"The universe is made of stories, not atoms."
#1
Geschrieben 09. Mai 2006, 23:07
Idi I Smotri
(Come and See)
UDSSR 1985
Regie: Elem Klimov
Schauplatz ist Weißrussland im Jahre 1943. Am Strand sucht der 14jährige Fliora Gaishoun in verlassenen Gräben nach einer Waffe, um sich den Partisanen im Kampf gegen die Deutschen anschließen zu können. Er wird fündig. Zu Hause kann ihn auch seine Mutter nicht aufhalten, als er von Soldaten abgeholt wird. Bei den Partisanen verweilt Fliora aber nicht lange. Er muss seine Stiefel mit einem älteren Kameraden gegen dessen abgenutzte austauschen und zurückbleiben. Im Wald in der Nähe des Lagers trifft er auf das Mädchen Glasha, sie wurde ebenfalls zurückgelassen. Beide machen sich auf den Weg zu Flioras Mutter. Ein Motorengeräusch ist zu hören und am Himmel ein Flugzeug zu sehen. „Es ist das Flugzeug, das immer zu sehen ist“, meint Fliora. Man hat es schon in der Anfangsszene am Strand sehen können. Glasha nimmt Flioras Gewehr und rennt damit scherzend umher und fragt, ob sie es nicht abschießen solle. Doch das Lachen der beiden friert ein und Panik macht sich breit, als sie mehrere Fallschirmspringer am Himmel entdecken. Kurze Zeit später ist das Kreischen von Bomben zu hören, die nur unweit von Glasha und Fliora einschlagen. Der Lärm der explodierenden Bomben weicht einem schrillen, hohen Ton, der die vorübergehende Taubheit Flioras herausstellt. Gelähmt vor Entsetzen blickt Fliora um sich, die Schreie von Glasha nicht wahrnehmend. Nicht weit von ihnen hängt einer der Fallschirmspringer in einem Baum fest und versucht angestrengt sich zu befreien. Glasha fasst den wie benommen erscheinenden Fliora am Arm und sie rennen los. Doch in welche Richtung? Nirgends scheint es Rettung zu geben. Beide lassen sich in einen Bombentrichter fallen, als Maschinengewehrsalven in ihre Richtung abgefeuert werden, die die Spitzen kleiner Bäume köpfen. Die ersten deutschen Soldaten sind zu sehen, wie sie den Wald durchkämmen, Wortfetzen in deutscher Sprache zu hören. Total verängstigt und verstört kauern Glasha und Fliora am Boden. Sie werden nicht entdeckt. Eine schöne, in diesem Bild fast unwirklich erscheinende Szene folgt, als der von Sonne hell erleuchtete Wald bei gleichzeitigem Regenguss einen kleinen Regenbogen erscheinen lässt und Glasha auf dem Koffer Flioras tanzt. Beide scheinen für einen Augenblick das Erlebte vergessen oder verdrängt zu haben und wirken fröhlich, wie Kinder ihres Alters sein sollten. Mit der Rückkehr in Flioras Dorf fängt der eigentliche Horror erst an…
Elem Klimovs Film ist von unglaublicher Intensität, dass es einem den Atem verschlägt. Die hier beschriebene Szene zu Beginn ist äußerst realistisch und furchteinflößend, im Vergleich zu dem, was einem noch bevorsteht, aber fast harmlos. Der Schrecken und die Grausamkeit, die in diesem Film gezeigt wird, ist phasenweise nur schwer zur ertragen und lässt einen auch nach Filmende nicht so schnell los. Das mag auch an der Inszenierung liegen, Flioras Schicksal oder die Geschichte an sich folgt keiner klaren Linie, es gibt praktisch keinen roten Faden. Fliora gerät von einem Horrorszenario ins Nächste. Es gibt auch keine Kämpfe im Sinne eines direkten Aufeinandertreffens, wie man das aus vielen anderen Kriegsfilmen kennt. Die deutschen Truppen sind entweder in den Dörfern zu sehen - oder auch nur zu hören - und verbreiten Terror unter der Bevölkerung. Als Zuschauer erlebt man das Grauen des Krieges aus der Sicht des 14jährigen Fliora. Die Angst und die traumatischen Erlebnisse lassen sich im Gesicht des Jungen ablesen.
Bei den Dreharbeiten soll mit echter Munition geschossen worden sein, wahrscheinlich macht das auch bestimmte Szenen so realistisch. Aber nicht nur wegen seiner Brutalität und der realistischen Darstellung, sondern auch aufgrund von Szenen wie der im Moor mit der Nazipuppe, die fast bizarr anmuten, bleibt einem der Film im Gedächtnis.
Eindrucksvoll zeigt Klimov mit diesem Film, dass es im Krieg nur Opfer gibt.
Im Bonusmaterial der DVD wird u.a. der Titel näher erläutert, auf dem Backcover steht dazu folgendes: „The film’s title is derived from the Book of Revelation and its call for witnesses to „come and see“ the carnage and devastation wrought by the Four Horsemen of the Apocalypse.”
Gesehen auf DVD (RC2 UK), Russisch DD 5.1, mit englischen Untertiteln (optional), Laufzeit ~137 Minuten.
#2
Geschrieben 12. Mai 2006, 00:39
(Interrogation)
Polen 1982
Regie: Ryszard Bugajski
Polen im Jahre 1951. Die Kabarettsängerin Antonina Dziwisz, auch Tonia genannt, hat nach einem Auftritt einen Streit mit ihrem Mann. Zwei angebliche Verehrer ihrer Darbietungen laden sie zu ein paar Drinks ein. Später am Abend, als Tonia völlig betrunken ist, wird sie von den beiden nicht nach Hause gebracht, sondern inhaftiert. Am nächsten Morgen findet sie sich in einer Zelle mit über 30 Insassen wieder. Eine Anklage oder eine Erklärung, warum sie verhaftet wurde, wird ihr nicht gegeben. In Verhören werden Tonia Fragen zu ihren ehemaligen Liebhabern und Beziehungen gestellt und von ihr erwartet, belastende Aussagen gegen verschiedenste Personen vorzubringen. Da sie sich keiner Schuld bewusst ist, weigert sie sich das ihr vorgelegte Geständnis zu unterschreiben. In einem qualvollen und langen Prozess soll Tonia mittels Einschüchterung und Folter von der Sicherheitspolizei zum Reden gebracht werden.
Die kafkaeske Situation zu Beginn stellt sich bald als schonungsloses Bild der Willkür, der Unterdrückung und des Terrors durch die Sicherheitspolizei im stalinistischen Polen dar. Die Brutalität und die Methoden, sowohl physisch als auch psychisch, sind ungeheuerlich. Die Figur der Tonia wird von Krystyna Janda herausragend dargestellt, wofür sie 1990 bei den Filmfestspielen in Cannes zurecht den Preis als Beste Schauspielerin erhielt. Der Film Przesluchanie und allen voran die Hauptdarstellerin Krystyna Janda haben mich mächtig beeindruckt, ein wirklich großartiger Film.
Im Booklet ist u.a. nachzulesen, dass der Film in Polen 8 Jahre lang verboten war.
Gesehen auf DVD (UK), Polnisch DD 2.0 mit englischen Untertiteln (optional), Laufzeit ~111 Minuten.
#3
Geschrieben 14. Mai 2006, 18:04
The General
USA 1926
Regie: Buster Keaton
Johnnie Gray hat zwei Lieben in seinem Leben, seine Dampflok „The General“ und seine Freundin Annabelle. Als der Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten ausbricht will Johnnie auf Nachfrage seiner Annabelle für den Süden in den Kampf ziehen. Doch Johnnie wird nicht genommen, als er sich in der Rekrutierungsstelle meldet, da er als Lokführer nützlicher für den Süden sei. Johnnies Annabelle hält ihn für einen Feigling und will nichts mehr von ihm wissen, ehe er eine Uniform trägt. Ein Jahr zieht ins Land. Johnnie ist immer noch Lokomotivführer seiner „General“. In der Gunst seiner Freundin stehen die Männer in Uniform vor ihm. Verächtliche Blicke und kleine Anbandelungen mit den Uniformierten wirken, als wolle sie Johnnie zur Teilnahme am Krieg animieren. Dann wird der „General“ von zehn verkleideten Nordstaatlern entführt und Johnnie tut alles um seine geliebte Lokomotive zurückzubekommen. Er weiß noch nicht, dass Annabelle auch mit an Bord ist…
Ein wundervoller Film, der so vielfältig ist, dass die 78 Minuten wie im Fluge vergehen. Buster Keaton brilliert in der Rolle des anfänglichen Verlierers, der durch viele Zufälle zum Helden wird. Die Verfolgung seines entführten „General“ ist von einem Tempo und vielen großartigen, witzigen und sehr einfallsreichen Szenen durchzogen, dass keine Sekunde langweilig wird. Schon alleine die Mimik Keatons ist wunderbar zu beobachten. Wie er vom Jäger zum Gejagten wird und was er alles tut, um zu entkommen, ist schlichtweg genial. Unbedingt zu erwähnen ist dabei natürlich die tolle Musik, die von Joe Hisaishi geschrieben und komponiert wurde. Der Film strotzt nur so von wunderbaren Einfällen und Einlagen (z.B. auf dem Zug mit der Kanone), dass ich mehrere Male kaum aus dem Lachen gekommen bin und mir die Tränen in die Augen gestiegen sind. Der geschichtliche Hintergrund ist auch perfekt in die Handlung eingebaut. Die Aufnahmen sind toll. Als Dampflokfan schlägt das Herz bei diesem Film schon automatisch höher, da der Film ja die meiste Zeit auf den Loks stattfindet.
Erstaunt war ich über eine Szene gegen Ende, und frage mich – eigentlich bei sehr vielen Szenen im Film – wie das alles gedreht wurde und die Stunts bewerkstelligt wurden. Vielleicht gibt darüber das Bonusmaterial Aufschluss, das ich größtenteils noch begutachten muss.
Ein Meisterwerk von einem Film!
Gesehen auf DVD (UK), Stummfilm mit englischen Zwischentiteln, (dt. Untertitel wären verfügbar!), ~78 Minuten.
#4
Geschrieben 22. Mai 2006, 22:32
UK/USA 2005
Regie: Tom Hooper
I grieve and dare not show my discontent,
I love and yet am forced to seem to hate,
I do, yet dare not say I ever meant,
I seem stark mute but inwardly do prate.
I am and not, I freeze and yet am burned.
Since from myself another self I turned.
My care is like my shadow in the sun,
Follows me flying, flies when I pursue it,
Stands and lies by me, doth what I have done.
His too familiar care doth make me rue it.
No means I find to rid him from my breast,
Till by the end of things it be supprest.
Some gentler passion slide into my mind,
For I am soft and made of melting snow;
Or be more cruel, love, and so be kind.
Let me or float or sink, be high or low.
Or let me live with some more sweet content,
Or die and so forget what love ere meant.
--Queen Elizabeth I (1533-1603)--
Das obige Gedicht von Queen Elizabeth I, welches im Film in leicht gekürzter Fassung auch vorkommt, trifft die Gefühlslage und die zwickmühlenartige Situation der Königin von England wie sie hier im Film gezeigt wird, sehr gut. Im Mittelpunkt des Dramas steht der Mensch, der sich der Verantwortung für das Land bewußt ist und aus dieser heraus - den politischen, religiösen und gesellschaftlichen Zwängen - ihre Entscheidungen, sowohl in der Gefühlswelt als auch in der Politik, treffen muss. Helen Mirren zeigt meiner Ansicht nach in der Rolle der Elizabeth I eine großartige schauspielerische Leistung. Sie zeigt die Elizabeth mit allen Emotionen z.B. in ihren schwankenden Gemütszuständen, wie sie in rasender Wut schreiend und drohend umherläuft, auf der Suche nach dem Earl of Essex und ihr dann urplötzlich bewußt wird, dass sie sich in ihrer Position unmöglich verhalten hat. An ihrer Seite spielt Jeremy Irons (zumindest im ersten Teil) den Earl of Leicester mit einer ebenfalls überzeugenden Leistung, auch die weitere Besetzung ist durchweg gut. Die Ausstattung ist opulent und überhaupt macht diese TV-Produktion eher den Eindruck eines Kinofilms. Ein wenig überrascht war ich von der gezeigten Brutalität, die hätte ich bei einer Fernsehproduktion nicht in der Art erwartet, sie entspricht aber natürlich (zumindest annähernd) den Tatsachen.
"The hardest thing to govern is the heart."
Alleine Helen Mirren wäre es schon wert, dieses TV-Drama zu sehen. Mir hat es sehr gut gefallen!
Gesehen auf DVD (UK), Englisch Dolby Stereo mit optionalen englischen UT, ~210 Minuten (2 Teile).
#5
Geschrieben 22. Mai 2006, 22:52
(Fallen Art)
Polen 2004
Regie: Tomek Baginski
Makaber, schwarzhumorig, aber durchaus hintergründig. Und natürlich sehr gut animiert.
Gesehen auf DVD (PL), kein Dialog, Bonusmaterial mit englischen UT, ~6 Minuten (+70).
#6
Geschrieben 25. Mai 2006, 00:06
USA 1982
Regie: Costa-Gavras
Der amerikanische Schriftsteller Charles Horman verschwindet während eines Militärputsches in Südamerika spurlos. Sein Vater Ed, ein New Yorker Geschäftsmann, macht sich zusammen mit Beth, der Frau von Charles, auf die Suche nach ihm.
Die beiden Hauptrollen sind mit Jack Lemmon und Sissy Spacek toll besetzt. Ihre Beziehung zueinander wird im Film auch eindrucksvoll dargestellt. Ed gibt anfangs Beth die Schuld für das Verschwinden seines Sohnes, über den er genau wie bei Beth nicht allzu viel Gutes zu sagen hat. In der schwierigen Situation lernen sich der Vater und die Schwiegertochter näher kennen – durch Beth lernt Ed auch seinen Sohn besser kennen.
"Missing" ist ein sehr spannender, fesselnder und schonungsloser Polit-Thriller (oder auch Polit-Drama), der zudem sehr realistisch ist. Der Film basiert auf einer wahren Geschichte. Er ist auch eine Anklage gegen die Regierung der Vereinigten Staaten und deren Definition der Vertretung der "amerikanischen Interessen" (z.B. Wirtschaftliche, Sicherheit des Landes usw.). Das Leid und die Massaker an der Zivilbevölkerung durch das Militärregime werden ebenso aufgezeigt.
Ein Film der wirklich zum Nachdenken anregt. Sehr sehenswert!
Erst kürzlich hab ich mir die chilenische Dokumentation "Salvador Allende" von Patricio Guzman angesehen. Dort kommt auch ein US-Botschafter zu Wort, der sich zur Einmischung der USA in Chile äußert.
Ich muss mir demnächst mal weitere Polit-Thriller von Costa-Gavras ansehen, von "Z" und "État de siège" hab ich schon Gutes gehört. Momentan hab ich mit "The Parallex View" von Alan J. Pakula noch einen Vertreter des Genres ungesehen daheim.
Gesehen auf DVD (RC1), Englisch DD 2.0, keine UT, kein Bonusmaterial, ~123 Minuten.
#7
Geschrieben 26. Mai 2006, 00:13
Tschechische Republik, Slovakei 2005
Regie: Jan Švankmajer
Einleitung
Das Drehbuch "Šílení" ist frei nach Motiven von zwei Erzählungen von E. A. Poe verfasst: "Lebendig begraben" ("The Premature Burial") und "Der wahnsinnige Psychiater" ("The System of Dr. Tarr and Professor Fether"). Aus diesen Motiven entsteht eine selbständige Handlung, die mit den ursprünglichen Erzählungen nicht zusammenhängt. Eine der Hauptfiguren ist der Marquis, inspiriert durch Marquis de Sade; im Drehbuch sind einige Originaltexte von de Sade verwendet. Es ist ein Spielfilm, Animation kommt selten, nur in Träumen, vor. Obwohl die Handlung scheinbar in Frankreich des frühen 19.Jahrhunderts spielt, verweist der Film durch zahlreiche Anachronismen und Realien in die Gegenwart - dieser Film ist eine Allegorie der Welt von heute. Und ein Irrenhaus bietet eine passende Kulisse dazu. Gefragt nach der Genreeinteilung, würde ich sagen, es ist ein philosophischer Horror. Das Thema ist die absolute Freiheit, die zivilisatorische Repression und die Manipulation.
Jan Švankmajer
Ja, wo fängt man da an. Die Geschichte ist einfach faszinierend, ein Film, der viel zu bieten hat. Man weiß nie genau, wie man bei den Figuren dran ist, was als nächstes kommt. Unerwartete Wendungen gibt es ebenso. Die Bilder und vor allem die Bildsprache sind außergewöhnlich! Wie der Regisseur schon sagt, ist der Film eine Allegorie der heutigen Welt. Das kann man sicher auch auf die Politik oder Staatsgewalt im speziellen Sinne münzen. Unter den Schauspielern ragt Jan Tříska in der Rolle des Marquis heraus.
Je länger ich über den Film als Ganzes und einzelne Szenen nachdenke, desto mehr bin ich von ihm fasziniert. Für mich ein aufregendes und lohnendes Filmerlebnis – sicher nicht die letzte Sichtung!
Der Film beginnt übrigens mit einer Einführung von Jan Švankmajer, also nicht nur auf DVD, sie ist Bestandteil des Films, der Regisseur wendet sich direkt ans Publikum.
Gesehen auf DVD (CZ), Tschechisch dts, dt. Untertitel, ~118 Minuten.
#8
Geschrieben 28. Mai 2006, 12:36
(Man of Marble)
Polen 1976
Regie: Andrzej Wajda
"Człowiek z marmuru" ist ein vielschichtiger und komplexer Film. Der Film spielt im Polen der 70er, beschäftigt sich aber zu großen Teilen mit dem Polen der 50er, der stalinistischen Zeit. Die engagierte junge Filmemacherin Agnieszka dreht für ihre Diplomarbeit einen Film über einen einstigen, längst vergessenen Helden der Arbeit, namens Mateusz Birkut.
Verschiedene Zeitzeugen und Freunde Birkuts leiten die Rückblenden mit ihren Erzählungen und Informationen über Mateusz ein. Zusammen mit Propagandafilmen als Filme im Film, die sich Agnieszka während ihrer Recherche ansieht – Material das in den Archiven bisher unter Verschluß gehalten wurde – fügt sich ein Mosaiksteinchen zum nächsten. Agnieszka deckt Stück für Stück die wahre Geschichte eines damaligen, nationalen, von der Propaganda geschaffenen Mythos auf, der selbst Opfer des Systems wurde.
Diesen Prozess zu verfolgen ist unheimlich spannend und interessant. Man bekommt einen sehr guten Einblick, wie das Leben in der stalinistischen Zeit Polens gewesen sein muss, wie die Propaganda-Apparate die Menschen manipulierten, wie Städte wie Nowa Huta entstanden sind, aber zugleich auch, was es heißt einen Film über diese Zeit zu drehen, unangenehme Fragen zu stellen und Dingen auf den Grund zu gehen, von denen einige Leute heute nichts mehr wissen wollen. Auch wenn sich die Zeiten Mitte der 70er gewandelt haben, ist es nicht einfach die Wahrheit ans Licht zu bringen, noch weniger, wenn sie nicht gesehen/gehört werden will.
Die Filmstudentin wird von der wunderbaren Krystyna Janda, der Maurer Mateusz Birkut von Jerzy Radziwilowicz sehr überzeugend dargestellt!
Ein hervorragender Film!
Gesehen auf DVD (PL), Polnisch DD 5.1 mit englischen UT, ~154 Minuten.
#9
Geschrieben 31. Mai 2006, 00:23
(The Cremator)
Tschechische Republik 1968
Regie: Juraj Herz
Tschechien kurz vor der Besatzung durch das Deutsche Reich. Herr Kopfrkingl arbeitet in einem Krematorium. Bei einer Trauerfeier trifft er auf Walter Reinke, einem Freund aus alten Zeiten, mit dem er zusammen für Österreich gekämpft hat. Der ist der Meinung, dass der Führer ein politisches Genie sei und das Beispiel Österreichs, sich dem Reich anzuschließen, nur der erste Schritt wäre. Herr Reinke und seine Frau zeigen Herrn Kopfrkingl ein Propagandablatt, das diejenigen mit deutschem Blut in den Adern auffordert, sich dem Reich anzuschließen. Kopfrkingl zeigt sich anfangs davon wenig beeindruckt. Seine Kinder gingen in tschechische Schulen, im Hause würde nur Tschechisch gesprochen und alle Bücher wären auf Tschechisch, sogar jenes über Tibet (dem im Film eine spezielle Bedeutung zukommt). Doch Reinke ermutigt Kopfrkingl, er solle nur etwas forschen und er würde zumindest einen Tropfen deutsches Blut in seinen Adern finden. Es bedarf einiger weiterer Anstöße - oder auch blonder Frauen – bis sein Parteifreund die volle Aufmerksamkeit und Unterstützung Kopfkringls hat. Der steigert sich dann in einen Wahn, bei der er selbst vor seiner Familie keinen Halt macht.
Man merkt gleich zu Beginn, dass Herr Kopfrkingl ein zwar fürsorglich und freundlicher Mensch zu sein scheint, aber dennoch in seiner pedantischen Art etwas befremdlich und sonderbar ist. Er trinkt und raucht nicht, und duldet das anscheinend auch bei anderen nicht, jedenfalls nicht auf einer seiner Trauerfeiern. Allerdings verbietet er es den Gästen nicht, sondern wartet, bis die sich eine Zigarre entzündet haben, um sie dann im Aschenbecher auszudrücken. Wenn er sein Buch über Tibet in die Hände nimmt, bemerkt man an seiner Stimme, dass es für ihn etwas Besonderes bedeutet. „Man kann es wie die Bibel lesen“ sagt er darüber. Sein Verhältnis zu seinem Beruf ist auch ein spezielles. Über die Transformation eines Verstorbenen zu Staub spricht Kopfrkingl wie von einer Erlösung, es hat fast den Anschein, als fühle er sich dazu auserkoren, diese für ihn heilige Zeremonie durchzuführen. „The sooner a man turns to dust, the sooner he is free, transformed, enlightened, reincarnated.” So lautet eines seiner Zitate aus seinem Buch über Tibet.
Kopfkringls Marotte die Leichen im Sarg mit seinem Kamm zu kämmen und sich dann selbst damit durchs Haar zu fahren würde ich auch als die angesprochene pingelige, fürsorgliche aber zugleich auch befremdliche Art ansehen. Weiterhin sucht er regelmäßig den Arzt auf um sein Blut auf etwaige Krankheiten untersuchen zu lassen, die er sich angeblich beim Umgang mit den Toten hätte einfangen können. Tatsächlicher Grund sind aber seine Besuche bei Prostituierten. Seine Schwäche für Frauen ist wohl auch mit ein Grund, Reinke in die Partei zu folgen.
Der Film erschafft eine unheimliche Atmosphäre, auch durch die Musikuntermalung bedingt, die die Szenerie und die surrealen Bilder perfekt unterstützt. Die Fülle an Details ist bei der ersten Sichtung bestimmt nicht komplett zu erfassen. (Man denke nur an den Kauf des ersten Bildes, bei der Kopfrkingl das Bild des Präsidenten von Nicaragua meint, der Verkäufer aber erst das Bild von Adolf Hitler in die Hände nimmt. Kopfrkingl hat noch keinen aktiven Bezug zum Dritten Reich .) „Spalovac Mrtvol“ zeigt auf eine ganz besondere Weise, wie sich ein Mensch von der Ideologie der Nazis vereinnahmen lässt und vor nichts mehr halt macht. Nicht nur wegen der makaberen, von schwarzem Humor durchzogenen Geschichte ist der Film hochinteressant, er ist vor allem auch audiovisuell ein Leckerbissen. Ich wüsste jetzt gar nicht wo ich anfangen sollte, seien es die Bilder der nackten Frauen, die zwischen den Antrag zur Mitgliedschaft in der Partei geschnitten sind, die mysteriöse Frau mit den langen schwarzen Haaren (bei deren Anblick Kopfrkingl immer recht ängstlich oder betroffen dreinblickt. Vielleicht steht sie für sein Gewissen, das noch vorhandene, das Zweifel an seinem Tun hervorruft?), diverse Kameraeinstellungen, die Ausstattung allgemein, oder Dialoge, die in verschiedenen Szenen angefangen und beendet werden u.v.m, Beispiele gibt es unendlich.
Die Darbietung von Rudolf Hrušínský in der Rolle des Karl Kopfrkingl ist spitze.
Abschließend bleibt mir nur zu sagen, dass ich von dem Film begeistert war (und bin) und ich denke, dass der bei der nächsten Sichtung, die es sicher geben wird, wohl noch wächst. Große Klasse!
Gesehen auf DVD (CZ), Tschechisch DD 2.0, englische Untertitel, ~96 Minuten.
#10
Geschrieben 26. Juni 2006, 19:57
Beg
(The Flight)
UDSSR 1970
Regie: Alexander Alov, Vladimir Naumov
Russland 1920. Es herrscht Bürgerkrieg. Die Weißgardisten werden durch die Attacken der Roten Armee zurückgetrieben. Unter den Flüchtenden befinden sich Roman Chludow, Mitglied des Generalstabs der Armee von Pjotr Nikolajewitsch Wrangel, der Privatdozent Golubkov, Serafima Korzukhina, die Frau eines Geschäftsmannes aus St. Petersburg.
In Konstantinopel im Exil erfahren sie, was es heißt, ein Leben fern der Heimat in der Emigration zu führen.
Der Film basiert auf Werken des russischen Schriftstellers Mikhail Bulgakov.
Die Darstellung des Weißgardisten General Chludow fand ich sehr überzeugend. Seine Gräueltaten, im Besonderen der in seinem Auftrag erhängte Soldat Krapilin, holen ihn ein und lassen ihn nicht mehr los. In eindrucksvoll gefilmten Traumsequenzen, die man in weiteren Situationen auch als paranoide Wahnvorstellungen bezeichnen könnte, sieht er sich seinen Richtern und denen, die er auf dem Gewissen hat, gegenüber. Chludows Figur war für mich die spannendste, was nicht heißen soll, dass die anderen nicht auch interessant gewesen wären. Allerdings hatte Chludow eine besondere Ausstrahlung, die mich gefangen nahm.
In einem Interview spricht Regisseur Vladimir Naumov darüber, wie Vladislav Dvorzhelsky zu der Rolle des Chludow gekommen war, die er als die wichtigste im Film betrachtete. Ich war überrascht zu hören, dass Dvorzhelsky eigentlich Geburtshelfer von Beruf war und dies seine erste große Rolle war. Dvorzhelsky war erst für eine kleine Nebenrolle im Film vorgesehen und rückte erst aufgrund seiner "hypnotischen Fähigkeiten" in den Blickpunkt. Naumov: "Sie sind wichtig für einen Schauspieler. Und er besaß sie. Das kommt aus dem Inneren…Er konnte schweigen. Wenn er schwieg, konnte man von ihm den Blick nicht abwenden. Sprechen können ja alle. (…) Aber schweigen, und zwar so, dass man einen ständig dabei ansehen möchte, das können nicht so viele. Dvorzhelsky konnte das. (…)"
Wenn man den Film gesehen hat, kann man sich gut vorstellen, wie er über die anfänglich vorgesehene kleine Rolle, durch seine bloße Anwesenheit, sowie die Probe mit Uniform, für die er "geboren sei", schließlich auch für die Rolle des Chludow in Betracht gezogen wurde und sie letztendlich auch bekam.
Eine interessante und für den Film nicht unerhebliche Anekdote gibt Naumov ebenfalls zum Besten. Es sei von der Zensur beschlossen worden, den Film kurz vor der geplanten Premiere abzusetzen, Werbeplakate wurden schon entfernt. Auf einem Flug wurde beim Domino-Spiel mit wichtigen Mitgliedern der Regierung, das der Regisseur und ein Schauspieler gewannen, das Blatt gewendet. Die Sieger wünschten sich natürlich, dass der Film doch gezeigt werden solle und von hoher Stelle wurde dies dann in die Wege geleitet.
In der ersten Hälfte des Films werden der Bürgerkrieg und die einzelnen, sehr verschiedenen Menschen gezeigt. Riesige Schlachtfelder und die willkürlich anmutenden Exekutionen, die von Chludow angeordnet werden und schließlich die geschlagenen Truppen der Weißen und die fliehenden Menschen stehen im Mittelpunkt. Die zweite Hälfte spielt dann im Exil in Konstantinopel und beleuchtet das Schicksal der Vertriebenen, die ärmlichen Verhältnisse und ihre Sehnsucht nach der Heimat. Paris ist gegen Ende auch Schauplatz.
Die Musik von Nikolai Karetnikov will ich auch nicht unerwähnt lassen, ich fand sie sehr gelungen.
"Beg" hat mir insgesamt sehr gut gefallen, er ist spannend und die Schauspieler sind hervorragend. Später vermittelt der Film eine eher melancholische Stimmung, ausführlich werden die Schicksale der verschiedenen Menschen der Weißen im Exil gezeigt.
Gesehen auf DVD (Ru), Russisch DD 5.1 mit dt. Untertiteln, ~ 185 Minuten.
#11
Geschrieben 12. Juli 2006, 19:02
(Minimal Stories)
Argentinien 2002
Regie: Carlos Sorin
Erzählt wird die Geschichte dreier Menschen in einem kleinen Dorf namens Fitz Roy im argentinischen Teil Patagoniens. Alle haben das gleiche Ziel, das weit entfernte Puerto San Julián. Da wäre María Flores und ihr Baby, die die Teilnahme an einer TV Spiel-Show gewonnen hat und dort nun auch teilnehmen und gewinnen möchte.
Der Rentner Don Justo erfährt von einem Bekannten, dass der seinen vor 3 Jahren verschwundenen Hund Malacara in San Julián gesehen haben will. Don Justo gehört der Laden "California", dessen Leitung nun sein Sohn und dessen Frau übernommen haben. Von ihnen wird Don Justo bevormundet und nicht mehr für ganz voll genommen. Deshalb schleicht er sich des Nachts aus der Wohnung, um sich auf den Weg ins mehr als 300 km entfernte San Julián zu machen…zu Fuß.
Schließlich ist da noch Roberto, der eine Geburtstagstorte zum Sohn oder der Tochter – der Name ist René, daher ist er sich nicht mehr sicher – einer jungen Witwe als Überraschung bringen will. Dass sich sein Vorhaben nicht nur auf Gutmütigkeit begründet, ist schnell klar, sein größtes Interesse gilt der Mutter des Kindes.
Der Titel "Historias Mínimas" verrät eigentlich schon, was einen hier erwartet. Auf den ersten Blick trifft die Beschreibung zu, dahinter verbirgt sich allerdings mehr. Die Figuren der Geschichten sind es, die sie so interessant und sympathisch machen. Sie sind authentisch und man kann sich gerade deshalb sehr schnell in sie hineinversetzen und mit ihnen mitfühlen. In der kargen Landschaft Patagoniens, die in wundervollen Bildern zur Geltung kommt, scheint bei den Menschen Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit keine Ausnahme zu sein, sondern eine Tugend um den Alltag zu meistern. Die vielen kleinen Gesten gingen mir zu Herzen und führen einem vor Augen, wie wichtig und erfüllend sie sein können.
"Historias Mínimas" ist ein ruhiger Film, der sehr viel menschliche Wärme und Charme ausstrahlt. Eine Prise Humor, die zum Film und ihren Charakteren passt, runden dieses schöne Roadmovie ab.
Gesehen auf DVD (E), Spanisch DD 5.1 mit englischen Untertiteln, ~93 Minuten.
#12
Geschrieben 19. Juli 2006, 23:50
(Sisters)
Argentinien/Spanien/Brasilien 2005
Regie: Julia Solomonoff
Texas, 1984. Die beiden Schwestern Natalia und Elena treffen sich seit mehr als 8 Jahren zum ersten Mal wieder. Ihre Jugend in Argentinien war geprägt von den politischen Verhältnissen im Lande, ihre Wege trennten sich 1975 vor dem Hintergrund der Diktatur und des bevorstehenden Militärputsches. Die schmerzhaften Erinnerungen daran hat Elena verbannt, wie die Box mit persönlichen Sachen, die ihr Vater damals im Garten vergraben hatte. Kurz vor seinem Tod hatte er der Mutter davon berichtet, die die Box Elena mitgab. Mit dem Schloß der Box bricht Natalia Erinnerungen auf, die Elena am liebsten aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte. Natalia findet in der Box einen unveröffentlichen Roman ihres Vaters, der die Erlebnisse der Familie während der Diktatur nachzeichnet. Mit jeder Zeile des Manuskripts taucht Natalia tiefer in die Vergangenheit, stellt Fragen und Nachforschungen an. Ihr Freund Martín wurde damals in seinem Versteck verhaftet und ist seitdem verschollen. Vielleicht hilft das letzte Buch des Vaters die Umstände des Verschwindens ihres Freundes zu klären.
Der Film spielt im Jahre 1984, mehrere Rückblenden ins Jahr 1975 erzählen nicht nur die Geschichte, sondern präzisieren die unterschiedlichen Charaktere der beiden Schwestern.
Sie wirken über die Jahre der Trennung entfremdet. Die Unterschiede sind auch damals schon ersichtlich – Natalia ist politisch engagiert und ihrem Vater und dessen Ansichten deutlich näher, wohingegen Elena nicht politisch aktiv ist und die Gründung einer Familie einem Studium vorzieht. Die verschiedenen Ansichten offenbart die gegenwärtige Lebensweise der beiden, die natürlich auch mit dem Erlebten eng verknüpft ist.
Elena lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Walnut Creek, einer amerikanischen Vorstadt, in der ein Haus dem anderen gleicht. Auch sie wirkt irgendwie angepasst, selbst wenn sie noch Probleme hat, zum Beispiel mit der Sprache. Natalia hat die Jahre während der Diktatur im Exil in Spanien verbracht. Bei ihr wirkt die damalige Zeit noch frisch, sie selbst ist Journalistin und mehr der rastlose, spontane Typ. Elenas Sohn Tomin spielt in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ebenfalls eine nicht unwichtige Rolle.
"Hermanas" ist das Spielfilmdebüt von Julia Solomonoff, die ich erst vor kurzem in einer kleinen Nebenrolle in "Historias Mínimas" gesehen habe (Die Biologin). Es ist meiner Ansicht nach ein tolles Debüt geworden. Der Film ist intelligent, packend, emotional und einfühlsam zugleich. Ingrid Rubio in der Rolle der Natalia und Valeria Bertuccelli als Elena überzeugen auf ganzer Linie.
Die Art und Weise mit Vergangenheit (und Schuld[gefühl]), schmerzhaften Erinnerungen und Verdrängtem umzugehen, wie sie am Schicksal dieser Geschwister gezeigt wird, geht einem Nahe.
Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge sind während der Diktatur 30.000 Menschen in Argentinien "verschwunden".
Gesehen auf DVD (E), Spanisch DD 5.1 mit englischen Untertiteln, ~88 Minuten.
#13
Geschrieben 22. Juli 2006, 21:21
Natvris Khe
(The Whishing Tree)
Georgien 1977
Regie: Tengis Abuladse
Bilder aus dem georgischen Dorfleben der Vorrevolutionszeit
Nach Erzählungen von Georgij Leonidse
"Der Wunschbaum" beginnt mit dem Schimmel Tetra, der in einem blühenden Mohnfeld liegt. Alle Versuche aufzustehen misslingen. Zizikore, einer der Dorfältesten wird herbeigerufen, um dem Pferd, das dem jungen Gedia gehört, zu helfen. Zizikore meint jedoch, dass jede Hilfe zu spät komme und hilft dem Tod auf die Sprünge indem er das Pferd von seinem Kampf erlöst. Schuld am Tod sei das schlechte Gras. Viele Schlachten hätten an diesem Ort stattgefunden und das Feindesblut würde sich noch heute rächen. Zizikore hat auf jeden ein Auge und lässt die Weiden einzäunen. Aber nicht jeder ist damit einverstanden, dass sich Zizikore als Chef aufspielt. Schon gar nicht der umherziehende Ioram, der die Zäune umreißt, die Helfer als Sklaven und Plebejer beschimpft und um zu beweisen, dass Zizikore und alle die auf ihn hören Tölpel sind, ein Büschel Gras herausreißt und unter dem Gelächter der Umstehenden verspeist. Überhaupt scheint Ioram auf den ersten Blick eine Schraube locker zu haben, schreit und beschimpft er doch die meisten Leute, denen er begegnet. Die Dorfbewohner erzählen sich, er habe Bomben in seinen Taschen. Beim Anblick der vollbusigen Nargisa verschlägt es ihm jedoch regelmäßig die Sprache.
Das Dorf ist voll von schrägen Charakteren, kleinen Geschichten, Aberglauben und alten Bräuchen. Da gibt es Elios, der seine Familie nach einem Zauberstein graben lässt und der außerdem auf der Suche nach dem Wunschbaum ist. Beim Anblick der wunderschönen Marita, die nach dem Tod der Mutter zur Oma gebracht wird, bekreuzigt sich Elios und fragt sich, ob die Sonne auf die Erde heruntergekommen sei.
Tratschende Weiber, die von Fufula - einer weiteren, in ihrem Aussehen und Auftreten sehr eigenwilligen, weil darin völlig aus dem Rahmen fallenden Figur – die immer gern gehörte Geschichte ihrer Liebe zu hören bekommen, sind ebenso Teil des Dorfbildes.
Anfänglich bin ich mir ein wenig wie im Irrenhaus vorgekommen, so wie die einzelnen Dorfbewohner mit ihren Marotten und Eigenheiten gezeigt werden. Jedoch sind die Geschichten, Situationen und Charaktere sehr unterhaltsam, witzig, poetisch und vor allem sympathisch.
Ioram beschwört oft die Zukunft, den Sturm der Revolution, oder den Fortschritt z.B. in Form der Eisenbahn herauf. Er strahlt dabei so etwas wie Freude und Optimismus aus, ganz im Gegensatz zu Zizikore, der das Neue fürchtet. Vielleicht sieht er seinen Status als geachteter Mann im Dorf gefährdet, oder aber die Traditionen, deren Verschwinden er prophezeit. Als Ioram mit den Kindern im Gänsemarsch einen fahrenden Dampfzug spielt erklärt er ihnen, dass mit der Eisenbahn die Heimat aufblühen und alles im Überfluss vorhanden sein werde. Die Kinder könnten studieren und als gebildete Menschen zurückkehren. Zizikore, der Iorams Vision gehört hat, ist natürlich vom Gegenteil überzeugt. Die Luft werde schlecht, die Frauen müssten Angst haben, auf die Straße zu gehen und überhaupt seien sie ein Volk, das Brot und Wein produziere.
Es sind auch diese Zwiegespräche der beiden, die den Film so interessant machen.
Im Zentrum steht jedoch die Geschichte von Gedia und Marita, die sich ineinander verlieben.
Maritas Schönheit ist überwältigend und wird von allen im Dorf registriert. Bei ihrem Anblick vergießt Fufula ein paar Tränen. Da Gedia arm ist, soll Marita aber mit Schete verheiratet werden. Auch hier hat Zizikore seine Finger im Spiel und redet Maritas Vater die Bedenken aus, und besiegelt somit das Schicksal von Marita und zerstört ihr Glück. Hier zeigt sich die Schattenseite von Tradition und die eingangs beschriebene Stimmung im Dorf (und im Film) sowie unter der Bevölkerung schlägt um. Was anfangs eher belustigend wirkte, wird bedrohlich und bitterer Ernst.
Es ist nicht so einfach, den Film zu beschreiben. Jede Figur hat eigene Sehnsüchte und seine Sicht der Dinge. Auf der einen Seite bekommt man einen Einblick in ein georgisches Dorf vor der Revolutionszeit, auf der anderen Seite sind die Bilder und diverse Figuren (oder der Film an sich) und ihre Handlungsweise auch symbolisch zu sehen. (Zizikore, Ioram; Verehrung und Bewunderung, die in Neid und Hass umschlägt). "Natvris Khe" ist ein sehr poetischer Film, mit wunderschönen Bildern und herrlichen Charakteren, der ein dramatisches Ende erfährt.
Ein Band an Zweige eines Baumes zu binden ist ein uralter, heidnischer Brauch, der heute noch im Kaukasus praktiziert wird.
Gesehen auf DVD (RUS), Georgisch DD 1.0 mit dt. Untertiteln, ~107 Minuten.
#14
Geschrieben 30. Juli 2006, 17:25
(The Aura)
Argentinien, Spanien, Frankreich 2005
Regie: Fabián Bielinsky
El Aura – Die Aura. Sie beschreibt den Moment kurz vor einem epileptischen Anfall. Alles steht still, eine Tür im Kopf öffnet sich und lässt die Dinge rein. Dinge – das sind Geräusche, Musik, Stimmen, Bilder, Gerüche – der Geruch der Schule, der Küche, der Familie. Es sind die Vorboten eines Anfalles, der kurz bevorsteht und dem man hilflos ausgeliefert ist. Er ist schrecklich und perfekt zugleich, denn während dieser wenigen Sekunden bist du frei. Es gibt keine Wahl, keine Alternative, nichts das man noch entscheiden könnte. Man kapituliert.
Dies sind die Empfindungen der Hauptfigur, einem Tierpräparator und Epileptiker aus Buenos Aires, Sekunden vor einem Anfall. Es handelt sich um einen ruhigen, introvertierten Zeitgenossen mit scharfer Auffassungsgabe, der vom perfekten Verbrechen träumt und dies in Gedanken durchspielt. Als er von seinem Freund auf die Jagd in den Süden Argentiniens eingeladen wird und ihn seine Frau eben verlassen hat, sagt er kurzfristig zu. Die geplante Unterkunft ist ausgebucht und so weichen die beiden in eine entlegene Hütte tief im Wald aus. Ein Jagdunfall bringt den Protagonisten auf die Spur eines Geheimnisses, das ihm nach und nach die Möglichkeit der Umsetzung eines perfekten Verbrechens eröffnet.
"El Aura" ist ein visuell hervorragender Thriller, der seine Geschichte und die Spannung langsam aber stetig entfaltet. Unterstützt wird die düstere, mystisch anmutende Stimmung von sphärischen Klängen, die Bilder sind in kühlen Farben gehalten. Für mich ist eben diese Atmosphäre, die in der bedächtigen aber niemals langweiligen Inszenierung entsteht, neben der visuellen Klasse, das große Plus des Films.
Ein paar kleinere Schwächen lagen meiner Ansicht nach in der Story, z.B. deren Zufälle, die vielleicht etwas abwegig erscheinen, auch wenn sich das später relativiert. Die Gabe der von Ricardo Darin gespielten Hauptfigur, sein erstaunliches visuelles Gedächtnis, wird gleich zu Beginn etwas plump etabliert und auf sie im Laufe des Films immer wieder zurückgegriffen.
Ricardo Darin in der Hauptrolle hat mir sehr gut gefallen. Das Ende führt dazu, das Gesehene gleich noch mal zu überdenken.
Gesehen auf DVD (E), Spanisch DD 5.1 mit englischen Untertiteln, ~ 134 Minuten.
#15
Geschrieben 02. August 2006, 19:02
Zloy dukh Yambuya
(The Evil Spirit of Yambuy)
UDSSR 1978
Regie: Boris Bunejew
Ostsibirien 1949. Eine Gruppe von Geodäten ist dabei die erste Karte der schwer zugänglichen Gebiete Ostsibiriens zu erstellen. Es handelt sich um einen dringlichen Regierungsauftrag, da das Fehlen einer topographischen Landkarte die Erschließung der Naturreichtümer dieses Gebietes bremst. Als die Arbeiten im Aldan-Hochland abgeschlossen sind, kehrt die Expedition zur Basis zurück. Einige Geodäten sind jedoch noch auf dem Gebirgskamm Stanowoi im Einsatz. Im Basislager bereiten sich alle auf die Abreise vor, als sie ein wichtiger Funkspruch erreicht: Auf dem Berg Jambuj ist der Beobachter Wladimir Jefimenko spurlos verschwunden. Eine Suche verlief ergebnislos. Es ist schon der zweite Geodät, der in dieser Gegend verschwunden ist. Im Frühjahr verschwand dort Serjosha Petrik.
Stepan beschließt zusammen mit Pawel zurück zum Berg Jambuj zu gehen um die Vermissten zu suchen. Am 2. September brechen die beiden mit einem Führer, Rentieren und ihrem Husky Sagrja auf. Auf ihrem Weg treffen sie auf einen Stamm Ewenken, die neben ihren bemerkenswerten Fähigkeiten als Jäger den Ruf genießen, die besten Führer durch die sibirische Taiga zu sein. Sie könnten bei der Suche eine wertvolle Hilfe sein. Von ihnen erfährt Stepan, dass am Berg Jambuj noch mehr Menschen verschollen sind, auch ein erfahrener Jäger der Ewenken. Die Ewenken glauben, dass am Berg der böse Geist Chargi lebt und er die Schuld am Verschwinden der Leute trägt. Vorerst müssen Stepan und Pawel aber auf die Unterstützung der Ewenken, die in dieselbe Richtung ziehen, verzichten. Später treffen sie auf den Führer Ilja, der zusammen mit dem Russen Jelisar Bykow am Berg Jambuj war, aber alleine zurückgekehrt ist. Er gerät alsbald in den Verdacht, etwas mit dem Verschwinden Jelisars zu tun zu haben. Auf ihrer weiteren Suche lauern in der rauen Gegend der sibirischen Taiga viele Gefahren.
"Zloy dukh Yambuya" spielt in der sibirischen Taiga, der Heimat vieler Ewenken. Die Begegnung mit dem Stamm, insbesondere dem alten Kararbach und seiner Frau Langara gibt einen Einblick in das Leben und die Kultur der Ewenken. Gezeigt werden z.B. Rituale, um böse Geister in die Irre zu führen. Die Taiga birgt viele Gefahren - gefährliche Sümpfe, dichte Wälder, wilde Flüsse und steile Berge prägen das abwechslungsreiche Landschaftsbild. Das unberechenbare Klima kommt noch erschwerend hinzu. Als ob das nicht genug wäre, gibt es noch wilde Bären.
Eine große Hilfe ist neben den einheimischen Ewenken der Husky Sagrja, mit dem Stepan unterwegs ist. Er ist für mich der heimliche Held des Films, an Sagrja wird gezeigt, wie schlau und wie wertvoll ein solcher Begleiter in dieser Umgebung sein kann. Seinen Wert haben auch die Ewenken erkannt, die für Sagrja die Hälfte ihrer Hunde und ein fettes Rentier bieten.
So gefährlich und unwirtlich die sibirische Taiga auch sein mag, so beeindruckend ist sie in ihrer vielfältigen Natur und deren Bewohner. Die spannende Reise zum Berg Jambuj führt durch faszinierende Landschaften, was natürlich einen großen Reiz des Films ausmacht.
Glücklicherweise fanden die Dreharbeiten auch wirklich in der Taiga statt. Regisseur Bunejew wollte "den Atem der Taiga" spüren. Das auf die Leinwand zu übertragen, ist ihm meiner Ansicht nach auch gelungen. In einem Interview spricht Bunejew darüber, wie wichtig die echte Taiga für die Atmosphäre gewesen ist und welche Abenteuer – die dann teilweise auch so im Film zu sehen sind, z.B. eine gefährliche Durchquerung eines Flusses, bei denen sich die Schauspieler an die Rentierschwänze klammern mussten, um nicht von der starken Strömung mitgerissen zu werden – sie gemeinsam erlebten. Das schon angesprochene Klima überraschte das Team dann auch, als sie in sommerlicher Kleidung – Sandalen und Hemden – mitten im Sommer von einem Schneesturm und Frost heimgesucht wurden. Zwar konnte der Film aufgrund heftiger Schneefälle im Oktober nicht nur in der Taiga gedreht werden und man musste auf den Kaukasus und schließlich die Krim ausweichen, aber wenn es nach den Studiobossen gegangen wäre, hätte man von vornherein auf die Aufnahmen in der Taiga verzichtet und sofort in Jalta gefilmt!
Auch die Arbeit mit den Bären war nicht ungefährlich, es handelte sich nicht um dressierte Bären, sondern um Bären aus Moskau, normalerweise im Dienste der Wissenschaft.
Der Film basiert auf einer Erzählung von G. A. Fedossejew.
Selbst nach dem Krieg gab es angeblich keine ernstzunehmende Landkarte Ostsibiriens. Fedossejew selbst hatte nach dem Krieg eine dieser Expeditionen zur Erschließung Ostsibiriens geführt. Er schrieb mehrere Romane über seine Reisen.
Das Titellied von Yevgeni Gevorgyan hat mir gut gefallen. "Der böse Geist des Jambuj" (so lautet der deutsche Titel) ist ein spannender Abenteuerfilm vor prächtiger Naturkulisse.
Gesehen auf DVD (RUS), Russisch DD 5.1 mit deutschen Untertiteln, ~89 Minuten.
#16
Geschrieben 22. August 2006, 19:31
Voces Inocentes
(Innocent Voices)
Mexiko, Puerto Rico, USA 2004
Regie: Luis Mandoki
El Salvador, Anfang der 1980er. Erzählt wird das Schicksal des 11jährigen Chava und seiner Familie. Der Vater hat sie mit Ausbruch des Krieges im Stich gelassen, ist in die Vereinigten Staaten geflohen. Als ältestes männliches Familienmitglied ist Chava nun der Herr des Hauses. Der Junge lebt mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern in dem kleinen Dorf Cuscatazingo. Alle Kinder haben Angst davor 12 Jahre alt zu werden, denn mit diesem Alter werden sie von der Armee rekrutiert. Mit etwas Glück bleibt Chava also noch ein Jahr, in dem er weiter zur Schule gehen, mit seinen Freunden spielen oder die erste Liebe seines Lebens treffen kann. Der Alltag ist jedoch mehr und mehr geprägt vom Bürgerkrieg, denn das Dorf liegt im Zentrum der Kampfhandlungen zwischen der Armee und den Guerillas.
Der Film erzählt die Erlebnisse zur Zeit des Bürgerkrieges aus der Sicht des Jungen. Nach und nach hält der Krieg in das Leben der Kinder Einzug. Schon zu Beginn des Filmes, als Chava mit seinen Freunden am Fluss spielt und plötzlich zwei bewaffnete Soldaten der Armee auftauchen, wird die Bedrohung spürbar. Chavas Mutter ist die Sorge um ihre Kinder ins Gesicht geschrieben, falls ihr Junge mal wieder zu spät vom Spielen nach Hause kommt.
Angst spricht aus den Augen der Kinder, wenn auf dem Weg zur Schule ein LKW mit weinenden Jungen vorbeifährt, die von der Armee zur Ausbildung abgeholt wurden. Dieses Bild verfolgt sie und ist der Grund, weswegen sie ihrem 12. Geburtstag mit Furcht entgegensehen. Nachts werden regelmäßig die Behausungen des Dorfes von Maschinengewehrsalven durchsiebt. Die Kugeln gehen durch die Wände aus Wellblech und Holz, wie ein heißes Messer durch Butter. Die Matratze gegen die Wand gelehnt liegen die drei Geschwister unter dem Bettgestell und versuchen die Todesangst mit kleinen Spielen zu verdrängen.
Als die Mutter mit dem Bus von der Arbeit nach Hause kommt, liegen die Toten noch in der Straße. Sie beschließt von nun an daheim zu arbeiten, Chava hilft ihr dabei.
Die kindliche Unbekümmertheit, mit der sich Chava und seine Freunde im Dorf bewegen, steht im krassen Kontrast zu den grausamen Ereignissen des Krieges. Die Selbstverständlichkeit und offenherzige Art mit der Chava durchs Leben geht ist unheimlich sympathisch. Umso intensiver trifft es einen, wenn die schönen Dinge des Lebens abrupt durch Leid und Panik abgelöst werden. In einer Szene sieht man Chava, der sich in seine Mitschülerin Cristina Maria verliebt hat, wie er sie beim Seilspringen beobachtet. Ein unheimlich schöner Moment, der jäh unterbrochen wird.
Das alles spielt sich in den ersten 20 Minuten ab. Im weiteren Verlauf wird der Alltag immer mehr ein Überlebenskampf, der 12. Geburtstag rückt ebenfalls näher…
Die Beschreibung des Dorfes als Spielplatz und Schlachtfeld zugleich, ist wohl die treffendste.
"Voces Inocentes" ist ein sehr intensiver und bewegender Film, der mir sehr nahe ging. Er ist ebenso herzerwärmend wie markerschütternd und brutal, stellenweise aber auch sehr lustig. Carlos Padilla in der Rolle des Chava und Leonor Varela als seine Mutter fand ich besonders herausragend.
Der Film beruht auf den Kindheitserlebnissen des Drehbuchautors Oscar Torres.
Eine Texttafel zum Ende des Films liefert ein paar Zahlen zum Bürgerkrieg in El Salvador, als auch zum Thema der Kindersoldaten:
Der Bürgerkrieg dauerte 12 Jahre und forderte mehr als 75.000 Menschenleben, 8000 gelten als vermisst und ungefähr 1 Million Menschen gingen ins Exil. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika sandte Truppen um die Armee El Salvadors auszubilden und 1 Milliarde Dollar in militärischem Gerät. Mehr als 300.000 Kinder werden in mehr als 40 Ländern überall auf der Welt für Armeen rekrutiert.
Gesehen auf DVD (HK), Spanisch DD 6.1 mit englischen Untertiteln, ~110 Minuten.
#17
Geschrieben 28. August 2006, 22:39
(Larks on a string)
Tschechoslowakei 1969
Regie: Jirí Menzel
Eine Industriestadt in der Tschechoslowakei nach der Übernahme der Kommunisten. Eine Gruppe "bourgeoiser Elemente" findet sich zur Umerziehung auf einem Schrottplatz eines Eisenhüttenkombinats wieder. Neben ihnen arbeitet eine Gruppe weiblicher politischer Gefangener. Auch wenn der Kontakt zueinander verboten ist, kommen sich die beiden Seiten näher.
Der Film beginnt mit einem Panoramablick über die Industrieanlagen der Stadt Kladno. Der Rundblick wird von Texttafeln unterbrochen, aus denen sich der geschichtliche Rahmen ergibt. Nach dem "Vítězný Únor", dem Siegreichen Februar [1948] übernahm die Arbeiterklasse die Macht und wurde die herrschende Klasse des Staates. Die Überbleibsel der besiegten Klassen wurden in Arbeit gestellt, um für die Zugehörigkeit zur ehemaligen Bourgeoisie durch ehrliche Arbeit zu büßen.
Unter der Begleitung wunderschöner Musik von Jirí Sust fliegt die Kamera über den riesigen Schrottplatz mit seinen Ansammlungen von Alteisen und anderen Materialien auf jene Überbleibsel der Bourgeoisie, die bei ihrer Arbeit umerzogen werden sollen.
Der Blick wandert auf eine benachbarte Gruppe von Frauen, Strafgefangene die für den Versuch der Flucht ins Ausland verurteilt wurden und ebenfalls tagein, tagaus mit dem Sortieren von Alteisen beschäftigt sind.
Der Verwalter stellt die Protagonisten, die er als "freiwillige Arbeiter" bezeichnet, näher vor.
Ein Professor der Philosophie und ehemaliger Bibliothekar aus Prag, der sich weigerte die dekadente bourgeoise westliche Literatur durch den Reißwolf zu jagen, ein Staatsanwalt, der das Recht des Angeklagten sich selbst zu verteidigen aufrecht erhielt und nun die Konsequenz dafür zu tragen hat, ein Schreiner und patentierter Hersteller von Waschbottichen, der seine bourgeoise Lust dadurch befriedigte, indem er vier Angestellte beschäftigte. Ein Friseur findet sich noch in der Gruppe, da von fünf Friseuren drei gehen mussten, ein Saxophonist, weil Saxophone als bourgeoise Instrumente verboten wurden, ein Milchmann und schließlich noch ein Koch, der aus religiösen Gründen nicht am Samstag arbeiten wollte.
So wie das Alteisen eingeschmolzen wird und Neues aus ihm entsteht, will der Verwalter aus den Intellektuellen und Handwerkern neue Menschen machen. ("We'll also smelt them down into a new kind of people").
Bei einer Propaganda-Inszenierung kommen sich der Koch Pavel und die hübsche Jitka, deren Blicke sich schon vorher trafen, etwas näher – bevor sie vom Wächter Andel wieder getrennt werden. Der Kontakt zwischen den weiblichen Strafgefangenen und den "Freiwilligen" ist zwar verboten, doch der Wächter ist kein Unmensch und drückt mit der Zeit auch mal ein Auge zu. Außerdem befinden sich die beiden Gruppen sowieso in Blickweite. Der Wächter selbst hat seine Probleme mit seiner frisch Angetrauten. Die ist eine Roma und hat ihre eigene Art zu Leben, gänzlich verschieden von der ihres Ehegatten.
"Skrivánci na niti" spielt bis auf wenige Szenen hauptsächlich auf dem Schrottplatz. Wenn auch die Situation der Männer alles andere als rosig ist, lassen sie sich nicht davon unterkriegen. Sie philosophieren, bewahren sich ihren eigenen Humor und kommentieren ihre Situation mit scharfsinnigen Sprüchen, die nicht immer ohne Folgen bleiben. Der Milchmann macht den Anfang, als er sich bei der schon angesprochenen Propaganda-Inszenierung kritisch äußert. Er verschwindet spurlos und ward von da an nicht mehr gesehen. Ein Schicksal, das über den Köpfen aller Gefangenen wie ein Damoklesschwert schwebt.
Einen nicht unerheblichen Teil daran, dass das Leben der Männer nicht nur trostlos und trist erscheint, haben mit Sicherheit die benachbart arbeitenden Frauen. Die Heiterkeit und Lebensfreude die sie an den Tag legen färbt auf die Männer ab. Die Liebesgeschichte von Pavel und Jitka und die Annäherung der Männer und Frauen im Allgemeinen, strahlen viel menschliche Wärme aus und vermitteln ein Gefühl der Hoffnung. Sogar der Wächter kann einem ein wenig Leid tun. Anfangs wirkt er etwas trotzig in seiner Art die Kontakte der beiden Gruppen zu unterbinden, später erweckt er desöfteren den Eindruck abwesend zu sein oder den Austausch sanfter Zärtlichkeiten der Männer und Frauen sehnsüchtig und wehmütig zu beobachten. Diese Situationen kleiner heimlicher zwischenmenschlicher Beziehungen und das Aufkeimen von Zuneigung – wunderschön in einer Szene festgehalten, in der drei Frauen den Männern beim Transport von Alteisen helfen dürfen: sie bilden gemeinsam eine Kette und ziehen dann die Handschuhe aus um die Hände des anderen sanft und zärtlich berühren zu können – machen den Film und seine Figuren sympathisch.
Die Rolle des von Rudolf Hrusínský gespielten Verwalters ist wieder eine spezielle. Er ist überzeugter Kommunist und erscheint oftmals mit verschiedenen Gruppen von Leuten, Parteimitgliedern, Kindern usw., am Schrottplatz. Er wird ebenfalls nicht als Unmensch charakterisiert, viele kritische Aussagen quittiert er mit einem Lächeln um dann seine Vision zum Besten zu geben. "I can't wait to see businessmen in Paris sweeping the roads while the workers kick them in the butt." Der Ausdruck in seinem Gesicht, als er diese Worte spricht, kann wohl überzeugender nicht sein. Allerdings darf in seiner Gegenwart auch nicht alles gesagt werden. Gerade wenn er in Begleitung erscheint, sind kritische Töne nicht mehr ungefährlich.
Der Verwalter ist außerdem der einzig wirkliche Arbeiter auf dem Schrottplatz. Nun aber trägt er Anzug und Krawatte und führt Parteimitglieder auf dem Gelände herum. Eine paradoxe Situation, die selbst für ihn peinlich ist, wenn er unter höhnischen Sprüchen einmal selbst Hand anlegt um zu zeigen, dass sie alle ein Kollektiv seien.
Der Hygienewahn des Verwalters, der während des Films ein wenig befremdlich anmutet, erfährt mit Ende des Films auch seine Erklärung.
Absurde Szenen, tragikomische und heitere Momente gibt es neben dem menschlichen Aspekt ebenso zu sehen. Seien es nun die Kinder des Schreiners, die in den Holzbadewannen schlafen, die Berge von Schreibmaschinen und Kreuze, die als Alteisen auf dem Schrott gelandet sind und jetzt eingeschmolzen werden sollen, oder eine gegen Ende stattfindende bürokratische Prozedur, von der ich nichts vorwegnehmen möchte, die dem ganzen die Krone aufsetzt. Die Beschreibung der einzelnen "Elemente" sowie die Gründe für ihre jetztige Lage sprechen auch schon Bände.
Die Mischung aus scharfzüngigen Kommentaren bzw. der Kritik am System, subtilem Humor und der Warmherzigkeit der Charaktere machen "Skrivánci na niti" so interessant und sehenswert.
Hervorheben möchte ich nochmals die Musik von Jirí Sust, die nur die Szenen des Liebespaares Pavel und Jitka untermalt - wunderschön.
Der Film war der Zensur wohl zu subversiv und verschwand für 20 Jahre im Tresor des Innenministeriums, in dem sich schon einige systemkritische Werke wiederfanden.
Gesehen auf DVD (CZ), Tschechisch DD 5.1 mit englischen Untertiteln, ~91 Minuten.
#18
Geschrieben 07. September 2006, 21:10
(Raise Ravens)
Spanien 1976
Regie: Carlos Saura
Der Film beginnt mit Familienbildern aus einem Photoalbum, einzelne Schnappschüsse sind mit Kommentaren versehen. Melancholische Klaviermusik untermalt die Erinnerungen.
Die 9jährige Ana lebt mit ihren beiden Schwestern Maite und Irene nach dem Tod ihrer Mutter bei ihrer Tante. Eines nachts ist Anas Vater mit seiner Freundin beim Liebesspiel zu Gange. Ana steht vor der verschlossenen Tür und lauscht dem Geschehen, als würde sie auf etwas warten. Der Vater stirbt plötzlich und die Freundin verlässt hastig das Haus. Ana betritt zielstrebig das Zimmer, in dem ihr Vater tot auf dem Bett liegt, beobachtet ihn eine Weile und nimmt dann ein fast leeres Glas Milch vom Nachttisch um es in der Küche sorgfältig zu waschen. Die Reihenfolge der neben der Spüle aufgereihten Gläser verändert sie nachher. Vor dem Kühlschrank stehend taucht hinter Ana jemand auf. Es ist ihre Mutter, die sie fragt, was sie um diese Zeit in der Küche mache. Nach einem Gutenachtkuss ihrer Mutter geht Ana auf ihr Zimmer, füttert ihr Meerschweinchen und legt sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck schlafen. In der nächsten Einstellung machen sich die Kinder im Badezimmer für die Beerdigung fertig, die Haushälterin Rosa kämmt Anas Haare. Im Hintergrund kommt Anas Mutter und löst Rosa ab. Zärtlich liebkost sie ihre Tochter. Ein Blick in den Spiegel zeigt wieder Rosa, wie sie Anas Haar kämmt. Rosa, die die Abwesenheit Anas bemerkt hat, fragt sie, woran sie gedacht habe. Ana nimmt die Kette um ihren Hals und fragt: "Ist es wahr, dass meine Mutter immer dieses Kreuz getragen hat?" - Anas Mutter ist tot.
Ana lässt ihre Mutter in vielen Szenen wiederauferstehen. Durch ihre Vorstellungskraft er- bzw. belebt Ana die Fürsorglichkeit und Geborgenheit ihrer Mutter wieder. Aber auch die Verhältnisse innerhalb der Familie und die Umstände ihres Todes werden auf diese Weise geklärt. Ein kurzes Schließen und Öffnen der Augen geht der Imagination Anas voraus.
Anas Beziehung zu ihrem Vater wird neben der emotionslosen Begegnung zu Beginn im Schlafzimmer insbesondere auf dessen Beerdigung deutlich, bei der sie sich als einzige der drei Töchter weigert, ihren im offenen Sarg aufgebarten Vater zu küssen und sich stattdessen hinter ihrer im Rollstuhl sitzenden Oma versteckt.
Die Oma sitzt nicht nur im Rollstuhl, sie ist auch noch stumm. Die einzige, die sich noch um sie Sorgen macht, ist Ana, die sie auch umherfährt. Ana ist umgeben vom Tod. In einer Szene sieht sie sich auf dem Dach eines mehrstöckigen Wohnhauses und springt in die Tiefe. Hupende Autos signalisieren, dass sie wohl auf einer Straße aufgekommen ist. Ein sanftes Lächeln liegt in ihrem Gesicht.
Der Tod selbst oder besser gesagt, die Macht ihn herbeizuführen, befindet sich in den Händen der kleinen Ana, in Form eines weißen Pulvers in einer Metallbüchse. Anas Mutter hatte ihr einmal aufgetragen, diese wegzuschmeißen. Ihre Mutter hat ihr erzählt, dass sich in der Dose ein schreckliches Gift befindet. Ein Löffel würde einen Elefanten töten. Warum Ana die Dose dennoch behalten hat, kann sie nicht genau erklären. Das erfährt man in einem der Einschübe, in der die erwachsene Ana rückblickend ihre Kindheit beurteilt. Es wäre zu einfach zu sagen, sie habe das Gift aufbewahrt, um ihren Vater umzubringen - erzählt die erwachsene Ana – gleichwohl war sie damals davon überzeugt, ihr Vater sei für die Krankheit und den Tod ihrer Mutter verantwortlich.
Rührend ist die Zeit die Ana mit ihrer Oma verbringt. Vielleicht entstammt das Mitgefühl teils aus der eigenen Situation, die der der Oma ähnelt. Die Oma schwelgt am liebsten in Erinnerungen und schaut sich gemeinsam mit Ana zu den Klängen alter Musik alte Familienbilder an.
Die angesprochenen Probleme zwischen Vater und Mutter stellen die Kinder in einem Rollenspiel nach bei der Ana in die Rolle ihrer Mutter und die älteste Schwester Irene den Vater darstellt. Verkleidet und geschminkt stellen sie einen Streit der beiden nach, den sie eigentlich nicht gehört haben sollten.
Die Einbildungskraft der kleinen Ana ist ein Beleg für ihre Sehnsüchte, zum Beispiel nach Liebe und Zuwendung. Bei ihrer Tante, die nun mit strenger Hand die Erziehung der Kinder übernommen hat, findet sie nichts dergleichen. Im Gegenteil, die Beziehung erwärmt sich mit der Dauer nicht, sondern mündet in Hass. Hier verrät der Blick Anas mehr als Worte. In Anwesenheit der Tante wirkt Ana gleichgültig und abweisend, später auch feindselig, schließlich beschließt Ana etwas zu unternehmen.
Die Erzählstruktur des Films ist komplex aber auf eine wundervolle Weise versponnen. Verschiedene Zeitebenen verschmelzen ineinander, indem sich z.B. Ana von der Realität in die Vorstellung bewegt und dabei die schöne Zeit mit ihrer Mutter wieder in Erinnerung ruft.
Die Einschübe der erwachsenen Ana, die bestimmte Gefühle und Situationen ihrer Kindheit kommentiert fand ich sehr gelungen, da die zeitliche Distanz neue Aspekte bringt. Die Mutter Anas sowie die erwachsene Ana werden übrigens beide von der wunderbaren Geraldine Chaplin dargestellt.
Ana Torrent in der Rolle der Ana ist unglaublich. Schon in "El espíritu de la colmena" war ich von ihrer Rolle sehr angetan, hier fand ich die Darstellung noch intensiver. Sie hatte mich mit ihrer Darstellung jedenfalls vor den Bildschirm gefesselt. Es sind die kleinen Nuancen in ihrer Mimik, die ihren jeweiligen Gemütszustand so authentisch machen. Die Flucht zu ihrer Mutter in die Erinnerung, bei der sie regelrecht aufblüht und im Gegensatz dazu die traurigen, dunklen Augen, die verloren scheinen, wenn sie sich in der kalten Realität befindet, spiegeln sich im Ausdruck der kleinen Ana.
Neben klassischer Musik ist im Film und am Ende mehrmals das Lied "Porque te vas" von Jeanette zu hören, ein echter Ohrwurm, der mir gut gefallen hat.
"Cría Cuervos" ist ein hervorragender Film, wundervoll und feinfühlig erzählt mit großartigen Darstellern.
Die Kritik die Carlos Saura mit diesem Film am Franco-Regime äußert, ist mir während des Films nicht wirklich bewusst gewesen, was sicherlich auch mit daran liegt, dass ich mich mit dem Franco-Regime und Saura selbst bisher nicht großartig beschäftigt hatte, als auch bisher kaum mit seinen Filmen aus dieser Zeit in Kontakt gekommen bin. Im Nachhinein betrachtet und nach einer kleinen Recherche ist der Symbolcharakter der einzelnen Figuren natürlich schlüssig. Meiner Ansicht nach ist die Kritik allerdings auch lange nicht so klar zu erkennen, wie in anderen, z.B. auch in meinem Filmtagebuch schon besprochenen systemkritischen Filmen. Ich war mir nach der Sichtung fast sicher, dass ich diesen Film vor längerer Zeit schon einmal gesehen habe, konnte mich aber an die Geschichte kaum noch erinnern.
Gesehen auf DVD (E), Spanisch (Mono) mit englischen Untertiteln, ~105 Minuten.
#19
Geschrieben 12. September 2006, 01:10
(The Man Who Planted Trees)
Kanada 1987
Regie: Frédéric Back
Die Geschichte wird aus der Sicht eines Reisenden erzählt, der durch die Berge in der Provence wandert. Nach mehreren Tagen Wanderschaft in der einsamen und unwirtlichen Gegend, in der alles Leben verschwunden zu sein scheint, gehen ihm die Wasservorräte zur Neige. Zu seinem Glück trifft er auf einen einsamen Schäfer, wenig redselig aber hilfsbereit und gastfreundlich, der Wasser und seine Bleibe mit ihm teilt. Der Wanderer beobachtet den Schäfer wie er Eicheln sortiert. Neugierig und fasziniert von dem alten Schäfer folgt er ihm und beobachtet ihn dabei, wie er in der kargen Landschaft Bäume pflanzt. Schon lange Zeit, Tag ein Tag aus, bepflanzt der Schäfer die Berge. Beeindruckt kehrt der Erzähler nach Jahren immer wieder in die Berge zurück und wird Zeuge eines kleinen Wunders.
Die animierten Zeichnungen sind wunderschön und an sich schon ein Kunstwerk. Die Musik und die Geräusche fügen sich perfekt ein. Ein nicht unerheblicher Anteil daran, dass dieser Film eine so besondere Wirkung auf mich hatte, kommt dem Erzähler zu. Christopher Plummer (im O-Ton Philippe Noiret) leiht dem Reisenden seine Stimme. Er gibt den Eindrücken, die in lyrische Worte gefasst wurden, mit seiner sanften und einfühlsamen Stimme erst die richtige Größe und Bedeutung. Ihm gelingt es, den richtigen Tonfall zu treffen, der die kunstvollen Bilder und die Erzählung aufblühen lässt und mit dafür sorgt, dass man völlig in sie eintaucht und von ihr berührt wird.
Die Geschichte entfaltet durch die Art, in der sie erzählt wird ihre Kraft und Schönheit auf eine ganz besondere, magische Weise, die mich fast zu Tränen gerührt hat. Ich hatte schon lange keine so schöne und bewegende Geschichte mehr gesehen, die so schön gezeichnet ist und so wundervoll erzählt wird. Auch wenn sie relativ einfach ist, hat sie sehr viel zu bieten – mehr als nur eine Botschaft.
"L' Homme qui plantait des arbres" hat bei mir für Gänsehaut und feuchte Augen gesorgt, ob seiner Schönheit, sowohl inhaltlich als auch äußerlich.
Für mich ist dieser Film ein Meisterwerk!
Gesehen auf DVD (CDN), Englisch DD 2.0 (englische UT verfügbar), ~30 Minuten.
#20
Geschrieben 14. September 2006, 00:39
(25th – First Day)
UdSSR 1968
Regie: Yuri Norstein
Dem ersten Film Yuri Norsteins geht auf der DVD ein längerer Text desselbigen aus dem Jahre 2001 voraus, in welchem er sein Werk und die Umstände in denen es entstanden ist, ein wenig erläutert: "We [Norstein und sein Mitarbeiter Arkadi Tyurin] had thought of making a romantic revolutionary study bringing together the painting of the Russian and European avant-garde of the years before 1910 and 1920 and the music of the great composer Dmitri Shostakovich. (…) We made the film with the vision of the Revolution as the beginning of a powerful cultural process. We were inspired by the fact that the works of artists were imbued with the idea of a regenerated world, a destiny shaped by people themselves. The list of artists whose works the film is based on is impressive:
Tatlin, Petrov-Vodkin, Mark Chagall, Pavel Filonov, Altman, Malevich, Deneka, Pimenov, Lissitzki.(...)"
Der Titel des Films verweist auf den ersten Tag der Oktoberrevolution im Jahre 1917. Düstere Bilder zeigen die Menschenmassen und Soldaten in den Straßen, die einzige Farbe sind rote Fahnen. Dazwischen sind Parolen wie "Macht den Räten", "Land den Bauern", "Frieden den Völkern" und "Brot den Hungernden" zu lesen. Gegen Ende sind historische Aufnahmen und eine Rede von Lenin zu sehen bzw. zu hören.
(The Battle of Kerjenets)
UdSSR 1971
Regie: Ivan Ivanov-Vano, Yuri Norstein
Der Film benutzt russische Ikonen und Fresken aus dem 14. – 16 Jahrhundert. Einige werden sicher Bilder dieser Art, wie sie unten zu sehen sind, schon im Fernsehen oder gar in Russland gesehen haben. Dementsprechend farbenprächtig gestalten sich die Bilder, nur eben bewegt. Die Bilder die zum Rhythmus der Musik bewegt werden und auch in den jeweiligen Szenen der Dramaturgie der Musik angepasst scheinen, beeindrucken hier am meisten.
Dargestellt wird der Kampf des russischen Volkes gegen fremde Eindringlinge.
(The Fox and the Hare)
UdSSR 1973
Regie: Yuri Norstein
Die Geschichte basiert auf einem russischen Volksmärchen.
Es war einmal in einem winterlichen Wald, da lebten ein Fuchs und ein Hase. Der Fuchs baute sich ein Haus aus Eis, der Hase ein Haus aus Holz. Als der Frühling kommt, schmilzt des Fuchses Palast dahin, weshalb der Fuchs beschließt, des armen Hasen Heim in Beschlag zu nehmen. Zu Tode betrübt wandert der obdachlose Hase ziellos umher, wo er andere Bewohner des Waldes antrifft, mit deren Hilfe er versucht, den bösen Fuchs aus seiner Bleibe zu vertreiben.
Bemerkenswert ist die Fülle an Details, die in den Animationen zu finden ist. Schon der Beginn, als der Hase die Balalaika spielend in seiner Wohnung sitzt, zaubert einem ein Lächeln ins Gesicht.
Die Animation beruht auf den farbenfrohen Bildern die auf den alten russischen Prialkas zu finden sind.
The Heron and the Crane
UdSSR 1974
Regie: Yuri Norstein
Die Geschichte basiert auf einem russischen Volksmärchen
Es war einmal ein schlaksiger Kranich. Nahebei lebte ein langnasiger Reiher. Die Reiherdame warf einen Blick auf den Herrn Kranich und dachte sich, was für ein unbeholfener Zeitgenosse er doch ist. Der Kranich jedoch grübelte, ob er der Dame nicht einen Heiratsantrag machen sollte. All seinen Mut im Gepäck, einen Strauß Pusteblumen in der Hand, macht er sich auf zu seiner Auserkorenen und hält um deren Hand an. Fräulein Reiher lehnt ab und gibt dem von dannen ziehenden Kranich noch ein paar Gründe gegen die Bindung mit auf den Weg. Alleine fragt sie sich dann aber, warum sie ihn verschmäht hat. Den Entschluss gefasst, den Kranich doch zu heiraten, begibt sich die Reiherdame zum Kranich um ihm sogleich ihren Sinneswandel mitzuteilen. Doch der Kranich hat sich angeblich schon von dem Gedanken verabschiedet, den Reiher zur Frau zu nehmen und schickt sie wieder fort. Auch der Kranich bereut seine Entscheidung…und die Geschichte beginnt von neuem.
Dieses Märchen ist noch schöner animiert als "Fox and Rabbit". Auch hier sticht die Liebe zum Detail, mit der gearbeitet wurde, besonders ins Auge. Die Mimik und Gestik der beiden Figuren kommt durch die feine Zeichnung und deren Animation wunderbar zur Geltung.
Dem gespielten Desinteresse aneinander und dem falschen Stolz folgen erst neugierige und später sehnsüchtige Blicke. Nicht nur die Figuren selbst, sondern natürlich auch die Hintergründe sind ungeheuer detailliert und bilden ein großartiges Ganzes.
(Hedgehog in the Fog)
UdSSR 1975
Regie: Yuri Norstein
Die Geschichte basiert auf einem russischen Volksmärchen
An den Abenden treffen sich der kleine Igel und der junge Bär um wie immer die Sterne zu zählen. Die Sterne rechts des Kamins gehören dem kleinen Bären, die zur Linken dem kleinen Igel. Auch heute macht sich der Igel wieder auf den Weg zu seinem Freund. Unterwegs beobachtet der Igel ein Pferd, das im Nebel weidet. Wird es darin ersticken, wenn es sich niederlegt, fragt sich der Igel. Die Antwort darauf will er sich selbst geben und steigt in den Nebel herab. Bald hat er die Orientierung verloren und trifft auf allerlei Gefährten.
"Hedgehog in the fog" ist ein abenteuerliches Märchen, das wieder durch die Technik, bei der auf Glasflächen unterschiedlicher Ebenen die einzelnen Bestandteile aufgelegt und gefilmt werden, eine erstaunliche dreidimensional erscheinende Tiefenwirkung erzielt. Auch der Perspektivwechsel zu Beginn ist meisterhaft.
(Tale of Tales)
UdSSR 1979
Regie: Yuri Norstein
Ein Wiegenlied und ein Baby an der Mutterbrust. "Lullaby, Lullaby, hush, little baby don’t you cry. Or the little grey wolf will hear." Das Baby schlummert in den Schlaf. Was folgt, sind Bilder die sich auf den ersten Blick nur schwer ein- oder zuordnen lassen. Ein Stier und ein Mädchen beim Seilspringen, eine Frau beim Waschen, ein schaukelnder Kinderwagen, eine singende Katze usw. Untermalt werden diese Bilder von klassischer Musik Bachs und Mozarts.
Später wird zu der sehr bekannten Musik, dem Tango "Weary Sun" von Jerzy Petersburski getanzt und plötzlich verschwinden die Männer aus den Händen der Frauen. Sie laufen bewaffnet und in Kriegskleidung im Regen davon, danach schneit es, was wohl die vergangene Zeit darstellen soll. Ein Klopfen an der Tür ist zu hören und einzelne Fetzen von Benachrichtigungen über Verwundungen der Ehemänner sind in die Bilder montiert.
Der kleine graue Wolf spielt auch eine größere Rolle, schon angesprochene Figuren und deren "Werkzeuge" (z.B. ein Harfe, Feder und Papier) sind wieder an einem Tisch zu sehen, auch die Katze schnurrt neben einem Teelicht.
Ich habe nur ein paar Szenen und Eindrücke des Films mit den obigen Zeilen beschrieben. Darauf kann man sich sicherlich kaum einen Reim machen, was ich aber auch nicht bezwecken will, denn man muss den Film eigentlich gesehen haben, weshalb ich auf ein bloßes Beschreiben des Gesehenen verzichte. Man möge mir verzeihen, wenn ich hier in meiner Beschreibung den Anschein mache schon wieder in blanke Begeisterung oder Euphorie auszubrechen. Ja, dieser Film hat mich beeindruckt, vordergründig bei der ersten Sichtung wegen der Animation. Die Technik und das Ergebnis, insbesondere in "Tale of Tales" sind wirklich eindrucksvoll. Es ist aber auch ein großer Respekt vor diesen Künstlern, die mit ihrer Phantasie und ihrem Talent, etwas schaffen, was kein Computer auf diese Weise zu vermitteln im Stande ist.
Ein Interview mit Yuri Norstein erklärt dann auch einige Abschnitte des Films. Es ist ein Kunstwerk, dessen Zutaten aus Traum, Realität, persönlichen Erinnerungen und Gefühlen bestehen. "Tale of Tales" wird als Gedicht-Film beschrieben, als visuelle Philosophie.
Eine Szene, in der der kleine graue Wolf Kartoffeln in der Glut gart, hat mich an meine Kindheit erinnert. An die Kartoffelfeuer und den besonderen Geschmack denke ich gerne zurück.
Die Begutachtung des Bonusmaterials lässt einen den Film bei erneuter Betrachtung wieder unter neuen Gesichtspunkten betrachten. Er verliert aber nichts von seiner Faszination. Weitere Einsichten zu diesem und den anderen Filmen erhoffe ich mir von weiteren Sichtungen und von Clare Kitsons Buch "Yuri Norstein and Tale of Tales".
"Tale of Tales" wurde von Kritikern einer internationalen Jury 1984 und 2002 als greatest animated film of all time gekürt.
Ein bisschen schade finde ich, dass die Übersetzung der Titel fest bei den Credits eingeblendet wird. Gleiches gilt für die Untertitel, die ebenfalls nicht ausblendbar sind. Aber das kann den Filmgenuß nicht beeinträchtigen und sollte auch nicht vom Kauf dieser DVD abhalten. Im Gegenteil, toll, dass man die Möglichkeit hat, diese Werke zu sehen.
Gesehen auf DVD (RUS), Russisch DD 2.0 (Mono) mit englischen UT (fest), ~ 84 min (+ 15min)
#21
Geschrieben 28. September 2006, 23:42
(The Pied Piper of Hamelin)
Tschechoslowakei/ Deutschland 1985
Regie: Jiří Barta
"Der Rattenfänger von Hameln", die Sage nach den Gebrüdern Grimm dürfte jedem in etwa bekannt sein. Demnach erschien in der mittelalterlichen Stadt Hameln, die gerade von einer Rattenplage heimgesucht wurde, ein sonderbarer Mann, der versprach, gegen Entlohnung die Stadt von den Ratten zu befreien. Mit einem Lied auf seiner Flöte lockte er die Ratten an die Weser, in die sie hineinstürzten und ertranken. Da sich die Bürger von Hameln jedoch weigerten, den in Anspruch genommenen Dienst zu vergüten, kehrte der Rattenfänger später zurück um Rache zu üben. Mit seiner Flöte lockte er 130 Kinder aus der Stadt und verschwand mit ihnen für immer. "Krysař" ist eine leicht abgewandelte Adaption des Stoffes.
Schon der Beginn des Filmes vermittelt eine unheilschwangere, düstere Stimmung, die einem schnell bewusst macht, dass es sich hier nicht um ein Kindermärchen handelt. Die mittelalterliche Stadt sieht ein wenig aus, als hätte sie die expressionistischen Kulissen aus "Das Kabinett des Dr. Caligari" zum Vorbild gehabt. Elemente der gotischen Baukunst wie der Spitzbogen und die Gebäude an sich, werden schräg, verwinkelt und verzerrt dargestellt und bilden zusammen mit der unmelodischen Musik eine bedrohlich, artifizielle Umwelt wie man sie aus dem Expressionismus kennt. Mechanische Prozesse, die im Hintergrund laufen, scheinen den Aufgang der Sonne zu steuern. Mit den ersten Sonnenstrahlen schießen die Köpfe der Bewohner aus den Fenstern, wie der Kuckuck aus der Kuckucksuhr. Auf dem zentralen Markt und in den winkeligen Gassen herrscht ein emsiges Treiben. Im Takt klopft der Schmied sein Eisen, bearbeiten die Steinhauer Steinblöcke und auch die Handwerker der Holzbranche sägen, hobeln und bearbeiten ihr Holz, als wären sie mit dem Schwungrad einer Wilesco-Dampfmaschine verbunden. Die Zahnräder unter den Arbeitern mit der Quersäge bekräftigen den Eindruck, es seien Maschinen am Werk. Die Bewohner sind hässliche Geschöpfe, die dem Kubismus entsprungen sein könnten. Eckige, spitze und kantige Gesichter, nicht selten der Form eines Tieres angelehnt, sowie klotzartige Körper und Gliedmaßen kennzeichnen ihr Äußeres. Es handelt sich um aus Holz geschnitzte Figuren, genauer gesagt aus hartem Holz, was zu ihrem allgemeinen Erscheinungsbild passt. Auf dem Markt gehen sie Einkäufen nach und feilschen bis ihnen die Zornesröte ins Gesicht steigt. Obwohl von Allem genug vorhanden ist, werden die einzelnen Bewohner als geizige und raffgierige Menschen dargestellt, die Waren und Geld anhäufen. Den Figuren ist auch eine Sprache zueigen, die nicht aus verständlichen Worten besteht und teilweise den Lauten eines Tieres entspricht. Durch die Betonung und ihre eigene Art sagt sie nicht nur über den Charakter der Leute etwas aus, sondern fügt sich wunderbar in das düstere Gesamtbild. Als die erste Ratte auf der Bildfläche erscheint und sich über eine der Waren hermacht, wird sie auf der Flucht von der aufgebrachten Menge zu Tode geprügelt. Eine blutige Angelegenheit, die schonungslos gezeigt wird. Spätestens mit dieser Szene und dem nicht minder blutigen Schlachten diverser Nutztiere wird klar, dass man "Horror" hier auch mit als Genre für diese Adaption nennen kann. Die Ratten sind übrigens keine Puppen, sondern echte Ratten. Die Stadtoberen feiern überbordende Feste bei denen sie verschwenderisch mit Lebensmitteln umgehen. Entsprechend viele Reste auf dem Boden rund um die Tafel locken die Ratten in Scharen herbei. Es dauert nicht mehr lange und alle Bereiche der Stadt sind von einer Rattenplage befallen. Die Nager begnügen sich jedoch nicht mit Naturalien, sondern häufen ihrerseits in Höhlen Schätze an. Als die Plage ihren Höhepunkt erreicht, erscheint ein mit einem Umhang bekleideter Fremder, der verspricht, dem Treiben ein Ende zu bereiten. Nach einer kleinen Demonstration auf seiner Flöte, mit der er einige Nager aus dem Fenster treibt, wird eilig ein Papier aufgesetzt, das ihm eine stattliche Summer garantiert, sollte er seine Arbeit erfolgreich ausführen. Von den Bewohnern mit einer Mischung aus Furcht und Neugier beobachtet, marschiert der Fremde flötend durch die Gassen, gefolgt von einer steigenden Zahl an Ratten. Einen völligen Kontrast zum bisherigen Geschehen bilden die Margeriten auf einer Wiese, die dem Antlitz eines schönen Mädchens vorausgehen. Das Mädchen ist in ihrer Erscheinung gegensätzlich zu den anderen Figuren. Zarte und runde Formen betonen ihre Unschuld, die Szenerie wird von ebenso sanftem Gesang einer Frauenstimme begleitet. Das Mädchen wird allerdings von einem Verehrer bedrängt, der sie heiraten möchte. Die Flötenklänge des vorbeiziehenden Fremden vertreiben glücklicherweise auch den aufdringlichen Zeitgenossen, bevor er etwas anstellen kann. Hoch über der Stadt und dem Fluss springen die Ratten in ihr Verderben und ertrinken. Eine kurze Sequenz, in der ein farbloses Gemälde in bunten Farben neu erstrahlt, suggeriert womöglich die Aussicht auf einen Neubeginn, oder aber auch nur den kurzen Augenblick des Glücks und der Geborgenheit, den der Fremde und das Mädchen, gemeinsam auf einer Bank sitzend, empfinden.
In der Stadt hat sich allerdings nichts geändert, es wird gefressen und gesoffen, ordinärer als zuvor. In dieses Gelage platzt der Fremde mit der Forderung nach seiner Entlohnung. Statt der versprochenen 1000 Münzen rollt ihm ein alter Knopf auf dem Boden entgegen. Erzürnt wendet er sich ab. In gleicher Nacht vergewaltigen drei Trunkenbolde, unter ihnen auch der vermeintliche Verehrer, das Mädchen in ihrem Haus. Als der Fremde eintrifft, kann er nur noch ihren Tod feststellen. Der Fremde steigt in das höchste Gebäude der Stadt empor, jenes, das die vielen Zahnräder für die mechanischen Prozesse beherbergt. Dort muss er eine Art Pakt mit einer für diese Prozesse verantwortlichen Figuren geschlossen haben. Am Morgen stehen die Zahnräder still und der Fremde spielt seine Flöte. Die Einwohner verwandeln sich in Ratten und tun es den echten Ratten gleich. Sie folgen ihm zur gleichen Stelle und springen ebenfalls in ihr Verderben. Ein Fischer aus der nahe gelegenen Umgebung hat das Ereignis beobachtet und nähert sich dem Fremden. Der löst sich daraufhin im wahrsten Sinne des Wortes in Luft auf, sein Umhang entfleucht durch die Lüfte. Übrig bleibt eine leere Stadt, in der sich der Fischer umsieht. Plötzlich hört er ein weinendes Baby. Er nimmt es an sich und verlässt die Stadt.
Selbst in dieser düsteren Umgebung bleibt Platz für etwas Hoffnung.
Jiří Barta schafft in "Krysař" mit den aus Holz gefertigten Figuren, Gebäuden und Hintergründen eine faszinierende Welt. Die Umsetzung der Geschichte ist fesselnd und von einem düsteren Grundton. Das Lob gilt hier bei weitem nicht nur der Animation, sondern dem Film als geschlossenes Ganzes mit seiner sehr dichten Atmosphäre. Es gibt einige denkwürdige und besonders kraftvolle Szenen, wie z.B. beim Schlachter oder als das Mädchen umgebracht wird. Auch die Fratzen der einzelnen Figuren und deren individuelle "Sprache" beeindrucken. Überhaupt ist die Musik/Vertonung hier großartig gelungen. Meisterlich!
Gesehen auf DVD (US), DD 2.0, ~53 Minuten.
#22
Geschrieben 14. Oktober 2006, 13:51
Breaking of Branches is Forbidden
Japan 1968
Regie: Kihachiro Kawamoto
Ein junger, angehender Mönch erhält von seinem alten Meister den Auftrag, während dessen Abwesenheit einen blühenden Kirschbaum zu bewachen. Der alte Mann verlässt den von einer Mauer umgebenen Garten. Wenig später erblicken ein Samurai und sein Diener den in voller Blüte stehenden Baum und fordern Einlass in das Tempelgelände um dort zu rasten. An die Worte des Meisters erinnert, verwehrt ihnen der junge Mönch den Zutritt. Als der Geruch von Sake, den der Samurai und sein Diener trinken, über die Mauern zieht, wird die Standhaftigkeit des Mönchs einer harten Probe unterzogen, denn selbiger fühlt sich davon magisch angezogen.
Der erste Animationsfilm Kawamotos ist eine heitere Angelegenheit.
The Demon
Japan 1972
Regie: Kihachiro Kawamoto
Es war einmal weit entfernt vor langer Zeit, da lebten zwei Brüder zusammen mit ihrer alten Mutter. Sie waren Jäger und zogen eines Nachts los, um Rehe zu jagen. Einer der beiden Brüder wartet auf einem Baum, der andere am Boden auf die Beute. Plötzlich greift aus dem Baumwipfel ein Arm den jüngeren Bruder am Schopf. Sein Bruder am Boden greift nach Pfeil und Bogen. Nachdem er die Nervosität überwunden hat, zielt er über den Kopf seines Bruders und trennt mit einem Schuss die Hand des vermeintlichen Dämons ab. Sein Bruder ist unverletzt. Hinter dem Arm verbirgt sich jedoch eine schreckliche Wahrheit…
"The Demon" basiert auf einer Geschichte aus der Sammlung "Konjaku Monogatari" aus dem 12. Jahrhundert.
Die Puppen werden vor großen, feinen zweidimensionalen, mehr oder weniger zweifarbigen Hintergründen – schwarz für die Nacht und gold-beige für Bäume, Blätter, Natur und Behausung - bewegt. Zwischentitel bringen die Geschichte voran, traditionelle japanische Musik begleitet das Geschehen. (Ich denke, dass es sich um Shamisenmusik handelt)
Kihachiro Kawamoto erzeugt mit diesem Film in wenigen Minuten eine gruselige Stimmung, wie man sie z.B. in "Onibaba" erlebt.
The Travel
Japan 1973
Regie: Kihachiro Kawamoto
Eine junge japanische Frau befindet sich auf einer Reise um die Welt zu erkunden. Am Zielflughafen begegnet sie einem Blinden, dessen Hand sie nimmt um ihn zu führen. Im nächsten Bild wird jedoch sie vom Blinden geführt, durch eine surreale Welt, die einem Gemälde gleicht. Der Blinde stürzt sich von einem Turm in die Tiefe. Die Bilder machen deutlich, dass es sich um eine innere Reise handelt, die traumähnlich auf einer anderen Ebene stattfindet. Gefühlszustände werden verbildlicht und symbolträchtige Begegnungen finden statt. Auf ihrer Wanderung begegnet die junge Frau unter anderem gesichtslosen Soldaten, Panzern und einer Skulptur eines Mannes, der für sie von Bedeutung sein wird oder war, sieht sich selbst als alte Frau und steht im Mittelpunkt vieler weiterer metaphorischer Bilder.
Der Anfang und das Ende des Filmes bestehen jeweils aus realen Bildern, schwarz-weiß Photos der jungen japanischen Frau inmitten einer Menschenmasse untermalt von Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge.
Wie an den Bildern unschwer zu erkennen ist, handelt es sich natürlich nicht um einen Puppenanimationsfilm, sondern einen "cut out" (kirigami) Animationsfilm.
Kihachiro Kawamoto äußert sich hinsichtlich der Thematik dieses Films und beschreibt diese zentral als Leben des Leidens. Buddha sagt, dass Leben gleich Leiden ist und es vier grundlegende Leiden gibt: Geburt, Krankheit, Altern und der Tod. (…) Es gibt vier weitere Leiden über die Buddha gesprochen hat, die da wären: Leute treffen zu müssen, die man lästig findet, von einem Nahestehenden getrennt zu sein, die Dinge, die man begehrt, nicht zu bekommen sowie die Leiden des Geistes und des Körpers. Um diese Leiden loszuwerden muss man einen Zustand der Erleuchtung ("Satori") erreichen. Das ist das Thema von "The Travel". (…) [Kawamoto sinngemäß in einem Interview]
Kawamoto, der unter Jiri Trnka 1963 in Prag die Kunst der Puppenanimation studierte, hat die Niederschlagung des Prager Frühling 1968 und das Leid vieler Leute miterlebt. Die Panzer und Soldaten im Film erinnern daran.
A Poet’s Life
Japan 1974
Regie: Kihachiro Kawamoto
Nach einer Kurzgeschichte von Kobo Abe
Ein Arbeiter beschwert sich in einem Brief bei seinem Chef über die Entwicklung im Betrieb. 50 Leute wurden entlassen, die Arbeit dieser Leute den verbleibenden aufgebürdet und die Zügel gar noch enger gezogen. Dank dieser Methoden wurde ein Profit von 50 Million Yen erzielt. Am Ende des Briefes fragt der Arbeiter, wann die Gehälter erhöht würden. Daraufhin wird er gefeuert. Zuhause sitzt die Mutter am Spinnrad. Gezeichnet von der Armut ist sie nur noch Haut und Knochen. Sie gerät mit ihrem Arm in das Spinnrad, wird eingezogen und verwandelt sich in Garn. Eine Nachbarin holt das Garn ab und strickt daraus eine Jacke. Unterdessen versucht der Arbeiter mit Worten auf Handzetteln die Herzen der verbliebenen Angestellten zu erwärmen. Die Nachbarin schafft es trotz intensiver Bemühungen nicht, die Jacke an den Mann zu bringen, da die Leute schlichtweg zu arm sind. So landet die Mutter in Gestalt der Jacke im Regal des Pfandhauses, wo die Regale mit Jacken gefüllt sind. Als das Pfandhaus keinen Platz mehr für Jacken hat, erhält der Chef, der oberhalb der Stadt residiert, einen Anruf. Sein Lösungsvorschlag sieht vor, irgendwo einen Krieg zu beginnen und die Jacken zu exportieren. Von der Armut deprimiert verloren die Leute, die nicht mehr in der Lage waren, sich eine Jacke zu leisten, jegliche Hoffnung und Träume. Der Winter kam. Die Träume, die Hoffnung und der Lebenshauch, der sich in Luft aufgelöst hatten, formten eine Wolkendecke, die die Sonne verdeckte und den Winter noch kälter erschienen ließ. Eines Tages begann es zu schneien und hörte nicht mehr auf. Der Schnee war kein gewöhnlicher Schnee, sondern die Träume, Hoffnungen und die Seelen der Menschen in kristallisierter Form.
Die schreckliche Kälte unterscheidet nicht zwischen arm und reich und so erstarren alle.
Im Pfandhaus will eine schwangere Ratte ihre Jungen zur Welt bringen und krallt beim Versuch ein Nest zu bauen versehentlich in den Garn, der aus dem Herzen der alten Frau gemacht ist. Die Jacke färbt sich rot. Auf einmal hört es zu schneien auf. Die Jacke schwebt aus dem Pfandhaus zu dem ebenfalls von der extremen Kälte erstarrten Sohn und legt sich um ihn. Er erwacht plötzlich mit der Gewissheit, ein Dichter zu sein, dessen Aufgabe es ist über den Schnee, also die Träume, Hoffnungen und die Seele der Menschen zu schreiben. Die Sonne kam wieder durch die Wolken und der Schnee begann zu schmelzen. Die Pfandhäuser hatten ihre Besitzer verloren und wurden geöffnet. Alle Jacken wurden verteilt. Mit den Jacken kehrte das Lachen wieder auf die Gesichter der Leute zurück. Mit der letzten geschmolzenen Schneeflocke war auch das Werk des Dichters beendet.
Auch dieser Film ist ein kirigami Animationsfilm. Kawamoto war angeblich mit seinen cut out Filmen nicht so völlig zufrieden, weshalb er nach "A Poet’s Life" keinen Film dieser Art mehr fertigte. Warum er dieser Ansicht ist, erschließt sich mir nicht, da mir die beiden Filme sehr gut gefallen haben. Die Farben sind bis auf die rote Jacke in grau-braun Töne gehalten, Zwischentitel erzählen neben den Bildern die Geschichte. Stimmige Pianomusik ist mehrmals im Film zu hören. Die Thematik des Films ist heute leider aktueller denn je.
Dojoji Temple
Japan 1976
Regie: Kihachiro Kawamoto
Ein alter Mönch und sein junger Gefolgsmann befinden sich wie viele andere auch auf einer Wallfahrt nach Kumano. Des Abends erbitten sie Einlass in eine Hütte am Wegesrand. Eine junge Frau öffnet ihnen. Als sie das Gesicht des jungen Mannes erblickt, verliebt sie sich leidenschaftlich. Nachts schleicht sie sich in den Schlafraum des jungen Mannes, der ihren Reizen kaum widerstehen kann. Um der Situation Herr zu werden, gebraucht er eine Notlüge und verspricht der Frau, nach seiner Pilgerreise zu ihr zurückzukehren. Nach einiger Zeit findet die junge Frau heraus, dass sie sich hat täuschen lassen. Schockiert hastet sie auf den Spuren des jungen Mannes, um ihn einzuholen. Schließlich findet sie die beiden Pilger, ihr Gesicht erscheint dem jungen Mann als das eines Dämons. Alles Flehen hilft nichts, der junge Mönch flüchtet über den tosenden Fluss Hidaka. Den Bootsmann, der ihm die Überfahrt ermöglichte, beschwört er, seine Verfolgerin nicht über den Fluss zu bringen. Mit blutigen Füssen erreicht diese wenig später den reißenden Strom. Da sie auf die Hilfe des Bootsmannes nicht zählen kann, springt sie in die Fluten, wo sie sich in ein feuerspeiendes Wesen, einer Kreuzung aus Drache und Schlange gleichend, verwandelt. Der junge Mönch erreicht den Dojoji Tempel und weiht die anwesenden, alten Mönche in seine Geschichte ein. Diese schließen die Tore des Tempels und verstecken ihn unter einer riesigen Glocke. Die bewachten Tore des Tempels können das Wesen nicht aufhalten, außerdem scheint es den jungen Mönch zu wittern. Zielstrebig schlängelt sich das drachenartige Schlangenwesen zu der Glocke und schmiegt sich fast zärtlich um sie. Dabei speit es Feuer und bald steht rundherum alles in Flammen, blutrote Tränen kullern aus den Augen des Wesens. Nach einer Weile kriecht es von dannen und nimmt am Fuße des Tempels wieder Menschengestalt an. Am Fluss Hidaka stürzt sich die junge Frau in die Fluten. Die alten Mönche heben die Glocke und finden bloß noch das Skelett des jungen Mönchs vor, in betender Haltung. Der erste Windstoß bläst die Asche davon.
Wahnsinn, wie dramatisch und intensiv diese Filme sein können. Gefühlsregungen werden durch die Mimik und Gestik der Puppen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht und die Bewegungen äußerst realistisch dargestellt. Wie schon bei "Breaking Branches is Forbidden" und später "House of Flames" bestehen die Hintergründe aus schönen mit Wasserfarben gemalten Bildern.
House of Flames
Japan 1979
Regie: Kihachiro Kawamoto
Auf seinem Weg in die Hauptstadt kommt ein Pilger in das Dörfchen Ikuta. Er hatte davon gehört, dass sich dort ein uraltes Denkmal befinden soll, Motome-zuka – des Suchers Hügel. Am Fluss des Dorfes trifft der Pilger auf ein Mädchen, das ihn zum Hügel führt. Dort angekommen fragt er, was es mit den Steinen auf sich hat. Das Mädchen erzählt ihm die Geschichte.
Vor 500 Jahren lebte die schöne Unai-otome hier. Eines Frühjahrs verlor der junge Dichter Sasada-onoko aus Settsu sein Herz an das hübsche Mädchen. Zur gleichen Zeit fing das Herz des Kriegers Chinu-no-masurao ebenfalls Feuer für Unai-otome. Beide Verehrer übermittelten ihr Briefe, in denen sie ihre Liebe gestanden. Sie war hin- und hergerissen, wusste nicht für wen sie sich entscheiden sollte. Egal wen sie auch wählte, einer der beiden hätte zu leiden. Unai-otome brachte es nicht übers Herz einem der beiden wehzutun und wählte den Freitod. Die Dorfbewohner begruben sie am Hügel. Am darauf folgenden Abend trafen sich die beiden Verehrer an Unai-otomes Grab. Im Schicksal vereint beschlossen sie ihrer Trauer und damit ihrem Leben gegenseitig ein Ende zu bereiten. Sasado-onoko und Chinu-no-masurao liegen neben Unai-otome begraben.
Auch wenn Unai-otome mit ihrem Selbstmord nur gute Absichten im Sinn hatte, blieb ihr der Frieden verwehrt. Stattdessen war ihre Seele im Haus der Flammen eingesperrt. Im Fegefeuer machten sich eiserne Enten mit brennenden Schnäbeln an ihrem Hirn zu schaffen, wieder und wieder über fünf Jahrhunderte lang.
Waren es die Gebete des Pilgers, die das Mädchen aus den Tiefen der Hölle haben emporsteigen lassen? Oder war es nur ein Traum, aus dem er im Morgengrauen erwacht ist?
"House of Flames" basiert auf einem klassischen Stück des Nō-Theaters und weiß durch eine fesselnde und atmosphärische Geschichte zu beeindrucken.
To Shoot without Shooting
Japan 1988
Regie: Kihachiro Kawamoto
Basiert auf "Meijin-Den" von Atsushi Nakajima
Vor langer Zeit in China, in der Stadt Han Dan, trug sich ein junger Mann namens Ji Chang seit seiner Kindheit mit nur einem Gedanken, der beste Bogenschütze zu werden, den es je gegeben hat. Er war auf dem Weg zu Fei Wei, einem meisterlichen Schützen. Der traf aus 100 Schritten ein gekennzeichnetes Blatt eines Weidenbaumes, zu schnell als dass es das Auge sehen konnte. Kein Wunder, dass Ji Chang der Schüler von Fei Wei werden wollte. Fei Wei war jedoch der Meinung, dass es für Ji zu früh wäre, Hand an einen Bogen anzulegen. Erst solle er lernen, nicht zu blinzeln. Wenn er mit offenen Augen schlafen könne, dann dürfe er wieder kommen. Zwei Jahre später ist Ji soweit und berichtet Fei Wei davon. Die Zeit sei noch nicht reif, meint dieser. Er müsse lernen zu sehen. Er müsse in der Lage sein, die kleinsten Dinge in seinen Augen groß erscheinen zu lassen. Drei weitere Jahre vergehen, in denen Ji Chang seine Fähigkeiten ausbaut, seine Sinne schärft. Er kehrt zurück zu Fei Wei und informiert ihn von seinem Fortschritt. Zum Beweis schießt Ji Chang ein markiertes Blatt von einer Weide. Fei Wei ist zufrieden mit Ji Chang. Von diesem Tag an lehrt er ihn die Geheimnisse seiner Kunst. Schon in kürzester Zeit ist Ji Chang einer der besten Bogenschützen der Welt. Fei Wei kann ihm nichts mehr beibringen. Als Belohnung für seine Leistungen schenkt er Ji einen Bogen. Ji Chang macht sich wieder auf den Weg, grübelt aber über die Aussage, er sei einer der besten Bogenschützen. Er will als der beste Schütze der Welt bekannt sein. Bald sollte er die Chance bekommen, als er seinen Ausbilder wieder trifft und angreift. Fei Wei erwidert selbstverständlich das Feuer, doch keiner der Pfeile erreicht den anderen. Die Geschosse treffen sich stets in der Mitte und fallen zu Boden. Als Fei Wei seine Pfeile verschossen hat, bleibt Ji noch ein tödlicher Pfeil, den Fei allerdings mit seinen Zähnen fängt. Ji überkommt ein Gefühl der Reue und auch der Ärger des Meisters ist schnell vergessen ob des Beweises seiner neuen Fähigkeit. Wenn Ji Chang Perfektion erreichen wolle, müsse er bei dem alten Meister Gan Ying studieren. Im Vergleich mit seinen Fähigkeiten wären die ihrigen das reinste Kinderspiel. Und so macht sich Ji Chang abermals auf die Reise. Hoch in den Bergen wohnt der alte Meister, dessen Alter vielleicht hundert Jahre oder mehr zählt. Ji Chang führt Gan Ying seine Fähigkeiten vor, indem er mit einem Schuss zwei Gänse vom Himmel holt. "Ein einfacher Schuß", meint der Alte und fährt fort, Ji habe noch nicht gelernt zu schießen ohne zu schießen. Ji steigt mit dem Alten auf den Gipfel des Berges, wo der Meister tatsächlich ohne Pfeil und Bogen einen Vogel schießt. Der Vogel ist nicht tot, sondern nur vom Himmel gefallen. Als ihn der Meister aufhebt, fliegt er wieder davon. Erst jetzt wird Ji Chang das wahre Wesen dieser Kunst bewusst. 9 Jahre studiert er unter Gan Ying. Schließlich kehrt er aus den Bergen in seine Stadt zurück, wo er von den Bürgern mit Applaus empfangen wird. Alle freuten sich auf eine Demonstration seiner Fähigkeiten. Fei Wei erkennt den Ausdruck auf Jis Gesicht und attestiert ihm jetzt ein wahrer Meister zu sein. Was die Vorführung seines Könnens betrifft, macht Ji keinerlei Anstalten sie zu zeigen. Bald kommen Gerüchte auf. Ein Dieb, der in Ji Changs Haus einbrechen wollte und dabei scheiterte, berichtet von einer sonderbaren Energiewelle, die ihn niedergestreckt habe. Ein Händler will Ji in Begleitung von zwei uralten Meistern des Bogenschießens auf Wolken reitend gesehen haben. Die folgenden 40 Jahre war Ji Chang der Stolz der Stadt, der Meister, der nie einen Bogen berührte. Er sagte: "Die größte Tat ist vom Gefecht abzusehen.", "Die Essenz der Sprache ist Schweigen.", "Das Höchste im Bogenschießen erfordert keinen Schuss." "Schießen ohne zu schießen."
Eines Nachts an Ji Changs Lebensabend wurde der alte Meister zu einem Freund eingeladen. Im Eingangsbereich fiel Ji ein wunderliches Gerät auf, welches ihm vage bekannt zu sein schien. Also fragt er, was das sei. Sein Freund vermutet er habe im Spaß gesprochen, doch Ji Chang bekräftigt seine Frage. Der Freund weiß nicht so recht, was er sagen soll, doch als Ji abermals wissen will, was es mit dem Gerät an der Wand auf sich habe, antwortet er erstaunt: "Das ist euer Bogen, Meister!"
Der größte Bogenschütze aller Zeiten hatte den Namen seines Werkzeugs vergessen. Der alte Meister hatte alle Gedanken an das Schießen schon lange hinter sich gelassen. In seinem Herzen herrschte ein Frieden mit der Welt vor. Ji Chang lebte und starb in Frieden.
A word from the director for "To Shoot without Shooting": (…) The hero of this story derived from Chinese tradition is Ji Chang, an adapt in archery who in the end forgets that such a weapon as a bow exists. This philosophical concept from ancient China is filled with significance for us and for all of our fellow mankind living in today’s atomic age. The theme of the film is intended to suggest a pattern of human intelligence serving the interest of peace. In addition to this theoretical aspect, the actual work of creating the film was a positive and forward-looking example of international collaboration and cooperation between Chinese and Japanese artists and technicians who employed their talents in a practical, concrete manner to strengthen universal understanding, and further the ideal of world peace.
Kihachiro Kawamoto 1990
Auch hier wurde eine tolle Geschichte mittels Puppen in Szene gesetzt. Großartig!
Briar-Rose or The Sleeping Beauty
Japan 1990
Regie: Kihachiro Kawamoto
Nach dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm
Weil zur Taufe der Prinzessin eine Fee nicht eingeladen wurde, rächt sich diese mit einem Fluch an der kleinen. An ihrem 15. Geburtstag soll sie sich an einer Spindel stechen und sterben. Wie wir alle wissen, wird die Strafe noch abgemildert, in den 100jährigen Schlaf. Die Spinnräder wurden verbrannt und von da an verließ die Mutter der Prinzessin den Palast nie wieder. Sie wurde bleich und ihr Lachen ward nicht mehr vernommen und doch war ihre Schönheit unerreicht. An ihrem 15. Geburtstag findet die junge Prinzessin durch Zufall – sie sieht zum ersten Mal ein Spinnrad und stößt an die Spindel, die hinunterfällt und zu einer Truhe rollt - ein Tagebuch ihrer Mutter, in dem das Geheimnis ihrer ersten Liebe geschrieben steht. An dieser Stelle, wo sich die Prinzessin eigentlich an der Spindel stechen sollte, wird hier das Märchen abgewandelt. Die Prinzessin macht sich auf in den Wald, um den ehemaligen Geliebten ihrer Mutter zu treffen und für ihre Mutter um Vergebung zu bitten. Dafür ist sie sogar bereit, ihre Unschuld zu opfern.
Die Geschichte wird aus der Sicht der Prinzessin erzählt. Die Abwandlung des Märchens hat mir sehr gut gefallen, sie nimmt der Geschichte nicht den Zauber, erweckt aber auch nicht unbedingt den Anschein, ein klassisches Märchen zu sein, sondern gibt der Sache einen realistischen Anstrich. Die clevere Variation von Dornröschen wurde im Studio Jiřího Trnky in Prag gefilmt. Dafür wurden keine japanischen Puppen verwendet, auch die Hintergründe und die schöne Musik entsprechen dem Stil der tschechischen Puppenanimationsfilme. Einzig die Erzählstimme der Prinzessin ist eine (sehr angenehme) japanische.
Intelligente, fesselnde, lehrreiche und unterhaltsame Geschichten, die auf verschiedenen traditionellen Formen des japanischen Theaters, wie Nō, kabuki oder bunraku basieren, werden von Kihachiro Kawamoto auf eine faszinierende Weise in seinen Puppenanimationsfilmen und den beiden kirigami Animationsfilmen meisterlich erzählt.
Auch vor diesem Künstler kann man sich als Freund des Animationsfilmes nur verneigen und den Hut ziehen. Ein Meister seines Fachs. Die Filme sind Juwelen des Genres.
Gesehen auf DVD (J), Japanisch DD 2.0 mit englischen Untertiteln, ~151 Minuten.
#23
Geschrieben 10. Dezember 2006, 00:25
Myest kinematografichyeeskovo operator
Russland 1912
Regie: Ladislas Starewitch
Das Leben des Herrn Käfer und seiner Frau ist ruhig – zu ruhig. Aus diesem Grund zieht es den Herrn des Hauses in die Stadt, präziser gesprochen in den Nachtclub "Zur fröhlichen Libelle". Bei Tanz und Trank lässt es sich eben leben. Die Darbietung der schönen Libelle hat es Herrn Käfer besonders angetan. Vom Anblick des Liebespaares ungerührt, das die Libelle und der Grashüpfer zur Schau tragen, nimmt Herr Käfer die Position seines Rivalen ein, indem er sich des Grashüpfers gewaltsam entledigt. Letzterer hatte gegen den bulligen Herrn Käfer im Kampf keine Chance, setzt indes einen Plan der Rache eilends in die Tat um, indem er die Affäre seiner Freundin mit Herrn Käfer mittels seiner Kamera auf Zelluloid bannt. Der Grashüpfer folgt dem Pärchen auf seinem Fahrrad bis ins Hotel d`Amour, wo sich die Beiden ein Zimmer nehmen.
Unterdessen ereignet sich im Hause Käfer eine erwähnenswerte, wenngleich nicht unbekannte
Geschichte. Wer dachte, Frau Käfer würde sehnsüchtig auf ihren Mann warten, der ist auf dem Holzweg. Nachdem ihr Gemahl die Wohnung verlassen hat, lässt sie nach ihrem Freund, einem Künstler, schicken. Zusammen mit einem Gemälde erscheint dieser wenig später bei Frau Käfer. Während sich die Zwei leidenschaftlich küssend auf dem Sofa vor dem Kamin vergnügen, befindet sich Herr Käfer von seinem außerehelichen Abenteuer auf dem Nachhauseweg. Herr Käfer fackelt nicht lange als ihm die Türe nicht postwendend geöffnet wird und drischt selbige aus den Angeln. In Panik flüchtet der Künstler durch den Schornstein, doch das Gemälde und ein Hut bringen Frau Käfer in Erklärungsnot. Der heuchlerische Ehegatte nimmt das zum Anlass um seiner treulosen Gemahlin eine Szene zu machen, bietet ihm sich doch dadurch die Möglichkeit, seine Eskapaden ins Abseits zu schieben und sich zugleich als ein generöses Geschöpf darzustellen, sollte er seine Frau wieder zurücknehmen. Genau so trägt es sich dann auch zu. Zum Zeichen der Versöhnung lädt er seine Frau ins Kino ein. Was er nicht ahnen kann, hinter dem Projektor steht der rachedurstige Grashüpfer mit der Premiere eines ganz speziellen Filmes. Und so kommt auch Frau Käfer in den „Genuß“ das Abenteuer ihres Mannes miterleben zu dürfen – zusammen mit dem Rest des Publikums auf großer Leinwand. Es bedarf wohl keiner besonderen Erklärung, warum Frau Käfer außer sich vor Wut, ihren Mann mit dem Regenschirm schlagend, vor sich hertreibt. Der ist auf dem Weg zu dem seiner Meinung nach für die Tracht Prügel verantwortlichen, den Lichtbildwerfer bedienenden Grashüpfer. In der finalen Keilerei geht der Projektor samt Bildmaterial in Flammen auf, womit zugleich gesichert ist, dass die Premiere des Films auch die letzte Vorstellung gewesen ist.
Erschöpft von der Rauferei und den Ereignissen des Tages, vergibt schließlich auch Frau Käfer ihrem Mann. Es bleibt die Hoffnung, dass das Leben des Ehepaares Käfer in Zukunft wieder in ruhigeren Bahnen verläuft.
Der in Polen geborene Ladislaw Starewicz hatte schon früh ein Interesse an Insekten. Einige Quellen besagen, er sei der Mitbegründer eines Museums für Naturgeschichte gewesen. Er hätte gerne Dokumentarfilme über echte Insekten gedreht, allein es fehlten ihm die Mittel. Also animierte er Modellinsekten und drehte später mit der Unterstützung seiner Tochter viele weitere Puppenfilme.
Sein Interesse an und Wissen über Insekten ist sicher ein gewichtiger Grund, warum er ein solch großes Augenmerk auf Details legte und der Realismus im Fordergrund steht. Zwar sind die Tiercharaktere in ihrem Handeln und durch diverse Gesten vermenschlicht, allerdings im Aussehen naturgetreu belassen, Auftreten und Bewegungen werden äußerst realistisch dem bzw. denen der Vorbilder der Natur nachempfunden. Herausgekommen ist ein außerordentlich unterhaltsamer und höchst amüsanter Film, in dem typische Situationen der menschlichen Gesellschaft in das Tierreich übertragen beziehungsweise beide Welten vermengt werden. Die wundervoll animierten Insekten erzielen eine ganz eigene Wirkung und das obwohl oder gerade weil sie wirklichkeitsgetreu in ihrer Gestalt direkt aus der Natur in die neue Umgebung gebracht worden sein könnten. Die Thematik und die damit einhergehende Vermenschlichung wurden von Starewicz durch seine Animation ungeheuer liebenswert und charmant in Szene gesetzt. Man kann sich kaum satt sehen. Als Beispiel sei eine Szene genannt, in der Frau Käfer auf ihren Freund den Künstler wartet. Der Hausdiener (ein Hirschkäfer), der schon zu Beginn den Hausherrn in die Stadt chauffiert hat, schleppt Holz an um den erlöschenden Kamin neu zu befeuern. Danach schiebt er das Sofa vor den Kamin und verbeugt sich artig vor Frau Käfer bevor er von dannen schleicht. Frau Käfer nimmt in lasziver Pose auf dem Sofa platz und wartet auf ihren Liebhaber. Hier wird die Liebe zum Detail deutlich, es hätte aber praktisch jede Szene herangezogen werden können, um sie hervorzuheben. Bemerkenswert ist auch die Vorführung des Filmes im Kino, bei der tatsächlich die Szenen zu Beginn auf der Leinwand zu sehen sind.
Die tierischen Attribute werden von den menschlichen nie vollends verdrängt, sie verschmelzen oder ergänzen sich zuweilen. Dementsprechend läuft der Käfer die meiste Zeit auf zwei Beinen, ab und an macht er von allen Beinen Gebrauch. Fällt er im Kampf auf den Rücken, also den Panzer, dann hat er Schwierigkeiten wieder umgehend aufzustehen.
Wie bei vielen Stummfilmen der Fall, sind auch hier die Bilder in unterschiedlichen Farbtönen eingefärbt. Begleitet wird der Film von schöner Musik, zusammengestellt von Robert Israel.
Rozhdyestvo obitateli lyesa
Russland 1913
Regie: Ladislas Starewitch
Der Weihnachtsmann hängt als Christbaumschmuck am Baum. Um einen Weihnachtsbaum für die Bewohner des Waldes zu machen, steigt er vom Baum und zieht in die verschneite Landschaft hinaus. Mit Hilfe magischer Kräfte zaubert er einen Christbaum herbei. Persönlich lädt er Käfer, Libellen, andere Insekten und auch den Frosch ein, gemeinsam mit ihm das Weihnachtsfest zu feiern. Freudig versammeln sich alle unter dem Baum und werden vom Weihnachtsmann mit Geschenken beschert. Danach fahren die Insekten mit Skiern umher und freuen sich der gemeinsamen Zeit. Der Frosch hat die Bescherung verpasst und macht einem Käfer das Geschenk streitig. Es reißt in der Mitte entzwei und aus einer Wolke steigt die Nachricht gen Himmel: "Froehliche Weinachten (sic)". Am Frühen Morgen kehrt der Weihnachtsmann wieder zu seinem angestammten Platz am Christbaum zurück.
In dieser Geschichte sind die mittlerweile bekannten Insekten wieder animiert zu sehen, zu ihnen gesellen sich noch der Weihnachtsmann, ein Frosch und eine Puppe. Die Geschichte ist sehr einfach gestrickt, vermag aber eine weihnachtliche Stimmung zu vermitteln. Die unter dem Baum schlafende Puppe, durch eine herabfallende Christbaumkugel kurzzeitig geweckt, erschien mir als eine phantasievolle Idee.
Les grenouilles qui demandait un roi
Frankreich 1922
Regie: Ladislas Starewitch
Es war einmal im Froschland, da lebten die Frösche ein reichhaltiges Leben und waren doch unzufrieden mit ihrer Regierung. So beriefen die weisesten Frösche eine Sitzung ein und kamen zu dem Ergebnis, Jupiter um einen König zu bitten. Jupiter schickte einen Blitz gen Erde, der von einem Baum einen Stumpf übrig ließ. Der sollte der König der Frösche sein. Freudig bildeten die Frösche ein Empfangskomitee um den König willkommen zu heißen. Der leblose Wurzelstock kann die Frösche allerdings nicht lange faszinieren und so fordern sie von Jupiter Ersatz. Gereizt schickt Jupiter einen Storch zu den Fröschen, der ihr neuer König sein soll. Begeistert wird der neue König empfangen. Mit einer Parade ehren die Frösche ihren neuen Gebieter. Es ist alles bereit für die Übergabe des goldenen Schlüssels als der Storch plötzlich den Überbringer bei lebendigem Leib verspeist. Panik bricht unter den übrigen Fröschen aus. Verzweifelt flehen die Frösche noch einmal Jupiter an, er möge sie doch ihres Königs entledigen. Jetzt reicht es Jupiter endgültig, erzürnt sendet er ein Donnerwetter ins Reich der Frösche. Das Lebewohl eines Frosches beschließt die Geschichte und hört sich folgendermaßen an:
"Dear Friends, before I make my slide
Into this greedy stork’s inside,
Give ear unto my parting
moan ~
Moral: Let well enough
alone."
"The Frogs Who Wanted a King" ist eine politische Satire die vor allem durch
den in den poetischen Zwischentiteln enthaltenen Sprachwitz besticht. Eine Kostprobe ist der Abschied des Frosches, der gleichzeitig die Moral der Geschichte verkündet. Der Hunger des Storchs und die Folgen überraschen dann doch in seiner Deutlichkeit. Die Schadenfreude konnte ich nicht verbergen, denn eigentlich bekommen die Frösche, was sie verdienen. Ein sehr amüsanter Film.
La voix du rossignol
Frankreich 1923
Regie: Ladislas Starewitch
Es war einmal ein kleines Mädchen und ein kleiner Vogel. Das Mädchen spielte draußen mit einer Puppe, die sie etwas unglücklich auf einem kleinen Käfig ablegte. Eine Nachtigall gerät bei der Jagd nach einer Fliege zufälligerweise in den wohl für eine Maus gedachten Käfig in Gefangenschaft. Dabei fällt die Puppe zu Boden und geht zu Bruch. Da die Nachtigall den Spielgefährten des Mädchens zerstört hat, soll sie an dessen Stelle treten und ihr neues Kinderspiel sein. Als Märchenvogel singt die Nachtigall um die Träume des Kindes zu verzaubern. Anfangs singt der Vogel die schönen Legenden, die er im Reich der Blumen gelernt hat, später von seinem Leben als Troubadour. Eines schönen Frühlingsabends traf er ein Weibchen, das seine Zukünftige sein sollte. Sie verlobten sich, heirateten und auch der Nachwuchs ließ nicht lange auf sich warten. Familie Nachtigall war glücklich, bis Mama von einem Pfeil eines spielenden Jungen getroffen aus einem Baumwipfel fällt. Papa Nachtigall sucht tagelang nach ihr, während der Nachwuchs hungrig und verängstigt im Nest nach den Eltern verlangt. Die Suche scheint vergebens, als Papa Nachtigall in eine hinterlistige Falle tappt.
Das Mädchen kann das Lied der Nachtigall noch immer hören, als es aus ihren Träumen erwacht. Es hatte gelernt, dass Vögel kein Spielzeug sind und dass sie Leid empfinden wie echte Menschen. Einsichtig entlässt die Kleine den Vogel wieder in die Freiheit, wo Mama Nachtigall, die den Pfeilangriff unbeschadet überstanden hat, schon auf ihn wartet. Die Nachtigall flog nicht ohne ein Zeichen ihrer Dankbarkeit davon. Am nächsten Tag sitzt das Kind wieder auf der Wiese und spielt, nur diesmal singt es dazu mit schöner Stimme. Die Nachtigall hatte dem Mädchen ihre Stimme geliehen.
Und das ist der Grund, warum die Nachtigall am Tage schweigt. Nur des Nachts, wenn kleine Kinder schlafen, erlangt sie ihre wunderschöne Stimme wieder.
"Voice of the Nightingale" verbindet Live Action mit Animationskunst. Den Part des kleinen Mädchens übernimmt Starewiczs Tochter Nina. Das Bildmaterial wurde handkoloriert, so dass es ein wenig den Anschein hat, es handele sich um einen Farbfilm.
Die Sets für die Animationen sind besonders prächtig gestaltet und unterstreichen in Verbindung mit der Musik den märchenhaften Charakter der Nachtigall im Traum des kleinen Mädchens. Untermalt wird das Geschehen von sanfter klassischer Musik bestehend aus Flöte, Streichern und Piano. Die Zwischentitel wurden ebenfalls sehr kunstvoll gestaltet. Die Moral der Geschichte könnte man mit dem Motto „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg’ auch keinem andern zu!“ zusammenfassen. Sie wird auf eine leichte Art und Weise in ansprechender audio-visueller Verpackung präsentiert.
(The Town Rat and the Country Rat)
Frankreich 1926
Regie: Ladislas Starewitch
nach Jean de la Fontaine
Den Film über das Treffen der Ratte der Stadt und der Ratte vom Land gibt es auch in einer eingefärbten Fassung, da allerdings ohne Ton und der ist bei den Festivitäten und den musikalischen Einlagen nicht unwichtig. Die Ratten verhalten sich so verrückt, dass ich stellenweise nicht mehr aus dem Lachen gekommen bin.
Le Roman de Renard
(The Tale of the Fox)
Frankreich 1931
Regie: Ladislas Starewitch
Nach der Fabel von Jean de la Fontaine
Renard der Fuchs zieht durch die Lande und legt andere Tiere mit seiner Durchtriebenheit ein ums andere Mal aufs Kreuz. Ob harmlose Schmeicheleien oder utopische Versprechungen, dem Fuchs ist dabei jedes Mittel recht, um sein Ziel zu erreichen. Meist sorgt er überdies noch dafür, dass seine Widersacher nicht nur den Schaden haben, sondern auch noch eine Tracht Prügel beziehen. Der Rabe kann sich glücklich schätzen, dass er nur eine Mahlzeit an den gerissenen Fuchs verliert. Schlimmer erwischt es den Wolf, der zugegebenermaßen aufgrund seiner Dummheit ein leichtes Opfer darstellt. Renard vertraut dem Wolf das Geheimnis des Mondfischens an. Man müsse ein Loch in die Eisdecke schlagen und dann den Schwanz ins Wasser stecken. Die Fische würden wie wild anbeißen. Der naive Wolf wartet vergebens, sein Schwanz friert im Teich fest. Als ob das noch nicht Strafe genug wäre, informiert Renard die Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes vom Standort des bösen Wolfs, die diesem die Abreibung seines Lebens verabreichen. Dabei verliert der Wolf seinen Schwanz. Gedemütigt und entkräftet schleppt er sich nach Hause um festzustellen, dass der schlaue Fuchs auch die Vorräte seiner Familie stibitzt hat. Wie dem Wolf ist es vielen Tieren ergangen, die Beschwerden die beim Löwen, dem König des Reiches, eingehen stapeln sich. Auch hier zeigt sich Renard der Fuchs gerüstet, denn er wird von dem cleveren Dachs in der Verteidigung vertreten, dem es dann auch gelingt, dass die gegen Renard erhobenen Vorwürfe zurückgezogen werden. Um des lieben Friedens Willen und um weiteren Zwischenfällen vorzubeugen erlässt der König jedoch ein Dekret, das verbietet sich gegenseitig zu essen. Von nun an stehen nur noch Gemüse, Milchprodukte und Früchte auf dem Speiseplan. Übeltäter werden gehängt. Einen kurzen Augenblick scheint Frieden vorzuherrschen…bis der Fuchs feststellt, dass er sich so gar nicht als Vegetarier sieht. Es dauert nicht lange, da beklagt der Hahn den Tod seiner Frau beim König. Dieses Ereignis bringt das Faß zum überlaufen, da helfen Renard auch die Ausführungen seines Verteidigers nicht mehr, der ins Gefängnis geworfen wird. Nach Renard schickt der Löwe den Bären, der ihn aus seinem Schloß Malpertuis tot oder lebendig zurückbringen soll. Mit List und Tücke gelingt es Renard erneut, sich der Verhaftung zu entziehen und seinen Gegenspielern die Grenzen aufzuzeigen. Neben dem Bären muss auch der Kater schwer gezeichnet den Rückzug antreten. Um sein eigenes Leben zu retten, wird der Dachs dazu verdonnert, den Fuchs zu verraten und ihn seiner gerechten Strafe zuführen. Dem eloquenten Dachs fällt es nicht sonderlich schwer, Renard zu einem Treffen mit dem König zu überreden. Als Renard die Burg des Königs betritt, erwarten ihn schon seine Henker. Die Schlinge schon um den Hals, entzieht sich der Fuchs derselben, indem er dem Löwen eine Geschichte von einem Schatz unermesslichen Reichtums vorgaukelt und den Bären, die Katze sowie den Wolf eines konspirativen Komplotts bezichtigt. Als Attentäter nennt Renard den Wolf, der ihm sogleich den Gefallen tut ein Messer zu zücken. Zur Freude Renards landen alle drei im Kerker. Die anberaumte Schatzsuche erweist sich als Ammenmärchen, der König und seine Gefolgsleute sehen sich nun ebenfalls dem Spott des gewitzten Renard ausgesetzt. Diese Schmach will der König nicht auf sich sitzen lassen und bläst zum Angriff, der finalen Schlacht um Schloss Malpertuis.
Man stelle sich vor, die meisterliche Animationskunst würde nicht nur in mehr oder weniger kleine Geschichten verpackt, sondern daraus ein abendfüllender Kinofilm entwickelt. Genau das ist bei "Le Roman de Renard" der Fall – es bleibt der einzige Film von Ladislaw Starewicz in Spielfilmlänge. Mehr als zehn Jahre Entwicklungszeit gingen der Fertigstellung des Films voran, mehr als hundert Charaktere sind im Film zu sehen. Der Film wurde fast vollständig von nur zwei Personen verwirklicht – Ladislaw Starewicz und dessen Tochter Irene.
"Le Roman de Renard" wird als Filmvorführung inszeniert und als Revolution in der Geschichte des Kinos angepriesen. Ein Affe bedient den Projektor, der Zuschauer wohnt praktisch der Premiere des Filmes bei. Zu Beginn werden die Hauptcharaktere von einem alten Affen einzeln vorgestellt, der das Buch "Le Roman de Renard" öffnet. Das Ende verläuft analog.
Die vielfältige und unglaublich detailverliebte Animation habe ich zu Genüge beschrieben, (man kann sie nicht genug hervorheben, von daher möge man mir die ein oder andere Wiederholung verzeihen) sie ist gepaart mit einer nicht minder feinen Charakterzeichnung, die sich auch in der exzellenten Vertonung widerspiegelt. Besonders gefallen haben mir in diesem Zusammenhang der singende Kater und der ängstliche Hase. Die sadistische Ader des Fuchses trägt ebenso zur allgemeinen Erheiterung bei, man fiebert geradezu der nächsten Gemeinheit entgegen.
Die Massenszenen z.B. der Traum des Fuchses oder die finale Schlacht sind beeindruckend in der Inszenierung und Vielfältigkeit. Humoristische Einlagen, wie ein Radiomoderator, der einen Kampf in mittelalterlichem Ambiente moderiert, gibt es zu bewundern. Die Musik von Vincent Scotto ist klasse. Mir gehen die Superlative aus, man sollte den Film unbedingt ansehen!
(The Old Lion)
Frankreich 1932
Regie: Ladislas Starewitch
nach Jean de la Fontaine
Ein Abgesang auf einen alten König, den Löwen. Er ist schwach geworden, zu schwach um eine Fliege ins Jenseits zu befördern. Die Untergebenen des Königs haben jeglichen Respekt vor ihm verloren und machen sich auf seine Kosten lustig. Traurig erinnert sich der Löwe vergangener Tage, denkt an die Liebe zu einer orientalischen Schönheit zurück. Schließlich wird der Löwe unter Hohn und Spott aus seiner Burg geworfen und stirbt in einer Höhle.
"Le Lion Devenu Vieux" ist eine melancholische Erzählung über einen von den Qualen des Alters geplagten Löwen, den die Lebensgeister langsam verlassen. Feinfühlig erzählt vermag der Film den Zuschauer durch das Schicksal des Löwen zu berühren. In einer schönen Rückblende folgt man dem Löwen in die Vergangenheit, in der er seine Liebe mit einem fliegenden Elefanten aus einer orientalischen Festung befreit. Es ist bemerkenswert, wie gut der Film die schwermütige Stimmung einzufangen weiß.
Fétiche-mascotte
Frankreich 1933
Regie: Ladislas Starewitch
Eine um ihr Kind besorgte Mutter, von Beruf Näherin, sitzt im Zimmer der Kleinen und näht kleine Stofftiere zusammen. Das Kind scheint krank zu sein, was die Mutter sehr mitnimmt. Tränen kullern von ihrer Wange. Eine Träne tropft in einen kleinen Stoffhund und bildet die Form eines Herzens. Es fängt an zu pochen und erweckt den kleinen Kameraden zum Leben. Die kranke Tochter hätte so gerne eine Orange, doch ihre Mutter ist zu arm um ihr diesen Wunsch erfüllen zu können. Der Hund hat die Ohren gespitzt, vielleicht kann er etwas tun. Zunächst wird er jedoch mit anderen Spielsachen, die ebenfalls mit Leben erfüllt wurden, in einen Karton gepackt und in ein Auto verladen. Unterwegs werden die Gefährten unruhig und befreien sich nach und nach aus ihrer Verpackung und dem Auto. Nur der kleine Hund hat nicht die Traute und landet deshalb im Spielwarengeschäft. Es dauert nicht lange, da wechselt der Hund den Besitzer und wird als Maskottchen in die Heckscheibe eines Wagens gehängt, was ihm nicht behagt. Es gelingt ihm sich zu befreien. Völlig auf sich gestellt wandert er in der fremden, lauten und unheimlich hektischen Stadt umher, bis er auf ein paar Obst- und Gemüsehändler trifft. Frische Orangen gehören auch in deren Sortiment. Es gelingt dem Hund mit Hilfe seiner Beißerchen sich einer Orange zu bemächtigen und zu flüchten. Des Nachts zur Geisterstunde entfleucht der Teufel einer weggeworfenen Schnapsflasche und lädt zu einem Feste ein. In des Teufels Keller finden sich neben diversen Tieren auch allerlei groteske Erscheinungen ein, die einer Mülltonne oder einem Komposthaufen entsprungen sind. Ferner mit von der Partie sind die aus dem Lieferwagen geflohenen Spielgefährten und schließlich auch das Stoffhündchen, dem seine Orange von bizarren Wesen streitig gemacht wird. Bei Musik, Tanz und Verpflegung zieht die Nacht – nicht ohne eine Reihe kleiner Zwischenfälle- vorüber. Nach Überwindung weiterer Hindernisse kehrt der vierbeinige Ausreißer gesund samt Orange ins Kinderzimmer des kranken Mädchens zurück und erfüllt ihr damit einen großen Wunsch. Zur Freude der Mutter wiegt die Tochter am Morgen quietschfidel den kleinen Hund in ihren Armen.
Die Verbindung aus realer Welt und Animation wird im Vergleich zu "Voice of the Nightingale" hier noch weitergeführt. Die einzelnen animierten Figuren bewegen sich in der realen Welt, technisch wurde dies mit Rückprojektoren bewerkstelligt. Über die Qualität der Animationen könnte man glatt ins Schwärmen kommen, sie ist schlicht und einfach brillant und einzigartig. Es sind die besten Stop-Motion Animationen, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Wie man vielleicht schon anhand der Beschreibung erkennen kann, erfährt die Geschichte mit dem Auftritt des Teufels eine Art Bruch. Es mag im ersten Moment nicht so recht in das Geschehen passen. Andererseits muss so eine Geschichte natürlich nicht nach einem bestimmten Schema ablaufen, sondern lebt ja von der Vorstellungskraft und dem Ideenreichtum ihrer Schöpfer. Egal wie man das nun betrachten mag, die grandiose, geschmeidige Animation macht jede Szene zum Erlebnis. Gefühlsregungen kleinsten Ausmaßes lassen sich am Gesicht des Hundes und dem der anderen Spielsachen ablesen, Umwelteinflüsse wie zum Beispiel der Wind finden ebenso Berücksichtigung und tragen zum Realismus aber eben auch zur Komplexität der Animationen bei. Der Hund hat als einziges der zum Leben erweckten Spielsachen diese Knuddelkomponente, die man so oft in heutigen Animationsfilmen findet. Das soll nicht heißen, die anderen Geschöpfe wären hässlich – im Gegenteil, sie sind wunderschön gestaltet, vermitteln aber schon alleine durch ihr Aussehen etwas von ihrem Charakter – und der ist nicht immer nur gut. Der Hund ähnelt einem beliebten Stofftier unserer Zeit, dem Wauzi und erinnert auch an den Wackeldackel, als er im Auto hängt. Eine männliche Puppe hingegen verkörpert einen Draufgänger wie er im Buche steht. Der ist natürlich der Rädelsführer bei der Flucht, gibt sich immer extrem gelassen und hat auf jede unvorhergesehene Situation die passende Antwort. Die weiteren Figuren hätten aufgrund ihrer Einzigartigkeit und Eigenschaften auch eine Erwähnung verdient allerdings würde das den Rahmen sprengen. Die flotte Musik lädt zum Mitsummen und Mitpfeifen ein und gibt den zahlreichen slapstickhaften Einlagen die richtige Würze.
#24
Geschrieben 10. Dezember 2006, 00:30
(The Navigator)
Frankreich 1936
Regie: Ladislas Starewitch
Ein frisch verheiratetes Hundepaar ist auf einem Dampfer unterwegs in die Flitterwochen. Der Kapitän hat ein Alkoholproblem, weitere Passagiere sind unter anderem ein ununterbrochen fressendes Schwein, Hunde, Affen und viele mehr. Das Schiff gerät in einen Sturm und kentert schließlich. Mit der unfreiwilligen Hilfe eines Haies gelangt das Paar aber doch noch auf eine schöne Südseeinsel, wo sie ihre Zweisamkeit genießen können.
"Fetiche En Voyage De Noces" ist ein musikalischer und lustiger Kurzfilm. Mit einbezogen wurde wie schon in "The Frogs Who Wanted a King" die Mythologie, hier in Form des Mars, der den Sturm anscheinend mit großer Schadenfreude heraufbeschwört. Auch hier beeindrucken die Figuren, besonders aufgrund ihrer Fehler und Macken, die sehr schön durch den an der Flasche hängenden Kapitän und das Schwein, welches sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt und selbst unter Wasser das Essen fortsetzt, verkörpert werden. Diese in fast allen Filmen vorkommende, teils düstere Komponente ist meiner Ansicht nach eine sehr wichtige, verleiht sie den Filmen und Charakteren eine subtilere Note, die sie von anderen (Kinder-)Filmen abhebt. Dieser Titel ist hierfür vielleicht nicht das beste Beispiel, aber es finden sich in vielen Filmen Szenen und Figuren, die zwar nicht das Böse an sich repräsentieren - vom Teufel in „The Mascot“ mal abgesehen - denen man jedoch nicht so recht über den Weg trauen mag. Das Leben einzelner Charaktere hängt oft an einem seidenen Faden. Man denke nur an den Hasen in "Le Roman de Renard", dem schreiend an den Füßen aufgehängt schon fast das Fell über die Ohren gezogen wird oder an den Clown in "The Mascot", der seinen Kopf verliert. Der Affe im selben Film hat ein Auge auf ein hübsches Püppchen geworfen und will es sich mit Alkohol gefügig machen. Beispiele dieser Art finden sich zuhauf. Selbst das Ableben ist kein Tabu, was mehrere Frösche in "The Frogs Who Wanted a King" beweisen und in "Die Wunderuhr" vom Drachen untermauert wird, bis der selbst das Zeitliche segnet. Diese Ungewissheit gepaart mit dem Realismus der Puppen steht im Kontrast zu übermäßig verniedlicht gezeichneten und geschriebenen Filmen.
(Fern Flower)
Frankreich 1949
Regie: Ladislas Starewitch
nach Jean de la Fontaine
Ein kleiner Junge schleicht sich nachts in den Wald um nach einem geheimnisvollen Farn zu suchen, den er vor dem Weckschrei des Gockels pflücken muss. Unterwegs wird er von laufenden Bäumen verfolgt und trifft auf allerlei Pflanzen und Tiere des Waldes – selbstverständlich alle zum Leben erwacht. Der Junge findet den Farn und pflückt ihn. Die magische Pflanze erfüllt ihm seine Wünsche. Als Prinz auf einem schmucken Pferd reitet er in eine prächtige Burg, die nun sein ist. Daheim wird der Junge von seiner Mutter, seinem Großvater und dem Hund vermisst. Als zu Hause das Arbeitstier verendet kehrt der Junge gerade rechtzeitig mit seinem Pferd zurück um mit dessen Hilfe die Felder zu bestellen.
So in etwa habe ich die Geschichte verstanden, da die Dialoge nur auf Französisch waren, kann es sein, dass mir ein paar Dinge entgangen sind. Die Bäume, die den Jungen verfolgen, könnten das Vorbild für die Bäume in „Herr der Ringe“ sein, eine starke Ähnlichkeit ist jedenfalls vorhanden. Wenn auch in dieser Geschichte eine Reihe von Tieren und Pflanzen zum Leben erweckt wurden, übernimmt diesmal mit dem kleinen Jungen ein Mensch die Hauptfigur des Filmes. Eine Seltenheit!
(Winter Carousel)
Frankreich 1958
Regie: Ladislas Starewitch
In einer tief verschneiten Winterlandschaft erfreuen sich ein kleiner Bär, ein Hase und eine kleine Bärendame an der weißen Pracht. Gemeinsam vergnügen sie sich mit Eislaufen, dem Versteckspiel und bei einem Ritt auf einem zum Karussell umfunktionierten Baum, zu dem sie der Schneemann eingeladen hat. Der Winter geht vorüber, der Schneemann schmilzt und die Bärendame verabschiedet sich. Unter dem Schneemann kommt eine Vogelscheuche zum Vorschein, die auf der Flöte spielend scheinbar den Frühling einläutet. Wohin man auch schaut bezaubern blühende Blumen das Auge. Die Sonnenstrahlen sorgen neben der Blütenpracht auch in der Tierwelt für ein buntes Treiben. Würfelspielende Mäuse, bootsfahrende Frösche, singende Vögel und eine musizierende Heuschrecke begegnen den beiden Freunden, dem Bären und Hasen. Sie genießen das Leben und lassen es sich gut gehen. Im Traum denkt der Bär an seine kleine Freundin.
Im Vordergrund dieses Films steht sicherlich keine Geschichte, sondern die Freude am Leben, Spaß und die Schönheit der Natur zu verschiedenen Jahreszeiten. Es ist eine wahre Pracht den Freunden bei ihren Spielereien, mal leichtfüßig, mal graziös, zuzusehen. Die prächtigen Sets kommen im Zeitalter des Farbfilms besonders schön zur Geltung. Phantasievolle Kreationen wie das Baumkarussell, die Eisorgel oder die unter dem Schneekleid des Schneemannes verborgene Vogelscheuche, die den Frühling mit den Flötenklängen über das Land bringt (die Szene erinnert an den Rattenfänger von Hameln, statt der Ratten folgt der Scheuche ein Schwarm Insekten), strahlen einen Zauber aus, dem man sich nicht entziehen kann – man muss einfach gute Laune haben, wenn man den Film gesehen hat. Die Animationen der Charaktere kann man sich nicht besser vorstellen, die Musik fügt sich wunderbar in das bunte, fröhliche und spielerische Gesamtbild. "Carrousel Boréal" ist der letzte Film von Ladislaw Starewicz.
Gesehen auf DVD (US/F), Stummfilm/Französisch, ~250 Minuten.
#25
Geschrieben 20. Dezember 2006, 03:08
(Peter und der Wolf)
Großbritannien/ Polen 2006
Regie: Suzie Templeton
Sergei Prokofievs Peter und der Wolf, adaptiert von Suzie Templeton
Die Geschichte von Peter und der Wolf, wurde in das heutige Russland verlegt. Der Film verzichtet erfreulicherweise gänzlich auf Dialoge. Die Animationen wurden der herrlichen Musik perfekt angepasst. Jede einzelne Figur hat ihr charakteristisches Instrument bzw. ihre charakteristische musikalische Begleitung - Peter die Violine, der Vogel die Flöte, die Ente die Oboe, die Katze die Klarinette, der Großvater das Fagott, die Jäger die Pauke und der Wolf das Horn. Die Interpretation der Musik Prokofievs wurde vom Philharmonia Orchestra eingespielt, sie ist großartig.
"Peter und der Wolf" ist ein klassischer Puppenanimationsfilm, der im Stop-Motion-Verfahren hergestellt wurde. Fünf Jahre und die Arbeit von mehr als 250 Leuten waren für die Fertigstellung des Films nötig. "Es steckt so viel Leben in diesen paar Sekunden Film. Ein Tag in Adams [ein Animator] Leben wird so zu 1,5 Sekunden Film und ich glaube darin liegt der Zauber. Es ist ein Konzentrat von Leben und ich glaube das spürt man, diese Kraft und die Leidenschaft die darin stecken." Diese Aussage von Suzie Templeton zu einer Szene macht die Gefühle, die ich bei der Sichtung des Films und des Bonusmaterials hatte, etwas greifbarer. Diese Kunst des Filmemachens wird für mich wohl nie an Reiz verlieren. Zwar kamen bei diesem Projekt auch Computer zum Einsatz, z.B. um Stützelemente zu retuschieren oder Fehler auszumerzen, aber dennoch handelt es sich um einen Animationsfilm im klassischen Sinn. Das ausgiebige Bonusmaterial gibt einen faszinierenden Einblick in die Arbeit und Entstehung des Films, ein Fest für Freunde des Animationsfilms. Die Figuren und das Set sind überwältigend. Der Wald alleine war 16 Meter breit und 22 Meter lang, bestehend aus etwa 1700 Bäumen, die Figuren wurden im Maßstab 1:5 und 1:3 angefertigt. Die Puppen sind großartig und von einer Feinheit, die das Beispiel der Hand des Großvaters belegen soll. Nicht nur die dicken Adern sind verblüffend, sogar Altersflecke sind zu sehen. Für Hände und Gesichter wurde Silikon verwendet.
Schade, dass so manches Projekt relativ wenig öffentliches Interesse auf sich zieht und es oft an Investoren fehlt, die die Arbeit finanziell unterstützen.
"Peter und der Wolf" ist ein traumhaft schöner Film geworden, ein Genuss für Auge und Ohr. Suzie Templeton "wollte einen Film erschaffen, der auf verschiedenen Ebenen funktioniert, für Kinder und Erwachsene, der unsere Angst vor und unsere Faszination für die Bestie aufgreift und gleichzeitig einen Jungen porträtiert, der seine eigenen Stärken und seine Integrität entdeckt." Das ist ihr wahrlich gelungen. Bravo!
Gerade jetzt zur Weihnachtszeit kann ich diesen Film wärmstens empfehlen, im Kreise der Familie sicher ein schönes Erlebnis für Jung und Alt.
Auch wenn es sich um einen Film handelt, der "nur" eine knappe halbe Stunde Laufzeit hat, kommt man voll auf seine Kosten, denn ich denke den Film könnte man sich jedes Jahr ansehen. Ich habe ihn schon zwei Mal gesehen und werde ihn über die Feiertage sicher zur Verwandtschaft mitnehmen. Gerade bei diesen "handwerklichen" Filmen ist für mich ein ausgiebiges Bonusmaterial besonders interessant. Auf diesem Gebiet weiß die DVD ebenfalls auf voller Linie zu überzeugen, abgerundet wird das Ganze mit einem schönen, informativen Büchlein.
Am 18. März 2007 ist der Film übrigens um 19.00 Uhr auf Arte zu sehen.
Gesehen auf DVD (D), Ton PCM Stereo/DD 5.1/dts, ~32 Minuten + ~78 Minuten.
#26
Geschrieben 29. Dezember 2006, 21:34
The Mad Songs of Fernanda Hussein
USA 2001
Regie: John Gianvito
New Mexico, kurz vor, während und nach dem 2. Golfkrieg 1991
Fernanda Hussein, eine mexikanischstämmige Amerikanerin, von ihrem ägyptischen Mann getrennt, lebt mit ihren beiden Kindern in Los Lunas. Die Familie sieht sich aufgrund anti-arabischer Stimmung und des von ihrem Mann übernommenen Familiennamens Anfeindungen ausgesetzt. Am ersten Schultag nach den Ferien kehren die beiden Kinder nicht von der Schule zurück. Fernanda stößt bei ihren Nachforschungen auf wenig Unterstützung. Bald beschleicht sie das Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert sein muss.
Der Schüler Raphael Sinclair engagiert sich gegen den Golfkrieg und versucht mit Handzetteln Leute aufzurütteln. Mit der Unterstützung eines Lehrers will er auf Dinge aufmerksam machen, die in der patriotischen Berichterstattung keinen Platz haben. Es erweist sich als schwieriges Unterfangen sich Gehör zu verschaffen oder Gleichgesinnte zu finden. Im Elternhaus kann er seine Gedanken nicht äußern, ohne damit Ärger heraufzubeschwören. Raphaels sture jugendliche Art, die gefühlte Machtlosigkeit, Ungeduld und die aufkeimenden Zweifel am Sinn der Aktionen sind ebenso Ursache seiner Wut, jedoch wenig hilfreich diese in die richtigen Bahnen zu kanalisieren. Glücklicherweise trifft Raphael auf eine alte Dame, die ihm zuhört und das Gefühl gibt, dass das was er tut nicht sinnlos ist.
Carlos Sandia ist einer von vielen Soldaten, die aus dem Golfkrieg in die Heimat zurückkehren. Überall finden aus diesem Grund Feierlichkeiten und Lobesreden statt. Allerdings scheint kaum einer das wahre Befinden vieler Soldaten zu erkennen geschweige denn jemanden zu interessieren. Stattdessen begegnet Carlos wiederholt der Frage, wie viele Iraker er getötet habe. Nach Festivitäten ist dem Soldaten nicht zumute, ihn quälen die Ereignisse und Bilder des Krieges die er beobachtet hat und die Gräueltaten, an denen er beteiligt war.
Die drei Geschichten sind eigenständig und berühren sich nur vage, ihre Erzählung springt aber hin und her. Der Film selbst ist nochmals in drei Abschnitte unterteilt. In die Erzählung werden dokumentarisches Material wie z.B. die Berichterstattung von CNN und anderen Sendern ebenso wie Ausschnitte eines Konzertes des auf der Oud spielenden Irakers Naseer Shamma eingeflochten. Mittels dokumentarischer Stilmittel werden zudem Szenen des Alltags und die Bereiche in die der Krieg Einzug findet aufgezeigt. Als Beispiel sei nur das Merchandise-Material genannt, angefangen von Desert Storm Sammelbildern über sprechende Wüstensturm-Soldaten, Desert Storm Feuerwerkskörpern, T-Shirts und vieles mehr. In Verbindung mit den drei Geschichten gelingt es dem Film dadurch sehr überzeugend die Stimmung der Menschen, die damals in Amerika und wohl insbesondere in New Mexico vorgeherrscht haben muss, und die Auswirkung des Krieges auf sie nachzuzeichnen.
Der Film wurde vor dem 11. September 2001 produziert. Aufgrund des begrenzten Budgets dauerte es sechs Jahre den Film fertigzustellen, der Großteil der Darsteller sind keine Schauspieler. Vor dem Hintergrund der tragischen Ereignisse des 11. September zeigte sich jedoch, wie aktuell die im Film angesprochenen Themen und Probleme noch immer sind, was z.B. die Berichte über Angriffe auf Teile der arabisch-amerikanischen Bevölkerung in den USA bewiesen. Das Ende des Filmes zog sich meiner Meinung nach etwas hin, besonders durch die Gesprächsrunde der Aktivisten, die mir etwas zu lang erschien. Da hätte dem Film eine Straffung gut getan. Trotzdem ist es ein bewegender und zum Nachdenken anregender, sehenswerter Independent Film geworden.
"The Mad Songs of Fernanada Hussein" von John Gianvito ist eine Reise zurück in und zugleich ein kritischer Blick auf den Golfkrieg und vielmehr seinen Effekt auf die Gesellschaft.
Gesehen auf DVD (US), Englisch DD 2.0, ~168 Minuten.
#27
Geschrieben 14. Januar 2007, 00:39
Flåklypa Grand Prix
(Pinchcliffe Grand Prix/ Hintertupfinger Grand Prix)
Norwegen 1975
Regie: Ivo Caprino
Der Fahrradreparateur Theodore Rimspoke lebt hoch über dem Dorf Pinchcliff (im norwegischen Original ist es Flåklypa). Er ist berühmt für seine Erfindungen. Unter Rimspokes Dach wohnen außerdem der aufgeweckte Sonny Duckworth und der schläfrige Lambert. Aus der Zeitung erfahren die Drei, dass Rudolph Gore-Slimey, ein ehemaliger Lehrling Rimspokes, jetzt einer der weltbesten Rennfahrer ist.
Rudolph war eines Tages überstürzt aufgebrochen, wie sich herausstellt mit den Plänen einer Erfindung nun verantwortlich für seinen Erfolg im Rennsport. Großspurig verkündet Gore-Slimey im Fernsehen, dass er jeder Herausforderung gewachsen sei. Vom Ehrgeiz gepackt und der Möglichkeit dem Großmaul eine Lektion zu erteilen macht sich Rimspoke daran, einen Entwurf für einen Rennwagen in die Realität umzusetzen. Es fehlt ihm jedoch an finanziellen Mitteln um den Flitzer aufzubauen. Mit Einfallsreichtum schafft es Sonny Duckworth einen rennsportbegeisterten Scheich und Autonarren als Geldgeber mit an Bord für ihr Vorhaben zu holen. Ein Jahr vergeht, bis der Prototyp mit dem Namen "Il Tempo Gigante" endlich betriebsbereit ist. Angeblich wurden 7,8 auf der Richter Skala gemessen, als der Wagen zum ersten Mal gestartet wurde. Bald ist der Tag des großen Rennens, an dem so klangvolle Namen wie der Italiener Ruffino Gassolini in seinem Bertone Carabo, der Deutsche Heinrich von Schnell im Abarth 2000, der Schwede Ronny Turnip Anderson, der Argentinier Carlos Fandango und natürlich Rudolph Gore-Slimey in seinem Boomerang Rapido teilnehmen. Welche Rolle wird Theodore Rimspoke und der "Il Tempo Gigante" im Rennen des Jahrhunderts spielen?
Was für ein herrlicher Spaß! Wunderschöne Sets welche die skandinavische Landschaft darstellen, sind der Spielplatz für die Charaktere dieser heiteren, humorgeladenen und temporeichen Geschichte.
Die charismatische Erzählstimme erinnerte mich an die von Christopher Plummer in "L' Homme qui plantait des arbres", ebenso passende Stimmen erhielten die einzelnen liebenswerten Figuren. Die Filmmusik ist hervorragend. Phantasievolle Kleinigkeiten wie die mechanischen Erfindungen des Theodor Rimspoke und die schrägen, teils schrulligen und übrigens wunderbar ausgearbeiteten Charaktere, geben auch diesem Film wieder seine eigene Note, die seinen Charme ausmacht.
Wer sich mal wieder bei einem Formel 1 Rennen langweilen sollte, der sollte sich diesen Film ansehen, da sind Positionswechsel keine Seltenheit. Laut Imdb hat sich Star Wars: Episode 1 einige Elemente von diesem Film für das "Pod Race" abgeschaut. Der Film war ein Kassenschlager in Norwegen, wo alleine 5,5 Millionen Kinokarten verkauft wurden. Damit ist Flåklypa Grand Prix bei 4,5 Millionen Einwohnern der erfolgreichste Film Norwegens aller Zeiten. Einen weiteren Rekord hat der Film noch aufgestellt, er war 28 Jahre lang jeden Tag im Kino zu sehen, hauptsächlich in Norwegen, Moskau und Tokyo.
"String me up and stuff me in a hen coop"…das ist ein toller Stop Motion Film!
Gesehen auf DVD (N), Norwegisch (oder Dänisch, Finnisch, Schwedisch oder Englisch) DD 5.1 mit englischen Untertiteln, ~84 Minuten.
#28
Geschrieben 12. Februar 2007, 02:36
(The Wayward Girl)
Norwegen 1959
Regie: Edith Carlmar
Dem angehenden Studenten Anders wird von seinen Eltern der Umgang mit Gerd, vaterlos aufgewachsene Tochter einer beruflich eingespannten Mutter, untersagt. Um Gerd dem schlechten Einfluß ihrer angeblichen Freunde zu entziehen, entschließt sich Anders Gerd mit aufs Land in eine abgelegene Hütte zu nehmen. Mit dem Auto seines Vaters machen sich die Beiden auf den Weg. In der idyllischen Landschaft verfliegen anfängliche Zweifel an ihrem Tun rasch, Anders und Gerd scheinen ihr Glück gefunden zu haben, doch wird es von den Eltern und einem plötzlich auftauchenden Wanderer bedroht.
"Ung Flukt" ist ein teilweise ziemlich lustiger Film, im Kern zeichnet er jedoch ein recht detailliertes Bild eines jungen Paares und des Milieus, welchem sie jeweils entspringen, es wird nicht nur an der Oberfläche gekratzt. Insbesondere der Charakter der jungen Gerd, die von Liv Ullmann eindrucksvoll dargestellt wird, hat einige Ecken und Kanten. In mehreren Rückblenden erfährt man, dass Gerd schon einiges auf dem Kerbholz hat und deshalb auch Besuch von einer Sozialarbeiterin bekommen hat. Die Mutter ist kaum zu Hause und ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Ihrer Mutter wirft Gerd sogar vor, sie wüsste selbst nicht, wer der Vater ist. Mit Männern hat Gerd schlechte Erfahrung gemacht, was in einigen Situationen immer wieder in Erinnerung gerufen wird. So sind Anders und Gerd zu Beginn auch weniger ein verliebtes Paar, sondern eher noch zwei junge Menschen, die sich ihrer Gefühle füreinander klar werden müssen. Anders’ Plan, Gerd in dem kleinen Paradies für sich zu gewinnen, scheint nach minderen Schwierigkeiten aufzugehen, jedoch ändert sich ein Mensch nicht von heute auf morgen.
In einer Szene tanzt Gerd wie in Trance zu flotter Musik und beginnt sich ihrer Kleider zu entledigen, erst als Anders die Musik abstellt und ihr leicht auf die Wange tätschelt, ist sie wieder bei sich, mit Tränen in den Augen. Am nächsten Morgen hat Gerd die Hütte verlassen, ist aber doch froh, dass Anders ihr nachgelaufen ist. Es sind Szenen wie diese, die die Unsicherheit von Gerd zeigen, aber durch ihre Glaubwürdigkeit bewegen. Gerd hatte noch etwas Geld mitgenommen und gibt es reuig und verschämt zurück, worauf Anders bloß meint, sie wäre gut im Ausborgen. Schon ist die Situation gerettet.
Besonders lustig ist das Aufeinandertreffen mit den Eltern, oder auch schon die Zugfahrt von Gerds Mutter mit Anders’ Vater – köstlich!
Die Ankunft des Wanderers, der der Vater von Gerd sein könnte, stellt eine ernsthafte Gefahr für die gemeinsame Zukunft der Beiden dar. Vielleicht möchte Gerd in ihm eine Art Vaterfigur sehen, nach der sie sich immer so gesehnt hat. Möglicherweise ist es ihr mit Anders aber auch nur zu langweilig geworden. Eifersüchtig macht Gerd Anders mit ihrem Benehmen allemal, Spannung liegt in der Luft. Was wird Anders unternehmen?
"Ung Flukt" ist ein sehr gutes Drama. Die wunderschöne Liv Ullmann hat mir in ihrer ersten Hauptrolle sehr gut gefallen, was sicherlich auch dem alles andere als eindimensionalen Charakter, den sie darstellt, zu verdanken ist.
Für damalige, konservative Verhältnisse waren einige Szenen sicher recht gewagt.
Gesehen auf DVD (N), Norwegisch DD 2.0 mit englischen Untertiteln, ~90 Minuten.
#29
Geschrieben 01. Mai 2007, 20:51
(Die Handschrift von Saragossa)
Polen 1965
Regie: Wojciech Jerzy Has
nach dem gleichnamigen Roman von Jan Graf Potocki
Spanien zur Zeit der napoleonischen Kriege. Während der Schlacht um Saragossa im Jahre1809 entdeckt ein französischer Offizier ein spanisches Manuskript. Es handelt sich um die unglaublichen und wundersamen, zu Papier gebrachten Erlebnisse des Alfonso van Worden, die diesem auf seiner Reise durch die Sierra Morena widerfahren sind. Ein Angehöriger der spanischen Armee, Nachfahre van Wordens, lässt den französischen Offizier mit seiner Übersetzung an den phantastischen Abenteuern teilnehmen.
Alfonso van Worden, ein junger Hauptmann der wallonischen Garde des spanischen Königs, befindet sich auf dem Weg nach Madrid. Mit seinem Diener López und dem Pferdeknecht Mosquito durchqueren sie die raue und gefährliche Gegend der Sierra Morena. Unterwegs verschwindet Mosquito mit den gesamten Vorräten spurlos. Van Worden lässt López mit den Pferden zurück und macht sich auf die Suche nach dem Pferdeknecht. Im Tal von Los Hermanos macht Alfonso erstmals Bekanntschaft mit den zwei gehenkten Brüdern – es soll nicht die letzte Begegnung bleiben. Zurück bei den Pferden angekommen hat sich auch der Diener López verabschiedet. So gelangt Alfonso, letztlich auf sich gestellt, zur Venta Quemada, einer verlassenen, wenig einladenden Herberge, die er als Nachtquartier auserkoren hat. Im Gefühl der einzige Besucher der Bleibe zu sein, überrascht ihn eine schöne, halbnackte Negerin, die ihm mitteilt, zwei Damen aus dem Ausland erwarteten ihn zum Abendessen. Sie bedeutet ihm ihr zu folgen und beide gelangen durch einen dunklen Gang in einen hell erleuchteten, prunkvoll ausgestatteten Saal, in dessen Mitte sich ein ebenso prachtvoll gedeckter Tisch befindet. Zu Alfonso gesellen sich die vermeintlichen Gastgeberinnen, zwei maurische Schwestern von blendender Schönheit, namens Emina und Zibelda. Sie offenbaren van Worden, dass er wie sie vom Geschlecht der Gomelez abstamme und erzählen ihm ihre Geschichte. Während Emina und Zibelda Alfonso mit Zärtlichkeiten und Liebkosungen überhäufen, nimmt er entzückt zur Kenntnis, dass sie seine Gattinnen zu werden anstreben. Die Verbindung mit den Muselmaninnen setzt jedoch voraus, dass Alfonso das Gesetz des Propheten akzeptiert, sprich den Glauben wechselt. Desweiteren muss er sich bei seiner Ehre verpflichten, niemals die Existenz der Schwestern preiszugeben. Alfonso, der zu keiner Widerrede im Stande scheint, stimmt allem zu. Nach dem Genuss eines Trunkes schläft der junge Hauptmann ein und erwacht am nächsten Morgen, noch freudetrunken mit einem seligen Lächeln auf den Lippen…unter dem Galgen von Los Hermanos, neben ihm die erhängten Brüder. Entsetzt und verstört kehrt van Worden zur Venta Quemada zurück, wo keinerlei Anzeichen die Geschehnisse der vergangenen Nacht hätten beweisen können. Im Gegenteil, es verdichten sich eher die Hinweise, die auf ein Werk des Teufels deuten.
Auf seiner fortgesetzten Reise wird Alfonso van Worden in zahllose weitere Abenteuer verwickelt, die seinen Mut, sein Ehrgefühl und seine Standhaftigkeit, besonders dem Glauben gegenüber, immer wieder aufs Neue einer Prüfung unterziehen. Er macht dabei unter anderem die Bekanntschaft des vom Teufel besessenen Pasheko, gerät in die Fänge der Heiligen Inquisition und lernt deren Foltermethoden kennen und landet wiederholt unter dem Galgen von Los Hermanos. Dort lernt er den Kabbalisten kennen, mit dem er später auf den Mathematiker Don Pedro Velasquez trifft und begegnet schließlich Rebekka, der Schwester des Kabbalisten, sowie dem Zigeunerhauptmann Avadoro. Letzterer gibt im Schloss des Kabbalisten eine Vielzahl an abenteuerlichen Erzählungen aus seinem Leben zum Besten, in denen schöne Frauen, ihre Gatten und Verehrer, Helden und Heldentaten sowie die Ehre eine zentrale Bedeutung haben. Die einzelnen Episoden vermögen ihrerseits eine Lehre oder versteckte Bedeutung zu vermitteln.
Die Serie von Abenteuern, besonders in der zweiten Hälfte des Filmes, die sich den Geschichten des Zigeunerhauptmanns Avadoro widmet, kennzeichnet eine außergewöhnliche Erzählstruktur, bei der eine Erzählung mittels teils mehrfacher Einschübe immer wieder unterbrochen wird, um eine weitere Geschichte zu erzählen, die wiederum in eine weitere eingebettet oder den Rahmen für die vorherige bildet oder in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung steht. Es entsteht ein komplexes Geflecht von Erzählungen, das manchmal einem Labyrinth gleichend erscheint, aus welchem man aber letztendlich sicher ans Ziel geführt wird. Mit Kenntnis der nochmals um einiges komplexeren Romanvorlage bereitet einem dieses Gefüge aber keinerlei Probleme. Als Beispiel sei eines im Anhang des Romans genanntes aufgegriffen, das die geschilderte Struktur verdeutlichen soll. "Im dreiundfünfzigsten Tag gibt es die Geschichte, die der Kommandant von Toralva dem Sünder Blas Hervas erzählt hatte, der sie an Cornadez weitergab, welcher sie Busqueros berichtete, der sie wieder Toledo erzählte in Gegenwart von Avadoro, der sie van Worden mitteilt! Diese Abstürze ins Bodenlose erreichen gelegentlich eine solche Vielschichtigkeit, dass sich im Roman selbst Rebekka und Velasquez darüber beklagen und erklären, sie verlören sich darin wie in einem Labyrinth." Im Film wurde eine entsprechende Szene übrigens auch übernommen.
Durch die Erlebnisse und die ihm vorgetragenen Erzählungen enthüllt sich Alfonso van Worden ein Geheimnis, das zu behüten er sein Ehrenwort gegeben hat. Des Rätsels Lösung erklärt dann auch die ineinander verschachtelten Geschichten und ihre Bedeutung innerhalb des Hauptrahmens, der Abenteuer van Wordens, die ja selbst nochmals von der Vorgeschichte, der Schlacht um Saragossa, in der das Tagebuch gefunden wird, umrahmt wird. Die Zusammenführung und Auflösung erhält durch eine Szene eine weitere Komponente oder Deutungsmöglichkeit. Van Worden erwacht zwischen seinem Diener López und dem Pferdeknecht Mosquito, die ihn fragen "Can we make it before dark?" – exakt die Worte, mit der seine Reise begann. Zwar hat er das Tagebuch bei sich und hält darin seine Erlebnisse fest, jedoch vermag er nicht klar zu unterscheiden, was Traum und was Realität gewesen ist. Die finale Szene, in der er abermals seinen Cousinen begegnet unterstreicht diesen Eindruck, denn Van Worden schleudert das Tagebuch unter dem Gelächter eines Wahnsinnigen fort und reitet von dannen. So endet der Film mit einem Augenzwinkern, wie schon viele der Geschichten zuvor, die mit einer humorigen Note oder komödiantischen Elementen versehen sind.
Der Film besteht ebenso aus schaurigen, phantastischen Geschichten, in denen der Teufel und Dämonen eine Rolle spielen, wie aus gleichermaßen schelmischen und romantischen Abenteuern in denen die Ehre, Intrigen, die Eroberung schöner Frauen und das klassische Duell mit dem Degen im Mittelpunkt stehen. Sie alle werden von einem großartigen Score von Krzysztof Penderecki begleitet, der viel zur Atmosphäre beiträgt. Orchestrale Musik, die klassische Stücke beinhaltet, unter denen sich eine Variation von Ludwig van Beethovens "Ode an die Freude" befindet, traditionelle, landestypische Elemente wie der Klang der Barocklaute oder experimentelle, elektronische Klänge, die die surrealen und unheimlichen Begegnungen verstärken, erfreuen das Ohr. Die klassischen Stücke wurden vom Polish Radio Grand Symphonic Orchestra in Katowice eingespielt, die elektronischen Klänge im Polish Radio Experimental Studio in Warschau realisiert. Neben der besonderen Narration, der mannigfaltigen Geschichten und der brillanten Atmosphäre besticht der Film durch fabelhafte Kostüme, Schauplätze und eine Ausstattung, wie man sie nur selten findet. In den Kostümen stecken hervorragende Schauspieler, die bis in die Nebenrollen seinerzeit zu den besten und bekanntesten Schauspielern Polens zählten. Gedreht wurde übrigens ausschließlich in Polen, was ich für sehr bemerkenswert halte, da insbesondere in den Madrider Geschichten das südländische Flair oder gar die Örtlichkeit nie in Frage gestellt wird. Da wird einem bewusst, wie detailversessen gearbeitet worden sein muss. Das Juragebirge nahe Krakau diente als Schauplatz der Sierra Morena.
Alle diese Zutaten, gewürzt mit einer gehörigen Portion Humor und verfeinert mit dem zarten Hauch einer Prise Erotik, ergeben eine Mischung von erlesenem, unverwechselbaren Geschmack. "Die Handschrift von Saragossa" bietet drei Stunden allerfeinste Unterhaltung und Kurzweil, die man in dieser Form wahrscheinlich noch nicht gesehen hat.
Wer hier im Text angekommen ist und Lust verspürt, sich den Film anzusehen, dem kann ich nur ans Herz legen, sich erst die Romanvorlage zu besorgen und in Ruhe zu lesen. Die Einhaltung der Reihenfolge halte ich für wichtig!
Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, die Vorzüge des Filmes ein wenig offenzulegen, bin aber davon überzeugt, dass es nicht vermessen ist zu sagen, dass der Roman diese Vorzüge potenziert und viele weitere addiert. Ich will den Film durchaus nicht schmälern, was man aufgrund der vorangegangen Zeilen sicher auch nicht vermuten würde, sondern will und muss das Buch einfach gesondert erwähnen, weil ich es schlichtweg als genial erachte. Mir ist selbstverständlich bewusst, dass ein Buch dieses Umfangs neben den zwangsläufig bei einer Literaturverfilmung auftretenden Problemen - ohne das ich mich auf diesem Gebiet als besonders bewandert bezeichnen könnte - nur unter starker Beschneidung zu verfilmen möglich ist. Trotz der gekonnten Umsetzung der narrativen Struktur, der prächtigen Ausstattung und der Einbeziehung vieler Figuren, sowie der Berücksichtigung kleinster Details kann der Film nur Facetten des Buches auf die Leinwand bringen. Die haben wie beschrieben ihren eigenen Reiz, erreichen aber bei weitem nicht die Tiefe der literarischen Vorlage. Mit Vorwort, die in 66 Tage unterteilten Abenteuer, plus Epilog erschafft Jan Graf Potocki auf 882 Seiten (+ Anhang ~960 Seiten) ein Konstrukt epischen Ausmaßes, das einen nur staunen lassen kann, wie er das zustande gebracht hat. Unnötig zu erwähnen, dass die Charaktere und deren Entwicklung weitaus detaillierter gezeichnet werden (Die Geschichten umspannen nicht selten das komplette Leben der Figuren), umfasst der Roman historische Ereignisse in einer Zeitspanne von mehr als 1000 Jahren, Orte auf der ganzen Welt und bietet mindestens ein Dutzend weiterer Geschichten. Die Gattungen der Erzählungen sind noch breiter gefächert, mysteriöser, schauriger, erotischer, mitreißender, schmieriger, nahe gehender und vieles mehr. Die mathematischen Gleichungen und Ergüsse des Don Pedro Velazquez, die Fähigkeiten des Kabbalisten, die Geschichte des Ewigen Juden, die von mysteriöser Schönheit geprägten Höhlen und Täler der Gomelez, die Geschichte des Enzyklopädisten Diego Hervás und seinen 100 Oktavbänden, die Geschichte mit dem Tintenfass…die Aufzählung ließe sich noch lange fortführen – all das bliebe einem vorenthalten, würde man auf das Buch verzichten. Ebenso eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Hauptthemen des Buches, der Ehre, der Religion – alles im geschichtlichen Kontext.
Ich erspare mir an dieser Stelle einige signifikante Unterschiede detailliert zu beleuchten, da das den Rahmen sprengen und zuviel vom Inhalt vorwegnehmen würde.
Eine letzte Anmerkung: Laut Anhang hatte Potocki die Niederschrift der "Handschrift von Saragossa" im Jahr 1797 begonnen und spätestens 1812 den sechsundfünfzigsten Tag abgeschlossen. 1815 soll er sich krank und finanziell ruiniert mit einer eigenhändig zurechtgefeilten Silberkugel erschossen haben.
Gesehen auf DVD (F), Polnisch DD 2.0 mit englischen Untertiteln, ~174 Min.
#30
Geschrieben 20. Dezember 2007, 21:57
Madame Tutli-Putli
Kanada 2007
Regie: Chris Lavis, Maciek Szczerbowski
Ein Bahnsteig. Madame Tutli-Putli wartet scheinbar mit all ihrem Hab und Gut auf den Nachtzug. Ihr Abteil teilt sie mit eigenartigen Zeitgenossen, wie einem schmierigen Tennisspieler, der Madame Tutli-Putli mit eindeutigen Gesten bedrängt oder zwei in der Gepäckablage Schach spielenden Herren, die in ihren Koffern leben bzw. reisen. Als die Nacht hereinbricht geschehen merkwürdige Dinge.
Ich will zuallererst die technische Seite des Films herausstellen, weil das leichter fällt. Was einem in diesem Stop Motion Film geboten wird, grenzt an Perfektion. Das Konzept, menschliche Emotionen und Ausdruckskraft durch live-action Augen, also menschliche Augen, zu erreichen, ist voll und ganz aufgegangen. Die Augen sind übergangslos in die Gesichter der Figuren eingebunden. Sie wurden - vereinfacht ausgedrückt - unter Berücksichtigung der Lichtverhältnisse von Schauspielern, die der jeweiligen Situation entsprechend agierten, aufgezeichnet und passgenau in den Film eingefügt. Eine glorreiche Idee, sind die Augen in diesem Fall doch wirklich das Herz der Emotionen und des Ausdrucks. Sie stechen jedoch nicht hervor, als dass man andere Details vernachlässigen würde. Womit wir wieder bei einem im Zusammenhang mit Animationsfilmen oft gebrauchten Stichwort sind, dem Detailreichtum. Auch hier kann der Film mehr als begeistern, wie schon bei anderen Filmen geschrieben, wird man Vieles erst bei mehrmaligen Sichtungen bewusst wahrnehmen – für mich immer schon ein Reiz, der diese Art Filme so besonders macht. Die Animationen sind so geschmeidig und subtil, dass selbst kleinste Nuancen erkennbar sind. Man braucht hier gar keine Beispiele heranziehen, ein Blick auf den Trailer macht das mehr als deutlich. Hervorheben möchte ich zudem noch die Kameraeinstellungen, Schnitte und die Beleuchtung, die sich zusammen mit der tollen Geräusch- und Musikkulisse für einige sehr temporeiche und spannungsgeladene Szenen, wie ich sie so sonst nur aus live-action Filmen kannte, verantwortlich zeichnen. Als Madame Tutli-Putli durch die Wagen zu rennen beginnt, ist förmlich zu spüren, wie es ihr die Luft abschnürt. Aber auch der Gang der Madame Tutli-Putli am Ende des Films ist unglaublich feinsinnig. Je öfter man sich den Film ansieht, desto mehr wird man dieser Subtilität gewahr. Technisch gesehen ist dieser Film ein Meisterwerk, das steht außer Frage. Hier wurde die Meßlatte für kommende Stop Motion Filme in neue Höhen gelegt.
Wie sieht es mit dem Inhalt aus? Darüber bin ich mir (noch) nicht im Klaren. Recht verwirrt ließ mich die erste Sichtung zurück, einen roten Faden konnte ich nicht entdecken, allerdings einige Momente, in denen sich Möglichkeiten zu bieten schienen, sich einen Reim auf das Gesehene zu machen. Diese offenen Türen schlossen sich aber meist mit der nächsten Szene oder machten dann doch nicht wirklich einen Sinn. Die Frage danach, was der Film eigentlich erzählen will, bleibt.
Ich will etwas näher auf den Film eingehen, hauptsächlich als Gedächtnisstütze für mich oder als Diskussionsanstoß für diejenigen, die den Film schon gesehen haben. Ich beginne, als die Sonne gerade hinter dem Horizont verschwindet. Hier ist schon nicht klar, ob sich Madame Tutli-Putli in der Realität oder einer Traumwelt befindet, oder gerade aus einem kurzen Schlaf erwacht ist. Außer Madame Tutli-Putli befinden sich alle Fahrgäste im Reich der Träume. Madame muss feststellen, dass der Zug in einem Waldstück gehalten und vermeintlich ein Eigenleben entwickelt hat. In der Oberleitung hängen sonderbare Gestalten, die in der Dunkelheit der Nacht nur schemenhaft zu erkennen sind. Womöglich beobachten sie Madame Tutli-Putli in ihrem schwach beleuchteten Abteil. Die blickt immer wieder aus dem Fenster, mysteriös-rätselhafte Momente spielen sich ab. Der zum Leben erwachte Zug setzt sich wieder in Bewegung, da entdeckt Madame ein Hinweisschild, das vor Dieben warnt. Die Diebeshände, die darauf abgebildet sind, gleichen vielmehr Monsterklauen – nur eine graphische Übertreibung oder steckt doch mehr dahinter? Eher letzteres, denn mit Schlamm verdreckte Schuhe schleichen den Gang entlang, die Unbekannten, die Tutli-Putli nur als Schatten an der Wand zu sehen bekommt, machen sich am Lüftungssystem des Zuges zu schaffen. Ein grünes Gas strömt durch die Schächte in das Abteil von Madame Tutli-Putli und deren schlafende Abteilgenossen. Es klopft an der Tür, der immer schneller werdende Zug hinterlässt mittlerweile eine brennende Schneise in der Landschaft. Plötzlich schnellt Madame auf, wie aus einem Alptraum erwacht. War alles nur ein böser Traum oder hat sie das Gas schachmatt gesetzt? Das Gepäck und die anderen Reisenden sind verschwunden. Eine weitere Sequenz oder eher ein visualisierter Erinnerungsfetzen zeigt, wie dem Tennisspieler ein Organ entnommen wird. Völlig verstört und verängstigt verlässt Madame Tutli-Putli das Zugabteil bis sie in schlammig-breiige Spuren tritt. Sie beginnt zu rennen, Wagen für Wagen. Nachdem sie gestürzt ist und die Motte erblickt hat, die ja auch nicht zum ersten Mal zu sehen ist, macht sie auf mich nicht mehr den verstörten Eindruck. Ihr Gang ist klar, fast anmutig, hat einen Rhythmus und ist zielgerichtet. Madame Tutli-Putli folgt der Motte, oder dem Licht, dem sie entschlossen entgegen schreitet. Der Flügelschlag der Motte und die Handbewegungen der Madame überlagern sich.
Ich habe daraus geschlossen, dass Madame Tutli-Putli tot ist, gestorben woran auch immer (wurde sie getötet, durch das Gas oder die unheimlichen Gestalten?).
Der Tunnelblick auf das Licht am Ende des Wagens und die Flügelbewegungen habe ich so gedeutet.
Vielleicht war aber auch alles nur Imagination, denn man sieht nie, dass Madame Tutli-Putli tatsächlich den Nachtzug besteigt, zu Beginn rauscht er an ihr vorbei. Einzelne Sequenzen lassen vermuten, Madame bewege sich in einem Traum. Auch eine Vermengung aus Realität und Einbildung scheint möglich. Madame Tutli-Putlis letzte Reise? Viele Fragen, vielleicht ist manches weit hergeholt, aber wie schon geschrieben, sind das nur ein paar Gedanken, die mir so durch den Kopf gegangen sind. Bisher habe ich außer der vagen Beschreibung von NFB bewusst keine Meinungen gesucht, interessiert bin ich nun natürlich schon.
Madame Tutli-Putli ist Stop Motion Kunst in Perfektion, inhaltlich für meine Wenigkeit keineswegs leicht verdaulich. Ich denke nicht, dass es sich um eine bloße Aneinanderreihung von Skurrilitäten handelt, auch wenn das möglicherweise erst einmal den Anschein hat.
Gesehen auf DVD (CDN), kein Dialog DD 5.1 EX, ~17 Minuten.
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