The retina of the mind's eye
#361
Geschrieben 28. November 2008, 09:54
“Peliculas para no dormir”, als “Filme, um nicht einzuschlafen” bzw. “nicht schlafen zu können” heißt die kleine TV-Reihe mit spanischen Gruselfilmen, von denen jetzt zwei auf Blu-ray-Disc bei e-m-s erschienen sind. Ich habe mir Balagurós 69-Minütigen Beitrag gestern angesehen und war wirklich platt. “Para entrar a vivir” erzählt von einem Pärchen, das eine neue Wohnung sucht und aufgrund einer obskuren Anzeige am Stadtrand in einem eher baufälligen Mehrfamilienhaus einen Besichtigungstermin mit einer Maklerin vereinbart. Die stellt sich schnell als psychotische Hausbesitzerin heraus, die ihr Haus, das von der Stadt als unbewohnbar erklärt wurde, wieder mit Mietern füllen will - egal ob diese Mieter das wollen oder nicht.
Geradezu schwindelig ist mir mehrfach beim Schauen geworden. Nicht nur vom Thema, auch von der Bildgestaltung her ist "Para entrar a vivir" eine Art Vorstudie zu "Rec". Hier ist es zwar kein diegetischer Kameramann, der die Bilder erzeugt, aber die Kamera ist dennoch ganz wesentlich an der Affektproduktion beteiligt: Häufig zittert sie, dass das Bild wie durch ein Erdbeben erschüttert wird - aber nie stark genug, dass man - wie in "Rec" - den Überblick verlöre, sondern stets so, dass man sich fragt, ob es vielleicht der eigene Blick war, der für einen Moment außer Kontrolle geraten ist. Die überaus böse Story in Verbindung mit dieser Affekt-Strategie machen Balaguerós Beitrag zur Reihe zu einem bemerkenswert schlüssigen und innovativen TV-Film.
Ich hoffe, e-m-s entschließt sich auch dazu, die anderen vier Filme der Reihe zu veröffentlichen.
#362
Geschrieben 28. November 2008, 14:15
Zusammen mit dem Western "Whity" ist dies Fassbinders wohl klarste Genre-Arbeit und sein einziger Science-Fiction-Film. Er erzählt in über 200 Minuten die Geschichte des Informatikers Fred Stiller, der die Nachfolge seines Freundes Henry Vollmer in einem "Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung" antritt. In diesem Institut wird ein neuartiger Supercomputer mit dem tollten Namen "Simulacron" betrieben. Dieser erzeugt eine künstliche Welt, in der bereits fast 10.000 simulierte Menschen leben. Um diese Menschen und ihre Aktionen so realistisch wie möglich zu gestalten, ist ein Betriebspsychologe mit dem Entwurf ihrer mentalen Eigenschaften beschäftigt. Henry Vollmer, der das Projekt zuvor betreut hat, scheint eine seltsame Entdeckung gemacht zu haben, die ihn zuerst den Verstand und dann das Leben gekostet hat. Weil Stiller einer der letzten war, die Vollmer lebendig gesehen haben, gerät er in den Kreis der Mordverdächtigten.
Als Stiller mit dem Schwager Vollmers, der ebenfalls bei dessen Tod zugegen war, auf einer Party ein Gespräch über das Geschehene führen will, verschwindet der Mann plötzlich. Am nächsten Tag will sich niemand auch nur an die Existenz des Mannes erinnern können und auch der Tod Vollmers scheint in Vergessenheit geraten zu sein (ist später sogar aus den Zeitungen, in denen er zuvor auf Seite 1 stand, verschwunden). Langsam glaubt Stiller an eine Verschwörung, bis er feststellt, dass ein "Avatar" Vollmers in der künstlich erzeugten Welt von "Simulacron" existiert. Er begibt sich mit Hilfe einer Schnittstelle, einem Datenhelm, ebenfalls in die simulierte Welt und kontaktiert dort Einstein, den einzigen Avatar, der um seine Virtualität weiß. Einstein gelingt kurz darauf die Flucht aus der Simulation. Er trifft außerhalb von "Simulacron" auf Stiller und verrät diesem, dass auch seine Welt lediglich eine Simulation ist. Nun ergibt der Tod Vollmers und das Verschwinden des Zeugen plötzlich einen Sinn: Derjenige, der die Welt Stillers kontrolliert, wollte Indizien, die auf ihre Künstlichkeit hindeuten, verwischen. Vollmar war der Entdeckung der Künstlichkeit seiner Existenz jedoch zu nahe gekommen und wurde "wegprogrammiert" (Zitat).
Mit diesem Wissen begibt sich Stiller auf die Suche nach einem Kontakt-Avatar, um nun ebenfalls seine Simulation verlassen zu können. Er entdeckt diesen in der mysteriösen Eva Vollmer, die sich als Nichte des Ermordeten und Tochter des Verschwundenen Zeugen ausgibt, in Wirklichkeit aber aus der Realität stammt und Stiller mit zu sich nehmen will, weil sie sich in ihn verliebt hat. Mit einem Trick gelingt es ihr, Stillers Geist (ganz ähnlich wie es Einstein auch gelungen war, die Simulation in der Simulation zu verlassen) in den Körper des ohnehin wahnsinnig gewordenen Programmieres der Simulation zu transferieren.
Eine vertrackten Handlung, die dem Zuschauer der 1970er Jahre nicht wenig Imaginationsfähigkeit abverlangt haben dürfte. Nicht nur ist Erzählung recht abstrakt, Fassbinder hält sich auch mit der Inszenierung von Technologie sehr zurück. Ab und zu werden Server-Räume gezeigt und eine Videowand, die Szenen aus der Simulationswelt zeigt. Diese sind an ihrer Farbarmut (im Vergleich zur simulierenden Welt) zu erkennen. Der Unterschied dieser Simulation wiederum zur richtigen Welt ist optisch jedoch nicht so deutlich markiert, um dem Zuschauer nicht vorab zu verraten, dass etwas nicht stimmt.
Ein weiterer mentaler Anker für den Zuschauer ist die Diskursivierung der Simulation. Die Charaktere sprechen von ihren Welten in den Kategorien "oben" (realere Ebene) und "unten" (simuliertere Ebene). Dies hat "Welt am Draht" mit Filmen wie "Tron" gemeinsam. Zugleich wird damit über das interessante topologische Denken von Wirklichkeit(sstufen) auch eine metaphysische Ebene berührt. Bereits bei "Tron" war die Welt "oben" ja eine Götterwelt der "User". Diese wurden wie allmächtige und allgütige Götter angebetet. Bei Fassbinder sind die User jedoch "Teufel" im Wortsinne: Verwirrer und Durcheinanderwerfer. Sie konstruieren Realitäten und basteln Bewusstseine, die sich über ihren Status nicht sicher sein können und ständig von "Wegprogrammierung" bedroht sind.
"Welt am Draht" ist natürlich kein schnöder Verschwörungsfilm, sondern transzendiert sein Thema auf eine philosophische Ebene. Stiller beginnt recht bald Platons und Aristoteles Ideenlehre zu durchdenken und mit seiner Situation zu vergleichen. Der Descarte'sche Zweifel, der an ihm nagt, wird zudem mehrfach ethisch umgedeutet: Zum einen wird die Frage aufgeworfen, ob "Avatare" mit derartig ausdifferenzierten Bewusstseinen überhaupt noch "Mittel zum Zweck" sein dürfen, oder ob dies nicht (das wird nicht wörtlich gesagt, aber gemeint) dem Kant'schen Menschenbild der Aufklärung widerspricht. Zum anderen steht natürlich das Problem der "Möglichkeit" im Raum: Wie autonom ist der Mensch noch gegenüber Maschinen, die, wie "Simulacron", den "Sprung zum autonomen Computer" (Zitat!) bereits getan haben?
Die Anknüpfungspunkte an die Literatur- (Orwells 1984 und das Thema der Vergangenheisänderung) und Filmgeschichte sind natürlich vielfältig. Ideen aus "Welt am Draht" finden sich in Filmen wie "Avalon", "Dark City", "Matrix" und etlichen anderen Computer- und Gesellschaftsdystopien wieder. Dass Fassbinder zu einer Zeit, als Computer noch weitgehend unbekannte Maschinen waren, bereits ein solch treffsicheres Gespür für deren technologische und gesellschaftliche Bedeutung und die durch sie erzeugten Ängste hatte, verdeutlicht einmal mehr das Genie, das er war. Erwähnenswert ist überdies noch die Kameraarbeit Michael Ballhaus', der das Problem der Identität wieder einmal treffend durch die mise-en-scène (Spiegel, horizontale und vertikale Bildaufteilung) dekliniert und der Soundtrack Gottfried Hüngsbergs, der klassische Themen und Stücke mit einer sehr befremdlichen Synthesizier-Musik kombiniert. (Das hat mich teilweise an das ein Jahr zuvor veröffentlichte Debüt-Album "Irrlicht" von Klaus Schulze erinnert.)
#363
Geschrieben 28. November 2008, 15:27
Wie hat man sich einen Computer vorzustellen? Nicht die äußere, graue Plastikbox und den Bildschirm mit den Zeichen darauf, sondern sein Innenleben, die elektrischen Prozesse, das Abarbeiten der Programme. Welche Bilder sind für die abstrakten Metaphern des Programms, der Schnittstelle, der Datei überhautp angemessen? Diese Frage beantwortet das Walt-Disney-Studio 1982 durch totale Anthropomorphisierung.
"Little Computer People" sind es, die den Computer im Film bevölkern. Dieser Computer ist die zentrale Recheneinheit der Firma "ENCOM", die seit kurzem von einem "Master Control Programm" beherrscht wird. Das MCP ist ein betriebssystem-artiges Meta-Programm und überwacht die Funktionen aller anderen Prozesse im Rechner - vor allem aber die Schnittstellen, mit denen Daten in den und aus dem Computer in die Welt gelangen. Zwei Dinge werden nun zum Problem für das MCP: 1. Der Firmenangestellte Alan, der ein Programm mit dem Namen "Tron" entwickelt hat, das als einziges unabhängig im System agiert und sogar das MCP überwachen kann. "Tron" ist ein Monitorprogramm, ein "Tracer" (vgl. den BASIC-Befehl "TRON - Trace On") und damit ein virtueller blinder Fleck im allwissenden Auge des MCP, der die Entlassung Flynns und die Stillegung des "Tron"-Programms veranlasst.
Das zweite Probleme ist der Hacker Flynn, der einst Angestellter von ENCOM gewesen ist, bis die Firma ihn mit einem Trick um eines seiner lukrativsten Projekte betrogen hat: Ein Videospiel namens "Space Paranoids". Die Wahrheit über den Urheber des Spiels ist noch irgendwo im System verborgen und so entschließen sind Alan, Flynn und ihre Freundin Lora, nachts bei ENCOM einzubrechen und in den Computer einzudringen. Der MCP ist jedoch gewappnet, digitalisiert über eine neueartige, experimentelle Schnittstelle Flynn und "saugt" ihn in den Computer. Dort sieht er sich der despotischen Willkürherrschaft des MCP ausgesetzt. Programme aller Art, die den Glauben an ihren "User" nicht freiwillig aufgeben wollen, werden interniert und in einer elektronischen Arena von Gladiatoren in Videospielen vernichtet. Als Flynn sich als User zu erkennen gibt, brechen die Programme Tron und Yori (ein Programm Loras) zusammen mit ihm aus, um zu einer Schnittstelle zu gelangen, von wo sie einen Code Alans in Empfang nehmen, der die Herrschaft des MCP entgültig beendet.
Ich habe den Film zum ersten Mal in der Originalfassung gesehen und war erleichtert, dass die meisten Albernheiten tatsächlich der deutschen Synchronisation zu verschulden gewesen sind. (Vor allem die Stimme des "Bit", das Flynn eine zeitlang begleitet, wäre hier zu erwähnen: in der deutschen Fassung eine plärrende Kinderstimme, in der Originalfassung ein blechern klingender elektronischer Sound). Das bereits erwähnte Projekt des Films, die Anthropomorphisierung und damit Sichtbarmachung elektronischer Prozesse, wird auf großartige Weise umgesetzt. Halb Computer- und andere Animation, halb Realfilm entführt "Tron" den Zuschauer ein eine "unheimliche" Welt. Unheimlich im Freund'schen Sinne als etwas sehr vertrautes und doch fremdes, denn diese Welt ähnelt in Strukturen und Aussehen der unsrigen. Im Computer ist eine kleine Stadt. Abermals werden Straßen, Häuserzüge, Zitadellen und anderes zu Metaphern des Systems und mit Funktionsanalogien zwischen realer Welt und Computerwelt versehen.
"Tron" ist in vielem luzide, beschreibt Formen von Computerkriminalität, die erst zwei Jahrzehnte später real werden. Das Tron-Programm wird mit den Attributen eines Virus versehen, das ACP gibt sich als Firewall. Über dies bedient sich die Geschichte von Flynn und ENCOM technikhistorischen Computergründungsmythen. Es wird von Garagen-Unternehmen, Softwarediebstählen und dem Videospieleboom erzählt. Die Welt im Computer wird mit den farbigsten Begriffen beschrieben: Der MCP beschwert sich etwa bei seinem Haupt-Folterprogramm "Sark": "Programme fliegen mit einer gestohlenen Simulation durch das System!" und als eben diese Programme (Tron, Flynn und Yori) an ihrem Ziel, der Schnittstelle "Dumont" (es ist ein heiliger Berg, zu dem sie reisen und von dessen Gipfel sie einen "Strahl der Wahrheit" empfangen!) angelangt sind, raunt "Dumont" bedächtig: "All that is visible must grow beyond itself, and extend into the realm of the invisible." - Die Umkehrung des Prinzips "Tron".
Screenshots folgen ...
#364
Geschrieben 30. November 2008, 17:50
Don Siegel greift die Kommunisten-Paranoia aus "Die Dämonischen" wieder auf und lässt Charles Bronson erklären: "Being paranoid doesn't mean we're not being followed."
In "Telefon" geht es darum, dass sowjetische Agenten, die in den USA leben, per Telefonanruf aus ihrem "undogmatischen Schlummer" erweckt werden und Attentate auf ehemals kriegswichtige Ziele begehen. Ehemals, weil die Schläfer bereits in den 1950er Jahren (Die Dämonischen!) eingeschleust wurden und Schlummer, weil sie zuvor hypnotisiert wurden, so dass sie gar nichts von ihrem Schläfer-Dasein wissen, bis sie ein ehemaliger Sowjet-Agent, der an ihre Namen und Telefonnummern gekommen ist, sie erweckt. Das tut er, weil er als Stalinist mit der Entspannungspolitik seines Landes nicht einverstanden ist und den dritten Weltkrieg heraufzubeschwören beabsichtigt. Bronson ist ebenfalls russischer Agent, der zusammen mit einer CIA-Kollegin (und Doppelagentin) versucht, das schlimmste zu verhindern.
Dass in "Telefon" ausgiebig telefoniert wird, ist klar. Doch die Telefonate sind eigentlich allesamt problematisch: Die "Weck-Anrufe" erfolgen alle aus nächster Nähe, der Anrufer sieht den Angerufenen (will seine Reaktion sogar beobachten) und könnte ihm also die Erweckungsformel auch zurufen. Die meisten anderen Telefonate gehen in der Zentrale des CIA ein, wo sie sofort mitgeschnitten werden und ihren Charakter als präsente, lebendige Rede damit verlieren. "Ferne" ist in "Telefon" also nur indirekt anwesend: Die Schrifteinblendungen mit Fern-Schreiber-Akustik oder die zahlreichen Beobachtungsaufnahmen mit Tele-Objektiv.
Das zweite, subtilere Thema des Films sind "Frauen". Vorgeführt werden sie uns in zwei Erscheinungsformen: als menschgewordener Computer (eine EDV-Agentin im CIA) und als skrupelbeladene Spionin. Die eine hat ihr Geschlecht verfehlt, die andere ihren Beruf. "Erlöst" werden sie wie im Märchen durch einen Kuss: Die Computer-Frau bekommt für ihre Arbeit von ihrem Vorgesetzten nicht länger verbalen Lob, sondern (endlich) einen Kuss, der sie, die sonst sehr mit und für die Maschine fühlt, sogleich "Hip Hip Hooray" in den Rechner eintippen lässt. Bronson küsst seine Spionin, die ihn eignetlich nach getaner Tat beseitigen sollte und "reprogrammiert" sie damit zur Sexualpartnerin, mit der er sich absetzt.
Bezeichnenderweise führt sie das Kündigungstelefonat für ihn, denn in Gefühlssachen können Frauen wohl (auch fernmündlich) besser kommunizieren.
#365
Geschrieben 01. Dezember 2008, 09:27
Leonards Film, (ganz) frei nach Motiven einer Stephen-King-Kurzgeschichte, ist ein Paradebeispiel für die prognostischen Ambitionen des technokulturkonservativen Science-Fiction-Films, der sogar eine handfeste Drohung enthält. Und dabei fängt alles so neutral formuliert an:
Dr. Angelo kündigt seine Stelle bei einem militärischen Forschungsprojekt, das mit Hilfe computererzeugter Virtual Reality Affen zu Kriegmaschinen umfunktionieren will. Er forscht anstelle dessen weiter in seinem Keller, in dem eine recht beachtliche EDV-Anlage aufgebaut ist. Ab und zu kommt ein Nachbarsjunge und spielt Spiele in der VR. Als Angelo den geistig zurückgebliebenen Rasenmähermann Jobe ebenfalls zu einem Spiel einladen kann, findet er in ihm ein neues Versuchskaninchen: Jobe soll mit Hilfe der VR intelligenter gemacht werden. Das gelingt in beeindruckendem Tempo, so dass sich das Militär bald wieder für die Forschungen Angelos zu interessieren beginnt und ihm anbietet, sie in der wesentlich größeren Anlage fortzusetzen. Der Wissenschaftler nimmt an und beschleunigt damit die Ausbildung Jobes um ein weiteres. Doch insgeheim geben die Militärs der bewusstseinserweiternde Droge, die vor jeder Lerneinheit injiziert werden muss, ein Serum zur Aggressivitätssteigerung bei. Und so wird Jobe nicht nur unglaublich schlau, sondern auch noch unglaublich gemein. Die Entwicklung gipfelt darin, dass er, der PSI-Fähigkeiten entwickelt hat, seine leibliche Existenz aufgeben und fortan im Computernet weiter existieren will, um von dort die ganze Welt zu beherrschen. Leider für ihn und zum Glück für die Menschheit müssen Computer allerdings am Netz angeschlossen sein, um mit ihm interagieren zu können.
In diesem Plot zeigt sich bereits vieles von den Ängsten und Hoffnungen, die mit einer neuen Technologie wie der Virtuellen Realität verbunden sind. Ihr Segen, umweltunabhängiges erfahren und verarbeiten von Informationen, kann schnell zu einem Fluch werden, denn Jobes immer größerer Wissensdrang (”Noch mehr Informationen über alles”, fordert er) ist natürlich auch ein Zeichen für die Sucht aus der Realität in die Virtualität zu fliehen (eine Sucht, die heute sehr gut bekannt ist). In Andeutungen hat sich diese bereits zehn Jahre zuvor in Douglas Trumbulls “Brainstorm” und gezeigt. Hier wie dort ist diese Sucht gekoppelt an eine Technologie, die nicht mehr allein die bekannten Medienrezeptionssinne Auge und Ohr reizt, sondern sich auch der übrigen annimmt. Bei “Brainstorm” ist es vor allem die Empathie-Fähigkeit, die zu einem Kanal erklärt wird, durch den das sensitive wie emotionale “Fühlen” fließen kann. Im “Rasenmähermann” kommen - ermöglicht durch Datenanzüge und -handschuhe sowie eine Körperlagerung mit vom Computer steuerbarer Raumposition - noch sensitive Informationen hinzu. Das “Lernen über mehrere Kanäle” wird hier also in letzter Konsequenz praktiziert.
Das hat Implikationen in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist hier sehr deutlich, wie sehr Strategien der Virtualität eigentlich vor allem ein Ziel haben: den realen Körper. Über diesen soll dann erst der Verstand “angesteuert” werden: “Die virtuelle Realität ist der Schlüssel zur Erforschung des menschlichen Bewusstsein”, ist sich Angelo sicher. Das klingt zunächst paradox, hat aber etliche Entsprechungen im Film. Im Namen des militärischen Forschungslabors “Virtual Space Industries” etwa findet sich bereit die Hybridisierung von Körper, Maschine und Geist. Dem neuen Trend wollen sich allerdings nicht alle anschließen: Während Angelo lieber in seinem Keller “fliegen, schweben, fallen” spielt, macht sich seine amüsierwillige Freundin auf und davon, denn: “Ich brauche die reale Realität.” Doch glaubt man der Prognose des dämonischen Rasenmähermanns, der seine Cyber-Existenz und -Herrschaft vorbereitet, ist es mit solchen realen Realitätsspielchen bald vorbei: “Bis zum Jahr 2001 wird kein Mensch mehr an diesem Netz nicht angeschlossen sein.”
Das herausragendste Merkmal des Films ist die Art und Weise, wie er die Virtuelle Realität inszeniert: mit immensem Einsatz von Computergrafik. Der virtuelle Raum wird in den buntesten Farben geschildert - sowohl, wenn er als Spielplatz dient als auch in seiner Eigenschaft als Schule des Geistes. Und als Jobe letztendlich seine physische gegen eine virtuelle Existenz aufgibt, wird er gar zu einem Metaphern-Raum: Es kommt zum finalen Showdown zwischen ihm und Angelo in einem virtuellen Raum, der offenbar als Kommunikationszentrale gedacht werden muss. Jobe versucht einen offenen I/O-Port nach draußen zu finden, ihm wird der Zu/Ausgang jedoch verwährt. Als Angelo ihn überreden will, dieses Vorhaben aufzugeben, schlägt er ihn ans virtuelle Kreuz (der Film ist nicht arm an kruder Bildsprache: Jobe bezeichnet sich irgendwann selbst als einen “Cyber-Christus”!)
Interessant ist überdies, dass auch hier wieder (wie in “Welt am Draht” und “Tron”) der Eingang in die virtuelle Realität als Abstieg markiert ist. Stets sind es Tunnel und Strudel, die diesen Abstieg visualisieren. Platons Höhlen-Gleichnis ist in Gedankenexperimenten zur virtuellen Realität also so aktuell wie eh und je.
#366
Geschrieben 01. Dezember 2008, 09:45
Ganz zufällig habe ich “One Point Zero” gestern in einer Videothek entdeckt und für 3,50 Euro mitgenommen, weil ich dachte, dass der Film zu meinem “Computer im Film”-Thema eine interessante Ergänzung wäre. Ist er aber nicht, anstelle dessen ist er allerdings ein hoch interessanter und überaus ansprechend gestalteter dystopischer Science Fiction.
Darin bekommt es ein Programmierer mit der Angst zu tun, als im täglich leere Pakete in seiner abgeschlossenen Wohnung abgestellt werden. Zudem häufen sich seltsame Ereignisse in dem Haus, in dem er wohnt: Als er etwa bei einem Nachbarn zu Besuch ist, um dessen SM-Videospiel zu testen, wird dieser Nachbar vor seinen (von einer VR-Brille verdeckten) Augen umgebracht. Eine Krankenschwester, die am Ende des Flurs wohnt, scheint ebenfalls eine mysteriöse Rolle in der Verschwörung zu spielen. Irgendwann wird unserem Helden dann mitgeteilt, dass die Pakete keineswegs leer waren, sondern “Nano-Milben” in der Version 1.0 enthalten haben, die nun durch seinen Körper wandern, Halluzinationen und einen unbändigen Drang nach frischer Milch verursachen. Es kann ihm jedoch durch ein Upgrade von der “Beta-Version” der Milben auf die Version 1.1.5 geholfen werden. Auch das Upgrade funktioniert über Berührung. Kurz darauf brennen ihm dann alle Sicherungen durch und der wahre Verschwörer (ein im Keller lebender alter Mann) sucht ihn in seiner Wohnung auf und baut ihm die “Festplatte” auf: Ob der in der letzten Einstellung des Films zu sehende geöffnete Kopf nun zuvor ein Gehirn oder wirklich eine Festplatte enthalten hat, bleibt unserer Interpretation überlassen.
“One Point Zero” ist ein tolles Beispiel dafür, wie eine allgegenwärtige und selbstverständlich gewordene Technologie (hier: Computer) Tücken entfaltet, mit denen niemand (mehr) rechnet und gegen die deshalb auch niemand gewappnet ist. Selbst als sich die Zeichen einer technologischen Verschwörung so sehr in den Vordergrund drängen, dass man sie gar nicht mehr übersehen kann (der Protagonist erhält etwa andauernd Anrufe von einer ans Internet angeschlossenen Puppe aus einer Nachbarwohnung), sind die Filmfiguren eher noch bereit, sich selbst dafür verantwortlich zu machen: “Vielleicht spielt sich das alles nur in deinem Kopf ab.”
“One Point Zero” ist fast ausschließlich in einem Sepiaton gefilmt. Einzig die wenigen Szenen in dem Supermarkt, wo unser Held sich seine Milch kauft, sind in blendendes Weiß getaucht. Hinzu kommt ein stark desorientierend wirkender Umgang mit Close-ups, die natürlich gleichzeitig die vergrößerten “Dinge” mit Bedeutungen aufzuladen scheinen. “One Point Zeor” ist einer der attraktivesten Filme, die ich in der letzten Zeit zu Gesicht bekommen habe - und das obwoh das, was er zeigt, keineswegs attraktiv ist.
#367
Geschrieben 01. Dezember 2008, 10:13
Die zweite Episode aus dem Kompilationsfilm “Alpträume” spielt tief in den 80ern. Dort ist Emilio Estevez ein Computer-Kid, der berüchtigte J.J. Cooney, der virtuos jedes Automatenspiel beherrscht. Nur die berüchtigte 13. Ebene des Spiels “The Bishop of Battle” hat er noch nicht erlangt. Eines Nachts bricht er in die Arcade-Mall “Game-o-Rama” ein und spielt das Spiel. Am Ende der 12. Ebene angelangt, bricht der Automat in sich zusammen und die Computer-Gegner gelangen in die reale Welt, wo J.J. seinen Kampf gegen sie fortsetzt. Zunächst scheint er zu gewinnen, doch auf der Flucht gerät er in einen Hinterhalt des Bishops, der ihn zu sich ins Spiel zieht.
Man muss beinahe keine Wort über den Subtext dieses Kurzfilms verlieren. Da wächst in den Iden der 1980er-Jahre eine neuen Generation von Jugendlichen heran, die an der Realität keinen Spaß mehr hat. J.J. bekommt Hausarrest wegen schlechter Schulnoten und als die Arcade abends schließen will, versucht ihn seine Freundin zu einem Eisessen zu überreden. So etwas macht er aber schon lange nicht mehr. Er spielt weiter. Doch der Film suggeriert: Das Spiel spielt in Wirklicheit mit ihm. J.J. erliegt dem Immersionseffekt, nichts anderes bedeutet doch sein Surz (abermals: Strudel) in die Spielwelt. Das wird optisch gut vorbereitet: Zunächst sehen wir das Spiel in Draufsicht (und die reale Umwelt um den Automaten). Die Kamera nähert sich dem Bildschirm an, das Spielfeld kippt immer mehr, bis es schließlich in der Wagerechten ist, das hießt: der Film wechselt von einer auktorialen auf eine Point-of-View-Perspektive, vom Überblick auf ein Dabeisein.
#368
Geschrieben 15. Dezember 2008, 15:44
Jahrelang lag er hier ungesehen herum und jetzt, zur Recherche des nächsten Computer+Film-Artikels habe ich ihn endlich einmal gesehen. Darin besucht eine Spiele-Grafikdesignerin mit ihrem Ex-Freund das verlassene Haus ihrer Kindheit. Dort entdecken sie nicht nur etliche Motive der Kindheitserinnerung der Designerin, sondern stoßen auch auf merkwürdige Phänomene. Sie hören, dass jemand außer ihnen im Haus lebt, finden schließlich geheime Räume und dann Leichen. Zuletzt stoßen sie auf die böse Zwillingsschwester der Programmiererin. Das dem „Haunted House“-Horrorfilm entnommene Motiv-Inventar von „St. John’s Wort“ entpuppt sich am Ende allerdings als Videospiel-Plot a la „Alone in the Dark“. Schon die seltsame Farbgebung und Montage des Films hat den Verdacht ausgelöst, dass hier etwas anderes hinter den Ereignissen steht, als das, was die (Schau)Spieler zeigen. Zudem hatte die Designerin schon während des gesamten Films telefonischen Kontakt mit den übrigen Entwicklern, die ihr einmal sogar einen schnell entworfenen (!) Grundriss des Hauses zumailen und auch sonst einiges wissen, was sie nach den „Gesetzen der Realität“ gar nicht wissen konnten. Am Ende löst sich dieses Rätsel, als alle gemeinsam vorm Monitor sitzen und sich zum gelungenen fertigen Spiel gratulieren – zu dem die Designerin sogar noch ein alternatives Ende beisteuert. Alles war nur ein Spiel und wir – die Zuschauer – haben geglaubt es sei ein Spielfilm.
#369
Geschrieben 15. Dezember 2008, 15:44
Drei mal ist Kafkas “Proceß”-Roman laut imdb bislang filmisch adaptiert worden - “Das Schloß” sogar sieben und “Die Verwandlung” acht mal. Es muss also etwas besonderes in der Prosa Kafkas sein, dass seine Stoffe immer wieder begehrt für die Kinoleinwand sind. Dieses Phänomen war auch Gegenstand der Seminar-Sitzung “Literaturverfilmung”, in der ich in der vergangenen Woche meinen Chef vertreten durfte.
Schaut man sich Welles’ Film an, sieht man sehr deutlich, dass dieses Interesse der Filmindustrie an den Kafka-Stoffen nicht allein im “Kafkaesken” oder dem, was Wolfang Jahn und andere den “filmischen Blick” nennen, liegt, sondern in der grundsätzlichen metaphorischen Offenheit des Kafka’schen Existenzialismus, der die Themen “Angst” und besonders in “Der Proceß” die Topographisierung von Rechts-Begriffen für kulturhistorische Interpretationen und Rezeptionen öffnet. Welles aktualisiert Kafka, wo es nur geht, unterlegt den Film mit Jazz-Musik, holt sich einen Computer in die Handlung (siehe Bild), macht aus der Bank ein Großraumbüro und zeigt als letztes Bild des Films einen Atompilz. Charmant fand ich die Interpretation eines Studenten, der den Atompilz in begriffliche Nähe zum Phänomen der Atomisierung des Einzelnen in der modernen Gesellschaft gerückt hat.
#370
Geschrieben 15. Dezember 2008, 15:45
16 mal wird in “Sorry, wrong number” telefoniert und so gut wie jedes mal das Gespräch abgebrochen, bevor es beendet ist. Für die missbräuchliche Verwendung des Telefons im Film ist das wirklich ein Paradebeispiel, aber auch ein exzellenter Beleg für Wulffs Thesen zur Transition und Insertion von Telefonszenen in der Montage. Überdies zeigt die Verknappung des Handlungsraums in der Rahmenhandlung - eine kranke Frau telefoniert vom Bett aus und alles, was der Film zeigt, sind Visualisierungen der Gespräche, Flashbacks und eben Insertionen - welch ungeheure quasi-visuelle Potenz in einem “heißen” (”kalten”?) Medium wie dem Telefon steckt, sobald man es zu einem filmischen Motiv macht. Die Fähigkeit des Mediums Telefon als “unseen link between millions”, wie es im Prätext von “Sorry, wrong number” heißt, wird über seine Visualisierung zu seinem Gegenteil: Wir sehen, was die Telefonierenden nicht sehen (suspense), die Möglichkeit, Millionen zu erreichen, mündet in das genaue Gegenteil (Vereinsamung) und der “link” verliert seine sozial-konstruktive Kraft zugunsten der Etablierung eines (selbst)zerstörerischen Wissens: Was die Telefonierende durch Belauschen über das Telefon erfährt, beendet ihr Leben.
“Telephones are very funny things.”
#371
Geschrieben 15. Dezember 2008, 15:45
Florian hat auf dem letzten Examenskolloquium eines seiner Magisterprüfungs-Einsprechthemen vorgestellt: Unzuverlässiges Erzählen in den Filmen Akira Kurosawas. Als filmisches Mitbringsel hat er “Nachtasyl” ausgewählt und mir damit - ich wage es kaum zu sagen - meinen ersten Kurosawa-Film beschert. Ein großartig konzipiertes Kammerspiel (das freilich einige Ausbrüche aus der Schlafstätte der Asylanten wagt), fotografiert mit einem derartig Bild-dramaturgischen Gespür, wie ich es bislang nur bei den Fassbinder-Ballhaus-Arbeiten gesehen habe. Ein toller Einstieg in die Welt Kurosawas für mich.
Am kommenden Donnerstag bin ich mit Vortragen dran, rede dann über Privatheit und Pornografie und zeige “Shortbus”.
#372
Geschrieben 15. Dezember 2008, 15:46
Die Mutter aller Telefon-Thriller, aber noch weit mehr ist Hitchcocks Film über das perfekte Verbrechen. Im Zentrum stehen nicht die Personen, sondern die Dinge. Sie sind es, die den Verlauf der Handlung bestimmen, die die Konstruktion (des perfekten Verbrechens) zerstören und ein Eigenleben entwickeln: Scheren, Strümpfe, Schlüssel, ein Brief … und natürlich das Telefon.
In den acht Filmtelefonaten zeigt sich, wie sich die Stärken und Schwächen telefonischer Kommunikation gegen den Medien-Verwender richten. Es wird zur Tatvorbereitung, zur Tatdurchführung, zur Scheinaufklärung und zur Aufklärung telefoniert und jedes Mal kommt es doch anders als geplant, denn die “Fernbedienung für den Körper und Verstand des Anderen”, die das Telefon in solchen Situationen darstellen soll, versagt. Der Mensch funktioniert nicht nach der Schaltlogik des NAND, nach welcher Telefonverbindungen aufgebaut sind - wie um das zu unterstreichen, zeigt Hichtcock uns eine automatische Vermittlungsstelle, als der Mord-Anruf getätigt wird:
Zudem: Das perfekte Verbrechen ist eine künstlerische Vision, die nur deshalb funktioniert, weil Tat und Aufklärung als logisch vollständig nachvollziehbare (und daher präjudizierbare) Handlungsfolgen gedacht werden. Hitchcock macht sich genau darüber lustig, indem er einen Krimiautoren in die Filmhandlung einführt, der wie durch Zufall das geschehene Verbrechen als Kriminalplot (re)konstruiert. Ähnlich findet sich solch eine Re-/Konstruktion bereits in Clouzots “L’Assassin …”
#373
Geschrieben 15. Dezember 2008, 16:17
Alfred Hitchcock hatte es sich einmal vorgenommen: einen Thriller in einer Telefonzelle drehen. Zu seiner Zeit wäre das Projekt jedoch zu avantgardistisch gewesen, so dass er seinen Telefon-Thriller "Dial M for Murder" maximal als Kammerspiel planen konnte (als das er als Theaterstück ja bereits angelegt war). Schumacher greift Hitchcocks Idee explizit auf und fesselt Collin Farrell an eine Telefonzelle. Er telefoniert mit einem ihm und uns unbekannten Acousmêtre, der, sollte aufgelegt werden, den Angerufenen sofort erschießt. Zweck dieser Drohung ist es Farrell dazu zu bringen, sein uneigentliches Leben als PR-Berater und Ehebrecher aufzugeben.
Wie hilflos die Kamera die Häuserwände nach dem heimlichen Beobachter absucht! Wie sehr die Telefonie im Film ein optisches Dual ist, das einen Gegenschuss, einen Splitscreen oder zumindest die sprachliche Versicherung benötigt, dass sich Abstand zwischen den Telefonierenden befindet. ("Gegenschüsse" gibt es nur durch das Zielfernrohr und dann als Projektile.) Nichts von dem bietet "Phone Booth". Die filmischen Konventionen werden durch das elaborierte Bild-im-Bild-Verfahren der ersten Telefonate noch bedient, aber dann bleiben wir allein mit dem Hauptframe. Gefesselte an die zur Deckung gebrachten Erzählzeit und erzählte Zeit spannt uns "Phone Booth" in prägnanter Kürze auf die Folter der medialen Differenz zwischen Film (alles sehen) und Telefon (nur hören).
Nicht nur die Kommunikation zwischen den Telefonierenden ist extrem asymmetrisch, auch die zwischen uns und dem Film. Wir werden an den Körper und die "Zelle" des Gefangenen geklebt. Uns wird Entkommen in weitere Einstellungen versprochen, unser Blick endet jedoch stets in Groß- und Detailaufnahmen. "Phone Booth" führt vor, worin die Angst des Telefonierenden im Handyzeitalter besteht: mit der eigenen Sprache an einen Ort gefesselt zu werden - dann wird das Mobiltelefon in der Hosentasche tatsächlich zu einer mächtigen Waffe. Nur schade, dass Farrell sie nicht zücken darf.
#374
Geschrieben 28. Dezember 2008, 07:26
Meine These des Kolloquiumsvortrags lautete, dass sich das Scheinbare der Dialektik von Privatheit und "Veröffentlichung" in den Medien zeigt und dort besonders im Pornofilm, weil dieser notwendigerweise behaupten muss, es gäbe etwas Privates, dass er dann zeigt und im Akt des Zeigens als bloß Scheinprivates offenbart. Das betrifft nicht nur die Privatsphäre (also den dargestellten Raum), sondern auch die "Lücken", die die Montage zwischen eine heiße Kussszene und dem Bild des Paares "danach" (rauchend im Bett, am nächsten Morgen, ...) produziert. Über den Matchcut der Körperdarstellungen wissen wir: Es sind noch dieselben wie in der Einstellung zuvor, aber es ist Zeit verflossen - private Zeit, in der die Kamera nicht dabei war. "Shortbus" ist zusammen mit einigen anderen Filmen der Versuch, diese Privatzeit zwischen den Einstellungen zu "Veröffentlichen". Dass der Film das derartig geschickt macht, hätte ich nicht gedacht. Er holt das Thema sogar in seinen Plot (es gibt mehrere Erzählstränge über Voyeurismus) und in die mise en scène (Spiel mit Tiefenschärfen, Fahrten, ...) Der Pornofilm deprivatisiert hier eine Form des Hollywood-Melodrams, die seit den 1930er Jahren feste Erzähl- und Darstellungskonventionen entwickelt hat.
#375
Geschrieben 28. Dezember 2008, 07:51
Diese Art von Provokation, in der man den Zuschauern einfach das Gegenteil von dem vorführt, was man für deren tiefstes moralisches Selbstverständnis hält, war doch eigentlich ein Mittel der Avantgarde der 30er und hat noch einmal einen unrühmlichen Abklatsch in den 80ern (Filme wie "Specters") gefunden. Der Einzige, der das meines Wissens zuletzt gewinnbringend vollbracht hat, war Scorsese in "The Last Temptation of Christ".
"God's Army" gefällt sich nun aber auch darin, das Prinzip des Allguten im Christentum einfach anders herum zu behaupten und die Englein in Himmel in Wirklichkeit gemeine Verschwörer und Mörder sein zu lassen. Hätte der Film nicht diesen Ich-dreh-das-jetzt-mal-um-Plot, dann hätte er gar nichts. Leider ist selbst ein Darsteler wie Christopher Walken nicht in der Lage etwas anderes zu sein als albern.
Ein etwas dürftiger Start in mein neues Berliner Filmguckerdasein.
#376
Geschrieben 02. Januar 2009, 08:26
Zunächst einmal davon abgesehen, dass "Awake" wirklich ein unglaublich glattes, (im schlimmsten Sinne) kalkuliertes Filmchen ist, hat er doch einen Aspekt, den ich beachtlich finde. Sein Gegenstand ist ja alles andere als filmisch: Die zentrale Figur liegt in der meisten Filmzeit reglos auf dem Rücken und ist zu keiner Aktion und Reaktion fähig. Das Einzige, was die Kamera uns also zeigen könnte, ist diese Ruhe und diejenigen, die sich um sie herum gruppieren.
Interessanterweise ist diese Figur jedoch auch der Fokalisator der Erzählung. Aus seiner Perspektive wird die Geschichte dargeboten - und da tauchen Probleme auf, die nicht mehr allein narrativer Art sind: Wie erzählt denn jemand, der physisch gar nicht dazu in der Lage ist? Das Krankenhaus, in dem er sich befindet, ist ja nachgerade ein Topos für das (kurz- oder langfristige) "Verschwinden des Erzählers". Ein schönes Beispiel hierfür ist Stephen Kings Roman "Christine"; dort verschwindet der Ich-Erzähler am Ende des ersten Teils im Krankenhaus und konfrontiert den Leser mit einem Perspektiv-Verlust, den King nur so zu beheben wusste, dass er von der Ich- in die Auktorial-Perspektive wechselt.
"Awake" nun geht einen anderen, überaus filmischen Weg: Er verwandelt den realen Handlungsraum in ein Hybrid aus realem Handlungs- und imaginiertem, funkti0nalisiertem "Erzählraum". In letzterem kann sich der narkotisierte Patient wie in seiner Erinnerungswelt bewegen (erinnern wir uns an "Johnny got his gun"!), agieren und die Geschichte (eine Verschwörung) durch Reflexion des bereits Gesehenen und aktuell Gehörten (er liegt in einer Art Wachkoma) rekonstruieren. Der Film wechselt hier auch die Erzählperspektive, jedoch nicht so radikal wie King in "Christine". Vielmehr wird die vormalige externe Fokalisierung zu einer gemischten internen und Nullfokalisierung. Wir wissen stets, dass das, was die Kamera uns zeigt, ein Gemisch aus imaginierten und realen Bildern ist.
"Awake" wandelt sich auf diese Weise von einer bloß irgendwie unangenehmen Geschichte (ein auf dem OP-Tisch liegender Patient, bei dem die Narkose nicht wirkt) in einen Suspese-Thriller (der Patient entdeckt eine Verschwörung gegen sich und seinen narkotisierten Körper). Als solcher fährt er dann allerdings seine etwas dünne und in ihren Entwicklungen viel zu kalkulierte Erzählung gegen die Wand.
Mein Filmtipp für bekay.
#377
Geschrieben 02. Januar 2009, 08:39
Mein erster Kinofilm als Neuberliner - am 30.12. gesehen. Ein Film voller Schnee - kein Film für den Sommer. Und jetzt, wo ich hier sitze und über ihn schreibe, wird es draußen langsam hell und überall liegt Schnee. Für Vampire wird es jetzt langsam ungemütlich.
Einen selten doofen deutschen Titel hat man sich für Alfredsons Vampir-Jugend-Melodram-Soziogramm ausgedacht. Der Film trägt jedoch keinen Schaden davon und hat auch bei der zweiten Begegnung nichts von seiner Kraft verloren. Diese durch den dunklen schwedischen Winter eingefrorene Stille, die neben der Natur vor allem das Mitmenschliche lähmt und zusehends erstarren lässt, wird perfekt auf die Geschichte der beiden Kinder übertragen, die sich immer mehr von ihrer Umwelt abkapseln, indem sie sich Wärme suchend einander zuwenden.
Dass diese Zuwendung dann natürlich auch nicht wirklich ein sozialer Akt der Fürsorge, sondern wiederum nur kalt kalkuliertes Mittel zum Zweck ist (das Vampirmädchen sucht nach einem neuen Helfer, nachdem ihm sein alter "entwachsen" ist), macht denFilm nur umso trauriger.
#378
Geschrieben 11. Januar 2009, 11:01
Ein außergewöhnlicher Film, der da beim neuen Label „Bildstörung“ erschienen ist: Menschen mit Tiermasken spielen ein Gefangenenstück am Vorabend der französischen Revolution. Im Zentrum ein Schriftsteller, der, weil er auf ein Kruzifix geschissen hat, in der Bastille sitzt und dort seine dekadente Literatur verfasst. Er ist niemand geringeres als der Marquis de Sade – dort trifft er auf zwei seiner Musen: Justine und Juliette, die ihn zu literar-erotischen Höchstleistungen motvieren. Zudem wird er beständig von seinem sprechenden Penis angestachelt, sich dem System nicht beugen, sich dem masochistischen Gefängniswärter nicht für ein paar Annehmlichkeiten preiszugeben, sondern den Ausbruch zu wagen. Der kommt ein paar mal in greifbare Nähe und als der Sturm auf die Bastille losbricht, hält auch den Marquis nichts mehr dort.
Erstaunlich ist die Ruhe, mit der der Film inszeniert ist. Zärtlich in Sprache und Umgangsformen verhalten sich die Figuren zueinander. Wären es nicht Tiere (und der Film damit eine Fabel) und wären es nicht die literarischen Grausamkeiten des Schriftstellers Marquis de Sade, die da ins Bild gesetzt werden und wäre es nicht das Vorspiel zu einem der grausamsten historischen Ereignisse der europäischen Neuzeit, das der Film da verklausuliert erzählt: Man könnte ihn fast eine Liebeserklärung nennen; erschienen 200 Jahre nachdem sich das alles wirklich zugetragen haben soll.
#379
Geschrieben 11. Januar 2009, 11:01
Ein atemberaubend luzides Werk. Toelle und sein Drehbuchautor Wolfgang Menge nehmen nicht nur die meisten denkbaren (und bislang erschienenen) Medien-Dystopien vorweg, sie beschreiben 1970 ein Fernseh- und Gesellschaftssystem, das heute (fast) schon Realität ist.
Interessant ist der Konflikt zwischen diegetischer und nicht-diegetischer Kamera. Etliche Szenen, in denen man meint, den Spielfilm „Millionenspiel“ zu sehen, bekommt man die Fernsehsendung zu Gesicht und die Aufnahmen des Spielers sind von einem immer schon vor Ort wartenden Kamera-Team gefilmt und im Studio dem Publikum auf einer Leinwand präsentiert. Dieses „Einholen“ des Ereignisses durch die Kamera erreicht manchmal einen zeitlichen Minimalabstand, der schon fast unwahrscheinlich wirkt: Der Spieler versteckt sich in einer leeren Wohnung – in der ihn schon unser Blick (also der Blick des diegetischen Publikums, als die diegetische Kamera) erwartet.
Der Kamerablick ist immer und überall. Selten sieht man die Technik und selbst dort, wo sie zu sehen sein müsste (etwa, als eine „Samariterin“ den Spieler vor den Verfolgern in einem Cabrio rettet und das alles von dessen Rückbank aus gezeigt wird), ist sie unsichtbar, ist nur der Blick selbst da. Das ist kein Fehler, sondern eine „Vision“: Die Utopie der Allgegenwart des Fernsehens, in der derjenige als unglücklich beschrieben wird, der (noch) anonym leben (muss), ist hier als allgegenwärtiger Zuschauerblick codiert. Ein Blick, der keine Technik braucht, weil er physikalisch gar nicht vorhanden sein muss, denn man spürt ihn, weil man sich nirgends mehr unbeobachtet fühlen kann.
#380
Geschrieben 11. Januar 2009, 11:02
Cathode Ray Mission ...
(Mit bestem Dank an meine Studenten für das Aufmerksammachen auf das Überoffensichtliche!)
#381
Geschrieben 11. Januar 2009, 11:02
Eine deutliche Kritik am System „Big Brother“. Das Fernsehen ist ein Dispositiv der Macht, einer Macht, alles Private zu veröffentlichen. Ed findet sich in diesem System wieder, als er morgens aufwacht und Kameras ins Zentrum seiner Privatsphäre – sein Schlafzimmer – vorgedrungen sind und Bilder seiner Sexualität einfängt. Sein Kampf, den er nur gewinnt, weil es immer etwas gibt, das noch privater ist (und zwar nicht die Sexualität, sondern das sexuelle Versagen eines der TV-Macher) endet, als er das Kamerateam wieder aus seiner Wohnung verbannt und gleichermaßen real wie symbolisch die Tür hinter ihnen schließt.
Widerspruch gegen das Fernsehen, das nur redet ohne Gegenrede zuzulassen, das zeigt, ohne dabei selbst gezeigt zu werden, ist nicht möglich. Das Medium zwischen Gezeigtem (Ed), Zeigendem (True-TV) und Publikum ist Geld. Es bemisst den Wert der Privatsphäre ebenso wie den Preis der Veröffentlichung. Ed hat Geld gefordert und bekommen und muss sich als Gegenleistung selbst verkaufen. Wir schauen dabei zu und freuen uns, dass er für seine Gier bezahlt, dass das Fernsehen für seine Amoralität bezahlt und die diegetischen Zuschauer die Lager von Böse zu Gut wechseln.
Aber während wir zuschauen, (ver)führt uns der Film hinters Licht bzw die Kulisse. Dort, wo es Ed gelingt, dem (diegetischen) Kamerateam von „True-TV“ zu entfliehen und endlich etwas Privates zu erleben (einen Kuss, Sexualität, …), da erwartet ihn bereits die extradiegetische Kamera von „Ed-TV“. Wir sind schon dort und sehen das, was die anderen gern sehen würden. Das wird uns aber nicht klar, denn „Ed-TV“ ist nach den Regeln der decoupage montiert und vermeidet daher jeden Hinweis auf (s)eine Metaebene. Ein hinterlistiger Zug des Films.
#382
Geschrieben 11. Januar 2009, 11:03
Ein erstaunlich naiver Film von Ang Lee, der in „Eat, Drink, Men and Women“ doch kurze Zeit später soviel filmerisches Feingefühl beweist. Sicherlich: Die Story nimmt einen erfrischenden, gegen jeden Anfangsverdacht der Heteronormativität gerichteten Verlauf – aber wie das gezeigt wird! Kamera und Schnitt in simpelster Soap-Ästhetik mit erwartbaren Schwenks, Schuss-Gegenschuss-Montagen und verschenkten Möglichkeiten, ganz im (sklavischen) Dienst der Erzählung.
#383
Geschrieben 19. Januar 2009, 08:57
Was meinen Geschmack betrifft, ist es bei Gus van Sant wie bei Steven Soderbergh: Es gibt solche Filme und solche. Das filmästhetische Gespür, der Hang zum Subversiven (oder eben zum Unpopulären) lässt sich wohl nicht immer ausleben; erst recht nicht, wenn man meint, eine zeithistorische Darstellung vollbringen zu müssen. Genau das ist "Milk": Der Versuch, einen Spielfilm über ein Historem zu drehen, dabei möglichst alle Fragen zu beantworten und keine Position zu beziehen. Das ist genauso unmöglich wie dumm, doch davon hat es in den vergangenen Jahren so viele Filme gegeben, dass sich leider schon ein eigener Stil durchgesetzt hat, den man mit Baudrillard ganz gut als "Retro-Szenario"-Ästhetik bezeichnen kann.
Und die sieht so aus, dass man sich der historischen Quelle unterwirft, sie "wahrheitsgemäß" ins Projektorlicht zu zerren versucht, indem die verschiedensten Techniken und Strategien der Authentisierung zum Einsatz kommen: Eingeschnittenen Originalfilmaufnahmen, auf das Zeitcolorit bearbeitetes Filmmaterial, Dokumentarfilmästhetiken usw. In "Milk" sieht also alles nach "Mitte bis Ende der 70er" aus. Den Mut, sich dieser Konvention zu widersetzen, bringt Gus van Sant nicht auf - dazu scheint ihm (wie schon beim unsäglichen "Good Will Hunting") das Thema zu wichtig zu sein. Es geht um die Homosexuellen-Bewegung in den USA, die sich unter der Anführung von Harvey Milk zum ersten Mal Gehör verschafft hat, politischen Ausdruck gefunden hat, ihre Bürgerrechte eingefordert hat.
Das Thema ist so wichtig (oder wird von irgendwoher mit derartigen Argusaugen bewacht), dass sich ein Filmemacher hüten sollte, es auch nur mit einer Spur ästhetischer Mehrdeutigkeit zu inszenieren. Also sind die einzigen filmkünstlerisch interessanten Momente, diejenigen, die eine ganz eindeutige Symbolik haben - ein paar kleine Spiegelszenen (in einer Trillerpfeife, in einer Fernsehmattscheibe usw.) Der Rest des Film ist Historienkitsch mit dem Hang und dem Zwang zur Aufklärung, überladen mit politischer Bedeutung. Qualitätskino wie schon Finchers "Zodiac" und etliche andere Produkte dieser Art. Gus van Sant scheint hier mehr auf die Anerkennung irgendwelcher politsch korrekter Festival-Jurys zu schielen als auf künstlerische Integrität. "Milk" schreit nach Oscars und wird sie bekommen - weil er sie verdient hat.
#384
Geschrieben 19. Januar 2009, 09:13
Einen kleine filmhistorische Rarität hat Kinowelt da vor einiger Zeit ausgegraben: Einen deutschen Vampirfilm von Geissendörfer, der Stokers "Dracula"-Roman mit einer manchmal etwas wirren Geschichte einer Revolte anreichert und damit den politischen über den sexual-moralischen Diskurs des Stoffes stellt: Jonathan wird ausgeschickt einer Bande von blutsaugenden Aristokraten den Garaus zu machen. Er verfängt sich jedoch zunächst in den politischen Wirren des Umlandes vom Schloss und wird dann von den Schergen des Grafen eingefangen und ins Verlies geworfen, wo er auf zahlreiche gefangene Bauern der Umgebung stößt, die zwecks Blutentnahme entführt und eingelagert wurden. Es gelingt ihm noch, die Gefangenen auf eine Revolte vorzubereiten, bevor Jonathan in Einzel- und Folterhaft kommt. Dann bricht der Sturm auf den Palast los und das Volk holt sich zurück, was ihm gehört: Seine eingesperrten Verwandten und sein Blut, das jetzt aber schon in den Adern der Aristokraten fließt. Der Graf und seine engste Gefolgschaft wird zum Ende im Meer ersäuft.
Wäre "Jonathan" nicht so holprig inszeniert und mit derartig kitschiger Musik (endlos repetitive Arien schmiegen sich an Gassenhauer aus der Klassik-Boutique) untermalt, es wäre ein wirklich guter Film geworden. Die blassen Bilder, die Ausstattung, die Spezialeffekte (Splatter im Deutschen Film der 1970er!), die Verformung der Stoker-Erzählung. Das alles hat seinen Reiz. Von Vampiren wird nirgendwo gesprochen und um sich sicher zu gehen, dass man seinen Film nicht als Horrorfilm missversteht, lässt Geissendörfer seine Blutsauger am hellichten Tag in Jagdgesellschaften über die Felder streifen und Bauern abschießen. Irgendwie wirkt "Jonathan" beklemmend und zeigt, wie wichtig ideologisch-politische Subtexte im deutschen Kino der 1970er-Jahre einmal gewesen sind. Aber man muss schon in der Stimmung für solch einen Film sein - und zu dieser gehört eben auch das Wohlwollen, über die Schwächen einfach hinwegzusehen.
#385
Geschrieben 21. Januar 2009, 14:14
Als Zuschauer stehen wir dem Treiben in The Wicker Man seltsam neutral gegenüber; so recht will uns der Protest des Sergeant gegen die von ihm so vehement kritisierten Heiden nicht einleuchten. Zu harmonisch scheint deren Lebenspraxis, zu sehr bekommen sie recht durch ihren speziellen Gemeinschaftssinn. Lord Summerisle verlacht die naiven, von bloßer Indoktrination geprägten Überzeugungen des »christlichen Invasoren«, und dieser selbst sieht sich mit seinem Moralkodex mehr und mehr auf verlorenem Posten – bis zu dem Zeitpunkt, als ein Menschenleben in Gefahr ist, denn hier greift eine Ethik, die über bloßer Religionspraxis steht. Und genau hier ist auch der »Horror« des Films angesiedelt – zugegeben: ein nur noch sehr kleines Refugium für einen Film dieses Genres, wenn The Wicker Man denn überhaupt ein Horrorfilm ist. Er erscheint uns vielmehr als ein Hybrid aus Heimatfilm, Musical und ethnologischer Fiktion. Gerade die den Plot immer wieder begleitenden Gesangs- und Tanzeinlagen beschwichtigen, ja bezirzen den Zuschauer nahezu.
mehr: Schnitt
#386
Geschrieben 23. Januar 2009, 09:28
Eine Variation zum bekannten Thema: Die Konfligierung von buddhistischer Tradition und modernem Selbstverständnis. Dieses Mal verlegt Kim es in ein Gefängnis. Dort sitzt ein junger Mann in der Todeszelle, der seine gesamte Familie ermordet hat. Zusammen mit drei anderen Delinquenten wartet er auf seine Hinrichtung. Ob nun aus dem Willen zur Autonomie über das eigene Ende oder aus Reue vor der Tat: Er versucht sich mehrfach selbst zu töten; ein Akt von dem jedes Mal die Medien berichten. Auf diese Weise erfährt auch eine verheiratete Bildhauerin davon und entschließt sich, den Mann im Gefängnis zu besuchen. Dabei gestaltet sie das Besuchszimmer jedes mal nach einer Jahreszeit, erzählt dem schweigenden Gefangenen von sich, singt ihm etwas vor und beginnt eine zärtliche Annäherung, die schließlich in der körperlichen Vereinigung irgendwo zwischen Sex und Mord gipfelt. Voneinander getrennt, versucht das Paar seinen Alltag zu leben: Sie in ihrer offensichtlich unbefriedigenden Ehe, er in der steten Eifersucht seiner Zellengenossen. Am Ende der Erzählung kann nur der Tod der Beziehung und der Tod des Mannes stehen - darüber lässt der Film keine Zweifel.
Wie es Kim nach "Bin-jip" abermals gelingt, eine Metaphysik der Zweisamkeit in eine Welt der Vereinzelung zu transportieren, ist meisterhaft. Langsam gerät man als Zuschauer in die Kreisbewegung der Erzählung hinein, sieht sich mehr und mehr mit den Figuren identifiziert und lernt mit ihnen zusammen die eigentlich bittere Lektion (nämlich loslassen zu müssen) als eine Transzendenz-Bewegung zu verstehen. Was die Frau mit dem Mann macht (und vielleicht er auch mit ihr) ist nichts anderes als ein rituelles Abschiednehmen; den Tod anerkennen ohne ihn zu fürchten oder herbeizusehnen - eine ars moriendi.
Und wieder einmal hängt das Gelingen der Erzählung an den drei Achsen Kamera, Erzählrhythmus und Schauspiel. Ist der Stoff bei Kim manchmal auch noch so banal (wie etwa in "Samaria" oder "Hwal"), so ist es die Ausführung niemals. Fast ist man zu Tränen gerührt angesichts des nahen Beieinanders von Kitsch und aufrichtigem Gefühl - etwa beim sehr amateurhaften Vortrag der Jahreszeiten-Lieder der jungen Frau. Dass die Affektproduktion nicht überzogen oder gar kalkuliert wirkt, liegt an der Kamera, die genau in diesen Momenten eben nicht bloß mimetisch mitfilmt (oder schlimer: mit tanzt), sondern die Situation ganz bewusst bricht, indem sie eine zweite Kamera filmt - die Überwachungskamera des Besucherraums - und damit zeigt, dass es ein Film ist, den wir sehen, dass dieser Ritus vor Fototapeten stattfindet, dass die Musik aus einem kleinen Kofferradio kommt. Und trotzdem ist da mehr, nämlich das Mehr, das zwischen den beiden Figuren entsteht und durch das diese Inszenierung (in der Inszenierung) authentisch wird.
#387
Geschrieben 04. Februar 2009, 07:50
Café Flesh 2 (USA 1997, Anthony R. Lovett) (DVD)
Über den ersten Teil der mittlerweile dreiteiligen Reihe wird es in Kürze ein Filmgespräch auf postapocalypse.de geben, weswegen ich mich hier gar nicht mit ihm befassen werde.
Der zweite Teil zerrt mit seinen mehr als zwei Stunden Laufzeit schon gewaltig am Nervenkostüm des bloß auf die Diskurse konzentrierten Zuschauers. Ich hatte ungute Remeniszenzen an die alt.vivid-Produktionen vom letztjährigen PornFilmFestival, denn die durchaus interessanten Motive und Settings wurden durch überlange Rammelszenen so voneinander getrennt, dass ich mehrfach das Gefühl hatte, zwei ganz verschiedene Filme zu sehen.
Zu loben an "Café Flesh 2" ist jedoch, dass die SF-Elemente wesentlich deutlicher herausgearbeitet wurden, als beim Vorgänger. Neben Außenaufnahmen, die die vom Atomkrieg zerstörte Welt (wenn auch etwas schematisch) zeigen, gibt es ein Evil Mastermind, das natürlich als Gehirn im Wassertank lebt, es gibt eine Jungfrau (die letzte überhaupt), die den Atomkrieg kryogenisch überlebt hat und nun aufgetaut zur begehrten Handelsware wird (Sie vergewissert sich selbst mehrfach, dass Oralverkehr ihrer Virginität keinen Abbruch tut). Und dann natürlich das aus dem ersten Teil bekannte Sex-Positiv/-Negativ-Thema, das hier durch Verwendung von "Safer Sex" mit Kondomen eine ganz neue Konnotation erfährt.
#388
Geschrieben 04. Februar 2009, 08:19
Über Gondrys letzten Film wurde eine Menge geschrieben und noch mehr wurde dazu gefilmt. Dass es ein Film über ein aussterbendes (Träger)Medium ist (ja ja, ich weiß) und damit auch über eine aussterbende Volkskunst-Gattung (nämlich das analoge Home-Video), erzählt der Film von sich aus. Er verhandelt überdies Themen wie Urheberrechte vs. Kreativität, filmische Konstruktion von (historischer) Wirklichkeit und nicht zuletzt auch die Themen Elektrizität und Magnetismus.
Da hat sich Gondry wirklich etwas besonderes einfallen lassen, als er Jack Black in das nachbarliche Umspannwerk einbrechen und dort durch einen Hochspannungsschlag magnetisch hat werden lassen. (Man weiß ja, dass das normalerweise andere Konsequenzen hat.) Seine neu gewonnene Polarität hat dann gleich Einfluss auf die komplette Umwelt: Er magnetisiert Videobänder, fühlt sich von metallischen Gegenständen angezogen und hat jenen Effekt auf die Kathodenstrahlröhre, den ich als Kind so gern auf dem elterlichen Fernseher mit einem Spielzeugmagneten verursacht habe und für den ich, weil es damals noch keine "Entmagnetisierungsfunktion" gab auch regelmäßig bestraft wurde.
#389
Geschrieben 04. Februar 2009, 08:37
Dass ich den Film nicht mehr gesehen habe, seit ich dieses Weblog führe, wundert mich ein wenig, weil es nach wie vor mein Lieblings-Carpenter ist. Anlässlich Patricks Vortrag über "Diskursinszenierung in John Carpenters Prince of Darkness" im Absolventen-Kolloquium hatte ich aber nun wieder Gelegenheit und finde mein seit der Erstsichtung 1988 in einem kleinen Einbecker Kino gewonnenes Urteil bestätigt.
Zwar verfügt der Film schon aus Mangel an Produktionsmitteln über nur wenige Spezialeffekte, das kompensiert Carpenter jedoch einerseits durch eine - wie der Vortrag völlig plausibel gemacht hat - eine konsequente Raum-Inszenierung, die die verschiedenen Diskurse (und übrigens auch Geschlechter!) im Heterotopos "Kirche" zusammenführt. Andererseits ist wie oft bei Carpenter-Filmen es abermals der Soundtrack, der hier nur an ganz wenigen Stellen des Films nicht zu hören ist, der einen sagenhaften, ja, soghaften Effekt nach sich zieht. Was vielleicht durch den Plot an dramatischer Steigerung nur schwer nachvollziehbar ist, durch die Filmmusik wird es spürbar.
Es würde mal wieder Zeit, die alte Soundtrack-LP aus dem Schrank zu holen - oder noch besser, die neue Doppel-CD (die es geben soll) zu bestellen.
#390
Geschrieben 04. Februar 2009, 09:15
Über Soderberghs Erstling habe ich wirklich schon einige Zeit gebrütet und mit jeder Sichtung tut sich mir ein neuer Bedeutungshorizont auf. In meiner Übung "Elektrische Medien im Film" habe ich ihn in der Kategorie "Inszenierung von Video im Film" verhandelt - in das "Telefon"-Modul hätte er aber ebenso gut gepasst.
Telefoniert wird viel in "Sex, Lies, and Videotape", aber eines ist bei allen Telefonaten gleich: Beide Stimmen, sowohl die desjenigen Telefonierers, der im Bild ist, als auch die desjenigen, der "in der Leitung" ist, sind klanglich gleich. Der Effekt der technischen Verzerrung der Telefonstimme (bei der vor allem die Höhen und Tiefen beschnitten und die Mitten stärker betont werden), welcher es dem Zuschauer erst möglich macht, akustisch zu unterscheiden, welcher Telefonierer welcher ist; dieser Effekt fehlt. Dadurch erhält die Stimme aus der Leitung nicht nur einen seltsamen acousmetrischen Effekt, sondern das Telefon wird zu einer medialen Metapher, die den Plot ergänzt: Geht es in "Sex, Lies, and Videotape" um die Restrukturierung des Privaten durch die Medien (mit positiven wie negativen Konsequenzen), dann ist es das Telefon, das für den Eindringling den Zugang verschafft.
Das erste Telefonat findet zwischen John und Graham statt. Graham ist der Fremde, der in die Dreiecks-Beziehung von John, Ann und Cynthia eindringt, diese Beziehung aufbricht bzw. -klärt und neu strukturiert. Seine Herkunft ist ebenso ungewiss wie sein Ziel. Das einzige, was ihn auszeichnet, ist seine mediale "Fixiertheit": Sein Sex-Leben findet nur mit Videokassettten statt, seine Mutter hat er "an das private Fernsehen verloren" und Ann meint er ebenfalls "schon einmal im Fernsehen gesehen" zu haben. Als Ann ihrer offenbar nymphomanischen Schwester Cynthia von Graham erzählt und was für ein besonderer Mensch er ist (er sondert ständig Sinnsprüche ab, die die frigide Ann an einen gefühlvollen Menschen glauben lassen), will sie seine Telefonnummer haben. Ann erwidert ihr daraufhin: "Er telefoniert nicht gern."
Lässt man das Telefonat zwischen Graham und John zu Beginn außen vor, so stimmt dies: Er ist die einzige Figur des Films, die nicht (mehr) telefoniert. Warum? Hat es damit zu tun, dass er als Video-Enthusiast mit einem Echtzeitmedium wie dem Telefon nichts anfangen kann - oder damit, dass ihm hier nur imaginierte Bilder zur Verfügung stehen? Hat es damit zu tun, dass man am Telefon besser als vor der Kamera und viel besser als Vis a Vis lügen kann? Die Lüge ist ja nicht zufällig Bestandteil des Filmtitels und der einzige Ort, an dem nie gelogen wird, ist die Wohnung Grahams - dort, wo die Videokamera läuft.
Graham und seine Videokamera stehen damit gegen das Triplet Ann, Cynthia, John und ihre Telefon(at)e. Graham bekommt die Funktion eines Katalysators (katálysis - Auflösung), seine Wohnung fungiert gleichermaßen als Beichtstuhl wie als Reaktionstigel (und übrigens auch Psychotherapie-Praxis, schaut man sich einmal die Konstallation der Möbel und ihre Funktionalisierung im Miteinander der Figuren an). Das Medium Video erhält im Verlauf des Films den Nimbus eines "Mediums der Wahrheit", obwohl doch gerade dieses Medium (zumal die analogen Video-8-Bänder Grahams) wie kaum ein anderes damaliges von Möglichkeiten der Manipulation bedroht ist.
Beim letzten, entscheidenden Videoscreening verwendet Soderbergh dann einen Trick, um sich diesen Nimbus für seinen Film zu "borgen": Er zeigt John, der auf den Videomonitor schaut, dann den Videomonitor mit all seinen medialen Eigenschaften (Interlinear-Streifen, Störungen, Lautsprecherton), um dann dasselbe zu machen, das er von Beginn an mit dem Telefon angestellt hat: Das Videobild wird zum Filmbild, die typischen medialen Eigenschaften des ersten werden durch die des zweiten getauscht. Der Blick ist jetzt (scheinbar) nicht mehr medial getrübt, er ist dabei, mit im Raum. Es wird sogar die Videokamera, die das Bild ja eigentlich produziert, in diesem Bild gezeigt. Die Räume sind miteinander verschmolzen, die Immersion ist perfekt: John dreht durch, als er vor dem Monitor sitzend von den Geständnissen seiner Frau auf/über Video erfährt. Die Beziehungsstrukturen lösen sich nun vollends auf. Der Film "Sex, Lies, and Videotape" hat sein Ziel/Ende erreicht und kann nur noch in einem Schluss "auslaufen", der der Meisterschaft Antonionis in nichts nachsteht:
Ann: Ich glaube, es wird regnen.
Graham: Es regnet ja schon.
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