mit einem Data-Overload beinahe zur Explosion gebracht hat mit Sekt (hier erscheint das fantastische Element: Mein Bruder hat meinen TRS-Clone mit Cola begossen - da ist nichts derartige passiert, die Tasten waren nur für alle Zeit verklebt) um ihn abzukühlen. Dadurch geschieht irgend etwas mit den Platinen des Rechners und der Rechner erwacht zum Leben. Er lernt musizieren, sprechen und will schließlich die Stelle Miles’ als Freund der schönen Nachbarin Madeline (Virginia Madsen - im selben Jahr großartig als Prinzessin Irulan in Lynchs “Dune”) einnehmen. Es kommt zum finalen Konflikt, an dessen Ende der Computer einsieht, dass er kein Mensch sein kann und sich selbst zerstört.
Der Computer nennt seinen Besitzer aufgrund eines Tippfehlers nicht Miles sondern “Moles” und die Vertauschung I/O wird gleich auf mehreren Ebenen sinnfällig. I/O ist auch eine gängige Abkürzung in der eletronischen Datenverarbeitung für Input-Output. Mittels der I/O-Verfahren kommuniziert der Computer mit seiner Umwelt, das heißt, mit seiner Peripherie. Seine virtuell-räumliche Existenz (der Computer in “Electric Dreams” baut fantastische virtuelle Räume auf seinem Monitor) wird durch die I/O-Technologien auf den Realraum, sprich: Miles’ Wohnraum, ausgedehnt. Indem der Computer die Fähigkeit bekommt, seine Existenz weiter in den realen Raum auszudehnen, wird er zum Konkurrenten, zur Gefahr.
Es mag 1984 eine nicht selten anzutreffende, landläufige Angst gewesen sein, dass Computer derartige Macht besitzen oder erlangen könnten. Die zuvor diskutierten Filmbeiträge haben eine ganz ähnliche Tendenz wie “Electric Dreams”. Doch überwiegt hier bereits der spielerische, ja, kreative Aspekt: Der Computer wird nicht länger dazu benutzt, Atomraketen zu kontrollieren (Colossus) oder Türen zu öffnen und das Licht auszuknipsen (Demon Seed). Sein kreatives Potenzial wird genutzt: Er komponiert Liebeslieder, entwirft architektonische Gebilde und vor allem: er lernt aus den Massenmedien, also von den Menschen selbst. Diese Fähigkeiten machen ihn zunächst zu einem Freund, zumindest aber zu einem Partner auf Augenhöhe. Seine Macht ist begrenzt: Er kann Miles zwar die Kreditkarten sperren lassen und ihn in der Oper blamieren, wirklich bedrohen kann er ihn außerhalb seiner peripheren Reichweite jedoch nicht. Und verführbar ist er ohnedies: Er lässt sich durch seltsame Geräusche ablenken und ist empfänglich für Schmeichelein. “Electric Dreams” ist also eher ein Film der 1984 sich langsam etablierenden Computer-Kid-Generation. Ein Film für diese Kids vielleicht, aber mit der Konzentration auf die Liebesgeschichte vielleicht eher noch einer für die älteren Zuschauer, diejenigen, die selbst genug Geld haben, sich einen Computer ins Haus zu holen.
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