49. Dokfilmfestival Leipzig
Donnerstag nach der Arbeit ging es bei mir los Richtung Leipzig - eine Stadt voller Klötze wie ich lernen durfte - dies nicht einmal unbedingt sonderlich negativ gemeint, nur doch ebend der erschlagende Charakter war auffallend. Leipzsch als kultureller Treffpunkt des Films - das gibt es dann ein Mal pro Jahr, im November, zum Dokfilmfest - einem der größten Festivals über Dokumentarfilm in der Welt, vielleicht (?) das Größte in Europa, sicher aber das Impossanteste in Deutschland.
Donnerstag Abend von der Mitfahrgelegenheit vorm ersten Kino, dem klitzekleinen "Filmeck" hinausgeworfen und 15 Minuten zu spät zur ersten Sichtung erschienen, vom Freund im Regen nicht stehen gelassen, ging es hinein ins Vergnügen. Vielmehr wohl weder hinein, noch ins Vergnügen. Denn gleich der erste Film Collecting Shadows (Russland, 52 Min) erwies sich als Stimmungsdrücker, ging es schließlich um den Tschetschenienkonflikt. Andererseits das außen vor. Denn wir blieben selbiges, der Film schaffte es nicht, uns zu bekommen, und das aus einfachsten Gründen. Collecting Shadows erzählt die Geschichte dreier Menschen um den Verlust ihrer Heimat Grozny. Die parallel erzählten Segmente sind dabei so unübersichtlich und unemotional aneinander montiert, das ich den Film leider hier schon als schlechtesten Beitrag des von mir gesehenen Materials des Festivals titulieren muss.
Im Anschluss dann der tschechische Beitrag Kha-Chee-Pae (Tschechien, 57 Min). Der Film beleuchtet ein Waisenhaus, fokussiert dabei die Kinder und ihren Umgang mit der Kamera. Es geht weniger um die Schicksale - dies auch, aber nur eingestreut als melancholischer Gegenpol zum Rest - als vielmehr um Selbstgedrehtes der Kinder, um ihre Kreativität, um ihre Freiheit in der Kunst. Schöne Idee mit einigen Momenten, aber leider wieder etwas fahrlässig unbedarf umgesetzt.
Freitag morgen ging es früh um 11 in die nächste Doku, diesmal Personenbezogen: Nach dem ethnologischen The Flight (Estland, 28 Min), der so schnell kommt wie er geht, folgt Arvo Pärt. 24 Preludes for a Fugue (Estland, 90 Min). Die Doku zeigt Arvo Pärt, sein tägliches Leben und Schaffen in 24 untergliederten Miniepisoden. Der Mann - ein Phänomen, ein sensibler Künstler mit Herz, ein Verwirrter, ein Vergreisender, Vereinsamender, Ein Liebevoller, Ein Mensch in einer anderen, besseren Welt. Pärt macht die schönste, erbauendste, melancholischste, transzendenteste Musik der Gegenwart - sein Leben, die Bilder und seine Klänge lassen erzittern - die Doku hingegen weiß sich kaum zu behelfen und entwickelt ein lahmes Strukturkonzept, in der sich das Gesehene nicht einzugliedern braucht, weil es für sich steht. Begrifflichkeiten wie Kamera, Montage und Kommentar könnt ihr euch sparen, wenn die Musik und das Abgefilmte so menschlich ist.
Zusammenfassung nach den ersten Sichtungen zeitgenössischer osteuropäischer Produktionen - ein Freund sei hier nur schnell zitiert: "Die Leute wissen nicht, was sie da in der Hand haben. Die haben kein Gespür, keine Sensibilisierung für ihre Kamera. Es ist schrecklich, man kann es sich kaum anschauen."
Nur gut, dass es jetzt in bekannte Gefilde geht - die USA und ihr Ratingsystem: In This Film is not Rated yet (USA, 97 Min) geht Kirby Dick der MPAA, der Motion Picture Association of America auf die Spur. Er untersucht mit Michael Moorescher Guerilla-Taktik die Struktur und das Vorgehen der Organisation und findet dabei Tatsachen, die zwar altbekannt scheinen, aber doch recherchiert und sichtbar ausgeführt nochmals verdeutlichen, was dort eigentlich für ein Zensurvorgehen betrieben wird. Dick stellt Independentproduktionen Mainstreamfilmen gegenüber und macht die alte Feststellung dingfest, dass Gewaltszenen kein Grund zur Aufregung sind - Zärtlichkeit, nacktes Fleisch, weibliche Orgasmen und Homosexualität aber sofortig in den Keller verbannt gehören. Dass die geheim gehaltenen Teilnehmer dabei vor allem brave Familienoberhäupter fortgeschrittenen Alters sowie hohe Tiere bei Filmverleihern und Kinoketten sind, ist sicherlich keine Neuigkeit - neben dem Ärgernis bleibt allenthalber noch das Staunen über die juristischen Möglichkeiten für die Menschenjagd auf die sich Dick begeben hat. Armes, puritanisches Amerika. Erbärmliches Zeugnis eines neurotischen Selbstkontrollzwangs. Am Ende führt Dick seinen fertigen Film der Zensurbehörde vor. Dieser bleibt keine andere Gegenwehr als ihn mit dem beliebten NC-17 Rating auszustatten. Wegen dem Übermaß an explizitem Inhalt. Natürlich.
An dieser Stelle ein nötiger Rüffel: Das vorher beschriebene Werk wurde im bereits erwähnten "Filmeck" mit seinen 50 Plätzchen gezeigt. Es schien, als wurden ungefähr 30 Karten zuviel verkauft, wegen der nichtbeachteten Dauerkartenbesitzer, so hieß es. Es soll bei Leibe nicht das einzige Mal bei diesem Festival dieser Faux-Pas vorgekommen sein. Dank viel Glück und Behaarlichkeit bekamen wir dann noch die letzten Plätze in der ersten Reihe rechts. Nichtsdestotrotz ein unnötiges Ärgernis und für so ein Festival sicherlich eine zu vermeidende Peinlichkeit.
Am Abend ging es dann gestärkt mit indischem Essen ins NaTo. Dort gab es nämlich Hippiefilme. Genauer gesagt zwei Dokus über deutsche und europäische Hippies in Indien. Bei Shanti Plus (Deutschland, 32 Min) kommen Einheimische zu Wort, die mit den notorischen Dauergrinsebäckchen leben müssen. Wo ich oben schon vom handwerklichen Dilettantismus sprach, der einem bei diesem Festival stets begleitet - der Urlaubskamera-Stil, der hier vorgeführt wird, passt in diese Sparte wohl bestens hinein. Bei Hippie Masala (Schweiz, 93 Min) gibt es diesbezüglich keine großen Fortschritte. Die Repetitionsschleife, in die der Zuschauer bei diesem 90 Minüter nach spätestens der Hälfte der Laufzeit geworfen wird, entkommt er wohl nur durch Schlaf oder Alkohol. Was haben wir heute gelernt? Hippies sind Freaks, aha...
Einen würdigen Abschluss fand das Dokfilmfest dann am Samstag mit dem für uns letzten Beitrag. Zunächst der Vorfilm A Day to Remember (China, 13 Min), in dem ein junger Chinese am Jahrestag des niedergeschlagenen Studentenprotestes seine Mitmenschen in Ausflüchte versinken sieht, während die Volkspolizeikorps marschieren und er auf seine Füße zurückgeworfen ist. Dann der emotionale Hammer des Abends: Jonestown - The Life and Death of Peoples Temple (USA, 90 Min) beschreibt den größten Massenselbstmord des ausgegangenen Jahrhunderts. Eine zunächst visionäre Kirchenabspaltung um Jim Jones, die in den 60ern erheblich gegen Rassentrennung vorgeht, begibt sich in religiösen Fanatismus und paranoide Wahnideen. Am Ende entsteht Jonestown, eine Stadt mit vollem Überwachungssystem, 24 Stunden Beschallung vom Band und "glücklichen" Menschen. Nur wenig später ist Jonestown ausgestorben im wahrsten Sinne. Nachdem BBC Reporter ins Dorf kommen führt ein Eklat um Abwanderungswillige und deren Niedermetzelung zur Massenpanik und das kollektive Massenvergiften, das am Ende 900 Tote fordert. Der Film hat natürlich von Beginn an alles auf seiner Seite: Er hat ein mehr als spannendes, bewegendes Thema, er besitzt viele Bild- und Tondokumente und er hat betroffene Zeitzeugen, deren Kinder und Angehörigen in ihren Armen starben. Am Ende kulminiert alles in der Schilderung des Massenselbstmordes, die Interviewten brechen zusammen, der Film endet fast abrupt. Das halbe Kino ist noch konsterniert und geschockt, da geht schon das Licht an. Der Film hatte es mit dieser Konstellation zugegebener Maßen leicht den dritten Platz im Wettbewerb zu ergattern...
Rückblickend war das 49. Dokfilmfest Leipzig eine schöne Erfahrung, wobei das Drumherum für mich persönlich sicherlich viel beitrug zum Gesamteindruck. Sollte ich nochmal dort aufschlagen, gilt es die Perlen frühzeitig zu recherchieren und den Dilettantismus der osteuropäischen und deutschen Produktionen, der mit diesen häufig einherging, möglichst weiträumig zu umschiffen. Bei einer besseren Organisation der Festivalleitung und einer gezielten Filmauswahl ist Leipzig allemal einen Blick wert...