Stresenale - Tag 7
Die Entblößungs- wird zur Inszenierungsstrategie in Romuald Karmakars Hamburger Lektionen (D 2006). Manfred Zapatka verließt zwei Reden von Muhammed Fazazi, einem Hassprediger, der als Ratgeber (und wohl auch maßgeblicher Aufhetzer) der Hamburger Gruppe in größtem Maße mitverantwortlich für die Terroranschläge von New York, Madrid und Casablanca war. Zwei Reden von ihm aus dem Jahr 2000 wurden in diversen Büchereien in Hamburg per Tape vertrieben, liegen eins zu eins vor. Zapatka gibt diese orginalgetreu wieder; skeletiert den Text, die Ideologie; rationalisiert das Gegebene, verändert das Dispositiv von hitziger Phonetik zu vorlesender Erzählerdistiktion; erzeugt über die Monotonie nur mit Hilfe von eingeblendeten Untertiteln Gänsehaut ("Viele Teilnehmer brechen in Jubel aus. Einer ruft Allahu Akbar! Gott ist groß!") - Inmitten eines "objektiven" Gestus werden die mittelalterlichen Anschauungen und deren Phrasierungen erst so richtig deutlich. Das Filmexperiment macht begreiflich, macht unbegreiflich, macht schläfrig, lässt aufschrecken. HAMBURGER LEKTIONEN ist ein Marathon an Gefühlen mit Kurven nach oben und unten ausschlagend - anstrengend, schwer verdaulich, aufregend, monoton. Ein kleiner Film über ein großes Thema, eher sogar ein minimalistisches Theaterstück über einen maximal politischen Affekt. Es lässt sich sagen: Ein neuer Ansatz. Ein interessanter Ansatz. Vielleicht nicht unbedingt ästhetisch überzeugend. Es lässt sich auch fragen: Ein effektiver Ansatz? Ein nötiger Ansatz? Klare Antwort: Absolut. Lange keinen Film mehr gesehen, der mich über ein politisches Thema auch im Nachhinein noch so stark reflektieren hat lassen.Andrew Dominiks The Assassination of Jessie James by the Coward Robert Ford (USA 2007) ist ein Film, der im Nachhinein gewinnt. Eher ein Werk, das im Moment der Rezeption nur aus Bildern, Musik und Schauspielkino besteht - in gewisser Weise distinguiertes Hollywoodhandwerk - das mit den letzten Zeilen aber dazugewinnt und erst dann seine Seele richtig offenbart. Beim Erstkonsum ist THE ASSASSINATION OF JESSIE JAMES ein Biopic-Western, ein bisschen Psychostudie und im Großen und Ganzen schlicht episch angelegtes Historiendrama in elegischen Bildern. Beim zweiten Hinschauen ist der Film eine Studie über Brüchigkeiten von Images; Unvollständigkeiten, Nicht-Perfektion und Schattenseiten von vermeintlichen im Rampenlicht stehenden Übermenschen; sprich über die menschliche Fehlerhaftigkeit des homo sapiens, über Mythosbildung und ihre Destruktion.
New York als unsafe, ugly spot - Repräsentant für die Unsicherheiten des eigenen Volkes, das sich nur noch selbst helfen kann. Jodie Foster tut dies in The Brave One (Neil Jordan, USA/Aus 2007) - einem Film, in dem Foster als gedemütigte, alleingelassene Frau so eine Art Goodgirl-Robofrau Bereinigungsamok läuft. In New York trifft man nämlich alle 2 Nächte auf jugendliche Schläger, Vergewaltiger, perverse Freier und korrupte Finanzhaie. Die können ruhig über den Haufen geschossen werden, das meint letztlich auch der Cop. Wie man es nun lesen will - entweder zerstört das reaktionäre, unglaubwürdige und wildgewordene Szenario einen zu Anfang soliden Dramaanteil, oder aber Fosters Innenbeleuchtung eines unstabilen, sich im Angesicht seines Schicksals komplett dem Trauma ergebenden Charakters rettet den Film zumindest in mittelmäßige/ambivalente Gefilde. Für mich ist THE BRAVE ONE zumindest der bessere Revenge-Movie im Vergleich zur absoluten Übergurke DEATH SENTENCE. Und eine Kleinigkeit fand ich an dem Film sogar bemerkenswert: Fosters Gewaltvehikel thematisiert die mediale Verarbeitung des Traumas - sie schaut und hört sich die Handy-, Mikrofon-, Tonbandaufnahmen und Überwachungsvideos des Überfalls auf sie und auch ihrer darauffolgenden Taten immer und immer wieder an. Nach 9/11 sicherlich eine bedeutsame Komponente, die zeigt, dass sich die Macher dabei hin und wieder etwas gedacht haben. Nur leider viel zu selten...
Agnes und seine Brüder (D 2004) ist so ziemlich der schizophrenste Film, der mir je unter die Augen kam. Das Problem der angemessenen Dosierung von Komödie und Tragödie ist kein Neues, aber Oskar Roehler schafft es hier einen Prototyp von solch einem missratenen Bastard vorzulegen. AGNES UND SEINE BRÜDER ist genau genommen eigentlich nur eine wild herumgestikulierende Farce - ein blindwütiger Ersatzteillagerklau aus AMERICAN BEAUTY, FIGHT CLUB, HAPPINESS und einem Kino das gerne Pedro Almodovar zugeschrieben wird - natürlich stets missachtend, das so etwas auf deutsch immer ziemlich dämlich aussieht. Am Liebsten aber würde Roehler ja doch beim deutschen Kino bleiben und verkneift es sich nicht krampfhaft Verbindungen zum ollen Fassbinder herstellen zu wollen. Margit Carstensen bekommt eine Rolle, deren halbherzige Szenen mit zwanghaften Psychologisierungen am Ende auch noch der Schere zum Opfer fielen, wie man in den Deleted Scenes nachsehen kann. Spätestens hier wird diese "Schaut her, ich bin genauso durchgeknallt wie der olle Rainer Werner"-Attitüde am sichtbarsten, mit der Roehler sich gerne in die Nähe eines am Endpunkt angekommenen, hysterischen Gesellschaftportraits auf der Kinoleinwand rücken würde. Ist AGNES aber nicht. Dazu ist er zu dumm, zu kalkuliert, zu sehr Flickwerk, auch: zu deutsch und zu sehr in seiner Zeit verhaftet. Wir leben nicht mehr in den 70ern und Roehler ist kein potenzieller Überdosispatient, dem die alte historische Last und die Opa-Generation auf den Schultern lastet. Stattdessen sind wir angekommen im werbestrategisch relevanten Zielpublikum anno 2000after. Roehler inszeniert alles cool und hip, mit Special Guests (u.a. Til Schweiger und Kelly Trump). AGNES UND SEINE BRÜDER ist plumpestes Rabiatkino und sogar noch schlimmer als sein Nachfolger ELEMENTARTEILCHEN, der nach diesem Querschläger keinen mehr überrascht haben sollte...