Die Filme der Gebrüder Dardenne
La Promesse ... Rosetta ... Le Fils
Mit LA PROMESSE setzten sie 1996 ihr Ausprobieren der anderen, oftmals intensiveren Gattung, des abendfüllenden Spielfilms fort (Ihre beiden zuvor erschienen fiktiven Filme Je pense à vous (1992) und Falsch (1987) sind praktisch kaum bekannt, geschweige denn aufzutreiben). Es ist die Geschichte des verschmitzten, manch einer würde sagen "pfiffigen" Jungen Igor (Jérémie Renier), der schnell gelernt hat, worauf es "ankommt im Leben". Er hat die Tricks und Maschen heraus, sein Vater (Olivier Gourmet) ist ihm dabei behilflich - er möchte ihn möglichst schnell zum Compagnon und "echten Mann" machen.
Sie schleusen Ausländer ein, lassen sie zu hohen Mieten in ihren beschissenen Bauten wohnen und setzen sie als billige Arbeitskräfte für weitere Bauarbeiten ein. Eines Tages stirbt ein Arbeiter aus Ghana nach einem Unfall in den Händen des Vaters und des Sohnes, die beide in Angst erstarrt, aber durchaus rational entscheiden, ihn lieber verbluten zu lassen, als den Mann zum Hospital zu bringen und damit möglicherweise etwas zu riskieren. Ab hier nun setzt der später auch im palmengekrönten L'ENFANT angewandte "Plottwist" ein: Die Reue, die Schuld-und-Sühne-Geschichte beginnt. Igor hat dem Ghanaer versprochen, sich um dessen Familie zu kümmern. Also tut er dies. Bald auch über den Kopf seines Vaters hinweg. Am Ende wird er seinen Vater anketten, betrügen, verraten, der Wahrheit zuliebe, der Menschlichkeit wegen. Hier liegt nun schon alles im Argen. Und gerade im letzten Verlust liegt der Moment der Reinwaschung.
Den Moment solch einer Reinwaschung von der - man würde es im religiösen Zusammenhang wohl Sünde nennen: doch religiös, das sind die Filme der Dardennes sicherlich als Allerletztes - vielmehr von der Schuld, in welche die Protagonisten stets durch ihre sozialen Umstände manövriert werden, solch ein Moment der Erkenntnis der eigenen Unmenschlichkeit, das ist der Moment der Wahrheit, der Bewusstwerdung (auch beim Zuschauer), des emotionalen Zusammenbruchs. In LA PROMESSE ist diese Situation noch sehr nüchtern ins Bild gesetzt, man könnte es vielleicht auch etwas hölzern inszeniert nennen. In ROSETTA, dem anerkannten Meisterwerk der Dardennes und Palmengewinner in Cannes 1999, wird dieser Moment erstmals ein ausbrechender, zusammenbrechender, ein Tränenmeer und auch einer, dessen Konsequenzen man im Gegensatz zum Ende in LA PROMESSE nicht absehen kann. Folgerichtig endet der Nachfolger mittendrin, unmittelbar, ohne Erlösung, ohne Befreiung.
ROSETTA erzählt die Geschichte eines White Trash Mädchens, das mit seiner alkoholabhängigen Mutter in einem Caravan an der Stadtgrenze einer Arbeitersiedlung in Belgien lebt. Die Kamera klebt an ihr, fast scheint sie wegrennen zu wollen, vor uns, vor der Kamera, vor allem, auch ihrem Leben. Sie muss ackern, arbeiten. In der Konstellation Mutter - Tochter haben sie und ihre Erzeugerin längst die Rollen getauscht. So wird Rosetta verantwortlich gleich für mehrere Leben. Und sie hasst es. Sie hasst sich und ihr Dasein. Émilie Dequenne - die das Mädchen hier so eindrucksvoll und authentisch darstellt, dass mir seit langer Zeit mal wieder Angst und Bange in einem solchen Sozialdrama wurde - sie lächelt nicht. Die Eiseskälte, die sie ausstrahlt rührt von den Umständen. Wie soll man in einer Gesellschaft, in welcher der kalte Hauch des fehlenden Mitmenschlichen einem jederzeit entgegenschlägt noch Lächeln können? In gehobenen Kreisen mag das zur Maskerade gerade ein Markenzeichen werden, doch tief unten im Arbeitermilieu, da herrscht eine Ehrlichkeit, bei der man die Gefühlslage auch im Gesicht ablesen kann.
Rosetta macht sich infolgedessen schuldig. In ihrem Verständnis gibt es genau einen Wert im Leben: Arbeit. Wenn sie bei einem Job gefeuert wird - sollte er auch noch so schäbig und demütigend sein - tobt sie wie ein kleines Kind. Das sind die einzigen Momente, in denen sie überhaupt kindlich agiert, ganz so als habe sie das Verlangen nach Arbeit anerzogen bekommen, oder aber auch den Willen nach einem Job über Konditionierung tief in der eigenen Persönlichkeit verankert. In ihrer Verzweiflung dann verrät sie ihren einzigen Freund (Fabrizio Rongione) - einen Jungen dessen Zuneigung sie automatisch vorher abblockt, auch hier naiv gesagt weil ihr Zuneigung nie "anerlernt" wurde. Diesem Jungen wird gekündigt, sie bekommt seinen Posten in einem Waffelimbiss. Für diesen Job macht sie sich schuldig, doch auch dieses Schuldeingeständnis verdrängt sie lange Zeit. Der Junge lauert ihr auf, verfolgt sie, tut ihr nicht weh, aber konfrontiert sie permanent mit der selbst verursachten Situation. Am Ende wird deutlich, woran es Rosetta in ihrer fehlgeleiteten Erziehung auch mangelt: Der Fähigkeit zur Kommunikation. Statt zu reden, bereitet sie einen Selbsttötungsversuch vor. Dieser schlägt fehl, nochmals lauert ihr der Junge auf, sie stürzt und es folgt ein Moment der Bewusstwerdung, der oben bereits angesprochene Moment des emotionalen Zusammenbruchs. Hier endet die Geschichte, und zwar geschickter Weise so brutal im Mittendrin, das wir Konsequenzen nur erahnen können, ein sicheres Wissen gibt es nicht. Stattdessen aber Erkenntnisse über ein Miteinander, die in ihrer Klarheit schockieren.
Weitaus unpolitischer, zwar nicht dem Milieu, aber doch dem sozialen Geschichtenerzählen entrückt ist der 2002 folgende Film LE FILS. Er handelt von einem Jungen (Morgan Marinne), der frisch aus dem Jugendknast entlassen einen Lehrlingsposten bei einem Tischler (nochmals der Lieblingsschauspieler der Dardennes Olivier Gourmet) annimmt. Dieser wirkt bei der ersten Begegnung und auch im Folgenden übermannt perplex, seine Wortarmut wird zum stärksten Charakteristikum für die Figur. Stück für Stück wird das Geheimnis um das seltsame Verhältnis der beiden Protagonisten enthüllt. Selbstverständlich handelt es sich auch hierbei um eine Schuld-und-Sühne-Geschichte. Die "Auflösung" entspinnt sich nach und nach. Doch die eigentliche "Auflösung" ist hierbei nicht der Schockmoment, kann es gar nicht sein, weil sie eben so schleichend kommt. Die entscheidende "Auflösung" ist der Moment der Erkenntnis und der Umgang der Figuren damit. Wie verhält sich der Eine gegenüber dem Anderen? wie verhält sich der Vater gegenüber dem sich schuldig gemacht habenden Sohn? Wie stellt sich die Reue dar? Wie soll eine gemeinsame Zukunft aussehen?
LE FILS wäre der positivste Film der Dardennes, wenn denn solch eine Zuordnung überhaupt angebracht wäre. Er beinhaltet einen Lichtblick. Das ist aber vor allem auch deshalb möglich, weil er die Geschichte zweier Personen und ihre Konstellation zueinander beleuchtet. Dies ist sehr privat und intim - das sind die anderen Filme der Dardennes allerdings auch - dies ist aber gemünzt auf eine Einzelsituation, ein besonderes, vollkommen konstruiertes Erzählgefüge. Eine gesamtgesellschaftliche Aussage macht LE FILS kaum bis gar nicht. Er erzählt zum Einen die Geschichte einer abhanden gekommenen Menschlichkeit in Form des jugendlich-unbekümmerten Lehrlings. Doch auch dies ist nur sehr grob gezeichnet und ereifert sich nicht darin eine soziale Dimension mit zu skizzieren. Er beleuchtet zum Anderen die wichtigere Figur des Menschen, der das Unfassbare nicht begreifen kann, aber unbedingt will. Die Präzision, Ordnung und der richtige Rhythmus sind dem Vater schon in der "Berufung" vorgegeben. Dass er ausgerechnet Tischler ist lässt sogar religiöse Interpretationen zu. Insgesamt aber bleibt LE FILS im Kleinen, im Detail, im Subjektiven. An ihre Meisterwerke ROSETTA und L'ENFANT reicht er damit nicht heran, ist aber für viele Zuschauer mit der klareren Motivlinie der vielleicht bekömmlichere Film.
LE FILS sticht ästhetisch trotzdem aus dem normalen Programmkino-Markt hervor. Wie alle Filme der Dardennes. Sie filmen im Milieu über das Milieu und aber noch ein ganzes Stückchen mehr, über verloren gegangene Menschlichkeit, Schuld, Sühne und gehetzte, in der Arbeitsgesellschaft oft ziellose Sinnsuchen. Die Dardennes machen ein Kino der kritischen Arbeiterklasse, das weitaus weniger romantisierend, verklärt oder populistisch ist wie das der linken Kollegen. Sie finden einen Stil, der zu überlegt ist, um sich solchen Begriffen zu widmen - einen Stil, der auch so überlegt ist, dass er sich einer einfachen Rezeption nicht öffnen will. Wie so häufig im guten Kino benötigt man Geduld - und wird dann belohnt mit einem kritischen Kopfkino, das die Grenze zum Prätentiösen, die so viele Arthouse-Kollegen schon lange überschritten haben, nicht mal streift.