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Ornament und Verbrechen - Filmforen.de - Seite 2

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Ornament und Verbrechen


54 Antworten in diesem Thema

#31 The Critic

    Mad rabbits, mad world

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Geschrieben 01. Mai 2006, 12:52

Die Filmgeschichte ist voller Zweikämpfe, die sich schon im Titel ankündigen: Earth vs. the Flying Saucers, The People vs. Larry Flynt, Proletariat vs. Bourgeoisie, Mosura tai Gojira oder einfach mal Versus. Nun sind wir alle als moderne Menschen natürlich außer am ersten Mai gegen den bösenbösen Kampf. Umso wichtiger ist die kulturelle Sublimation der Aggression, weshalb es heute Kampfkritiken gibt. So eine Art Celebrity Death Match. Nur ohne Berühmtheiten. Äh - und ohne Tod. Naja, fast ohne Tod.

Runde 1: Caprona, das vergessene Land vs. U 2000 – Tauchfahrt des Grauens

Im Vorspann zu Caprona sehen wir die Reise einer Flaschenpost, die dem Zuschauer die Geschichte des vergessenen Landes enthüllen wird. Das hat den großen Vorteil einer Rahmenhandlung, aber den Nachteil, dass man in Kombination mit dem Titel schon frühzeitig ahnt, wohin das U-Boot schwimmen wird. Dramatik ist was anderes, zum Beispiel der Vorspann von U 2000, in dem unterseeische Irrlichter für Spannung sorgen und der beweist, dass Inoshiro Honda mehr als versiert ist in der Inszenierung des Meeres. Im Anschluß werden ratzfatz die Erkennungsmerkmale der Bösewichter etabliert und diese Schurken ohne Umwege als Bewohner des untergegangenen Inselreiches Mu identifiziert. Hier will sich Caprona nicht das Wasser vom Boot nehmen lassen und fährt auch ein Eiland auf, elegant vom ewigen Eis ummantelt. Kevin Connor scheint es für eine gute Idee zu halten, seine Insel mit Saurierpermutationen zu bevölkern, da er bemerkt, dass Honda einen Godzillafilm ohne Godzilla gedreht hat. Doch Honda kontert en passant mit dem schönsten Unterwasserdrachen aller Zeiten, den nur Laien mit dem Hinweis auf die Augsburger Puppenkiste abtun können, und zum Beweis seiner Stärke führt er auch gleich eine ganze Reihe wunderschöner Miniatursettings vor, denen Connors Film nicht annähernd das Wasser reichen kann. Statt dessen gerät er weiter ins Hintertreffen, weil er sein U-Boot mit allerhand Abstrusitäten von Sägen über Beiboote bis zu ganzen Raffinerien vollpackt. Doch da, ein kapitaler Fehler von U 2000! Ellenlange Eingeborenentänze, die schon das Publikum in diversen anderen G-Filmen missmutig stimmten, bringen den Film zum Straucheln. Diesen Makel bemüht sich Caprona zunutze zu machen und probiert sich an der Etablierung von Ernsthaftigkeit, indem er die Sinnlosigkeit des Krieges darzustellen versucht. (Anhand der Tonspur kann man bemerken, dass in Deutschland dieses Ansinnen anno 1975 dem Film durch einen modischen Schnitt ausgetrieben werden sollte.) Doch bleibt dieser Versuch wirkungslos; schnell kontert U 2000 mit einer schlüssigeren und dramatisch wirkungsvolleren Verhandlung der Nachkriegsrealitäten, die sich im Schicksal der verschiedenen Protagonisten niederschlägt. Diese Überlegenheit baut U 2000 weiter aus und fragt spottend ins Publikum, ob es eine besonders sublime Kriegsgewinnlerschelte von Caprona sei, dass derselbe Pulloverfabrikant Deutsche und Engländer beliefert habe. Beschämt versucht Caprona sich auf seine Abenteuerqualitäten zu konzentrieren und fixiert sich auf den Heldenstatus von Doug „Sie kennen mich aus Serien wie den Simpsons“ McClure. Doch U 2000 hat die größte Schwachstelle des Feindes ausgemacht und klopft an den tönernen Füßen des Gegners, dessen evolutionsbiologischer Mumpitzüberbau sofort in sich zusammenfällt und die Aussage der Biologin, sie habe immer in der Uni aufgepasst, Lügen straft.
Ein klarer K.O.-Sieg für Hondas Film; es genügt eben nicht, Karel Zemans Die Reise in die Urwelt rückwärts aufzunehmen und sich auf die Schauwerte zu verlassen.


Runde 2: Bloodsucking freaks vs. C.H.U.D.

Joel M. Reed’s Film geht gleich in die Vollen, in dem er zu stimmungsvollem Georgel dem Zuschauer „Untergrund! Untergrund!“ entgegenbrüllt. Steife Schauspieler, unbeholfene Kameraführung der Prä-Video-Ära und armselige Kulissen – ein breites Grinsen fährt C.H.U.D. über das Gesicht, wenn er dagegen hält mit einer Eröffnungssequenz, welche die Anonymität der Großstadt, Entfremdung durch sozialen Niedergang und Monster aus dem Untergrund mit wenigen Einstellungen etabliert. Doch was ist das? Das Grinsen gefriert, denn Bloodsucking Freaks zieht eine Nackte mittels Kettenzug durchs Bild. Verdammt, die Sensationsgierkarte. Das Spiel wird für Douglas Cheek wohl doch nicht so einfach wie erwartet, besonders weil jetzt Bloodsucking Freaks Referenzrahmen sichtbar wird: Graf Zaroff und das Grand Guignol Theater. Keine dumme Idee, den Zuschauer mit der Frage nach der Echtheit des Gezeigten in seinem Rollenverständnis zu verunsichern. C.H.U.D. probiert mit ein paar vorhersehbaren Schockmomenten Vorteil zu erlangen, was aber vom Gegner mit Bildern hohen Ekelfaktors locker gekontert werden kann. Seamus O’Brien und sein Porno-Zwerg könnten locker gegen Divine im Kampf um den von John Waters ausgelobten Titel der *Filthiest person alive* antreten. Naja, eher *...not alive*. Doch da holt C.H.U.D. langsam wieder auf, indem er den urbanen Abschaum inszeniert, anstatt einfach den Keller des Produzenten wie in Bloodsucking Freaks abzufilmen. Mehr und mehr zieht dieser sich in die Ecke zurück, wo auch der Cast sich größtenteils heimisch fühlt – im Porno. Doch funktioniert das Pornokonzept nicht mit jedem Bohrinstrument gleichermaßen, die von Medienwächtern behauptete Aufgeilung an Gewalt bleibt aus. Da kann C.H.U.D mit klassischem Spannungskino entspannt Vorteil erlangen und mit überlegenem Lächeln Joel Reed’s verzweifeltes Durchblättern von de Sades Lexikon beobachten. Er rafft seine Kräfte noch zu einem verzweifelten Finale auf, aber die Hupfdohle, die A wie Anmut und S wie Stolpern nicht auseinanderhalten kann, ist wohl der Anticlimax schlechthin. Ein leichtes Unterfangen nun für C.H.U.D. mit Enthüllung des Titelgeheimnisses und großem Krawumm seinen Vorsprung zu festigen. Ein schöner Sieg des Undergrounds über den Untergrund; ein Triumpf, der auch nicht durch Reel’s knackige Idee gefährdet war, das Absägen von Ballettschuhen samt Primaballerinainhalt mit Alleinunterhalterschwanensee zu unterlegen.


Runde 3: Die fliegende Guillotine vs. Die fliegende Guillotine II

Das Original, das nach den Wettbüros der IMDB die leicht besseren Chancen hat, schöpft gleich aus den Vollen und etabliert in gelungenen Sequenzen die Entstehung der titelgebenden Wunderwaffe. Auch die Auswirkungen auf Stöckchen, Hölzchen und Köpfchen wird uns eindrucksvoll demonstriert, was im Film in abwechslungsreichen Variationen in seiner blutigen Konsequenz noch desöfteren vorgeführt werden wird. Hier hält sich die Fortsetzung naturgemäß etwas zurück, die Weiterentwicklung der Waffentechnik enttäuscht gelinde gesagt ein wenig. Schon wähnt sich das Original als Sieger, aber die eitle Selbstverliebtheit zum technischen Spielzeug sieht Teil II mit wachem Auge und holt zum Gegenschlag aus. Langsam beginnend setzt sie dem Original eine optisch gelungenere Guillotinetechnik entgegen, verschärft das Angriffstempo durch eine überzeugendere Kampfchoreographie und bringt mit opulenteren Settings und schnittigerer Kameraführung Hoh Mung-wa’s Film in Bedrängnis. Der kontert mit angetäuschtem historischem Kontext, um sich durch Ernsthaftigkeit eine kleine Verschnaufpause zu verschaffen. Achtung! Ich sehe, Teil I zieht jetzt die Familienkarte mit tragischem Fluchtschicksal. Doch davon lässt sich der Nachfolgefilm, den Hua Shan drehte, nicht verwirren, jetzt geht es Schlag auf Schlag. Die Dramatik des ungewissen Schicksals eines tyrannisierten Landes arbeitet er besser heraus, die Tragik der handelnden Personen akzentuiert er prägnanter und etabliert außerdem noch eine starke Frauenfigur, die von Si Si mit Bravour verkörpert wird. Eine letzte Gegenwehr versucht der erste Teil noch, indem er die ungewöhnliche Schwäche von Ti Lung mit romantischem Sonnenuntergangsende ausnutzen will, aber die Fortsetzung versetzt dem Original einen Todesstoß durch einen exquisiten Showdown, in welchem nicht nur lustige Ulzanaperücken der Palastwache zu bewundern sind, sondern auch der König höchstpersönlich zum eindrucksvollen Kampf gegen die Rebellen antreten darf. Sieg in nahezu allen Belangen, wer hätte das bei einer Fortsetzung erwartet, die gewöhnlicherweise ... aber was sehe ich da? Ein Opponent aus dem Publikum betritt den Ring, das ist doch nicht etwa – oh ja, jetzt erkenne ich ihn, es ist die illegitime Fortsetzung Duell der Giganten, die die Niederlage ihres Meisters rächen will.
Noch bevor sich Die fliegende Guillotine II versieht, holt Jimmy Wang Yus Film zum entscheidenden Schlag aus. Er versucht erst gar nicht, sich auf demselben Terrain der historischen Glaubwürdigkeit zu messen, sondern schleudert seinen Opponenten ins Reich der fabulösen Unwahrscheinlichkeiten. Es ist eine große Freude zu sehen, welch absonderliche Waffen und Kampfstile er kreiert, um sich nicht mit gräulicher Ernsthaftigkeit zu beflecken. Wie manisch produziert er immer neue Gegner, unter denen sich auch bizarre Koryphäen aus Indien und Thailand befinden. Das Publikum johlt begeistert bei jeder neuen, noch kreativeren Attacke, da kommt The flying guillotine II mit dem etwas hausbacken wirkenden Konzept der klassischen Kampfstile nicht ganz so gut an. Derart in Bedrängnis, versucht er sich mit vereinter Leinwandpräsenz von Ti Lung und Guk Fung zu wehren. Doch darauf ist Duell der Giganten vorbereitet, hat sich Jimmy Wang Yu schon als einarmiger Schwertkämpfer mit ihnen bekannt gemacht und Ti Lung nie verziehen, dass er in dieser Reihe von jenem versierten Kampfsportdarsteller verdrängt wurde. Doch nun scheint die Zeit der Rache gekommen, in einer großartigen Volte etabliert Duell der Giganten Kam Kong als blinden Bösewicht der Extraklasse und bevor sich Teil II der fliegenden Guillotine von diesem Coup erholen kann, wird er vom musikalischen Thema, mit dem der Blinde stets auf der Tonspur angekündigt wird, in Grund und Boden gerammt; diese wenigen langgezogenen Klagetöne hinterlassen mehr Eindruck als der gesamte orchestrale Score von Die fliegende Guillotine II.
Ja! Ja! Ja! Duell der Giganten geht als der große Überraschungssieger aus dem Finale hervor und trägt ab sofort mit vollem Recht den Titel Master of the flying guillotine!

Ich gebe zurück ins Studio, wo über das Ausbleiben des Klassenkampfes am heutigen Tag auch nicht berichtet wird.

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#32 The Critic

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Geschrieben 21. Mai 2006, 21:33

Die Geschichte des Science-Fiction-Filmes würde ohne Marincsák György vollkommen anders aussehen. Marinwer? Schwierig zu merken, wer kann schon ungarisch, weshalb sich der gute Mann nach seiner Flucht vor den Nazis auch in George Pal umbenannte. Dieser Name sollte eigentlich spätestens seit Verwendung im Eröffnungslied der Rocky Horror Picture Show wieder ein Begriff geworden sein, steht er doch wie kaum ein anderer für den filmischen Aufbruch ins All; eine Reiseerzählung, die sich später in düsterste Alpträume und märchenhafte Seifenopern aufsplittern sollte.
Davon ahnte man 1950 aber noch nichts und so sind damals entstandene Weltraumabenteuer wie Destination Moon noch beides – Menetekel des Todes und bonbonbunte Paradiesprojektionen. Der Kassenerfolg von Endstation Mond, so der dramatisierende deutsche Verleihtitel, war neben dem zeitgleichen Triumphzug von Rakete Mond startet (Rocketship X-M) die Initialzündung für eine Science-Fiction-Welle, die mehr als 15 Jahre anhalten sollte. Ein wenig wundert heutzutage die damalige Begeisterung für Pals Film, bei dem übrigens Irving *Graf Zaroff* Pichel Regie führte, schon. Sicher, der Film ist fein anzusehen, die Technicolorbilder erzeugen auch heute noch ein schauderndes Sehnen nach diesem wohlgefälligen Weltraumbild. Chesley Bonestell, dessen fotorealistische Allgemälde Belletristik und Magazine wie *Popular Science* illustrierten, gestaltete die Settings so überzeugend, daß George Pal ihn auch für seine anderen SF-Werke engagierte. Die Spezialeffekte erhielten einen Oscar; nicht zuletzt muß man den Machern zugute halten, daß sie bei der Konstruktion der technischen Apparaturen sich an keinen Vorbildern orientieren konnten und ihr Werk setzte Maßstäbe, die heute zwar überholt, aber nicht lächerlich wirken – was man nun wirklich nicht von jedem Nachahmerfilm behaupten kann.
Wenn Destination moon auch gefällig ist – der überzeugendere Film ist Rocketship X-M allemal. Man mag gar nicht glauben, daß an Pals erzählerischem Rumgekrebse ein namhafter SF-Autor wie Robert A. Heinlein beteiligt gewesen sein soll. Hier werden Sachen wirr zusammengeschraubt, ganz dem amerikanischen space race Optimismus verpflichtet, der einige Jahre später unvermittelt unter dem Sputnikschock zusammenbrach. So wird in der Filmhandlung erst gar nicht Vati Staat zur Finanzierung angebettelt, der mit übertriebenen Bedenken wie der Verstrahlung der umliegenden Ortschaften durch den Raketenatomantrieb dem nationalen Projekt Steinchen in den Weg legen will. Stattdessen bittet man einige Wirtschaftsmagnate um großzügige Spenden, die aber nicht so recht von dem Bettelfilm überzeugt sind. Vielleicht hätte man dafür nicht ausgerechnet einen Cartoon mit Woody Woodpecker produzieren sollen, aber schließlich ist dessen Cameo ein Markenzeichen von George Pal. Ein beherztes Wort vom General überzeugt dann aber doch die Bosse, schließlich will man den anderen *zwinkerzwinker* nicht den Mond als Raketenabschussbasis überlassen. Dann schon lieber selber die Weltherrschaftsbestrebungen finanzieren. Auf dem Weg zum Mond und zurück gibt es dann noch einige Drehbuchschlenker, die wohl Probleme und deren Lösungen darstellen sollen, aber so hölzern und ungelenk daherkommen, daß man sich fragt, ob die Filmemacher Angst vor einer allzu großen Ablenkung der Augen durch das Gehirn hatten. Ideell aufgewertet wird das Ganze dann noch von einem gerüttelt Maß Gottvertrauen, ebenfalls ein Markenzeichen Pals, das seinen traurigen Höhepunkt in seinem Film Conquest of space findet.
Wieviel schlauer ist doch Kurt Neumanns Rocketship X-M, der seine budgetbedingten Mängel a la Raumschiff Orion mit einer durchdachten Geschichte wettmacht. Klar kann man sich darüber amüsieren, daß man mit Rechenschieber und Bleistift die Flugbahn der Rakete berechnen wollte. Aber das Bild, das der Film vom Kosmos zeichnet, ist in diversen Punkten realistischer – sei es die Gefährdung durch Meteoriten, sei es die Demonstration kosmischer Entfernungen durch die Kommunikationsverzögerung. Auch kann der Film eine interessante Frauenrolle vorweisen, die nicht nur zum Kaffeekochen im All dient. Doch erst wenn die Rakete X-M landet, wird in Gänze das clevere Konzept des Filmes sichtbar, der sich nicht wie Destination moon selbstgefällig darin aalt, daß man nun auch auf den Mond zu fliegen gedenkt. Während Pals Rakete den Mond umkreist, dringt Neumanns Rakete ins Zentrum des Menschseins vor. Muß ich noch ausführen, welchem der beiden Filme ein pessimistisches Ende beschert ist?
Tja, und nachdem ich lang und breit ausgeführt habe, was mir an Rocketship X-M besser gefällt, bleibt nur noch eins zu sagen: Ich mag einfach beide Filme. Und vielleicht sind die Astronauten aus Neumanns Film sogar in dem Krater gelandet, der nach Bonestell von Pals Film benannt ist. Wenn das kein versöhnliches Ende ist.

In der letzten Titanic wurde die DVD Relentless von Bill Hicks rezensiert. Ich kann die humoristischen Qualitäten des Mannes nicht wirklich einschätzen, aber wer aufgrund seiner Religionswitze Prügel von einem Südstaatlerrudel angedroht bekommt und die Traute hat, auf deren Zuruf „Hey, Kumpel, wir sind Christen und uns gefällt nicht, was du da gesagt hast!“ mit einem „Dann vergebt mir.“ zu antworten, der sollte nicht einfach so im Sumpf des Vergessens versinken. Möge es für ihn eine Leber nach dem Tod geben!

Apropos Südstaatlerrudel: Hershell Gordon Lewis’ Two Thousand Maniacs! ist genau die Art von durchgeknalltem Spektakel mit Hintersinn, wie ich es mir vorgestellt hatte. Vielleicht hatte ich mir die Gewalt etwas maliziöser ausgemalt, an einigen Stellen sieht man dem Film doch die argen Budgetbeschränkungen an. Egal. Wie John Waters, sein Bruder im Geiste, der folgerichtig auch in Blood Feast 2: All U Can Eat mitspielt, kreiert Lewis ein hysterisch zuckendes Spiegelbild der Gesellschaft, das manche als Zerrspiegel ansehen wollen, das aber nur ein Vergrößerungsglas darstellt. Zu schade, dass Lewis am Ende nicht konsequent bleibt. Zwar greift er nicht auf das ausgelutschte Alles-nur-ein-Traum-außer-Mutti zurück, doch er rettet sich mit einer wohlbekannten, aber obskuren Finte aus der Geschichte, die dem Gezeigten die Schärfe nimmt.
Den Filmrhythmus gibt ein Wechsel von Totalen und Nahaufnahmen vor, der sich bei vielen Untergrundfilmern dieser Zeit findet. Ich kenne mich nicht so aus, aber vielleicht war das vor Erfindung der Steadycam die einzige Möglichkeit, Dynamik zwischen den Bildern zu erzeugen, wenn man keine aufwändige Kameraausrüstung für ausgedehnte Dollyfahrten hatte. Mir scheinen jedenfalls beide Stilmittel von Lewis sehr effektiv inszeniert zu sein; sowohl die Lynchmobstimmung der Massenszenen als auch die Verinnerlichung des ideologischen Wahns im Individuum gingen nicht nur den Filmfiguren unter die Haut. Speziell die eigentlich harmlosen Fähnchenwedelszenen hinterließen bei mir ein äußerst unangenehmes Gefühl. Vielleicht bricht sich da aber auch nur eine Prä-WM-Neurose Bahn, angetriggert durch Super-Dickmanns mit schwarz-rot-goldenen Streuseln und ähnlichen Unsinn.
Zu den Schauspielern muß man nichts weiter sagen, sie sollen Archetypen darstellen und es ergab sich für mich nie die Frage, wo diese Darsteller sonst noch ihren Charme versprüht haben. Wirklich frage ich mich aber, wie man Statisten dazu bewegt, in so einem Film mitzuwirken. „Hallo Oma, ich habe Dich letztens in diesem Film von dem Irren gesehen, der unseren schönen Bundesstaat so in den Dreck zieht. Zwischen all den Hinterwäldlern sahst Du besonders dümmlich aus.“ Naja, vielleicht auch eine müßige Frage in Zeiten, in denen man in den FSK 18 Läden ständig von DVDs wie „Gummiomas VI – Nicht ohne meine Schokofüllung“ belästigt wird.
Two Thousand Maniacs! hat sich sein Ausrufungszeichen redlich verdient und ist eine interessante Zeitreise in eine Ära, in der das Backwoodgenre noch Impulse geben konnte und nicht durch immer absonderlichere äußere Mutationen auf die Deformationen der Hillbillies hinweisen musste. Was im Umkehrschluß nahelegt, daß sich das heutige Publikum an deren geistige Entstellung gewöhnt hat.

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#33 The Critic

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Geschrieben 24. Mai 2006, 09:53

Hatte mich schon über die neue Kampagne von Tele5 gefreut. Die Werbung "Wir leben Kino!" mit einem typischen Serienkillerbild zu verzieren, ließ auf verschärfte kapitalistische Konvulsionen hoffen. Arbeitsplatzabbau im Redaktionsgebäude, ungewöhnlich zwar, aber bestimmt mit Zustimmung des Personalrates. Hatte mir dann schon ausgemalt, daß die nächste Einstellung wohl ein verrückter Wissenschaftler sein würde, der zum Zwecke der Kapitalakkumulation das überflüssige Humankapital in grünen Monsterschleim verflüssigen würde.
Dann aber mitbekommen, daß der Slogan nur "Wir lieben Kino!" heißt. Da war der Wunsch wohl Vater des Gedankens. Typisch, die Alimente sind wieder nur ungedeckte Schecks. Aber wie sangen schon Foyer des Arts? "Das Leben ist uninteressant, uninteressant, aber schön..."

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#34 The Critic

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Geschrieben 05. Juni 2006, 19:03

Zwei Männer landen auf einer abgelegenen Insel. Der eine muss pissen, der andere beäugt unsicher die Umgebung. Nicht, weil er noch nie jemanden in den Busch pinkeln sah, sondern weil I) gerade der Fährmann spornstreichs das Weite suchte, II) gruslige Musik der Goblins auf der Tonspur rumwabert und III) kurz vorher der Titel We’re going to eat you eingeblendet wurde, der ihn wohl zur neuen Nachdenklichkeit über diewirklichwichtigendingedeslebens bewogen haben dürfte. Doch viel Zeit zum Versinken in Weltschmerz über die Nichtigkeiten des irdischen Daseins bleibt nicht, da eine Horde Maskierter ihm den Garaus macht. Glück gehabt, kann man da nur sagen, denn sein Kumpel hat es bei weitem nicht so gut. Erst muß er mitansehen, wie der Tote in kochtopfgroße Stückchen gehackt wird, dann erfährt er am eigenen Leibe, welche Gefühle eine Laubsägearbeit so entwickelt. Wie jene in der Vorweihnachtszeit dient sein Tod einem guten Zweck, schließlich ist die Dorfgemeinschaft nicht nur degeneriert, sondern auch heißhungrig. Wie schön, wenn da der Gong zum Essen ertönt!
Tornadogleich fegt der Auftakt zu Tsui Harks zweitem Film die rationalen Bedenken des Zuschauers hinweg. In diesen ersten zehn Minuten verbrät der Regisseur schon mehr Ideen als andere für einen ganzen Film zusammenkratzen können. Mit der Ankunft des Spezialagenten 999, der einen Bösewicht auf der Insel dingfest machen soll, gewinnt der Film noch deutlich an Fahrt. Liebe! Intrige! Kung-Fu-Kannibalen! Alles, was das Herz begehrt, ist hier wie in einer großen Wundertüte versammelt und man darf reinlangen, bis Bauch und Augen schmerzen. Hark spielte ein Jahrzehnt vor Tarantino schon Den Sanften Assimilator und vereinnahmte alles, was die westliche Filmproduktion hergab, ohne daß man ihn des Plagiats verdächtigen würde. Wer Spaß daran hat, kann eine Liste von I wie Fleming bis T wie Hooper erstellen, sollte aber den offensichtlichsten Einfluß, die italienischen Exploitationkracher, nicht vergessen. Gerade hier macht sich das Konzept Harks bezahlt, weil der eingestreute Humor den genretypischen Nihilismus verhindert, ohne daß die Horrorelemente in ihrer Wirkung gemindert würden. Daran ist auch Corey Yuens ausgefeilte Kampfchoreographie beteiligt, die er in seiner Körperkomik später mit Jackie Chan noch vervollkommnete. Für heutige Verhältnisse ist die Kung-Fu-Keile natürlich viel zu unepisch und hat zu wenig Farbdramaturgie, aber für die Zeit ist das state of the art. Wenn sich der Superduperspitzel mitten in der Kampfbewegung eine Zigarette auf der Stirn des Gegners rollt, dann merkt man schmerzlich, was man mit dem modernen Ästhetizismus der Tiger-Dragon-Schule verloren hat.
Bei aller Begeisterung soll nicht verschwiegen werden, daß für die Schauwerte die Story- und Charakterentwicklung leider etwas vernachlässigt wurde. Mehr als einmal hat man das Gefühl, daß man ein Intermezzo betrachtet, das nur notdürftig den Abgrund zwischen zwei Szenen kaschieren kann. Auch in diesem Punkt gleicht Tsui Harks Film den italienischen Vorbildern. Er ist zwar Antipode zu Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust, aber dennoch wie dieser einer der Höhepunkte des Kannibalenexploitationkinos. Warum braucht’s auch immer was Tiefgründelndes, wenn das Gaffen so viel Spaß macht wie bei We’re going to eat you? Mein Vorname ist schließlich nicht Bundesprüfstelle; insofern habe ich auch kein Problem mit der Selbstzweckhaftigkeit an sich und im Allgemeinen. Ganz im Gegensatz zu einigen Berufsempörten aus dem Dokumentarfilm Mama, Papa, Zombie, den ich übrigens weit weniger hetzerisch finde, als es sein Ruf bei Horrorfans vermuten läßt.

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#35 The Critic

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Geschrieben 08. Juni 2006, 11:17

Ein äußerst schlechter Anfang für einen Film ist immer eine Belehrung des Zuschauers. Da es eher selten bei dieser Standpauke um die unterschätzten Fallstricke quantenmechanischer Gleichungen geht, fühlt man sich als Publikum nicht wirklich für vollgenommen. Da muss schon einiges auf den nächsten Filmmetern passieren, damit man mit dem Film wieder ausgesöhnt wird. Bei Der Tod trägt schwarzes Leder ist man über das Ärgernis durch den anfänglichen Aufklärungsmonolog, der über die schröcklichen Gefahren des modernen rasanten Lebens für unsere Jugendliche informieren soll, schnell hinweg. Zack! Schon kriegt man eine nackte weibliche Leiche um die Ohren gepfeffert. Bumm! Die Ermittlungen deuten auf unkeusches Verhalten der Jugendlichen (siehe auch -> Kinder, die unschuldigen) hin. Peng! Die Ermittlungen zum Fall wirbeln soviel Staub auf, dass weitere Opfer folgen.
Regisseur Massimo Dallamano versteht es, die Spannung in der Geschichte aufrechtzuerhalten. Vielleicht auch, weil er kurz zuvor mit Das Geheimnis der grünen Stecknadel seinen Wallace auswendig gelernt hat. Folglich schleichen einige Figuren sehr dämonisch durch die Kulissen und scheinen mehr düstere Geheimnisse zu haben, als sie dann am Ende tatsächlich preisgeben müßten. So spannend könnte das Leben sein, wenn man es mit ein wenig Phantasie betrachtet.
Überhaupt ist La Polizia chiede aiuto eine interessante Melange verschiedener Stilrichtungen. Giallo, Politthriller, Softporno, Splatter – der Film hat einiges an Versatzstücken zu bieten, die sich ungewöhnlicherweise nicht ständig im Weg stehen. Getrieben wird der Film weniger durch einen großen dramaturgischen Bogen, als vielmehr durch das Wechselspiel zwischen den Elementen, die schlaglichtartig die Lebenssituation verschiedener involvierter Personen beleuchten. Das erzeugt in einem hohen Maße ein Echtheitsgefühl, das durch die Kameraarbeit unterstützt wird, die für einen ehemaligen Kameramann Sergio Leones auffallend selten auf exquisite Szenenarrangements setzt. Gerne nimmt man dafür einige Dialogvolten in Kauf, wobei ich nicht einschätzen kann, ob der Skurrilitätsfaktor durch die zeittypischen Vorstellungen oder durch die Synchronisationsschreiberlinge hervorgerufen wird. Darf man eben nicht so genau auf die Gespräche hören, das Ohr wird eh durch drei phantastische musikalische Motive hinreichend in Beschlag genommen. Stelvio Cipriani wächst mir immer mehr ans Herz.
Damit man nicht in Versuchung kommt, Der Tod trägt schwarzes Leder in den Himmel zu loben, gibt es Gottseidank nicht nur schwach inszenierte Verfolgungsjagden, sondern auch noch eine Belehrung zum Abschluß. Seit M – Eine Stadt sucht einen Mörder hat kaum ein Film so ungelenk eine Botschaft angetackert bekommen. Aber eben auch darin eifert Dallamanos Film seinen Softpornovorbildern nach, die dadurch die verworfenen Bilder ideell aufzuwerten trachteten.

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#36 The Critic

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Geschrieben 11. Juni 2006, 18:33

Ende der sechziger Jahre befand sich die Welle der Italowestern auf ihrem Höhepunkt. Sergio Leones opus magnum C’era una volta il west strahlte eine Grandezza aus, die schon den kommenden Verfall und den Abstieg eines Genres in die Trivialität erahnen ließ, das nur noch in wenigen Ausnahmen Größeres leisten würde. Jeder zweite Film aus Italien hatte einen Django, Sabata oder Ringo im Titel. Da musste man sich schon etwas zum Distinktionsgewinn einfallen lassen. Bruno Corbucci, der kleine Bruder von Sergio Il-grande-silenzio Corbucci, fand den G-Punkt befriedigend einfach, um sich von all den anderen Ringoklonen seiner Heimat abzuheben. Sein Spara, gringo, spara (Im Staub der Sonne) ist eine angenehm geradlinige Geschichte, die sicher nicht die Tiefe der großen Klassiker aufweist, andererseits auch nicht versucht, mit narrativen Mätzchen dem Zuschauer mehr Inhalt vorzugaukeln, als vorhanden ist.

Was da ist, kann sich eh sehen lassen. Chad Stark ist ein gerissener Ganove, der dem Strick dadurch entgeht, daß er einem unwirschen mexikanischen Landeigentümer und seiner niedergedrückt wirkenden Frau den Sohn zurückbringen soll. Der Filius heißt nicht nur Fidel, sondern ist es auch, hat er nicht nur die schönste Fönfrisur westlich der Adria, sondern ist auch wohlgelitten in einer Bande von Ex-Soldaten, die jetzt nicht mehr zugunsten des Staates, sondern für den Eigenbedarf plündern. Der selbsternannte Major der Bande mag Fidel wegen dessen sonnigen Gemütes, weshalb er ihn auch Chad bedenkenlos als Begleitung zuordnet, um einen Eisenbahnraub vorzubereiten. Doch Chad, wir erinnern uns, hat andere Pläne. So beginnt ein Roadmovie durch die Weiten Italiens Amerikas, das aufgrund der unterschiedlichen Zielvorstellungen zu einem Duell der beiden cleveren Bürschchen ausartet. Das Katz-und-Maus-Spiel, das unter normalen Umständen problematisch wäre, wird im Staub der Sonne zu einer existenziellen Bedrohung.

Der Film bereitet dem Zuschauer einige Probleme. Daß ich dem Jungspund Fabrizio Moroni ständig eine in seine Hamsterbäckchen drücken möchte, damit seine Frisette mal in Unordnung gerät, ist mein Problem, aber auch ansonsten kommen die Figuren samt und sonders wenig sympathisch rüber. Viel wird über die homoerotischen Untertöne des Filmes geschrieben. Wer auch immer sich das ausgedacht hat, dem möchte ich diese Idee als pure Wunschvorstellung attestieren. Die Abenteuer von Indiana John und dem Erfinder des natürlich wirkenden Cajalstiftes sind von der Suche nach Reichtum, nach einer Vaterfigur, vielleicht sogar nach verläßlicher Freundschaft in einer rauen Wirklichkeit geprägt, sicher aber nicht nach Fummelei unterm Cowboyhut. Brian Kelly, dessen Karriere abrupt durch einen Unfall beendet wurde, durfte nicht annähernd so oft Haut zeigen wie zu der Zeit, als er noch Mister Übervater in der Serie Flipper geben durfte. Sprich: gar nicht. Stattdessen wird er und Pausbäckchen zu mitunter ermüdenden Schießereien und Kloppereien genötigt, die in ihrem Missgriff in die „Humor“kiste schon den kommenden Untergang des Genres ankündigen.
Sehr gefallen hat mir dagegen die Kameraarbeit von Fausto Zuccoli, der die Bilder geschmackvoll komponiert hat, ohne daß man vom Gefühl des Ästhetizismus beschlichen wird. Hier herrscht oft ein Sinn für spürbare Realitätsnähe vor, der noch nicht vom dreckigen Charme eines Doctor Butcher M.D. befleckt ist.

Die DVD-Veröffentlichung von Koch Media ist ein ganz heißer Feger. Nicht nur ist die Bild- und Tonqualität mehr als akzeptabel und der Film liegt erstmals ungeschnitten vor, was an mehreren zwangsuntertitelten Stellen bemerkbar ist, sondern man hat ihm vor allem ein äußerst leckeres Extra spendiert – ein mehr als halbstündiger Dokumentarfilm, der für das US-amerikanische Fernsehen produziert wurde. Hier bekommt man locker-flockig heutige Berühmtheiten wie Castellari oder Sollima bei der Arbeit präsentiert und darf ihren staksigen englischen Kommentaren lauschen. Nur Trintignant nuschelt sich auf französisch etwas über seine Tolpatschigkeit in den Drei-Tage-Bart. Da versteht man gleich doppelt so gut, weshalb Sergio Corbuccis Film besser mit dem großen Schweigen bedient war.
Allein wegen dieses Bonusmaterials also ein Pflichtkauf für alle Italowesternfans! Aber nicht vergessen, ausreichend Bier bei der Filmansicht in Griffweite zu haben. In den Wüstenszenen löscht zur Not auch brackiges Wasser das qualvoll inszenierte Durstgefühl.

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#37 The Critic

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Geschrieben 18. Juni 2006, 17:35

Österreich ist mir nicht ganz geheuer. Die Menschen, die dort leben, kultivieren in ihrem piefigen Wunsch nach der Gutenaltenkundkzeit eine stickige Normativität, deren Forderung nach totaler Unterwerfung John Waters Serial Mom als harmloses Putzteufelchen erscheinen lässt. Dieser Zwang zur Homogenität hat sowohl Tradition (siehe den Maler, der die Welt blutrot anstreichen wollte) als auch Aktualität (siehe den Container, den Schlingensief aufstellen ließ). Diese Zustände sind für die Lebenssituation im Lande genauso furchtbar wie für die Kunst fruchtbar. Natürlich führt die Auseinandersetzung mit solch ätzenden Umständen des menschlichen Seins zu einer galligen Bissigkeit. Bernhard, Schwab, Jelinek entwickelten einen Erzählstil, der nicht länger Rosenduft zur ganzen Scheiße sagen sollte. Dafür wurden sie vom gemeinen Österreicher mit Gülle überschüttet, der lieber den Spiegel in Scherben sehen wollte als einen Blick auf dessen Bild zu werfen. Diese bei deutschen Künstlern schmerzlich vermisste Selbstehrlichkeit hielt in den Neunziger Jahren auch Einzug in die Filmkunst. Glawogger, Albert, Haneke in seinen lichten Momenten und natürlich der Übervater Seidl bannten ein Menschenbild auf Zelluloid, das in seiner drastischen Offenheit den Zuschauer vor sich und seinesgleichen erschaudern lässt.
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Seiner Zeit voraus war Gerald Kargl, der bereits 1983 in Angst den Grundtenor des neuen österreichischen Films mit distanzierter Distanzlosigkeit festlegte. Als Grundlage für das Drehbuch diente der Fall des Salzburgers Werner Kniesek, der während eines Hafturlaubes drei Menschen ermordet hat. Was Kargl aus den Ereignissen gemacht hat, ist mit der Bezeichnung Horror-Thriller, unter der das Werk firmiert, nur unzureichend beschrieben. Sicher, was hier gezeigt wird, ist der detaillierte Tathergang. Auch wird nicht mit allen möglichen Körperflüssigkeiten gegeizt. Doch schon in den ersten Einstellungen von einem Kasernenhof wird klar, daß hier nicht nur über eine Tat und über einen Täter gesprochen werden soll. Hier geht es um Normativität, die im Keime Dysfunktionalität in sich trägt und ausbrütet. Jene gestörte Persönlichkeit, die dem Nichtangepaßten von der etablierten Psychiatrie als allein sein Problem zugeschoben wird, packt Kargl zusammen mit den Opfern unter die Kamera, gerade so wie ein Biologe eine Raupe unter sein Mikroskop packt. Mit kühlem Blick seziert er empathielos das Geschehen und legt die faulenden Stellen menschlichen Miteinanders frei. Das schmerzt in seiner analysierenden Rationalität mehr als alle SFX-Paraden. Es ist, als ob uns Kargl die Augenlider abgeschnitten hätte. Man kann den Blick trotz des Widerwillens einfach nicht abwenden, denn der Regisseur führt uns näher an die Seele des Täters, als uns lieb ist. Die Gedanken des Mörders werden auf der Tonspur ausführlichst dargelegt. Dieses Voice over, das neben der Schrifttafel sonst häufig Ausdruck filmischen Unvermögens ist, funktioniert bei Angst hervorragend, weil es nicht kommentierend, sondern konterkarierend eingesetzt wird. Wie ein Hai umkreisen die Worte unser Denken, lauernd, in immer enger werdenden Spiralen. Bis wir entsetzt feststellen, daß seine Gedanken sich in unseren festgesetzt haben. Oder richtiger: sie waren dort schon immer. Wollten wir der alten Pute von schräg unter uns nicht immer mal eine reinziehen, weil sie alle Geschehnisse auf der Straße von ihrem Balkon aus kontrolliert und kommentiert? Die schlampige Supermarktverkäuferin mit einem Vorschlaghammer malträtieren, weil sie nicht nur faul und vulgär, sondern obendrein stets übellaunig ist? Dem Arbeitskollegen mit einer Kettensäge Übles zufügen, weil ihm seine Blödheit erlaubt, die Einfältigkeit durch permanente Schuhsohlenleckerei auszugleichen?
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Das erstaunlich glaubwürdige Spiel von Erwin Leder (ein weiterer Grund, sich auf György Pálfis neuen Film Taxidermia zu freuen) wurde von Zbigniew Rybczynski in intensiven Bildern eingefangen. Wie in Ulrich Seidls Filmen hat man das Gefühl, eine alltägliche Situation zum ersten Mal in ihrer ganzen Abscheulichkeit zu erfassen. Erreicht wird das durch ungewöhnliche und abwechslungsreiche Perspektiven. Gerald Kargl hat Marcus Stiglegger in einem Interview für das Magazin :Ikonen: erzählt, daß der Kameramann extra Halte-, Spiegel- und Prismenkonstruktionen für diese Effekte angefertigt hat. Zu schade, daß man von seinem Talent wohl nichts weiter zu sehen bekommen wird. Im Gegensatz dazu hat die Musik von Klaus Schulze einfach nur nicht gestört, aber ich konnte seinem eklektischen Synthiegeblubber schon in den Achtzigern nichts abgewinnen.
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Dankenswerterweise haben die Leute von Epix, die bei mir um die Ecke in einem Haus mit pittoreskem Spreeblick ihr DVD-Programm aushecken, Angst der Gefahr des Vergessenwerdens entrissen. Für den Fall, daß man wieder mal die Realitäten verdrängt und in süßlich-klebriger Warenwerbewelt versinkt, sollte man diese DVD griffbereit neben den anderen modernen österreichischen Filmen stehen haben. Die Anschaffung von Gummihandschuhen und verschließbarem Giftschrank wird für diese Werke dennoch anempfohlen. Sonst kommt man am Ende noch auf die Idee, der Film hätte was mit uns Zuschauern zu tun. Mit uns! Wo wir doch so normal sind!

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#38 The Critic

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Geschrieben 25. Juni 2006, 19:54

Ungebrochen breitet sich das Quizfieber aus. Multiple Choice Fragen gaukeln selbst dem grenzdebilen Zuschauer vor, die Welt in ihrem Innersten durchschaut zu haben, kann man doch mit einer definierten Wahrscheinlichkeit ohne jegliches Wissen richtig antworten. Mit dem Wissen steigen aber die Wahrscheinlichkeiten, also frisch ans Werk und nachgedacht.

Wer war der erste Fernsehstar der Welt?

A - Ed Sullivan
B - Felix the cat
C - Jack Benny
D - Lucille "Lucy" Ball

Wer Millionär werden will, wird auf die am wenigsten wahrscheinliche Variante setzen und hat damit Recht. Tatsächlich war Otto Messmers (oder doch Pat Sullivans?) Kreation nicht nur eine Steilvorlage für nahezu sämtliche Comic-Katzen von Mooch bis Frank, sondern wurde nach fulminantem Start als eine der ersten Cartoonstars in Feline Follies ab 1928 für die experimentellen Fernsehversuche von RCA verwendet und folglich als erstes Bild von einem Fernsehsender übertragen.

Zugegeben, ziemlich schwer. Versuchen wir es etwas einfacher. Wer ist das? Er ist Single, zeitlos jugendlich und arbeitet hauptberuflich als Choleriker. Er ist die Inkarnation von Murphys Law. Folglich sind seine zwei Lieblingssätze „You doggone thing!“ zu Beginn und „This was VERY exaggerating!“ am Ende des Kampfes mit der Tücke des Objekts. Muß ich noch extra erwähnen, daß er meistens verliert? Na, immer noch keine Idee? Er hat eine behandlungsbedürftige Sprachstörung und einen fatalen Hang zum Kannibalismus. Bereits die Hollywoodstars der vierziger Jahre verloren jegliche Contenance, wenn es darum ging, ein Autogramm von ihm zu ergattern.

Paßt alles nicht so recht zusammen? Doch, alles trifft auf Donald Duck zu. Gerade denjenigen, die durch die Ungnade der späten Geburt im gepolsterten Kosmos von „Walt Disneys’ Lustiges Taschenbuch“ und Disneyclub aufgewachsen sind, sei The chronological Donald, Volume one & two ans Herz gelegt. Also allen Lebenden.
Man muß nicht gleich zum Donaldisten mutieren, um in dieser Figur das einzige Identifikationsangebot aus dem Universum Entenhausens zu erkennen. Die Bewohner von Mousetown sind eh furchtbar langweilige Spießer, seit alles gesellschaftlich Verpönte in den Vierzigern von Mickey abgespalten wurde. Er wurde durch diesen Axthieb zu dem Saubermann, als den wir ihn kennen. Zurück blieb aber nicht nur der Charakterkrüppel Mickey, denn wie Athene aus Zeus’ gespaltenem Haupt, so entstieg dem gelackten amerikanischen Repräsentationsmäuserich Donalds neuer Charakter. Neben seiner Gutherzigkeit und Offenheit mit all den Eigenschaften, die wir an dieser Ente schätzen. Weil wir unsere Schwächen in ihm wiedererkennen: Selbstüberschätzung. Gier. Verschlagenheit. Schadenfreude. Jähzorn. Faulheit. Eigenschaften, die Donald halbherzig schon in seinem ersten Auftritt 1934 in The wise little hen ausleben durfte. Hier wird auch sein Markenzeichen, der Matrosenanzug, zum ersten und letzten Mal verständlich, wohnt er in diesem Kurzfilm auf einem Hausboot. Nach einigen Gastauftritten bei Mickey dann 1936 die erste Hauptrolle in Donald and Pluto, 1937 in Don Donald der erste Film ohne bekannten Sidekick. Die wachsende Popularität von Donald führte zu einer immer ausgefeilteren Charakterentwicklung, die vom Animationskünstler Fred Spencer, neben Dick Lundy und Carl Barks der geistige Vater von Donald Duck, in einem Kanon festgeschrieben wurde, der bis heute Grundlage jeder Geschichte ist.

Anfang der Vierziger hatte Donald Duck seinen Zenit erreicht. Amerika begann sich in dieser Zeit von der Großen Depression zu erholen, Teddy Roosevelt versprach mit seinem New Deal genannten Keynesianismus eine Beteiligung der verarmten Bevölkerungsschichten am gesellschaftlichen Reichtum. Das bedeutete zwar eine Beendigung des finanziellen Elends, die Freude wurde aber durch die Rückkehr zur Lohnarbeit erheblich getrübt. Man brauchte zur Sublimation mehr als nur ein paar Späßchen über den Kampf mit den Arbeitsutensilien wie in Window Cleaners oder Billposters. Wenigstens in der Freizeit wollte man dem Zwang zur Unterwerfung mit Humor begegnen. In The riveter oder Timber darf man seinen Vorarbeiter hemmungslos in der Gestalt von Pegleg Pete verlachen, der sich nicht mit der normalen Knechtung zufrieden gibt, sondern als Zeichen seiner Macht den Untergebenen zum Aschenbecher degradiert.
Timber ist aber noch aus einem anderen Grund interessant. Vier Jahr, nachdem die Faschisten von der Internierung ihnen unliebsamer Menschen zu deren Ausrottung übergegangen waren, sagt Donald Duck über seine Arbeitsbedingungen: „Doggone it! I might just as well be in a concentration camp.” Eine überraschende Äußerung im fernen Amerika, besonders wenn man bedenkt, daß sie fünf Jahre getätigt wurde, bevor die meisten Deutschen nach Eigendarstellung zum ersten Mal von den KZs hörten.

Zeitgleich mit der Entwicklung von Donalds Charakter wurde viel Kreativität in die Modernisierung des Zeichenstils investiert. Donald wurde von seinen überflüssigen Pfunden befreit und die Evolution ließ seinen Flügeln Finger sprießen. Wichtiger noch ist aber die Kultivierung des Tooncharakters. Das Herauslösen graphischer Details aus ihrer angestammten Funktion, die Umwandlung mechanischer in biologische Elemente und vice versa, die Aufhebung der physikalischen Gesetze – all dies führte zu unerwartet witzigen Situationen, die man damals nicht im Spielfilm realisieren konnte. Besonders beliebt war es, den Dingen eine Persönlichkeit zuzuschreiben. Nicht länger kämpfte die Ente gegen die Elemente, ab jetzt hieß es fair Mann gegen Mann. Nur daß der zweite Mann meistens gewann. Sehr zur Freude der Zuschauer, die in Donalds nächster Wutattacke ihre eigene Aggression weglachen konnten. Dabei legte Donald trotz seines Furors eine antiquiert wirkende Distinguiertheit an den Tag, die heute leider nicht mehr praktiziert wird. Tom & Jerry, Itchy & Scratchy oder wie die Katz-und-Maus-Spiele auch heißen mögen, haben die Erwartungshaltung der Zuschauer auf ein ausgiebiges Krawumm festgelegt. In Fire chief wird gezeigt, wie wirkungsvoll eine stille Explosion die Lachmuskulatur anregen kann. Charmanter ist so ein retardierter Zusammenbruch allemal. „Am I a surprised duck.“ Me too.

Ich frage mich, was für eine Welt wir wohl ohne Donald hätten. Zumindest das Werk von Tex Avery würde wohl anders aussehen. Seine produktivste und innovativste Zeit war Ende der Vierziger, als er für MGM einen Mikrokosmos von Unanständigkeit, Übertreibung und Sexualisierung entwarf, der nicht nur in Daffy Duck als Kontrastprogramm zum Disneyimperium erkennbar ist. Ohne den liebenswerten Aufschneider Donald wäre es Tex Avery kaum vom Studio erlaubt worden, seine wilden Phantasien aufs Papier zu bringen. Nie hätten Kunstwerke mit einer unerreichten Pointendichte wie Bad Luck Blackie, The cat that hated people, King Size Canary oder Northwest Hounded Police das Licht der Projektoren erblickt. Diese Unbeschwertheit brachte Klassiker wie Half-pint pygmy hervor, die mittlerweile vom gesellschaftlichen Mainstream mit einem Bannfluch der Correctness versehen wurden. Auch bei der vergleichsweise harmlosen DVD The chronological Donald wird man davon unablässig gestört. Filmhistoriker Leonard Maltin, der sich gerne reden hört und dabei das rhetorische Talent eines Soapsternchens an den Tag legt, belästigt den Zuschauer ständig mit seinen Ermahnungen, bittebitteaufgarkeinenfall die gezeichneten Anleihen an die Kultur von Indianern, Schwarzen oder wem auch immer als Herabwürdigung anzusehen. Gänzlich blöde wird es, wenn er dem Zuschauer versichert, daß Donalds Verwendung von Gewehren überhaupt nicht zum Töten aufrufen soll und der süße kleine Pinguin auch fast gar nicht verletzt wird. Mein Gott, das ist ein verdammter CARTOON! Für wie beknackt halten Medienpädagogen eigentlich die Zuschauer, daß sie ihnen nicht mehr die Unterscheidung zwischen Realität und Zeichnung zutrauen?

1976 ist an derlei aufgeblasenen Quatsch noch nicht zu denken. Donald ist mittlerweile domestiziert und entsprechend langweilig. Ebenso seine drei Neffen Tick, Trick und Track, die von wilden Rabauken in Donald’s Nephews zu naseweisen Oberstrebern mutiert sind. Davon ahnt ein kleiner Junge nichts, der seinen ersten Band der Lustigen Taschenbücher in der Hand hält. Alle aus seiner Klasse beneiden ihn, weil es ein Buch aus dem nichtsozialistischen Ausland ist. Stolz ist er, der Junge, denn es scheint etwas ganz Besonderes zu sein, dieses Buch mit Donald und Mickey. Wie Recht er hat, ist ihm bewusst.
Wie Unrecht, wird ihm dagegen erst Jahrzehnte später klar.

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#39 The Critic

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Geschrieben 01. Juli 2006, 09:02

Die vielgerühmte Serie House, M.D. gesehen. Verstehe nicht das Tamtam, das um die Serie gemacht wird. Einfachste Konstruktion vom bärbeißigen Arzt, der es aber gut meint und außerdem genial ist. Quasi die Wunschprojektion jedes potentiellen Patienten und dessen angstgesteuerte Hoffnung, den behandelnden Medizinmann als Freund zu gewinnen. Magische Rituale aus dem Rechenschieber, dieses Konzept von der rauhen Schale mit dem weichen Kern.

Bei den Machern ist aber noch einiges mehr weich geworden. In der Rübe zum Beispiel.
Vergessen wir mal die Omnipotenzzuschreibung, mit der die Ärzte innerhalb von 15 Minuten als Chirurgen, Psychiater, Laboranten und Detektive etabliert wurden. OP ruft Dr. McGuyver. Verdammt die Aorta ist geplatzt! Geben sie mir schnell ihren Kaugummi, ich hab nicht die Zeit für eine richtige OP - ich muß noch das Kernspingerät im dritten Stock reparieren.
Vergessen wir auch die Rollkommandometaphorik, wenn die Instrumente dem Patienten unter die Haut gehen. Ich geh jetzt rein, gebt mir Rückendeckung! Ha, nimm dies aus meinem Atomstrahler, elende Tumorzelle!
All dies ist nichts im Vergleich zur unerträglich paternalistischen Haltung, die Ärzte wüßten schon am besten, was für den Patienten gut ist. Schon klar, daß die Idee vom Informed Consent, der Befähigung des Patienten durch den Arzt, die Konsequenzen der Behandlung zu verstehen und deren Risiken abzuwägen, in der Praxis auf eine Rechtsschutzversicherung für die Ärzteschaft hinausläuft. Aber mit neckischem Augenzwinkern diese lobenswerte Idee vom mündigen Patienten ad acta zu legen und den Leuten am Bildschirm zu suggerieren, die Ärzte müßten im Interesse der Patienten jene belügen und täuschen, das ist genau die Art von Ankumpelei, mit der auch im Schatten der Fußballweltmeisterschaft Politik betrieben wird.

War aber bestimmt nur ein einmaliger Ausrutscher in der Serie Dr. House. Oder im Nachtprogramm lief die X-rated Variante für den besonders aufgeklärten Zuschauer.

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#40 The Critic

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Geschrieben 23. Juli 2006, 09:50

Antiamerikanismus ist unter deutschen Linken, aber nicht nur dort, ein beliebtes Hobby. Was hat man sich nicht alles zusammengereimt, um die USA als Hort des Bösen zu enttarnen. Gerade in Zeiten der Globalisierung, imho eine ausnehmend dumme Beschreibung der gegenwärtigen Entwicklungen, scheint es vielen Menschen, daß sich in Amerika eine dämonische Macht konzentriert, die ihre widerwärtigen Krakenarme in unschuldige Nachbarländer taucht. Scheinbar vergisst man allzu schnell, daß man sich mit dieser Betrachtungsweise verdammt nahe bei den glattrasierten Marschierfreunden befindet; man tausche zur Veranschaulichung „Macht“ gegen „Finanzkapital an der Wallstreet“ aus. Sicher, teilweise drängt es die politischen Kräfte der USA zur Expansion, aber Präsident Bush illustrierte bei einer Mikrofonpanne während des G8-Gipfels das andere Standbein amerikanischer Außenpolitik – offenherzige Schlichtheit, die von keiner Sachkenntnis beleckt ist. Der resultierende zupackende Optimismus entwickelt lehrbuchmäßig aufgrund fehlender Selbstreflexion eine Dampfwalzendynamik, die der Rodin-Pose von good old europe abgeht.

Daß diese hemdsärmelige simple Weltsicht kein modernes Phänomen ist, kann man nicht nur an diversen Western ersehen, sondern auch an Irwin Allens Unternehmen Feuergürtel von 1961. Darin begibt sich Alleskönner Admiral Nelson auf große Fahrt unter das ewige Eis. Man will den mitreisenden Kongressabgeordneten nicht nur das quietschebunte Plastik-Unterseeboot zeigen, sondern mit pittoresken Unterwasserszenerien Knete bei ihnen locker machen. Was ein Glück, daß der Atomkahn nicht nur riesige Frontfenster hat, sondern auch in jeder Tiefe dieselben Lichtverhältnisse für gute Beobachtungsmöglichkeiten sorgen. Ganz genauso also, wie ich mir als Kind in meiner Badewanne den Ozean vorgestellt habe! Phänomenal! Doch dann geschehen schlimme Sachen, die das sorglose Petticoatleben an Bord jäh beenden. Der nicht nur Laien unbekannte Van-Allen-Gürtel (oder so) ist wegen Atommeteoriten (oder so) in Atombrand (oder so) geraten und droht die Menschheit auszulöschen. Da setzt sich Kapitän Nelson mit seinem Wissenschaftsoffizier hin und zeichnet schnell drei Skizzen zur Weltenrettung mit seinem Atom-Bleistift. Jetzt noch fix die Welt vom Plan überzeugt und die Erlaubnis vom Präsidenten geholt. Doch Misterpresident ist wegen atmosphärischer Störungen nicht erreichbar und irgend so ein belgischer (oder französischer, aber auf jeden Fall unamerikanischer) Zauderer kommt mit dem hanebüchenen Einwand, daß man mit der Atomrakete vielleicht mehr als nur den Van-Allen-Gürtel wegsprengt. Lächerlich! Da muß ein Käpt'n tun, was ein amerikanischer Mann tun muß – seinen Weg gehen. Oder ist Admiral Nelson vielleicht wirklich nicht mehr ganz tacko in der Rübe?

Voyage to the bottom of the sea, so der Originaltitel des Filmes, illustriert aufs Feinste, was Georg Seesslen über mediale Politikvermittlung geschrieben hat. Wiederholung des Offensichtlichen bis das Zweifelhafte dahinter verschwindet. So verwundert es am Ende auch nicht, daß sich die fragliche Fehleinschätzung des omnipotenten Kapitäns als eine Verschwörung von suspekten Subjekten herausstellt. Defätistischen Ausländern und gelehrten Frauen also. Die werden dann auch mit dem Tod, in den Sechszigern gleichbedeutend mit Atombestrahlung, bestraft, Atomrakete auf den Feuergürtel abgeschossen und innert Sekunden ist alles wieder feini. Die Welt gerade noch mal rechtzeitig gerettet. Puh, Glück gehabt, daß man auf zögerliches Rumgedenke keine Rücksicht genommen hat!

Wenigstens auf der visuellen Ebene überzeugt Allens Film. Selbst in größter Tiefe plinzen die Seeungeheuer apart in die Kamera, das U-Boot ist eine Augenweide mit seinem Farbkontrast zum Meer und mit seinem bonbonfarbenen Interieur, der Himmel glüht heimelig unheimlich und die Männer machen in ihren farbenprächtigen Gummianzügen eine gute Figur. Etwas leid tat es mir um Peter Lorre, der hier schon ziemlich abgehalftert durch die Gegend grantelt. Er schreckt nicht einmal davor zurück, einen Plastikhai durchs Wasser zu zerren. Auch Walter Pidgeon ist alles andere als ein überzeugender Held. Ich musste bei seinem Auftreten eher an Involution denn an Innovation denken. Vielleicht liegt dies nur an bestimmten Assoziationen zu meinem Chef. Kraftvoll und konzentriert wirkte dagegen Joan Fontaine, der man ähnlich wie in The witches aus den Hammerstudios einen deutlich sichtbaren Karriereniedergang bescheinigte – eine Auffassung, die ich in beiden Fällen überhaupt nicht teile.

So ist Unternehmen Feuergürtel zwar appetitlich angerichtetes Augenfutter, dies kann aber nicht über die pomadige Ankumpelei und das selbstgerechte Auftreten des Filmes hinwegtäuschen. Vermutlich hat George Bush den Film als Kind häufiger gesehen. Vielleicht sollte ich mal einen Lehrstuhl für politische Psychoanalyse gründen.

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#41 The Critic

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Geschrieben 13. August 2006, 15:30

Im diesjährigen Juli hatte ich my own private Oktjabr. Dabei musste ich kürzlich weder mein Fahrrad einmotten und auf die Öffentlichen umsteigen noch zwang man mich, über Felder zu robben, um verfrüht Kartoffeln auszubuddeln. Auch die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus wurden nicht vorgezogen; gerade wurden die ersten der immergleichen Plakate aufgehängt. Ich frage mich, ob diese Aufsteller bei jeder Wahl wiederverwertet werden. Je nach Sonnenfleckendichte befällt mich die nicht minder logisch erscheinende Idee, daß im alten Glaswerk von Altstralau der Eingang zu einer mehrstöckigen unterirdischen Biotech-Fabrik ist, in der Politmilchbubis geklont werden. Oder kann man sich so ein unverfroren gewinnbringendes und dennoch lügendes Schwiegermutterüberrumpelungslächeln antrainieren? Kann man Symbodoppelsprech, diese von der Werbeindustrie abgeschaute artifizielle Kommunikationsform, erlernen? Hatten schon immer solche Menschenimitatoren Oberwasser?

Gehen wir mal 100 Jahre zurück. In Russland herrschte Nikolaus der II. mit seinen Beratern Hunger und Armut. Nicht so eine Armut, bei der man sich nicht in jedem Zimmer einen Fernseher leisten kann, sondern die auch auf unseren Straßen wieder deutlich sichtbarere Armut, bei der einem die Zähne ausfallen und man wegen Fehlernährung Blut pisst. Obwohl Nikolaus wie seine Vorgänger gute Kontakte zu Europa unterhielt, hat er die technische und politische Modernisierung seines Landes unterbunden. Die aussichtslose Lage der Bevölkerung verschärfte er noch mit dem sinnlosen Russisch-Japanischen Krieg, der nicht mal in einer Feldherrenlogik einen rationalen Zweck verfolgte. Durch die Verschärfung der Verhältnisse im ersten Weltkrieg kam es zu Aufständen in den russischen urbanen Zentren, die die Welt erschüttern sollten. Wir, das Volk! Weg mit den Unterdrückern! Her mit dem neuen, selbstbestimmten Menschen! Ein aufregendes Kribbeln lag in der Anomie der Zeit, das sich nicht nur in der Veränderung der politischen Struktur Bahn brach, sondern auch in der Kunst niederschlug. Leute wie El Lissitzky setzten den Aufbruch in eine moderne künstlerische Sprache um und artikulierten so das Gefühl der Zeitenwende. Nicht weil sie sich davon Ruhm und Geld versprachen, sondern weil es eine logische Konsequenz des eigenen Erlebens war.

So wie bei Sergej Eisenstein. Freiwillig in der Roten Armee, mit Karikaturen den Kampf um die Köpfe aufgenommen, später als Bühnenbildner gearbeitet. Schließlich der Weg zum Film, DEM massenwirksamen Medium der neuen Zeit schlechthin. Welche Wirkung Film auf das Publikum damals entfalten konnte, erschließt sich dem semiotisch übersättigten Zuschauer heutzutage vielleicht nicht mehr vollständig. Aber Panzerkreuzer Potemkin vermittelt, gerade in einer öffentlichen Aufführung mit Live-Musik, ein vages Gefühl von jenem mitreißenden Maëlstrom der Gefühle, der damals bei der deutschen Premiere im Berliner Admiralspalast zu Tumulten führte und in deren Konsequenz wegen der Nachahmungsgefahr Eisensteins Film in der Weimarer Republik zensiert und verboten wurde.
Vom heutigen Standpunkt aus ist es vereinfachend, dem Film Heroisierung vorzuwerfen. Aber acht Jahre nach der Oktoberrevolution fing man gerade erst an, sich nicht nur um die tagesaktuellen Geschehnisse zu kümmern, sondern neben dem Schmieden von Zukunftsplänen sich auch seiner Wurzeln zu besinnen. Those, who do not remember the past, are condemned to repeat it. Der zwanzigste Jahrestag des Matrosenaufstandes von Odessa, in Eisensteins Film als klassischer Fünfakter inszeniert, war so ein geeignetes Ereignis. Geeignet, weil dem Vergessen entgegenwirkend und gleichzeitig Hoffnung vermittelnd. Dem Vergessen entgegen arbeitend, wie erbärmlich das Leben unter dem Zar war. Dem Vergessen Einhalt gebietend, mit welcher Brutalität die Verhältnisse aufrechterhalten wurden. Und die Hoffnung nährend, die in der Solidarisierung so unterschiedlicher Bevölkerungsschichten wie Matrosen und Bürgertum enthalten war.
Das ist überhaupt etwas, was ich an Eisenstein am meisten mag: Seine universalistische Liebe zum Menschen. Die Bilder seiner Frühwerke legen Zeugnis ab von seinem humanistischen Ideal der Gleichheit in der Differenz. Ihm gelingt es tatsächlich, eine Menschenmasse nicht als amorphes Gewaber zu inszenieren, sondern als eine Ansammlung von Individuen. Man sollte ähnlich wie in dem Buch Fellinis Faces mal ein Buch mit Porträts aus seinen Filmen veröffentlichen. Man wäre erstaunt, wie sehr sich im heutigen Filmgeschäft eine strenge Gesichtsttypisierung durchgesetzt hat. Das fällt erst im Kontrast zu der schier unendlichen Menschenvielfalt in Panzerkreuzer Potemkin auf. So ist auch eine meiner Lieblingsszenen der Zug der Menschenmassen zum Hafen. Ein Ziel und doch bewegen sich innerhalb eines Bildes die Menschen in unterschiedlichen Bahnen. Für mich kann diese Idee Eisensteins neben all den anderen wunderbaren visuellen Einfällen bestehen: Das Madenmikroskop. Die Beschleunigung der Zerschlagung des Tellers durch die Bildmontage. Der mechanistische Schritt der alten Ordnung gegen das chaotische Gewusel der neuen Zeit. Und daß dem Antisemiten ohne Zögern übers Maul gefahren wird. All dies macht Panzerkreuzer Potemkin zu einem Filmerlebnis, das sich auch nach der x-ten Ansicht kein bisschen abnutzt.

Vier Jahre später. 1929 war die nachholende Modernisierung des ehemaligen Russlands in vollem Gange. Lenins simplifizierendes Wort vom Kommunismus als Summe aus Sowjetmacht und Elektrifizierung fand seinen Niederschlag in einem rasanten Aufbau der sowjetischen Schwerindustrie. Auch die Landwirtschaft sollte industrialisiert werden, schwer schuftende Arbeiter verspachteln schließlich ordentlich was. Der Einsatz von landwirtschaftlichen Maschinen ist aber nur auf großen Flächen sinnvoll, also gab die Parteiführung die Losung zur Kollektivierung der Felder aus. An sich ist das keine dumme Idee; der Kapitalismus hat selbiges auch durchgesetzt, indem sich mächtigere Bauernhöfe kleinere einverleibt haben. Allein – der proklamierte neue sowjetische Mensch ließ noch auf sich warten. Maßnahmen wurden ergriffen, um die Kollektivierung voranzutreiben. Zwangsumsiedlungen waren eine Form der Reaktion auf renitente Bauern, eine andere war der Versuch, die Bevölkerung von der Sinnigkeit des Vorhabens zu überzeugen. Wie die Literatur wurde auch die Kinematographie in die Pflicht genommen, die Vorzüge der Kollektivierung dem Volk nahezubringen. Eisenstein drehte aus diesem Anlaß den Film Staroje i novoje, der in deutschen Landen auch den Titel Die Generallinie erhielt. Wem sich jetzt nicht die Nackenhaare hochstellen, der sollte entweder den Nervenarzt seines Vertrauens aufsuchen oder sich mal vorstellen, das wirtschaftspolitische Programm der CDU von NRW in einen Film umsetzen zu müssen.
Was ich dann statt der erwarteten drögen parteikonformen Deklaration zu sehen bekam, war ein historisch interessanter, durchweg spannender, emotional und intellektuell ansprechender Film. Ausschließlich mit Laiendarstellern besetzt, werden anhand eines Dorfes die Vorzüge der Kollektivierung sichtbar gemacht. Der offizielle russische Titel, der übersetzt Das Alte und das Neue heißt, trifft den Tenor von Eisensteins Film viel besser als der deutsche Verleihtitel. Es geht nicht um irgendwelche abstrakten Parteiparolen, sondern um die Verbesserungen, die die Kollektivierung zukünftig den Menschen bringen soll. Traktoren statt ausgemergelter Pferde. Wolkenbügel statt Lehmhütten. Oder eben: ein Miteinander statt ein Gegeneinander.
Und wie im Panzerkreuzer Menschen, Menschen, Menschen. Alte. Junge. Hässliche. Schöne. Kranke. Gesunde. Eine Sinfonie der Gesichter, eine hoffnungsfrohe optische Melodie bildend, ohne die Mißklänge zu ignorieren. Und Probleme gab es reichlich. Wohlhabende Bauern, die ihre begünstigte Position nicht widerstandslos aufgeben wollten. Das Misstrauen der Männer gegen die Gleichberechtigung der Frau. Die beginnende Verselbständigung des Verwaltungsapparates. In einer wunderbaren Szene gelingt es Eisenstein und seinem langjährigen Kameramann Eduard Tisse, die Gefährlichkeit einer unkontrollierten Bürokratie sichtbar zu machen, indem sie maschinengewehrartig ... aber nein, das wird hier nicht verraten, das muss man selbst gesehen haben.
Wie schon in Panzerkreuzer Potemkin ist leider die Kirchenkritik Eisensteins auch in Staroje i novoje mehr als ambivalent. Oberflächlich betrachtet werden in beiden Filmen die klerikalen Würdenträger als Teil des Repressionsapparates charakterisiert, die die Unwissenheit des Volkes zur Aufrechterhaltung des status quo und zu ihrem persönlichen Nutzen ausbeuten. Gerade im Panzerkreuzer aber wird implizit einem christlichen Erweckungsmythos gehuldigt, der mir die Ablehnung der Religion durch Eisenstein fragwürdig erscheinen lässt und der vermutlich am Vorurteil mitschuldig ist, bei der sozialistischen Idee handele es sich um die christliche Religion reloaded. Aber allein die Wahl einer Frau als Triebfeder der Veränderung ist bahnbrechend und zeigt die Aufgeschlossenheit und Modernität von Eisensteins Gedankenwelt, die bis heute utopisch, im Sinne von noch nicht verwirklicht, blieb.

Fast 10 Jahre später. Eisenstein war zwischenzeitlich mit Tisse in Mexiko, um einen Film über die revolutionäre Phase Mittelamerikas zu drehen und nebenbei sonnengebräunte Männer aufzureißen. Doch mit der Etablierung Mexikos als russischer Dissidentenfluchtpunkt war Schluß mit lustig. Eisenstein wurde von Stalin zurückgepfiffen, zurück in den Schoß von Mütterchen Russland. Dort lauert im „Allunionskomitee für Fragen der Kunst“ Boris Schumjatski, der alle Filmprojekte Eisensteins zu verhindern weiß. Schumjatskis Versuch absoluter Linientreue wurde letztendlich ihm selbst zum Verhängnis, da sein Vasallendenken die sowjetische Filmproduktion auf ein Viertel drosselte. Eisensteins Werk Die Beshinwiese, das häufig als interessantester Kollektivierungsfilm genannt wird, wurde zweimal mit der beliebig wendbaren Intellektualismus- und Formalismusanklage zensiert und liegt heute nur noch in Bruchstücken vor, da das Verbot die Zerstörung der Negative zur Folge hatte. Ich weiß nicht, was die Biographen über die Entwicklung Eisensteins in jener Zeit sagen. Aber ich habe den Stummfilm mit Tonspur Alexander Newski gesehen. Und was ich sah, war der Film eines gebrochenen Genies. Mein Herz blutet, wenn ich an Eisensteins enthusiastischen Optimismus der Aufbruchphase denke und ich mir dann diese Auftragsarbeit für Stalins Außenpolitikpoker vor Augen führe. Kein Platz mehr für Universalismus, statt dessen widerlichste Blut-und-Boden Metaphorik. Abhanden gekommen der Sinn für die Inszenierung von Menschen, es gibt nur noch Helden und Verschiebemasse. Erbärmlich die vielgelobte Schlacht auf dem vereisten See, die sich zu keiner Minute für den Ausgang des Kampfes interessiert, weil das Ende von Anfang an klar ist. Am deutlichsten wird die Veränderung Eisensteins in dem Verlust einer glaubwürdigen Utopie. Es gibt in Alexander Newski keine Hoffnungsträger mehr, die überzeugen können. Die Helden, allen voran der zwischen zwei Gesichtsausdrücken changierende Nikolai Tscherkassow, bieten marionettenhaftes Rumgestakse, das am Ende mit einem Marionettenparadies belohnt wird, wie es sich klischeehafter auch die Hamas nicht für ihre Anhänger ausdenken könnte. Nicht einmal mit dem Verlust der Kreativität Eisensteins kann man sich herausreden. In der Inszenierung des bösen Deutschen gelingen ihm die einzigen Momente des Filmes, die jene visuelle Gewaltigkeit früherer Filme wieder sichtbar machen. Eine Kraft, die übrigens der Filmmusik von Sergej Prokofjew noch innewohnt. Doch den anderen Sergej, den Eisenstein, den hat die Geschichte unumkehrbar verändert. Ihm blieb nur übrig, den Misanthropismus in der paranoiden Zurückgezogenheit von Iwan, der Schreckliche zu kultivieren. Eine Rückkehr zur hoffnungsschwangeren Aufbruchsphase war ihm fürderhin verwehrt.

Was uns wieder auf die Eingangsfrage zurückführt, ob man als „Mensch und Politiker“ tatsächlich ein Grinsen lernen kann, das nicht nur die Wähler, sondern sogar einen selbst überzeugt. Wenn ich die Filme Eisensteins Revue passieren lasse, ist meine Antwort nein. Also doch Clon-Tech unter Altstralau. Vermutlich gar errichtet von Außerirdischen. Hat jemand mal die Emailadresse von Agent Scully parat?

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#42 The Critic

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Geschrieben 19. August 2006, 12:41

Macht sich jemand eigentlich Gedanken darüber, mit welchem Film man ein Festival beginnen oder beenden sollte? Finde ich so sinnlos wie die Überlegung, was ich für den Kinobesuch anziehen sollte. Diesmal hatte ich aber wirklich den perfekten Auftakt für das Fantasy Filmfest. Das zarte Stimmchen von Meiko Kaji umschmeichelte mit „Urami Bushi“ schlageresk meine Gehörgänge. Wie schon bei Lady Snowblood singt die Schauspielerin auch in Female Prisoner Scorpion: Beast stable (Joshuu sasori: Kemono-beya) den Titelsong. Na hossa! In Kill Bill mochte ich den Einsatz dieses Liedes nicht besonders gern, aber wie hier Sasori mit ihrem, äh, Damenhandtäschchen der besonderen Art durch Tokyo vor ihren Häschern flieht - also da wurde mir wirklich klar, warum Tarantino das Lied unbedingt verwenden wollte. Hinweggefegt auch stante pede alle vorangegangenen Bedenken. Man muß nicht wissen, was im Frauenknast in den ersten zwei Teilen der Reihe passiert ist; der Auftakt erzählt uns alles, was notwendig ist – Sasori ist nicht mehr im Gefängnis und sie tut alles, wirklich alles, um dort nicht wieder hinzukommen. Dank der Prostituierten Yuki, die ihren geistig behinderten Bruder (Ein Arbeitsunfall! Warum reden Sie nie von solchen Gefahren des Arbeitslebens, Herr Hundt?) überdurchschnittlich intensiv pflegt, kann sich Sasori vor dem Auge des Gesetzes im Rotlichtviertel von Tokyo verbergen. Yuki heißt auf japanisch Schnee und Glück. Äußerst luzide Gebilde, von trauriger innerer Schönheit erfüllt, da um die eigene Instabilität wissend. So wundert es nicht, daß Sasoris kleines Glück nicht sonderlich lange anhält, sondern sie fiesen Unterweltsbossen in die Hände fällt. Eine Tortur steht ihr bevor, an deren Ende sie phönixartig aufersteht, um all ihren Peinigern den Garaus zu machen.
Joshuu sasori: Kemono-beya könnte man vielleicht als misogyne Anklage gegen eine widerwärtige Welt mißverstehen. Frauenfeindlichkeit kann man dem Film aber imho kaum vorwerfen. Allein wie er den Frauen in Gestalt von Yuki die Trauer bei ihrer vermeintlich selbstbestimmten Abtreibung wiedergibt, nötigt mir Respekt ab. Überdies zelebriert Regisseur Shunya Ito im dritten Teil seiner Female Prisoner Reihe einen magischen Realismus, mittels dessen der trostlosen Betonwüste Tokyos der tiefsitzende Kinderglauben an eine andere Welt entgegengestellt wird. Böse Schneeköniginnen herrschen hochmütig über ihre Rabenbrüder, kleine Mädchen mit Schwefelhölzchen weisen den Weg aus unergründlichen Tiefen und Tote werden in brennendem Wasser als Rachegeister wiedergeboren. Mein Lieblingsbild ist der geheimnisvolle Blick durch eine betongraue Mauer auf die Silhouette eines fernen Tokyos, das, in orangenes Licht getaucht, seiner grässlichen Wirklichkeit beraubt ist. In einem Film, von dem man sich guten Gewissens jedes zweite Bild einrahmen und an die Wand hängen kann, ein ausnehmend bezauberndes Symbol dafür, daß eine andere Welt möglich ist.

„Un altro mundo è possibile” ist auch der Schlachtruf der Antiglobalisierungsbewegung. Deren Kompanien des Klassenkampfes streifen zu Beginn von El Método sieben Bewerber für einen hochdotierten Managerposten. Abgeschirmt auf einem Wolkenkratzerolymp sitzend, von den Wogen der offiziell als Krawall titulierten Kämpfe umspült, soll der beste Bewerber mittels der titelgebenden Grönholm-Methode ausgewählt werden. Aber wer ist der beste Bewerber für einen derartigen Posten? Doch wohl derjenige, der sich gegen die anderen durchsetzen kann. Also wird den Kandidaten schnell klar, daß es sich bei der Grönholm-Methode um keinen gewöhnlichen Psycho-Klimbim, sondern um einen Praxistest handelt. Kompliziert wird die Situation durch die gezielt erzeugte Unsicherheit, ob sich in der Gruppe ein Beobachter der Firma handelt.
Der spanische Film ist nicht unclever konstruiert. Er bestätigt einerseits die entfremdete Sicht des Managers auf das Ameisengewusel der sozialen Realitäten, andererseits gibt er nicht den gängigen Vorurteilen Raum, daß in den lichten Höhen der Glasstahlpaläste kein Wölkchen die Sonnenstrahlen trüben würde. Statt dessen werden ausführlich die Seelenverknotungen der Bewerber dargestellt, die meine Vorstellung, daß man heutzutage weniger für eine erbrachte Leistung als für die Anpassung an das System bezahlt wird, unterfüttern. Die Demütigung, die in einer simplen Nahrungsaufnahme stecken kann, der Seelenstriptease und die Prostitution, um in die nächste Runde zu kommen, die Fragilität der sich unter diesen Umständen ad absurdum führenden Zweckbündnisse, ja selbst die erbarmungswürdigen Seufzer der Computerbildschirme – all dies steht im Dienste der Aktualisierung von Sartre. Die Hölle, erzählt uns Regisseur Marcelo Piñeyro, sind nicht einfach die Anderen, sondern die Mitbewerber. Dieser Rückschritt ist aber nicht das größte Problem des Filmes. Auch nicht die Beschränkung auf ein kleines Figurenensemble und einen Ort, geschuldet der Adaptation des Filmes aus dem Bühnenstück von Jordi Galcerán, wirkt sich nachteilig aus. Ganz im Gegenteil, wenn sich im Mittelteil das Geschehen auffächert, verliert der Film seine geradlinige Struktur und gewinnt erst wieder an Stärke, wenn zum Halali des Finales geblasen wird. Was den Filmgenuß beträchtlich trübt, ist die mangelnde emotionale Bindung an die Figuren. Ähnlich gelagerte Alle-gegen-alle-Filme wie Battle royale oder Series 7: The contenders beziehen ihre emotionale Wucht aus der tragischen Unausweichlichkeit, mit der im Endkampf zwei gleichermaßen liebgewonnene Personen gegeneinander antreten müssen. El Método ist nahezu ausschließlich auf die gruppendynamischen Prozesse fixiert und vernachlässigt die Identifikationsmöglichkeit mit den Figuren. An Edurdo Noriega und Najwa Nimri lag es jedenfalls nicht, die liebenswert wie eh und je ihren Charakteren Gestalt gaben. Wenn am Ende einer der beiden das Schlachtfeld verlässt, dann bin ich wiederum geneigt, bei den Schwächen des Filmes ein Auge zuzudrücken. Ja, tut nur so zivilisiert mit eurem gepflegten Vokabular, euren gebügelten Blüschen, euren Rollenspielchen. Aber was ihr tut, das ist kein Spiel. Ihr werdet herangezogen zu Soldaten des Kapitals und deren Profession unterscheidet sich kaum von eurer. Und so sehr ihr euch bemüht, die Auswirkungen eures Treibens unsichtbar zu machen, es wird immer Glawoggers und Saupers geben. Oder eben Piñeyros.

Linklaters neuer Film A scanner darkly kam bei der Premiere in Cannes nicht sonderlich gut an. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Er ähnelt Waking life inhaltlich und formal sehr. Das novitätsversessene Kritikervölkchen stößt also leichtfertig ein „Ham wa doch schon jesehn.“ aus. Das übrige Publikum wird wiederum nicht gerade umschmeichelt, die Dialoglastigkeit kann leicht dazu führen, sich aus dem Film auszuklinken. Mir gefiel die Geschichte vom Undercorveragenten, der das Schlagwort von der teilnehmenden Beobachtung zu wörtlich nimmt, sehr gut, ohne wirklich zu begeistern. Linklaters werkgetreue Umsetzung von Philip K. Dicks Geschichte, die in Deutschland unter dem Titel „Der dunkle Schirm“ veröffentlicht wurde, spricht Intellekt und Humor gleichermaßen an, aber der Rhythmus des Filmes stimmt nicht so recht. Die beiden Elemente stehen unharmonisch und nur lose miteinander verbunden nebeneinander, anstatt sich wechselseitig zu befruchten. Gut gefiel mir hingegen, mit welch wenigen skizzenhaften Andeutungen es Linklater gelingt, einen Kommentar auf die innenpolitischen Befindlichkeiten Amerikas abzugeben. Die sind zwar im Moment alles andere als kuschelig, aber wenn man dem Ende des Filmes Glauben schenken darf (und seien wir doch ehrlich: Heißt Kino zuallererst für uns nicht, dem Bild bedingungslos zu glauben?), dann erwächst aus einem irrationalen Akt der Liebe die Hoffnung, den Teufelskreis aus Macht und Ökonomie durchbrechen zu können.
Die optische Brillianz des Rotoscope-Verfahrens kommt bei A scanner darkly noch mehr zum Tragen als bei Waking life. Die optische Inkonsistenz der Objekte durch die Überzeichnung schwört den Zuschauer auf die Unsicherheit der Hauptfigur ein, ob die innere Repräsentation treffend die Dinge der Umgebung widerspiegelt. Nur das Konzept der Tarnanzüge trägt nicht über die gesamte Laufzeit des Filmes, da deren permanenter Wechsel auf Dauer ermüdend wirkt. Definitiv aber ein Werk, das man sich mehrmals ansehen sollte.

Gleiches kann man gefahrlos von Hanzo, the razor (Goyôkiba) behaupten. Hier jedoch nicht, um neue Facetten des doch offensichtlichen Filmkonstruktes für sich zu entdecken, sondern um immer wieder Spaß an den absurden Ideen von Kenji Misumi zu haben. Der hatte anno 72 die Lust an seinem Dauerbrenner Zatôichi verloren und wollte, bevor er mit Kozure Ôkami den nächsten japanischen Klassiker ins Leben rief, mal richtig die Sau rauslassen. Also schnappte er sich Shintarô „Zatôichi“ Katsu und drehte mit ihm einen Film über den obercoolsten Bullen von Edo, ach was red ich da, von ganz Honshū. Der ist ein wirklich harter Brocken, vertraut nicht mal seinen Vorgesetzten, hat das Herz auf dem rechten Fleck und setzt sein handgeschmiedetes Schwert ein, um die weiblichen Verdächtigen bis zur Abhängigkeit zu treiben. So kommt er einem Skandal auf die Schliche, der seine Kreise bis in die Gemächer des Königspalastes zieht.
Wirklich einzigartig huldigt Misumis Film den Siebzigern. Goyôkiba kann man trotz seines frühen Entstehungszeitpunktes als vorweggenommenen Metafilm jener Dekade bezeichnen. Zu jedem Moment klar als Kind seiner Zeit erkennbar, ist der Film eine wilde Kreuzung aus Shaft und Emmanuelle, ohne dabei die Wurzeln des japanischen Kinos zu verraten. Misumi gelingt gar der schwierige Akt, mit dem anzüglichen Geschehen Lachsalven zu provozieren, ohne daß man sich danach fürs Juchzen schämen müsste. Ein Heidenspaß für Groß und Klein. Naja, für die lieben Kleinen vielleicht doch nicht. Aber die Großen, ja, die sollten sich die DVD-Box von Home Vision Entertainment zulegen. Dringendst.

Brick muß ein Druckfehler im Programmheft gewesen sein. Sollte wohl Dreck heißen.

Tun wir nun einfach so, als ob wir alle in der Schweiz wären. Halbzeitpause. Noch jemand aus dem Publikum ohne Langnese?

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#43 The Critic

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Geschrieben 30. August 2006, 22:49

Die Trailer des FFF wissen häufig zu gefallen. So hat man es auch in diesem Jahr geschafft, den stummen Ruf des Vampirs optisch überzeugend in zehn Sekunden zu pressen. Ich wünschte mir, daß die Sponsoren ähnlich effektiv arbeiten würden. Die quälten im letzten Jahr den Zuschauer mit einem gegrunzten nottschnojdoohsoohr. Dieses Jahr war es auch nicht besser. Als ob man es nicht eh sehen würde, quiekte ein Kinderstimmchen Da explodiert alles. Zu allem Überfluß bebte kurz darauf die Erde über die Leinwand samt Wackeldackel Pierce Brosnans. Der steht verständnislos vor dem aufgesägten Autowrack. „Wo bleiben denn die Leute aus der Spezialeffekteabteilung?“, fragt er den Regisseur. „Gibt’s nicht.“, kommt es unwirsch zurück. „Budgetkürzung. Wird alles in WTC gesteckt.“ „Das können die doch nicht mit einem Star machen!“, schluchzt es aus Brosnans Leibestiefen empor. Beim Regisseur hebt sich unmerklich eine Augenbraue. „Nicht, nicht ..., daß ich als Brite und Mensch eure Anstrengungen zur Wahrung der nationalen Sicherheit nicht würdigen könnte.“ Die Augenbraue wird in Ruhestellung geparkt. „Aber wie drehen wir denn nun die Erdbebenszene im Auto?“ Der Regisseur nestelt verlegen in der Hosentasche an einem nicht vorhandenen Taschentuch und schleudert einen zischelnden Blick Richtung Cateringwagen. „Ich habe ersatzweise professionelle Auto-Rüttler angefordert. Aber die haben jetzt ihre gewerkschaftlich garantierte Pause. Ich bin aufrichtigen Herzens Demokrat, aber wenn ich dieses Gesocks...“ Abrupt wendet der Regisseur sich Pierce zu und versucht ein verführerisches Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. „Aber geht es denn nicht ohne sie? Du bist doch Schauspieler, Pierce.“ Der Verführungsgrad des Lächelns wird einen Gang hochgeschaltet. „Du weißt schon. Die Macht der Phantasie. Wunderwelt der Illusion. Magie der, äh, Magier. All das ist in Dir. Denn tief drinnen in Dir weißt Du: Ich bin ein Schauspieler. Oh, welch ein Stolz in diesem Wort liegt. Schau. Spie. Leer. Tritt vor die Kamera und sei ein Robert DeNiro. Ein Tom Cruise. Eine Dolly Buster. Oder wie auch immer diese dralle Blondine aus dem Video hieß, das Du mir letztens geborgt hast. So wie die hüpfst Du jetzt auf dem Autositz rum und stöhnst ebenso: ‚Oh, welch ein Beben mich durchzuckt.’ Naja, vielleicht lässt Du lieber den Text weg.“ Während Pierce Brosnan versucht, sich in die Rolle der „Ms. Atombusen 2003“ einzufühlen, runzeln sich die Gehirnwindungen des Regisseurs. „Ich hab ihm doch nur gesagt, er soll wie das Pornomäuschen auf- und niederhopsen. Muß er deshalb genauso gelangweilt dreinschauen?“ Rrrumms! Die Studiotür fliegt auf. Eine Inkarnation der Zielgruppe für Hautcremewerbung tritt ein. „Oh, oh!“, durchzuckt es ganzkörperlich den Regisseur. „Da hab ich doch glatt vergessen, daß ich mit meinem Bunny zu einem Arbeitsessen beim Produzenten B. verabredet bin.“ Ein unsicherer Blick auf Brosnans ataktisches Rumgewackel auf dem Autositz. „Cut!“, brüllt der Regisseur. „Pierce, Du warst Su-Per! Die Einstellung haben wir im Kasten. Schluß für heute.“

Au wacka! Solch scheußliche Vorstellungen zerren vielleicht an den Nerven. Noch dazu, wenn man sie vor nahezu jedem Film aufgezwungen bekommt. Ein Glück, daß man für Hollywoods Trailershow mit einigen europäischen Perlen entschädigt wird. Dänische Filme sind z. B. mittlerweile eine sichere Bank beim FFF, auf der man gerne Platz nimmt. Mitte der neunziger Jahre gab es eine Renaissance dänischer Filmkunst, die an die Blütephase in der Frühzeit des Kinos anknüpfte. Zumindest, wenn man die Anzahl der Filmproduktionen und deren internationalen Erfolg betrachtet. Verantwortlich für diese Wiederbelebung waren einerseits Regisseure wie Lars von Trier oder Thomas Vinterberg, denen ein Brückenschlag zwischen künstlerischer Ambitioniertheit und Goutierbarkeit gelang. Sie institutionalisierten das Prinzip Heimvideo in der Dogmadeklaration als wahrhaftigeren, da der breiten Masse verständlicheren Zugang zur Realität und sind mit ihren populistischen Tendenzen folgerichtig beim Antiamerikanismus neuerer Prägung angekommen. Andererseits gab es Regisseure wie Ole Bornedal oder Lasse Spang Olsen, die mit verdammt guten Genrefilmen bewiesen, daß Hollywood keine Exklusivrechte für Unterhaltungsfilme jeglicher Couleur innehat. Eine Klammer der sich wechselseitig beeinflussenden Richtungen war schon frühzeitig Anders Thomas Jensen, der für beide Fraktionen Drehbücher anfertigte. Zur Jahrtausendwende muß er einen Möbeldesigner kennengelernt haben, jedenfalls begann er zu dieser Zeit, auch im Regiestuhl Platz zu nehmen. Im Gegensatz zur vielschichtigeren Themenwahl seiner sonstigen Drehbücher handeln seine Regiearbeiten von Männern, die die unwahrscheinlichste aller Krisen als Chance begreifen müssen, um von ihren Problemen erlöst zu werden. Nachtigall von Rammersdorf, ick hör dir trapsen. Seine Filme in Eigenregie haben bei solch einer religiös anmutenden Themenwahl natürlich eine Peinlichkeitsfalle eingearbeitet. So wundert es nicht, daß das Märchenmäntelchen, welches dem Erstling Blinkende Lichter umgehängt ist, mehr als fadenscheinig wirkt, wenn die Geschichte zwanghaft auf eine Insel der Glückseligen inmitten des Fegefeuers zusteuert. Dänische Delikatessen ist da schon cleverer konstruiert. Das Drama hinter dem Sarkasmus ist ergreifend und der Film ist viel weniger Komödie oder Horror, als man annehmen würde. Nur mit der Figur des behinderten Zwillingsbruders hat Jensen dem Drehbuch keinen Gefallen getan, so überzeugend die Konstellation auch anfangs wirkt. Zu peinlich wirkt das erzwungene Ende, mit dem alle Personen auf Deibel komm raus versöhnt werden müssen. Adam’s Apples (Adams æbler), der neue Film von Anders Thomas Jensen, hat erfreulicherweise einiges dazugelernt. Die Geschichte vom Neonazi, der zur Bewährung zu einem Landpfarrer geschickt wird und wie die Verkörperung des Leibhaftigen eine Versuchung an die schier unendliche Geduld des Geistlichen darstellt, scheint auf den ersten Blick dem üblichen Thema Jensens zu entsprechen. Auf den zweiten Blick ebenfalls. Dennoch erblüht Jensens typischer Stil hier erst in voller Pracht. Die Ansiedlung der Geschichte im Kirchenumfeld verwandelt die Peinlichkeit des Hoffens auf ein alles veränderndes Wunder in eine tiefe Ernsthaftigkeit, die man, trotz gegenteiliger Beteuerungen in der Wirklichkeit, dem Film in jedem Moment abzunehmen gewillt ist. Eine Ernsthaftigkeit, der eine Trauer innewohnt, bei der man sein Lachen nicht zurückhalten kann, und die Witze erzählt, daß man weinen muss. Auch dank einer gelungeneren Integration von Genreelementen in das Drama; mittlerweile unterstützen Horror- und Komödienanleihen den Filmfluß, anstatt ihn zu unterbrechen. Dem erquicklichen Treiben dänischer (wie auch anderer skandinavischer) Schauspieler mag ich eh so oft wie möglich beiwohnen. Mads Mikkelsen, Ulrich Thomsen oder Paprika Steen sollten dem Filmfreund allemal einen Gang ins nächstgelegene Lichtspielhaus wert sein. Deshalb will ich nur die famose Leistung von Ole Thestrup hervorheben, der als Dr. Kolberg eine anzügliche Herzlichkeit seiner Figur verleiht. Ganz anders als sein verbitterter Fleischermeister Holger in De grønne slagtere kann sein Dr. Kolberg den wirklich boshaften Schicksalsschlägen einen komischen Sinn abringen. Im Angesicht der Unvermeidlichkeit eines ungerechten Schicksals rockt Humor besser als Religion. Nicht nur, aber auch das Krankenhaus.

In den Grundfesten erschüttert wurden auch Gebäude im Film House (Hausu), welcher das klassische Geisterhausmotiv aus dem westlichen Kulturkreis übernimmt und für das Japan der Siebziger Jahre adaptiert. Die Schülerin Oshare lernt die neue Flamme ihres Vaters kennen, die die Stelle der verstorbenen Mutter einnehmen soll. Als ob das für eine Pubertierende nicht eh schon die schlimmste Verunsicherung wäre, droht dieser weibliche Eindringling noch die Zweisamkeit des anstehenden Urlaubs mit ihrer Anwesenheit zu zerstören. Welch ein Glück, daß die Klassenfahrt der mit verschiedenen Talenten beglückten Mitschülerinnen gerade abgesagt wurde, so daß man sich in adretter Schuluniform zum Haus von Oshares Tante aufmacht. Die Verwandten haben sich schon länger nicht gesehen und so entpuppt sich die fremde Bekannte als alleinstehend und an den Rollstuhl gefesselt. Bevor man Mitleid mit dieser verdächtig jung wirkenden und verdächtig blondierten Frau entwickeln kann, verschwinden die ersten Mädchen. Was ein Zufall, dass es dem Tantchen zeitgleich immer besser zu gehen scheint.
Wer denkt, er habe schon alles zum Thema pubertäre Verunsicherung im Rollenverständnis gesehen und kenne sich aus in der Haunted House Neighborhood, dem sei Hausu empfohlen. Auf der Flucht vor der Ratio schlägt die Geschichte Haken und treibt den Filmstil von einem absonderlichen Ambiente ins nächste. Dabei befremdet dieser Vorweggriff auf die Videoclipspielereien der MTV-Ära nie durch Peinlichkeit. So kitschig die Bilder auch immer seien mögen, nie lassen sie das notwendige Mindestmaß an Ästhethik missen und machen auch nicht den verwerflichen Versuch, mit Simulation von Realität der Künstlichkeit des Filmgenres in den Rücken zu fallen. Gezeigt wurde auf dem FFF nicht die fast zweistündige japanische Originalversion, sondern die internationale Verleihversion mit anderthalb Stunden Länge. Ist man gewöhnlicherweise nicht sonderlich erfreut über derlei Kürzungen, sollte man hier wirklich nicht meckern. So opulent die Bildkompositionen sind, so überraschend die Stilbrüche den Zuschauer überfallen und immer wieder zu unterhalten wissen– auf Dauer stellt sich doch ein Gefühl des überfressenen Auges ein. Wie die Mädchen im Haus so bewegt sich auch die Handlung im Kreis, ohne einen Ausweg aus der Sackgasse des Demonstrierens einer schier unerschöpflichen Kreativität bei der Bildgestaltung zu finden. Für einen Regieanfänger wie Nobuhiko Obayashi stellt Hausu aber auf jeden Fall eine ausnehmend sehenswerte Leistung dar und weckt Interesse an seinem weiteren Werk.

Eine Filmographie über Serienkiller würde mittlerweile Bände füllen. Dachte man Mitte der Neunziger, daß dieses Genre durch exzessives Plündern der Realität und anschließenden Abstieg in die C-Hölle zu Tode geritten sei, wurde man durch Scream eines Besseren belehrt. Wes Craven packte die Nerdfraktion beim Schlafittchen und adelte ihr reichlich unnützes Genrewissen, indem er es als zweischneidiges Schwert in den Film integrierte. Dieser Aufwertung des ausgelutschten Filmtopos durch eine Metaebene bedient sich auch Behind The Mask (The Rise of Leslie Vernon). Ähnlich wie bei Mann beißt Hund begleitet ein Kamerateam den Serienkiller bei der Arbeit. Womit wir schon beim ersten Knackpunkt des Filmes sind – er kommt einfach mal zehn Jahre zu spät. Das allein ist natürlich kein Manko. „Besser gut geklaut als schlecht.“, sagt der Volksmund und der muß es wissen. Tatsächlich ist der Beginn von Scott Glossermanns Regiedebüt recht unterhaltsam geraten, wenn man wie im belgischen Vorbild den neuen Stern am Massenmörderhimmel bei seinen akribischen Vorbereitungen begleitet, ihn über die Kultur der Angst parlieren hört und Freddy Kruger himself über die guten alten Zeiten schwatzt, als ob es beim Meuchelmorden um Tanzstile und Schulterpolstermoden ginge. Da wird mit viel Ellenbogeneinsatz eine verdächtig wirkende Kumpelhaftigkeit dem Publikum demonstriert, welches in der von mir besuchten Vorstellung nur allzu gerne darauf einstieg. Wenn aber dem Drehbuch die Ideen ausgehen und es versucht, sich in einen „richtigen“ Horrorfilm zu retten, wird sichtbar, daß der Kaiser zwar nicht nackt ist, aber ein kleiner König in Unterwäsche dem Volke huldvoll winkt. Denn die Überzeugungskraft, die bei Glossermanns Vorbildern aus der Zuspitzung einer Situation durch konsequente Weiterentwicklung erwächst, verspielt Behind the mask durch seine eklektischen Perspektivwechsel. Mediale und cinematographische Sicht wechseln nicht, wie man von einem gelungenen Film erwarten muß, aus innerer Notwendigkeit, sondern gehorchen den Erfordernissen des Drehbuchschreibers, der auf Biegen und Brechen noch eine Überraschung produzieren will. Dabei ist das Überraschendste immer noch eine neue Erkenntnis, die aus vermeintlich altbackenen Fakten gezogen wird. Aber erzähl DAS mal jemandem aus dem Kulturbetrieb! Gänzlich von einem gelungenen Metafilm unterscheidet sich dann Glossermanns Fingerübung durch die Beliebigkeit der Interpretation von Elementen des modernen Horrorfilmkanons. Dank dieser Mängel flutscht Behind the mask deutlich unter der von Craven angelegten Meßlatte durch. Ach nö, da sehe ich mir lieber wieder die Dokumentation The american nightmare an oder lese noch mal den Artikel aus der Splatting Image #64 über Siodmaks Serienkillerfilme. Nicht so augenzwinkernd, aber dafür wesentlich erhellender. Mehr Licht!

Was uns zu Goethe bringt, dessen Person aufs Trefflichste die beiden Absätze verbindet. Denn dieses Kind des Geniekults hat nichts mit dem vorigen Film zu tun, aber auch nichts mit dem nächsten. Final Fantasy: Advent of Children. Äh. Ja. Kann man machen, solche Filme. Warum nicht. Andererseits aber: Warum? Um uns von der Leistungsfähigkeit des japanischen Exzellenzclusters „Prozedurale Texturierung vektorierter sphärischer Objekte mittels rekurrenten Bumpmappings“ zu überzeugen? Die hochkomplexe Geschichte, in der die Guten den Bösen ordentlich in den Arsch treten (Geht das überhaupt mit einem Schwert? Und wenn ja: Gibt’s danach auch was von Ratiopharm?), kann jedenfalls nicht der Grund für den Erfolg beim Publikum gewesen sein. Die Besucher hätte ich mir ebenso gut vor der Tür anschauen können. Und hätte keine (sic!) Filmfigur verpasst. Von dem gesparten Geld hätte ich mir ordentlich Bier einschütten können, um von der Hohlwelt Gaia zu träumen.

Doch Halt! Nicht so voreilig! Alkohol ist doch kein Ausweg. Naja, zumindest an jenem Abend war er keine vernünftige Alternative. Denn sonst hätte ich Michel Gondrys neuen Film The Science Of Sleep (La Science des Rêves) verpasst. Der Film ist die französische Antwort auf den amerikanischen Instanttraum der Rom-Coms, werden doch Gael García Bernal und Charlotte Gainsbourg als das genaue Gegenteil dessen in Szene gesetzt, was Hollywood so formelhaft wie psychologisch verheerend dem Publikum einzutrichtern versucht. „Ihr müsst nur perfekte Puzzleteilchen werden“, so die Anweisung aus Übersee, „denn Angepasstheit an eine der seriellen Persönlichkeitsschablonen ist eine Glücksgarantie.“ Diese Produzierbarkeit des Glücks stellt Gondry mit seiner erzählerischen Konstruktion infrage. Man muss sich nicht in ein Muster pressen, man ist bereits eins. Wenn schon Anpassung, dann aneinander. Dazu braucht es aber in der wunderbaren Welt des Zufalls neben einem gehörigen Maß an Realitätsverlust vor allem eines – eine verbindende Idee. In der Liebe steckt eben eine Menge Arbeit drin, die man aber nicht sieht, da sie so grundverschieden von der Fragmentierung und Sinnentleerung des Berufslebens ist. Gondry entwickelt außergewöhnliche Bilder für die Gegenüberstellung der beiden Tätigkeitsfelder. Am meisten zu beeindrucken wusste Wattewölkchens Resonanzton, der punktgenau inszeniert und deshalb in seiner Originalität so überwältigend war. Die kleine Erzählung innerhalb einer Szene ist eben die große Stärke Gondrys, hier merkt man seine Herkunft aus dem Musikvideogeschäft am deutlichsten. Die große Geste liegt ihm aber überhaupt nicht; Gondry sollte lieber wieder einem versierten Drehbuchschreiber wie Charlie Kaufman vertrauen. Der hätte der mäandernden Struktur des Tagtraumes jenes Rückgrat verpasst, das aus einer Szenenfolge einen Film macht. So bleibt am Ende von The Science Of Sleep eine leichte Schalheit zurück, als ob man eine Packung Eis ausgelöffelt hätte. Ausgehungert zwar, jedoch nicht vergessend, daß man kein Brot ißt. Die resultierende Flauheit im Magen könnte Sättigung sein oder beginnende Übelkeit, aber Liebe, nein, Liebe ist das nicht.

Wenn wir gerade bei Fressmetaphern als Sättigungsbeilage sind: Am Ende der Nahrungskette ist man wohlgenährt, ohne sich mit üblen Brocken den Appetit verdorben zu haben. Deshalb mein Dank an die Vorkoster in den anderen Festivalstädten.

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#44 The Critic

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Geschrieben 06. September 2006, 18:17

Postmoderne. Wie ich dieses Wort hasse. Da kommen nicht mal Begriffe wie *zeitnah* und *wertig* ran. Jeder stellt sich was anderes vor unter diesem Begriff Postmoderne, der mehr Nebel als Projektionsfläche ist. Für den einen ist das Krikelkrakel statt richtiger Kunst, der andere denkt an das wohlverdiente Ende der Menschheitsentwicklung. Pensionär Fortschritt? Geschichte im Schaukelstuhl?
Betrachtet man die mediale Konstruktion von Wirklichkeit nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, dann könnte man fast daran glauben, daß der Status Quo zufriedenstellend und unabänderlich ist. Andererseits ist die Suggerierung der Unantastbarkeit von Machtverhältnissen bekanntermaßen ein Herrschaftsinstrument. Da Arbeit eine wichtige gesellschaftliche Stütze ist, wird nicht wenig Anstrengung unternommen, sie unsichtbar zu machen. Nicht nur die sozialen Auswirkungen von Wirtschaftsverhältnissen, die vor allem auch Ausbeutungsverhältnisse sind, nein, die Arbeit selbst soll nicht mehr sichtbar sein. Das erzeugt die Illusion, wir würden alle nur noch in luftigen, sonnendurchfluteten Großraumbüros sitzen und irgendwo draußen würden glänzende Stahlmaschinen für unser Wohlergehen rackern.

Diesen unschönen Schein zerstört Michael Glawogger in seinem Film Workingman’s Death. Er führt unseren Blick an Orte, an die der Kapitalismus seine dreckige Arbeit verbannt hat – weit weg von den Machtzentren. Mit einer Mischung aus Dokumentation und Inszenierung erzählt Glawogger von der Mühsal, die wir in Europa und Nordamerika für überkommen halten, weil wir mit ihr nur durch Warenströme verbunden sind. So wie man dem Nilbarsch in Saupers Film Darwins Alptraum nicht mehr die Bedingungen ansieht, unter denen er gefischt wird, so sieht man dem Strom in unserer Glühbirne nicht an, wie die Kohle dafür gefördert wird. Wir sehen den bunten Warenhaufen bei Karstadt und denken nicht daran, was mit den Transportschiffen passiert, wenn sie nicht mehr zu gebrauchen sind. Einige dieser blinden Flecke führt uns Workingman’s death buchstäblich vor Augen.
Das Außergewöhnliche an Glawoggers Film ist dabei, daß er nicht in Bitterkeit erstarrt, obwohl man im Zentrum des Filmes wirklich meint, die Hölle zu sehen. Einerseits ist der Regisseur klug genug, keine Thesen auszuformulieren, sondern ähnlich wie bei Harun Farocki ist man als Zuschauer gefordert, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen. Andererseits versinkt die Darstellung auch nicht in gräulicher Tristesse. Die Szenen in Indonesien sind von einer schwebenden Steadycam eingefangen, die nicht nur eine Direktheit vermittelt, sondern die Erdenschwere der Arbeit durch eine Verspieltheit des Blickes betont.
Ein emotional anstrengender Film, der nichtsdestotrotz wichtig ist.

Wie man dann so im Internet rumklickt, sieht man plötzlich, wie effektiv die Bildkontrolle von Arbeitsbedingungen ist. Da ist in Asien Aufruhr, weil die süßen kleinen iPods von süßen kleinen Chinesen unter gar nicht so süßen Bedingungen produziert werden und in Europa interessiert sich von den Medien kein Schwein dafür. Man muß schließlich an den Werbekunden denken. Und wie ich mir noch denke, was geht es mich an, ich will sowieso keinen iPod, fällt mein Blick auf die Anleitung meiner Computernetzkarte. Selbe Firma. Ich, verbunden mit den Menschen auf dem Foto, verbunden durch die Ware. Scheiß auf die Postmoderne. Mir würde erst mal eine Moderne für die zwischenmenschlichen Beziehungen genügen.

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#45 The Critic

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Geschrieben 15. Oktober 2006, 23:30

Träume ängstigen uns moderne Menschen. Wir, die wir die Beherrschbarkeit der Welt postulieren und unser Scheitern nicht eingestehen wollen, stehen im Traum furchtsam am Rande des von der matten Abendsonne des Intellekts beleuchteten Areals, das wir mit unserer Ratio so akribisch abgesteckt haben. Dieses Areal, von staubigen Füßen tagsüber millionenfach festgetreten, verlässt im Schlaf unser Verstand, mit wilden Bocksprüngen sich der Dunkelheit des Undenkbaren nähernd. Ob er vor dem Abgrund scheut? Ob er morgens wieder zum eingezäunten Gebiet zurückfindet? Wir wissen es nicht und alle Beruhigungsversuche, die Hoffnung, die Wahrscheinlichkeiten, Freuds Lasso der Deutung, helfen nicht. Denn im Schlaf zerfällt die vermeintliche Entität des Ichs in jene Vielzahl kleiner Ichs, die sich mit Mühe nur im wachen Zustand zusammenfinden können.

Oder eben auch nicht. Manchmal fehlt plötzlich ein Puzzleteil unseres Verstandes oder es liegt an der falschen Stelle. Wie bei der jungen Frau, die am Anfang von Dementia in einem Hotelzimmer erwacht. Man merkt ihr schnell die Befremdung an. Sei es ihre Gestik vor dem Spiegel. Sei es die Kamera, die aus dem Unendlichen kommend, den Blick des Zuschauers, und mit ihm dessen Gedanken, im Film versinken läßt. Sei es das Auseinanderfallen von Bild und Ton, die nicht vollkommen disparat sind, doch sich auch nicht so recht ergänzen wollen. Wenn man genauer darüber nachdenkt, dann merkt man nicht nur die Befremdung dieser Hauptfigur, nein, man fühlt sie. Es ist der rare Fall, daß man eine Geschichte nicht nur mit einer Filmfigur, sondern durch sie erlebt. Ohne das Subjektivitätsnetz aus The lady in the lake, dafür aber mit multiplem Boden. Denn auch wenn wir im Laufe des Films einiges über die junge Frau erfahren werden, wir werden die Vergangenheit nicht vollständig verstehen können. Weil wir einen Film lang sie geworden sind und sie das Geschehene nicht versteht. Sie es nicht verstehen kann, weil das Verständnis sie zerstören würde.

Die Vorbilder für diese zerborstene Seelenlandschaft sind in Hitchcocks freudianisch geprägten Filmen zu finden. Nicht selten erinnern Szenen aus Dementia an die von Dali gestalteten Traumsequenzen in Spellbound (Ich kämpfe um Dich). Hitchcock war nicht sonderlich angetan von seinem Film, weil er die Erklärung am Ende als sperrig empfand. Er scheint nie begriffen zu haben, daß die rationale Erläuterung des Geschehens jener Fehler war, der der Suggestivkraft der Irrealität zuwiderlief. Dementia ist bei weitem cleverer angelegt. Wenn Spellbound ein Betonklotz ist, dann ist Dementia ein unterirdischer Luftschutzbunker, in dem man eingeschlossen ist. Die düsteren Geschehnisse, die um den Komplex Schuld, Verbrechen und Befreiung kreisen, werden mit Stilmitteln aus Expressionismus, Film noir und Surrealismus präsentiert, die in dieser Kombination seltsamerweise nicht eklektisch wirken, sondern eine hypnotische Kraft entwickeln. Diese Faszination wird durch den phantastischen Soundtrack von George Antheil unterstützt, dessen schwebende Kompositionen dieselbe realistische Entrücktheit vermitteln wie die Bilder.

So großartig die Mischung des Filmes auch ist, so ist Dementia doch ein Zeichen des Scheiterns. Die Filmidee, unterlegen im Kampf gegen den Zeitgeist. Von Zensoren beanstandet, geschnitten und entschärft verspätet in die Kinos gebracht unter dem Titel Daughter of Horror. Nur zwei Jahre Verzögerung, möchte man meinen. Aber hier handelte es sich nicht um eine große Studioproduktion. Es war das Erstlingswerk des Regisseurs John Parker, produziert von Bruno Ve Sota und Ben Roseman, zwei der Schauspieler. Die Hauptrolle spielte Adrienne Barrett, die Assistentin des Regisseurs, die auch das Skript zu diesem Film schrieb. Der Kameramann William C. Thompson arbeitete ebenfalls mit Ed Wood an Bride of the monster. Alles deutet darauf hin, daß die Macher auf die Einspielergebnisse angewiesen waren. Doch statt Geld zur Begleichung der Ausgaben zwei Jahre Kampf gegen die Zensoren. Zwei zermürbende Jahre, die nicht nur Dementia bis auf ein paar Szenen in The Blob fast vollständig aus dem kulturellen Gedächtnis gestrichen haben, sondern auch nahezu alle Beteiligten aus der Filmindustrie katapultierten. Ein weiterer geplatzter amerikanischer Traum. Ja, auch deshalb fürchten wir Träume.

Ein Schrei. Dann Dunkelheit. Sie kriecht aus dem Fernseher. Ich flüchte mich in den Schlaf. Wessen Traum werde ich sein? Welche Welt wird von mir erträumt? Könnte ich es mir aussuchen, so wäre ich gerne der Traum des Schmetterlings von Zhuāngzi. Doch Etwas, verborgen in mir, wispert leise, daß ich der Traum von Diane Selwyn bin. Der Traum jenes Mädchens, welches mit ihrem andalusischen Hund Tür an Tür mit Henry Spencer nah jener Dunkelheit haust, die uns am Ende alle umfängt.

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#46 The Critic

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Geschrieben 20. Oktober 2006, 09:20

Da diskutiert man Ewigkeiten über die Wirksamkeit von filmischen Konstruktionen. Wie der Einsatz von abstrakten und hyperrealistischen Gewaltdarstellungen zu bewerten sei. Ob die Stilisierung in A clockwork orange, die Verführung in Mann beißt Hund oder das Mimikry in Series 7 - The contenders besser die dumpfe Affirmation der Gesellschaft aufrütteln können. Schlechte Nachrichten, meine Damen und Herren. Nehmt das! 11000 Mal gesehen. 45 meist freudig erregte Kommentare. 59 Mal zu den Favoriten hinzugefügt. Eine ganze Latte ähnlicher Videos als Querverweis.
Man wußte es natürlich. Die Jerry Springer Show. Boulevardblätter. „Cops“. Die Bildzeitung. Sie mussten jemanden bedienen; jemanden, der nicht gezwungen wird, diese Scheiße zu fressen, sondern auch noch Freude dabei empfindet. Aber hier die Frau vor Angst und in Schmerzen schreien zu sehen und dann die johlenden Kommentare darunter zu lesen – das ist ein feister Tiefschlag. Eine derartige Gesellschaft, die sich mehr über eine mögliche Aufweichung der Besitzverhältnisse als über eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte echauffiert, soll mir bitte keine Vorschriften zur Darstellbarkeit von inszenierter Gewalt in Filmen machen, sondern sich den erhobenen Zeigefinger dahin stecken, wo die Sonne niemals scheint. Denn ihre Bestimmungen sind nicht nur moralisierend, sondern unter diesem Blickwinkel auch anmaßend.

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#47 The Critic

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Geschrieben 05. Januar 2008, 10:00

Manche Filme machen es dem Zuschauer einfach, sie zu hassen. Veit Harlans Anders als Du und ich (§175) ist so einer. Die IMDB legt darüber beredtes Zeugnis ab. Der Regisseur des oft als infam bezeichneten Jud Süß (zu eigener Meinungsbildung bin ich dank unserer Gesetzgebung nicht berechtigt) machte in den restaurativen Fünfziger Jahren einen Spielfilm zum berüchtigten Paragraphen 175. Was soll man da erwarten?
Um die Antwort vorwegzunehmen – keinen guten Film. Wenn man mich fragen würde, nicht mal einen Film, sondern eine Thesenabhandlung. Doch wenn Harlan auch kein guter Film gelungen ist, dann doch ein interessanter. Nicht interessant, weil man etwas über den §175 und seine damalige Wirkung erfahren könnte, sondern weil er beredtes Zeugnis jener Zeit ist, in der der Film gedreht wurde.

Denn eines kann man dem Regisseur nicht vorwerfen (auch wenn man den Vorwurf häufig hört) – er hätte ein Pamphlet wider Das dritte Geschlecht, so ein Alternativtitel des Projektes, verfassen wollen. Schon aus dem Grunde nicht, weil das Ursprungsdrehbuch unter dem Titel Eltern klagen an von Felix Lützkendorf und Robert Pilchowski stammt. Auch gibt das der DVD beigefügte Schreiben Harlans an die Arca-Produktionsgesellschaft Auskunft darüber, dass er alles andere als ein hasserfülltes Machwerk inszenieren wollte. Seine Vorschläge zur Umarbeitung zeigen klar, dass Harlan Schwule für sexuelle Krüppel hielt, die zumindest solange mit Mitleid zu bedenken seien, wie sie nicht die ordentlich gescheitelte Jugend gefährden.

Das ist aber auch schon das Einzige, was man Harlan zugute halten kann. Denn der Rest des Filmes ist eine einzige große Diffamierungskampagne; ob nun bewusst angesichts der gesellschaftlichen Situation im Nachkriegsdeutschland oder unbewusst als Relikt der Nazizeit. Ich vermute eher letzteres, denn die Äußerungen Harlans zu Drehbuchveränderungen weisen auf den innigen Wunsch hin, mit dem kinobesuchenden Volkskörper in emotionaler Interferenz vereint zu sein. Das beginnt schon mit dem ankumpelnden Titel, bei dem das Ich und das Du, also Regisseur und Zuschauer, die normative Referenz herstellen, gegen den das Andere abgegrenzt werden soll. Es geht weiter mit der erbsenzählerischen Teilung in gute Bürger, die ganz stolz das Spießbürgerliche für sich reklamieren, und in die dräuende Gefahr des verruchten gesellschaftlichen Randes. Hier ist Harlan ganz in seinem Element. So findet innerhalb des Filmes ein interessanter Fokuswechsel statt. Geht es titelgemäß anfänglich noch um die Wirkung des Homosexualitätsparagraphen § 175, rückt innerhalb des Filmes der Kuppeleiparagraph § 180 in den Mittelpunkt. Das arme Muttertier Paula Wessely gerät ins Visier der Justiz, weil sie ihren unschuldigen Sohn aus der verweichlichten Gesellschaft retten und ihn für Deutschlands Geburtenrate wieder zur Verfügung stellen wollte. Wer würde da sich nicht mit dem Mutterherz ungerecht behandelt fühlen, plötzlich der Kuppelei bezichtigt zu werden? So seufzte ein Alternativtitel Da wirst Du schuldig und Du weißt es nicht, denn wer hat schuld an dem ganzen Schlamassel, dass , obwohl der schwule Verführer nicht angeklagt werden kann, die Mutter Opfer bringen muß? Eben. Der Jude. Ach nein. Hier ist es ja der Homosexuelle. Und der wird mit allen Stigmata versehen, die damals zeitgemäß waren. Natürlich Marke älterer Dandy, der bei sich zu Hause, wohlabgeschirmt von einem allwissenden Diener, nackte Jünglinge ringen lässt. Kein Wunder, dass hier auf diabolische Beleuchtung und expressionistische Blickwinkel zurückgegriffen wird. Gerne ist man in diesen Kreisen auch blutarm, unpraktisch und poetisch. Man parliert zu Elektronenmusik (für den Film von Oskar Sala komponiert) über moderne Malerei, also jenen entarteten Quatsch, dem man schon zu Nazizeiten lehrreiche Ausstellungen gewidmet hatte. Muß man noch erwähnen, dass der Klassenprimus, nachdem seine dunkle Phase durch die wahre Liebe zum Hausmädchen beendet wurde, wieder von der abstrakten zur gegenständlichen Malerei findet, unterlegt mit den Worten „Ach, Du kannst auch richtig malen?“? Wenn Harlan mit Anders als Du und ich schon etwas für die Homosexuellen erreichen wollte, dann will ich mir gar nicht die verschobene Darstellung der Juden in Jud Süß vorstellen.

Entgegen eigener Aussage ist es nicht sonderlich viel Mitgefühl, das Harlan den Homosexuellen zukommen lassen will. Immerhin wollte in seinem Drehbuchentwurf Harlan am liebsten den fiesen Verführer vermöbeln lassen – von den Halbstarken. Wenn doch schon die Justiz versagt. (Die Untersuchung der Dialektik von populistischem Rechtsempfinden und Gerichtsbarkeit im Film wäre sicher ein dankbares Thema.) Auch die progressiver eingestellten Charaktere wie der Onkel, der auch schon mal eine Tunte selbst kennen darf, sind voller Vorurteile über diese „Schattenseite der Sexualität“. Da muß die Polizei schon mal bedauernd zur Kenntnis geben, dass man den älteren Kunsthändler leider nicht prophylaktisch für seine Homosexualität verurteilen könne, aber er werde sich, wie alle Triebtäter, schon früher oder später selbst verraten. Erst recht seltsam, was die Experten Nebulöses beizutragen haben. Ein Jugendpsychologe und ein Arzt raten zur genauen Beobachtung und zum rechtzeitigen Eingreifen, weil sich das Rumgeschwule sonst irgendwie verfestigen könne. Man fragt sich bei solcherlei Quark, was das Institut für Sexualforschung Frankfurt Main an fachwissenschaftlicher Lehrmeinung zum Film beigesteuert hat. Die Zerstörung von Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaften 1933 sorgte langfristig für Leerstellen in der deutschen Forschungslandschaft.

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Das Tragische des Filmes besteht aber darin, dass im Nachkriegsdeutschland einerseits das bisschen Wohlwollen für das Wesen der Homosexualität schon zu viel war, andererseits die dämonische Aufladung der Homosexuellen zu wenig. Auch half nicht das Appellieren an die faschistisch geprägten Werte der Volksgemeinschaft. „Das Happy End für die Mutter muß in ihrem Opfergefühl liegen, und nicht in dem Gefühl – noch einmal davongekommen zu sein.“, so Harlan. All das war den Filmbewertungsstellen nicht genug. Sie sahen in dem Film trotz all seiner Mängel vor allem einen Werbefeldzug für Homosexualität. Gerade der diffamierend gedachte Einsatz der Modernität zur Kennzeichnung des Homosexuellenmilieus schien den Zensoren, vermutlich nicht zu Unrecht, als Attraktor für Jugendliche; der Gegensatz war schließlich die spießige Elterngeneration im Bankiershaushalt. Auch die körperliche Liebe zwischen Mann und Frau, deren Emotionalität dem Zuschauer den „richtigen“ Weg weisen sollte, war den Zensoren zu viel: „Wie das Mädchen den Jungen sehr bewußt und sehr erfahren verführt, und wie sie endlich in einer nächtlichen Gartenszene ihr Ziel erreicht, ist in der Darstellung so realistisch und auf den erotischen Effekt berechnet, daß zweifellos bei der Mehrheit des Publikums eine sittlich verletzende Wirkung hervorgerufen würde.“

Manche Zensurbegründungen machen es dem Leser einfach, sie zu hassen. Die ersten Schnittauflagen der Freiwilligen Selbstkontrolle sind solche. Sie entsprechen einer sexualfeindlichen Blümchen-Bienen-Moral, der jede Abwägung in Sachen Sexualmoral schon zu viel ist und die nur Abwehr duldet. Doch selbst 1957 gab es schon Licht am Horizont. Die letzte Einstufung erfolgte durch die Filmbewertungsstelle in Wiesbaden von einem Dr. Krings. Dessen hellsichtige Einschätzung deckt mit klaren Worten die wirklichen Schwachstellen des Filmes auf und weist auf die faschistischen Traditionslinien Harlans/Lützkendorfs hin. Die Nachkriegsrestauration begann auch bei der Filmzensur zu bröckeln. Bis zum Oberhauser Manifest und Hellmuth Costards Besonders wertvoll war es aber noch ein weiter Weg. Manchmal kommt es mir so vor, als ob er noch nicht zu Ende wäre.

Bearbeitet von The Critic, 05. Januar 2008, 10:06.

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#48 The Critic

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Geschrieben 30. März 2008, 20:46

Drogenfilme sind ein schwieriges Unterfangen. Meistens beruft man sich auf die dramatischen Qualitäten der Drogenkarriere. Naked Lunch oder Requiem for a dream sind hervorragend ausgearbeitete Beispiele für den Horror, der aus dem rasanten Realitätsverlust und dem Niedergang jeglicher sozialer und persönlicher Verantwortlichkeit erwächst. Aber wenn man ehrlich ist, trägt das alleinige Abheben auf diesen Aspekt der Drogensucht eine nicht zu leugnende sozialdemokratische Verdörrtheit in sich. Während ich das hier schreibe, bin ich ordentlich betrunken, und ich wette, dass der eine oder andere Leser sich gerade mit Essen vollstopft, der nächsten Zigarette entgegenfiebert oder einen Nebentab geöffnet hat, in dem die Pornoseite des Vertrauens der gütigen Beachtung harrt. Mein Opa meinte ja immer, der einmalige Anblick von Morphinen würde den Absturz in die Beschaffungskriminalität besiegeln. Aber auch bei illegalisierten Drogen ist ein erklecklicher Anteil der Konsumenten in der Lage, in nüchternem Zustand sozialkompatibel zu agieren, der Sucht in eingeschränktem Rahmen Raum zu geben und das eigene Leben auf Kurs zu halten.
Was also tun, um diesem Aspekt Rechnung zu tragen? Gregg Araki hat nach dem sehr düsteren Mysterious skin mit seinem neuesten Film Smiley Face den entgegengesetzten Weg eingeschlagen und gibt das Zugedröhntsein der absoluten Lächerlichkeit preis. Was, zugegebenermaßen, ein ebenso ehrlicher Ansatz ist wie das Horrifizieren der Situation. Denn haben wir nicht alle schon mal neben einem Drogi gesessen, der in seiner Wirrnis pythoneske Züge angenommen hat? Ich kenne beides – beängstigende MFs als auch vollkommen lachhafte Typen.

Da setzt auch Dylan Haggertys Drehbuch an. Jane F sitzt zu Hause vor dem Laptop und versucht die Affenpopulation der Welt zu retten. Nur sind die Probleme des WWF nicht die Probleme der Jane F, so dass sie somnambul in ein Computerspiel stiert und alle Digitaläffchen innert kürzester Zeit um die Ecke bringt. Das ist der Startschuß zu einer Reise, der sie vom A ihrer Computertastatur in die Riesenradgondel Z bringen wird. Aber was sind die Zwischenschritte? B wie Bier ist noch identifizierbar, doch bald schon verschwimmt alles in einem Rausch, der kein Gestern und Weil mehr kennt. Zusammengehalten wird die Nummernrevue von einer Reihe von running gags, die das beste Bett der Welt, den gruseligsten Mitbewohner der Welt und, ja liebe Kinder gebt fein acht, das erste Kommunistische Manifest der Welt einschließen. Natürlich würde die delirante Erzählung nicht halb so gut funktionieren, wenn Jane F von jemand anderem als Anna F. Aris gespielt würde. Ihr komödiantisches Talent hatte bereits einen nicht unwesentlichen Anteil am Erfolg der Scary Movie Reihe. Ihr Timing und ihre Gestik sind exzellent. Auch wenn sie (noch?) nicht die mimischen Ausdrucksmöglichkeiten der großen Screwball-Heroinen aufweisen kann, so kann sie doch in jedem noch so peinlichen Moment eine gewisse Grundempathie für die Figur aufrechterhalten, ohne die das ganze Spektakel in sich zusammensinken würde wie ein Soufflé, wenn man den Ofen zu früh öffnet. Anna Faris würde ich jederzeit, na ja, vielleicht nicht gerade heiraten, aber auf ein- oder zweihundert Bier einladen. Neben ihrer Präsenz kann eigentlich nur noch das Sounddesign bestehen, das mehr als die Kameraarbeit und die bewußt modisch gehaltene Erzählstruktur von der desolaten Desorientiertheit der Jane F berichtet. Leider geht dem Skript im letzten Drittel die Luft aus und die Kontraste zwischen gedopter Innenansicht und nüchterner Realität wirken nicht mehr so recht. Vielleicht sollte das auch ein beabsichtigter Effekt sein, der auf den lyrischen Moment des Filmes hinarbeiten sollte. Ganz rund war die emotionale Dramaturgie aber nicht, gerade auch was die Moral von der G'schicht



Ja, äh, worüber sprachen wir gerade? Smiley Face? Ja, guter Film. Welche andern Filme findest Du denn noch so gut?

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#49 The Critic

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Geschrieben 09. April 2008, 21:35

Der Kapitalismus hat viele schöne Dinge produziert. Einwegmusik und Einkaufszentren, Digitaluhren und Dividenden, Abwasserentsorgungsrichtlinien und Abschiebegefängnisse. Praktische Sachen für jedermann eben. Seine ausgeklügeltste Erfindung ist aber das Konzept Freiheit, mit dem Individualität suggeriert wird, um hinter dieser Nebelwand die angestrebte persönliche Entfaltung in Konsumismus umzumünzen. Dabei ist die Ausschließlichkeit, mit der dieses Prinzip sich in die Gehirne der Menschen fräst und dort jeden anderen Gedanken unterjocht, schon erstaunlich. So lädt die (angeblich?) ergebnisoffen programmierte Plattform Second Life zur phantasievollen Erweiterung des biologisch geprägten Egos ein. Und was fällt den Spielern so ein? Geld einnehmen und Geld ausgeben. Weniger Phantasie und Kreativität hat nur noch André Heller. Auch die Bedingungslosigkeit, mit der die vollständige Unterwerfung von allen Schichten der Gesellschaft eingefordert wird, ist immer wieder überraschend. Ein unschönes Beispiel dafür war der Umgang mit den noch einsitzenden RAF-Gefangenen. Deren mögliche Freilassung nach einem Vierteljahrhundert Haft reaktivierte eine Kopflosigkeit unter den selbsternannten Leistungsträgern, die kaum noch zwischen realer und imaginierter Bedrohung des Status Quo zu unterscheiden wußte. Leute mit juristischem Hintergrund, die noch jedem waffendealendem Diktator die Stiefel abgeleckt haben, verlangen panisch strafrechtlich irrelevante Entschuldigungen sowie prophylaktische Selbstentleibungen der potentiellen Wiederholungstäter. Und Uwe Nettelbeck ist auch schon tot.

Totalitäres Denkens also, daß der Kapitalismus produziert. Fast möchte man dem ungeliebten Richard Dawkins recht geben, daß manche Meme sich durch Superiorität gegenüber anderen durchsetzen. Wenn, ja wenn man nicht wüsste, daß die Unterordnung und Anpassung an das Bestehende von Kindesbeinen an erlernt und mit internalisierter Gewaltandrohung aufrechterhalten wird. Von diesen Mechanismen und der Anomie durch deren Aufhebung erzählt Pier Paolo Pasolinis Film Teorema . Ein reichlich theorielastiges Unterfangen, so scheint es. Aber ich kenne kaum jemanden, der wie Pasolini es schafft, Gesellschaftstheorie in erlebbare, emotionale Filmwelten rückzuübersetzen. Rainer Werner Fassbinder würde mir noch einfallen. Wie in dessen Filmen sind auch in Teorema die Figuren Prototypen ihrer sozialen Rolle, ohne in eine marionettenhafte Unbeholfenheit zu verfallen. Vater. Mutter. Tochter. Sohn. Dienstmädchen. Mehr muß man nicht von diesen Personen wissen, wie der stummfilmartige Einstieg in den Film vermittelt. Vielleicht noch, daß die Familie der saturierten Mittelschicht angehört. Garten. Auto. Elektrischer Toröffner. Einige Nullen auf dem Bankkonto und einige Meilen von Mamma Milano entfernt, die an den Rändern der Stadt wohnt. Auftritt: Der Fremde. Der wohl auch das Entfremdete, das Abtrainierte repräsentiert. Nach und nach verführt er alle Personen. Uns Zuschauer eingeschlossen. Das liegt sicher nicht an seinen Terence Hill Augen, sondern an der unaufdringlichen Bebilderung von Sexualität. Erotisch aufgeladen, gleichzeitig von einer tiefen Warmherzigkeit erfüllt, sind die Bilder, die Pasolini dafür findet. Unvergleichlich die Geste, mit der der unbekannte Besucher die Beine des kranken Vaters auf seine Schultern nimmt. Das wirkt wie religiöse Segnung und animalischer Sex. Gleichzeitig. Keine Ahnung, wie man das hinbekommen kann. Daß es geht, hat Pasolini bewiesen.
Nach dem Verschwinden des Fremden zeigt sich erst dessen wahre Natur. Wie die apfelreichende Schlange sorgte auch der unbekannte Eindringling für den Sündenfall. Für die Familienmitglieder gibt es kein Zurück ins großbürgerliche Paradies mehr. Vertrieben für immer, versucht jeder auf seine Weise mit dem Zerfall der bekannten Strukturen zurechtzukommen. Doch scheinen weder Flucht in sexuelle Abenteuer noch in religiöse Extase Stabilität zu vermitteln. Am Ende des Filmes irrt der Vater nackt durch die Wüste und stößt einen Schrei aus, den jeder denkende Mensch heute in sich trägt. Die immer wieder auftauchende Wüste - ein Produkt der Monokultur des monetären Denkens. Prinzipiell der Urbarmachung harrend. Wahrscheinlicher aber, wenn wir nicht nur den letzten geoklimatischen Berichten Glauben schenken dürfen, sich weiter ausbreitende Realität.
Ein aktueller Film, den Pasolini da gemacht hat. Er nimmt den Zerfall der bürgerlichen Familie, die heutzutage vor allem als Pose und Patchwork anzutreffen ist, vorweg, und verpackt diesen Auflösungsprozeß in Bilder, die man sich nicht ansehen, sondern wahrnehmen soll.


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Gerade aus der zeitlichen Distanz zu Teorema fällt auf, wie wenig Kinobilder heute unkommentiert nebeneinander stehen dürfen, um eine eigenständige Bildsprache zu gerieren. Alles muss oberflächlich erkennbar sein, sonst könnte die Goutierbarkeit, i.e. Vermarktbarkeit, darunter leiden. Die amtlich beglaubigte Empörung ist immer noch groß, daß dieses Offenlegen im Porno und Splatter zur Maxime erhoben wurde. Aber das Prinzip ist verbreiteter, als man glauben mag. Kaum ein Filmemacher traut sich noch, den Figuren nicht den Metatext in den Mund zu legen.
Der Regisseur Roy Andersson ist eine Ausnahme von der Regel. Schon die Häufigkeit seiner Produktionen, vier Filme in 37 Jahren, lässt erahnen, dass es ihm nicht um das Bedienen von Kunden mit wohlfeilen Geschichtchen geht. Das hat er als Werbefilmer zur Genüge getan und kann sich jetzt in finanzieller Unabhängigkeit seinen künstlerischen Vorstellungen hingeben. Übermäßige Hast kann man ihm bei der Umsetzung sicherlich nicht vorwerfen. Seine Filme Songs from the second floor (Sånger från andra våningen) und Das jüngste Gewitter (Du levande) leben Bild für Bild die Entdeckung der Langsamkeit. In langen, statischen Einstellungen werden Tableaus des modernen Lebens präsentiert, denen schon durch die triste Farbgebung der Räume eine Hoffnungslosigkeit innewohnt. Anfänglich noch ob der Skurrilität der sozialen Grenzüberschreitungen durch Gelächter abgefedert, merkt man als Zuschauer bald, daß mehr und mehr die tiefsitzende Traurigkeit über den Zustand der Welt an die Oberfläche drängt. Das dehumanisierende Grauen der Serialität, das auch Unser täglich Brot von Nikolaus Geyrhalter aus ganz anderer Perspektive betrachtet, wird zur bestimmenden Weltsicht, der Mensch mit seinen Wünschen ist hilflos dem System überantwortet. Auch darin ähneln Anderssons Filme Terry Gilliams Brazil. Im Gegensatz zu jenem verzichten sie aber auf narrative Verbindungen zwischen den Szenen. Personen, Orte, Motive tauchen wiederholt auf, ohne daß sich eine annehmbare Bedeutung offenbaren würde. Wie ein Scherbenhaufen liegen die Geschichten der Menschen vor dem Zuschauer, der übergeordnete Sinn des allwissenden Erzählers ist längst abhanden gekommen. Du levande wirkt darin bei weitem zerfahrener als Songs from the second floor. Das ist vermutlich dem Stilmittel der Traumerzählung geschuldet, Das jüngste Gewitter nimmt mehr als der Vorgänger bezug auf die Werke der Surrealisten, aber die noch stärkere Dekontextualisierung der Szenen bekommt dem Film in toto leider nicht hundertprozentig. Sånger från andra våningen ist dank eines erkennbaren Grundprinzips überzeugender, weil der Film dadurch an Tiefe gewinnt.
Aber auch glühende Verfechter des Geschichtenkinos werden nicht umhin können, das kunstvolle szenische Erzählen Anderssons zu würdigen. Die Figuren werden wie in Dioramen zelebriert. Putzige Säuger in ihrer natürlichen Umgebung. Dank großer Tiefenschärfe und der langsamen Geschwindigkeit, mit der Anderssons Filme voranschreiten, hat man wie auf einem antiken Schlachtengemälde die Möglichkeit, sich schrittweise die Figurenkonstellation und deren Bedeutung zu erarbeiten. Ausnehmend Geschick beweist der Regisseur vor allem mit der Choreographie von Bewegungen. Fast wie ein stummes Musical wirken die Bewegungen der Menschen, wobei willkürlich scheinende Bewegungen der Masse eine eigentümliche Bedrohlichkeit entwickeln. Weil sie Menschen verschlingt. Weil sie Menschen ungeschützt dem Blick des Zuschauers preisgibt.
Fast wie im richtigen Leben also. Nur mit Poesie halt. Aber auch da hat Johann W. vorgesorgt und dem Roy fürsorglich was ins Stammbuch von Das jüngste Gewitter geschrieben:

„Freue dich also, Lebendger, der lieberwärmeten Stätte,
Ehe den fliehenden Fuß schauerlich Lethe dir netzt.“

Oder prägnanter noch César Vallejos Leitmotiv für Songs from the second floor:

„Geliebt sei, wer sich hinsetzt.“

Danke, setzen.

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#50 The Critic

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Geschrieben 26. April 2008, 21:02

Fernsehen ist, das weiß man spätestens seit Truffauts wundervollem Fahrenheit 451, eine ganz schön jämmerliche Zuschauerdressur. War es früher die Provinzialität und Beschränktheit des Angebotes auf zwei (DDR) oder drei (BRD) Programme, die Gefühle von Nichtanschlussfähigkeit an das aufregende Weltgeschehen, vulgo Langeweile, hervorriefen, so ist mittlerweile die Diversifikation der Fernsehkanäle das größere Problem geworden. Die Aufhebung der regionalen Grenzen hat nur zu einer Errichtung neuer, thematischer Demarkationslinien im Fernsehen geführt. Die Probleme des Senders Freies Berlin, täglich genügend Regionalnachrichten auf dem Ku-Damm zusammenzukratzen, bei denen wenigstens nicht den weggedösten Rentnern der Kopf vor Eintönigkeit oder grassierender Dummheit explodiert, trifft heutzutage weltweit anzutreffende Spartenkanäle wie "PetTV" oder "Engelsnachrichten". Das verwundert wenig, da sich auf dem Gebiet des metaphysischen Geschwurbels oder der genetischen Grundausstattung von Hunden in den letzten tausend Jahren nicht allzu Weltbewegendes ereignet hat, um 24/7 darüber berichten zu können.


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Wer würde dieses satellitengestützte Elend besser kennen als deren Macher? Insofern ist Ángela alles andere als begeistert, daß sie mit ihrem Kameramann eine Nachtreportage aus einer Feuerwehrwache senden soll. Am frühen Abend wenigstens nur uninteressant, bricht mit der Dunkelheit die grenzenlose Fadheit herein. Ein Alarm kommt da wie gerufen, auch wenn die Feuerwehrleute versichern, daß es sich um die Befreiung einer hilfebedürftigen älteren Frau aus ihrer Wohnung handelt. Die Bewohner des Hauses haben sich gemeinsam mit der Polizei vor deren Tür versammelt, die auch fix aufgebrochen ist.
Wenn die verwirrte alte Vettel im Nachthemd sich in einen Polizisten verbeißt, dann weiß man schnell, welche Richtung [Rec] von Jaume Balagueró einschlagen wird. Diesen Kurs behält der Film auch dank nachvollziehbarer Handlungsentwicklungen bei und entfaltet rasant ein Gefühl von Beklemmung, das sich zu einem infernalischen Terrorangriff auf die Nerven der Zuschauer steigert. Lange schon gab es keinen Horrorfilm mehr, bei dem man so festgekrallt am Sesselrand klebte. Wobei am Schlimmsten ist, daß man die Instrumente der televisionären Inquisition kennt und doch nichts gegen deren affektive Wirkung tun kann.
Geschenkt ist deshalb auch der Hinweis auf fehlende Neuigkeit des Konzeptes. Blair Witch Project, 28 weeks later oder Cloverfield mögen konzeptionell verwandt sein, sind aber nicht vergleichbar in der somatischen Auswirkung. Gerade die fehlende Fluchtmöglichkeit macht das Geschehen zu einer Versuchsanordnung, bei der die Figuren wie in einem Rattenkäfig auf die maximale Ausschüttung von Streßhormonen hin untersucht werden sollen.
Wobei man nicht sicher sein kann, ob die Hormonbestimmung nicht eher bei den Zuschauern erfolgen soll. Die Imitation des Reportagestils ist bis auf einen unsinnigen, und deshalb besonders ärgerlichen, Rückspulfehler so verführerisch-trügerisch wie seinerzeit das Reality-TV-Konzept vom fabelhaften Series 7 – The contenders; ein Entziehen ist trotz innerer Ermahnung, es handele sich doch nur um einen Spielfilm, nahezu unmöglich. Die Instabilität der Kameraposition, ganz anders als die Künstlichkeit von Frame-Cutting & Shakycam, erschüttert die Sicherheit der Zuschauerposition, weil sie auf die Sehschule der Nachrichtensendungen zurückgreift. Wir haben gelernt, daß unsichere politische Verhältnisse ihr Entsprechung in einem unsicheren Kamerablick haben. Balagueró reaktiviert unser implizites Wissen für seinen filmischen Alptraum; nicht umsonst heißt die vermeintliche Reportagereihe "Während Du schliefst".

Am Ende werden wir Zuschauer mit dem wiederholt angesprochenen Thema, ob man das ganze Grauen denn dokumentieren müsse, aus dem Film entlassen. Aber was haben wir in den Händen? Nichts. Nichts als Bilder. Bilder, die wir nicht deuten können, sondern nur fühlen. Denn dies ist der eigentliche Topos von [Rec] - das Sehen und das Schauen und die Manipulierbarkeit des Zuschauers, die sich aus deren Unterschied ergibt. Eine Kamera mag Bilder aufnehmen können, die zu schnell für den Menschen sind oder im für das Auge nicht sichtbaren Wellenlängenbereich ihre Information enthalten. Aber die Bilder sehen, das Deuten, das Verstehen, das Schlussfolgern für unser Handeln, das kann die Kamera nicht. Im Gegenteil kann die Bildproduktionsmaschinerie eingesetzt werden, um die Verständlichkeit so weit zu verringern, daß dem Zuschauer kaum mehr als manipulierte Affektreaktion auf die Bilderflut bleibt.
Mittendrin und nicht dabei. Wie gesagt – Fernsehen ist eine ganz schön armselige Angelegenheit.

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#51 The Critic

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Geschrieben 01. Mai 2008, 23:10

So circa einmal im Jahrzehnt gibt es einen Film, der die Leidenschaft fürs Kino in einer ganzen Generation erneut entfacht. Für die jetzigen Filmliebhaber dürfte das Tarantinos Kill Bill gewesen sein. Bildästhetisch und erzählökonomisch auf der Höhe der Zeit, ist das Werk neben einer Liebeserklärung an die Macht des Kinos gleichzeitig ein unvollständiger filmhistorischer Abriß über Stile, Genres und Motive, ohne dabei in simples Kopieren zu verfallen. Nicht zufällig trägt der nahezu lexikalisch anmutende und dennoch warmherzig geschriebene Beitrag von Ralf Hess über die Referenzen in Kill Bill den Titel "Der sanfte Plünderer".

Nahezu kein Review kam seinerzeit darum herum zu erwähnen, daß das Grundschema von dem fabelhaften Shurayukihime (Lady Snowblood) entlehnt war. Ein verdienter zweiter Frühling für Toshiya Fujitas Film, aber leider fiel dabei ein anderer Stichwortgeber Tarantinos meist unter den Tisch – François Truffauts La mariée était en noir (Die Braut trug schwarz). Dabei sind die Parallelen überdeutlich. Die Braut als Witwe. Fünf Personen. Eine Todesliste, die es Punkt für Punkt abzuhaken gilt, um die Rachegelüste zu befrieden. Fünf Männer, um genau zu sein, die in fünf getrennten Kapiteln von der Göttin der Jagd, verkörpert durch die stoische Schönheit Jeanne Moreau, erlegt werden. Selbst die von Tarantino auf die Spitze getriebene Künstlichkeit seines filmischen Universums findet sich in gewissem Sinne bereits in Truffauts Film. Der Schauplatz der Bluttaten wirkt wie eine Scheinwelt, die entfernte Ähnlichkeit mit Frankreich hat. Bewirkt wird diese Entfremdung durch die emotionslose Maschine, die einst die Braut Julie Kohler war. Sie, die Regeln der realen Welt vergessend, arbeitet nur noch schlafwandlerisch ihren Racheplan ab.

Die Tötungen werden in fünf Kapiteln zelebriert, in denen nach und nach die Geschichte der Braut sich dem Zuschauer offenbart. Diese fünf Abschnitte sind klar von einander abgegrenzt durch die Bewegung der Braut von einem Ort zum nächsten. Der Score von Bernard Herrmann unterstreicht deren Verschiedenartigkeit mit disparaten Leitmotiven, über die sich immer quälender werdend der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn Bartholdy legt. Dieser Kapiteltrennung entspricht auch der Rollenwechsel, welchem die Braut im Laufe des Films unterliegt. Geheimnisvolle Verführerin, Traumfrau, Mutter-Huren-Komplex, Muse und abgebrühte Zuchthäuslerin – was immer es braucht, um an die Männer heranzukommen, die Braut füllt die Leerstellen im Denken ihrer zukünftigen Opfer.

Doch Truffaut gibt sich nicht damit zufrieden, fünf kleine Hitchcock-Vignetten abzuliefern, sondern er verbindet sie zu einer großen Erzählung über den dramatischen Abstieg in die Hölle der Rachsucht. Wie später von Tarantino in der Transition von Bride über Beatrix Kiddo zu Mommy entschieden hoffnungsfroher adaptiert, durchläuft auch Julie Kohler eine Entwicklung. Anfänglich mysteriöser Racheengel, körperlos wie nicht von dieser Welt, gewinnt sie in der Filmhandlung mehr und mehr menschliche Züge. Hier manipuliert Truffaut, darin seinem Nestor Hitchcock ähnlich, den Zuschauer mit erschreckender Präzision, indem er Aschluß an dessen Erwartungshaltung findet. Die unausrottbare Hoffnung, durch Leid oder Liebe zu einem edleren Menschen gewandelt zu werden, wird in Die Braut trug schwarz aufs Fieseste vorgeführt, wenn der unausweichliche Niedergang Julies vermeintlich zu einem Stillstand kommt. Wunderschön ist dieses retardierende Moment in das Kleid Julies eingewebt. Julie, die in der ersten Szene an der Seite ihrer weißgewandeten Nichte in einem schwarzen Kleid auftaucht, wird stets in einer dieser beiden Unfarben zu sehen sein. Jedoch im Atelier, als eines der Opfer ihr die Liebe gesteht, streift sie ein Kleid über, das Schwarz und Weiß ineinander verzahnt. Der Keim des Happy Ends wird durch den Schnitt ins eigene Gesicht, so er auch nur auf der Malerleinwand erfolgt, erstickt. Der Abstieg in das Purgatorium des Gefängnisses kann beginnen.

Die größte Leistung Truffauts neben den geschickt inszenierten Spannungsbögen und all den klug dosierten Schockmomenten liegt in der hypnotischen Verführungskraft von La mariée était en noir. Denn spätestens in der Mitte des Filmes müsste unsere Sympathie, die dem weiblichen Opfer gegolten hat, versiegen und dem blanken Entsetzen über ihre Taten Platz machen. Stattdessen ist die Identifikation mit Julie schon so weit vorangeschritten, daß wir ihr noch bewundernd zusehen, wenn sie die Hoffnung auf Erlösung aus der Isolation des Rachegedankens mit einem Blattschuß erlegt. Truffaut zeigt uns unsere moralische Manipulierbarkeit mit den Mitteln des Filmes. Wir Zuschauer folgen dem Filmemacher, so er sein Handwerk beherrscht, bis in die psychopathische Einöde und fühlen uns auch noch gut dabei. Mal ehrlich – ist im Gegensatz dazu die Einbindung des Zuschauers bei Kill Bill oder Lady Snowblood nicht eine Aufgabe für Filmstudenten im ersten Semester?

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#52 The Critic

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Geschrieben 21. Mai 2008, 18:10

Als ich ein junger Bengel war, sind meine Eltern mit mir im Sommer an die Ostsee gefahren. Von unserem Zelt aus war es nicht weit bis zum Strand, dessen Sand sich in langgezogener Kurve sanft ins Meer ergoß. Die Sonne brutzelte die Haut knusprig und das Meer streute kleine Salzkrümel darauf. Kleiner Goldbroilertraum.
Doch ab und zu machten wir einen Abstecher zum Weststrand. Das hatte definitiv seine Vorteile. Ein beständiger Wind trieb die Wellen kindermeterhoch und ließ das Baden wie ein ungeahntes Wagnis erscheinen. Dennoch waren mir diese Ausflüge dahin verhasst. Der Wind trug beständig feinkörnigen Sand mit sich. Ein Wunder, daß der Strand nicht schon seit Urzeiten abgetragen war. Diese Körner zwackten wie Krampen auf der Haut. Man musste sich hinter selbstgebastelten Schutzwällen in Mulden verkriechen, weil sonst, so meine damalige Vorstellung, bald nur noch Fetzen blutigen Fleisches meine Knochen bedecken würden. Die Erwachsenen schienen nichts von diesem fiesen Walten der Natur mitzubekommen. Wahrscheinlich würde ich mich heute auch nicht mehr daran stören.

Victor Sjöström kannte natürlich meine Kindheit nicht. Er starb 1960, lange bevor diese Urlaube meine Erinnerungen prägen konnten. Doch sein Film The wind ist von einer Universalität, die auf die eine oder andere Weise die Erfahrungswelt eines jeden berührt. Dabei ist die Geschichte in Sjöströms Film ziemlich simpel. Letty, ein verwaistes Stadtmädchen, fährt zu ihrem Cousin, um auf dessen texanischer Ranch unterzukommen. Schon im Zug lernt sie den windigen Geschäftsmann Roddy kennen, der ihr das Blaue vom Himmel verspricht, aber von ihr abgewiesen wird. Auf sie wartet ein glorioses Leben beim Cousin! Die Zukunft ist aber reichlich unerquicklich, weil dessen raubeinige Frau auf die feminine Letty alles andere als freundlich reagiert. Eine Heirat muss her, also wird der erstbeste Cowboy genommen. Daß der auch, ähem, pimpern will, ist Letty aber nicht ganz klar, ist sie doch ins rosarote Märchenland aufgebrochen. Darin haben rote Laken nichts verloren. Während eines besonders heftigen Sturmes bleibt Letty allein zu Hause und wird im Angesicht der Naturgewalten schier wahnsinnig. Taucht da der alte Charmeur Roddy auf, um sie von Texas zu erlösen? Um sie zu verführen? Um sie zu vergewaltigen gar?
Wie gesagt, nichts Außergewöhnliches für eine Erzählung der damaligen Zeit. Junges Mädchen muss sich mittellos durchschlagen und deshalb unter Aufgabe der persönlichen Glücksvorstellungen in die Gegebenheiten der Geschlechterhierarchie einpassen. Die Ausgestaltung des Absturzes aus der besseren Stadtgesellschaft in die einfache rurale Welt mag einen Teil der Attraktivität des Filmes ausmachen. In den Status des Besonderen hebt Sjöström seinen Film aber, indem er die charakterliche Disposition seiner Hauptfigur expressiv in die Sandstürme einschreibt. Sie sind es, die uns mehr als alles andere etwas über das Gefühl des seelischen Verdorrens von Letty erzählen. Wenn der Sand vom Brot rieselt, dann erkennen wir ihre Abscheu vor dem Fraß der Hinterwäldler. Wenn der Wind gegen die Fenster peitscht, dann sehen wir ihre Furcht vor der befremdlichen Welt da draußen. Wenn der Sturm eine Fensterscheibe eindrückt, dann bricht nicht einfach das Glas, sondern die Sicherheit eines geschützten Innens geht für Lettys Seele verloren.
Die Intensität dafür erreicht Sjöström durch Überblendungen, die uns die Gewalt der beseelten Naturkräfte präsent machen. Eine wiederkehrende Sequenz ist die Überlagerung von Sturmwolken mit einem wild herumspringenden Schimmel, dessen Bilder für die damalige Zeit ungewöhnlich lebendig eingefangen sind. Zusätzlich macht der Regisseur dem Zuschauer die Verheerungen spürbar, indem er die Schauspieler während der Dreharbeiten der ganzen Härte des Wüstenlebens aussetzte. Er ließ mitten in der Mojave-Wüste bei 45°C filmen, wobei die Sandstürme von acht Flugzeugpropellern erzeugt wurden. Wegen deren Hitze- und Rauchentwicklung mussten die Crewmitglieder in langen Kleidern und mit Schutzbrillen arbeiten. Sicherlich ein Vergnügen bei Außentemperaturen, die der Hauptdarstellerin Lillian Gish beim Dreh ein Stückchen Haut wegschmorten, als sie ein Metallstück anfasste.
Lillian Gish ist sicherlich die richtige Wahl für die Rolle der Letty gewesen. Ihr leicht übertriebenes Spiel trifft den deliranten Kern ihrer Figur, ihre zerbrechliche Gestalt wird dermaßen vom Wind gebeutelt, daß sie manchmal wie eine Hexe in der Walpurgisnacht im Wind zu tanzen scheint, und ihre Zartheit gibt einen guten Kontrast zur Statur von Dorothy Cummings, die des Cousins eifersüchtige, harte Ehefrau spielt. Deren Aufeinandertreffen mit Letty ist eine Glanzleistung Sjöströms, der nur wenige Utensilien und Szenen benötigt, um die unauflösbare Gegensätzlichkeit der beiden Frauenfiguren herauszuarbeiten. Übertroffen in seiner knapp bemessenen Reichhaltigkeit wird diese Szene nur noch von Lettys Hochzeit; ein kleines Juwel an Akkuratesse, mit wenig Bildern viel zu erzählen und damit ein Maximum an Spannung zu erzeugen. Allein Lettys und Liges, ihres Mannes, Haltung zur Hochzeit wird in einem Bild der beiden Hände während der Ringübergabe eingefangen. Bei soviel inszenatorischer Bravour verzeiht man auch gerne das unglaubwürdige Ende und den Einsatz des "lustigen" Sidekicks.
The wind, entstanden kurz vor der Durchsetzung des Tonfilmes, ist ein Werk, welches wirklich davon profitiert, daß man nicht die Banalität der Dialoge hören muss, sondern sich statt dessen vollkommen an der Expressivität der Bilder ergötzen kann. Sjöströms Film, beeinflusst von der russischen und deutschen Avantgarde, dürfte einflussreich auf Nachfolgewerke gewesen sein, ist sein Bild- und Motivrepertoire in so disparaten Filmen wie The wizard of Oz (Der Zauberer von Oz) und C'era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod) wiederzufinden.

Eine Schande, daß es noch keine DVD-Veröffentlichung dieses hervorragenden Werkes gibt. Ingmar Bergman hat Sjöströms Verdienste jedenfalls zu Recht honoriert und ihm eine letzte Auftrittsmöglichkeit in seinem Film Smultronstället (Wilde Erdbeeren) gegeben. Ein alter Mann ist Sjöström da, als Person und als Rolle, der den Sand nicht mehr auf seiner Haut spürt. Man gewöhnt sich über die Jahre an die kleinen Stiche der Körner. Nichts Erstrebenswertes. Aber auch nichts, dessen man sich schämen müßte. In der Rückschau zählen andere Dinge. Werke wie The wind eben.

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#53 The Critic

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Geschrieben 19. August 2008, 08:48

Those who do not remember the past are condemned to repeat it.


Schwarze und weiße Punkte tanzen in mattem Licht über den Bildschirm. Zwei Schritte rechts, ein Schritt nach links, halbe Drehung, Auslöschung. Es könnten die Schritte eines israelischen Punks in den Achtziger Jahren zu PILs This is not a love song sein. Oder die letzten Zuckungen eines von Kugeln durchsiebten Körpers. Im Moment aber nur die zufälligen Bewegungen in einem Fernseher, die sich in den Augen der Frau widerspiegeln. Sie jedoch sieht weder Schwarz noch Weiß, sondern nur Grau. Das schmutzige Grau der Straße, auf der sich ein Flüchtlingstreck bewegt. Müde Beine schlurfen über den Boden, den Staub aufwirbelnd. Der Hunger hat sich im Gedärm eingenistet und schon die Muskeln bis auf die Knochen abgenagt. Zuviel nahm er manch jungem Wesen, das am Wegesrand den Bäumen nun als Dünger dient. Doch weiter schleppt sich unter fader Sonne der Zug. Eine Bewegung fährt durch ihn wie Wind durch ein Getreidefeld. Zwei Schritte rechts, ein Schritt nach links, halbe Drehung. Die zufälligen Bewegungen ersterben auf nacktem Acker. Stumm umringt die Gruppe ein totes Pferd. Seine steifen Beine ragen wie Wegweiser in den Himmel. Fliegen waren schon vor den Menschen da. Viel früher, wie die Maden beweisen.

Hunde. Das erste, was man in Ari Folmans Film Waltz with Bashir sieht, sind Hunde. Eine Meute, auf wilder Hatz durch die Stadt, alles niederrennend. Ein Traum nur. Ein Alptraum eher. Denn die 26 Hunde sind tot. Getötet im Libanon vom Israeli Boaz Buskila, der seinen Freund Folman nach dessen Kriegserinnerungen befragt. Seltsamerweise weiß Folman nahezu nichts mehr über die damalige Zeit, obwohl er an der Besetzung Süd-Libanons und der Unterstützung der libanesischen Phalangisten in Sabra und Shatila beteiligt war. Er nimmt uns Zuschauer deshalb mit auf die rote Backsteinstraße der Erinnerung, trifft alte Freunde, ehemalige Soldaten seiner Einheit und damalige Kriegskorrespondenten. Stück für Stück reißt er die Mauer des Vergessens ein, die ihn und seine Landsleute zwar vor der bitteren Wahrheit schützt, aber sie auch zu Symptomträgern des kollektiven Vergessens werden lässt.
Das Vorgehen des Filmes ist leichterhand als Gesprächstherapie abzustrafen. Man träfe damit sicherlich ins Schwarze. Andererseits aber auch nicht, da im Film das soziopsychologische Problem verhandelt wird, welche Narben das Militär in den jungen Seelen hinterlässt. Dies ist eine der Perfidien des Krieges – die grauenhaften Geschehnisse werden denjenigen ins Gedächtnis gebrannt, die sich besonders schlecht dagegen abgrenzen können. Häufig unfähig, ihre Schuld- und Ohnmachtsgefühle zu artikulieren, kranken sie an den Erlebnissen und tragen die unterdrückten Erinnerungen in die nächste Generation, wo sie in neuen Gewalttätigkeiten Ausdruck finden. Ein fataler Kreislauf, den man gerade im Konflikt Israel - Palästinenser durchbrechen muss. Das heroische Abfeiern der Freilassung von Samir Qantar sind erneute Mahnung, dass Schweigen und Vergessen das Gegenteil von Zukunft sind.
Den Film als Animation zu konzipieren, war eine weise Entscheidung. Die Mischung aus holzschnittartiger Figurengestaltung und graffitiartigen Hintergründen, eine exquisite Komposition des Grafikers Yoni Goodman, ist nicht nur eine ästhetische Seherfahrung, das Wesen des Animationsfilmes trifft auch ausnehmend stimmig den Charakter des Filmes. Die Zeichnungen belegen einerseits die Distanzierung des Erzählers Folman (und eben auch des Zuschauer) vom nicht-erinnerten Geschehen. Andererseits geben sie Raum für poetische Metaphern, die in einem Realfilm leicht deplaziert und märchenhaft entrückt wirken könnten. Stellenweise sorgt die lyrische Komponente des Filmes trotz des ernsten Themas für eine schwebende Leichtigkeit. Der letztendliche Einbruch der Realität in die Filmrezeption wirkt dadurch umso brutaler.

Die Messer zusammenklappend, setzen sich die Menschen wieder in Bewegung. Zwei Schritte vor, halbe Drehung der Sonne nach rechts. Sie berührt am Horizont das jetzt noch kahlere Feld. Ausgelöscht das beißende Gefühl im Bauch. Das Grollen kommt nur noch von fernen Einschlägen, die Kanonenblitze gleichen einem Wetterleuchten. Wild winden sich schwarze und weiße Punkte auf dem Auge der Frau. Zwei Schritte rechts, ein Schritt nach links, Auslöschung auf der schwarzen Pupille in der Mitte. Kein Bild des Pferdekadavers dort.
Die Kontinente des Todes und des Lebens trennt ein unüberwindbarer Graben. Manchmal sind wir gezwungen in diesen Abgrund zu schauen. Dann umfängt der Abgrund uns und lässt uns nie wieder los.

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#54 The Critic

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Geschrieben 15. Juni 2009, 00:26

The big smoke

Ein Kurzfilmprogramm des BFI über das London vergangener Zeiten. Die Mischung aus Actualities und Phantom Rides kommt leider selten über Postkartenansichten hinaus. Ausnahmen bildet ein Amateurfilm von einer Hochzeitsfeier in der Belmont Free Church sowie die überschäumende Freude auf dem Trafalgar Square, die Lieutenant Sidney Sasson nach Deutschlands Kapitulation im zweiten Weltkrieg im Film festhielt. Ansonsten bleiben die Lebensumstände in privaten Bereichen wie der Wohnung oder öffentlichen Bereichen wie den Arbeitsplätzen nahezu vollkommen außen vor.
Gut ist natürlich bei so einer Zusammenstellung zu erkennen, wie sich der Umgang mit der Filmproduktion nicht nur bei den Filmemachern, sondern auch beim gemeinen Volk verändert. Das geht von anfänglichem Ignorieren, weil man den Apparat nicht kennt, über zaghaftes Posieren und Winken bis zum Auflauf einer Menge, die der Kamerabewegung überall hin folgt und das Filmen einer normalen Straßenszene für den Kameramann unmöglich macht. Als er merkt, daß er den Massenauflauf nicht abschütteln kann, schwenkt er entnervt auf die Dächer.
Interessantere Ansätze als simples Runterkurbeln boten nur wenige Filme an. Großartig waren die Londoner Straßenszenen, die ein unbekannter Filmemacher ca. 1920 gedreht hat. Man kann davon ausgehen, daß der Film mit seinen Überblendungen, slow motion Anteilen und Detailbildern von der russischen Avantgarde beeinflußt wurde. Melies hingegen stand offenbar Pate für The Fugitive Futurist: A Q-riosity by Q. Unglaublich einfallsreich in seiner Tricktechnik; besonders die Schmelzblende, bei der sich der Film selbst in eine Flüssigkeit aufzulösen scheint und dann wieder zu einem neuen Bild gerinnt, habe ich wohl vorher noch nie gesehen. Quiribet schafft es neben der spöttischen Zukunftsbetrachtung gleichzeitig, den adaptierten Caligaritopos von seinem dräuendem Schwermut zu befreien. Nicht zuletzt ist der Film eine Wurzel für Monty Pythons Flying Circus.
Erwähnenswert sind noch zwei Farbfilme: The open road, eine 26-teilige Reise durch England, die in einem Promotionfilm für Friese-Greenes Natural Colour System festgehalten wurde, sowie Adrian Kleins Film Colour on the Thames, der in Gasparcolor gedreht wurde, einem Verfahren, das bis zur Einführung von Technicolor in England sehr erfolgreich gewesen sein soll. Farbechtheit kann man beiden Verfahren aber definitiv nicht bescheinigen.

(Ein Hinweis für Cine-Phil: Alle gezeigten Filme, und noch mehr, kann man sich kostenlos in der BFI Mediathek ansehen, wenn man mal in London weilt.)

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#55 The Critic

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Geschrieben 25. Juli 2009, 02:57

Dies soll definitiv keine Filmempfehlung werden. Aber eine Sehempfehlung. Für Tommy Wiseaus The Room. Nachträglich mit dem Label *gewollt schlecht konzipiert* versehen, versucht man das Beste aus der verheerenden Wirkung zu machen, die der Film auf seine Zuschauer hat. Die Schauspieler scheinen alle gerade von ihrem Pornodreh freibekommen zu haben, der Kameramann hat wohl früher mit Lomos gearbeitet und das Drehbuch muß von einer Horde Affen auf einer Schreibmaschine zusammengetippt worden sein. Der Film kann auch gut als Anschauungsmaterial dafür dienen, dass es schier unendliche Variationen gibt, wie man eine Divergenz zwischen behaupteter und dargestellter Emotionalität erzeugen kann. Tommy Wiseau, Regisseur, Produzent und abgewrackter Hauptdarsteller in einer Person, hat z.B. die unnachahmliche Eigenschaft, an jeder undenkbaren Stelle im Film pseudocool zu lachen, was für Irritation im Publikum sorgt. Ein Sonderfall des mißverstandenen Auteurs eben.

Zitat

He beat her up so bad, she wound up in a hospital on Guerro Street. - HAHAHAHA! What a story, Mark. I’m so happy to have you as my best friend and I love Lisa so much.

Allerdings versteht man leicht, warum der Film seine Fangemeinde hat. Die simple Struktur der Szenenfolge ermöglicht es, sich trotz ohrenbetäubenden Gelächters immer in der, ich nenne es mal einfach so, Handlung zurechtzufinden. Die Figuren sind allesamt so unsympathisch, dass man bei fiesen Bemerkungen nie das Gefühl hat, man würde irgendjemand beleidigen, der es nicht verdient hätte. Und die ständige Wiederholung derselben fünf Stilmittel kann prima vom Publikum mit gemeinschaftlichen Zwischenrufen konterkariert werden.

Zitat

You must be kidding. Underwear. That’s life.

Weil der wesentliche Sinn des Films im kollektiven Bashing besteht, hier ein paar bewährte Favoriten, die man nach Gutdünken mit spontanen Ausrufen aufpeppen kann. (Mein Liebling kam in einer Szene, als die Hauptfigur einen Anrufbeantworter einstöpselt: You’re a fucking Ninja, Tommy!)

Alcatraz!
Bietet sich nicht nur an, wenn Alcatraz im Bild zu sehen ist, sondern auch bei Figuren hinter Gitterstäben – wovon es merkwürdigerweise reichlich Szenen gibt.

Go! Go! Go!
Die Kamera fährt die Golden Gate Bridge entlang. Schafft sie es auf die andere Seite, wird frenetisch gejubelt, bleibt sie auf halber Strecke hängen, gibt man seiner Trauer Ausdruck.

Meanwhile in San Francisco!
Wenn man per Zwischenschnitt die Gewißtheit bekommt, dass die zwei Filmlocations sich immer noch in San Francisco befinden sollen. Kann auch durch absurde andere Städtenamen abgewandelt werden.

Focus!
Wenn das Bild mal wieder zur Hälfte mit einer unscharfen Gestalt gefüllt ist, weil der Kameramann die Wand dahinter für interessanter hält. Kann auch bei scharfen, aber hässlichen Bildern als Unfocus! zum Einsatz kommen.

One! Two! Three!
Die Charakter erwähnen ständig, dass sie die besten Freunde von jemand anderem sind. Mitzählen ist also nicht einfach.

Hello Denny!
Denny ist ein hässlicher kleiner Kackbratzen aus der Nachbarwohnung. Wenn er auftritt, wird er begrüßt, wenn er weggeschickt wird, verabschiedet.

Zitat

You invited all my friends to my birthday party. Good thinking.

Cause you’re a woman!
Der Film hat eine unglaublich misogyne Figurengestaltung. Wann immer eine Frauenfigur etwas besonders Dämliches sagt und tut, sollte man es markieren. Für Frauen bietet sich auch ein That’s how we are! an.

Who the fuck are you?
Wann immer eine Figur auftritt, von der man nicht die geringste Ahnung hat, in welchem Verhältnis sie zu den anderen Figuren steht. Auch gut anwendbar bei dem Austauschen des Psychologen durch einen anderen Schauspieler, dessen Ähnlichkeit mit dem ersten Schauspieler wohl durch dasselbe weiße Hemd erzeugt werden soll.

Cancer!
Auftritte der Mutter. Sie erwähnt das einmal, ohne daß es irgendjemanden inclusive sie selbst interessiert. Stupst sie ihrer Tochter auf die Nase, kann man I put my evil inside you! rufen.

Zitat

I got the results from the test back - I definitely have breast cancer. I’m sure it will be alright.

Yes we can!
Zu rufen nach Allgemeinplätzen wie „If everybody loved each other, the world would be a better place.“

Oooooh! Oh! Oh!
Bei Sexszenen gibt es seltsame Softpornogeräusche auf der Tonspur, die man imitieren kann.

Iiiih!
Die Sexszenen sollen anziehend wirken. Leider klappt dieser Plan mit Schauspielern wie Tommy Wiseau nicht, der an einen abgesteppten Ledersack erinnert. Gut hissen kann man auch, wenn er aus Versehen oder Unwissenheit den Bauchnabel seiner zukünftigen Frau bepimpert.

Einen Football werfen
Es gibt etliche Szenen, in denen die Charakter unmotiviert damit spielen. Hat im Dunkeln des Kinosaals oft ungeahnte Konsequenzen.

Mit Plastiklöffeln um sich werfen
Ständig taucht ein Bild auf, auf dem ein Löffel zu sehen ist. Warum? Man weiß es nicht. Vermutlich, damit selbst ein Kino mal in den Genuß eines Löffelschauers gerät. Man braucht auch nur ein paar Löffel am Anfang, weil danach eh genug von irgendwo angeflogen kommen. Man kann ebenfalls prima ungeliebte Figuren auf der Leinwand damit bewerfen. Also alle.

Zitat

I’m tired. I’m wasted. I love you darling.

Und noch ein letztes Wort zur Warnung: Kids! Don’t try this at home! It will warp your fragile little minds.

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