So, nun habe ich die Kritik doch noch geschafft. Sicher kein Meisterwerk, aber besser als nix.
Willkommen im Tollhaus, R: Todd Solondz, D: Heather Matarazzo, Brendan Sexton Jr, Eric Mabius
gesehen am 01.10.2003 im TV (HR3 - Late Lounge)
"Es ist keine Geschichte über das Erwachsenwerden. Ich glaube nicht, dass man in der siebten Klasse erwachsen werden kann. Der Film ist eine Komödie, weil das die einzige mir bekannte Form ist, mit entsetzlichen Qualen umzugehen; außerdem liegt meines Erachtens etwas sowohl Komisches als auch Ergreifendes in dem Versuch, Demütigungen zu ertragen ... In der Junior High School gibt es nur Leben oder Tod. Alles wird ganz besonders intensiv empfunden. Grobheit und Grausamkeit sind traumatische Erfahrungen. Nicht alle Kinder erleben diese Extreme, aber diejenigen, die es tun - Verfolger und Verfolgte - , sind vielleicht für den Rest ihres Lebens geschädigt." (Todd Solondz über „Welcome to the Dollhouse“)
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Warum werden Todd Solondzs Filme in Deutschland nicht auf DVD veröffentlicht? Eine Frage, die ich mir immer wieder stelle, wenn ich einen Film von ihm gesehen habe. Verdient hätten sie es auf jeden Fall. Denn Solondz, der 1989 mit seinem Spielfilmdebüt „Fear, Anxiety & Depression“ einen so großen Flop produzierte, dass er dem Filmbusiness sofort wieder den Rücken kehrte und erst 1995 mit „Welcome to the Dollhouse“ ein großes Comeback hinlegte, hat mit seinen wenigen Filmen gezeigt, was für ein enormes Potential er hat. Die zahlreichen Preise für „Welcome to the Dollhouse“ und vor allem für seinen genialen Streifen „Happiness“ kommen nicht von irgendwo her. Die Filme haben sich diese Preise verdient.
Im Mittelpunkt seines Comebackfilms „Welcome to the Dollhouse“ steht die elfjährige Dawn Wiener (Heather Matarazzo). Sie geht in die siebte Klasse der Benjamin Franklin Junior Highschool im amerikanischen Bundesstaat New Jersey. Sie ist die Außenseiterin der Schule. Das leicht dickliche und immer geschmacklos gekleidete Mädchen wird von allen in der Schule gehänselt und fertig gemacht, von Schülern und von Lehrern.
Am schlimmsten setzt ihr Mitschüler Brandon (Brendan Sexton Jr.) zu. Der etwas ältere Junge aus ihrer Klasse, bedroht sie sogar mit einer Vergewaltigung.
Zu Hause geht es Dawn nicht besser. Zwischen ihrer kleinen Schwester Missy (Daria Kalinina), die nur in ihrem rosa Tutu zu Klängen von Tschaikowsky durch das Haus tanzt, und der klare Liebling der Mutter (Angela Pietropinto) ist, und ihrem nüchternen, älteren Bruder Mark (Matthew Faber) ist sie das schwarze Schaf der Familie.
Die täglichen Demütigungen zu Hause und in der Familie haben Dawn bockig gemacht, was ihr immer wieder neue Probleme einbringt. Einziger Rückhalt und Freund ist der jüngere Nachbarsjunge Ralphy (Dimitri Iervolino), mit dem sie sich im Garten in einem Bretterverschlag als trifft. Dies ist das Clubhaus ihres „Special People Club“, in dem sie die einzigen Mitglieder sind. Auch Ralphy ist ein Außenseiter. Der als „Homo“ verschriene Junge weiß, dass ihm das gleiche Schicksal wie Dawn blüht, wenn er auf die Junior Highschool kommen wird.
Dawns große Liebe ist Steve Rodgers (Eric Mabius). Der deutlich ältere Junge und Frauenschwarm des ganzen Ortes ist in letzter Zeit immer öfter bei ihnen zu Hause, da er mit Mark eine Band gegründet hat. Dawn himmelt ihn an, lauscht bei allen Proben der Band und macht sich Hoffnungen. Die Enttäuschung wird folgen...
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Todd Solondz’s Streifen ist die nur untypischste Schilderung der Entwicklung eines jungen Mädchens, die man sich nur vorstellen kann. Er zeigt ein Mädchen, das auf den ersten Blick scheinbar in der typischen Familienidylle einer amerikanischen Kleinstadt lebt. Die erste Einstellung zeigt zu zarten Klavierklängen ein idyllisches Familienbild und man könnte meinen Dawn ist ein glückliches Mädchen, wie jedes andere auch.
Doch weit gefehlt. Das hässliche Entlein Dawn durchlebt jeden Tag die Hölle. Die Schule ist eine Tortur und zu Hause geht es nicht besser weiter. Das Mädchen durchlebt jeden Tag ihren persönlichen „American Nightmare“. Bildlich festgehalten ist das ganze Horror-Leben von Dawn Wiener in einem Bild: Der Überblick über alle Schulspinde! Ein Spind neben dem anderen ist in der Wand, alle von außen ohne jeden Makel, ohne jede Schmiererei. Von einer Ausnahme abgesehen: In der Mitte aller Spinde ist der von Dawn Wiener. Übersät von oben bis unten mit Beschimpfungen. „Wiener Dog“ sieht man immer wieder dort stehen, eine doppeldeutige Anspielung in Verbindung mit ihrem Nachnamen. Der Spind ist ein Sinnbild für die Leiden von Dawn in der Schule.
Doch Solondz gibt seiner Anti-Heldin und dem Zuschauer Hoffnung in der Person von Steve. Der deutlich ältere und gutaussehende Junge mit den langen Haaren hänselt Dawn nicht. Er behandelt sie sogar nett und spricht mit ihr. Als die beiden den Titelsong „Welcome to the Dollhouse“ anstimmen, sieht es aus als könnte Dawn von ihren Leiden erlöst werden. Man traut Solondz zu, dass sich nun eine Liebesbeziehung zwischen dem elfjährigen Mädchen und dem sicher sechs Jahre älteren Jungen entwickelt. Doch weit gefehlt, das Glück ist nur von kurzer Dauer. Als Steve gerade mit einem anderen Mädchen zugange ist und Dawn ihm eine Ehrenmitgliedschaft im „Special People Club“ anbietet, lacht Steve Dawn aus. „Special People Club“ ein Club für geistig Behinderte, wirft er ihr entgegen. Dawn ist am Boden zerstört, der Zuschauer zum ersten Mal einer Chance aufs Happy-End beraubt.
Doch die zweite Romanze bahnt sich schnell an. Gerade Brandon, der sie am schlimmsten von allen behandelt, hat sich scheinbar in Dawn verliebt. Seine angedrohte Vergewaltigung entpuppt sich als schwacher Kuss. Dawn, blind vor Liebe zu Steve, weist Brandon erst zurück; als sie ihren Fehler einsieht, ist es zu spät. Brandon ist wegen Drogenhandels von der Schule geflogen und von seinem Vater nun in eine Besserungsanstalt geschickt worden.
Todd Solondz macht dem Zuschauer immer wieder alle Hoffnungen auf ein Happy-Ende zu nichte. Zum letzten Mal, wenn Dawns Schwester entführt wird und Dawn sich auf die Suche gibt. Wenn sie ihre Schwester findet, dann wird sie sicher die Heldin. Doch während ihrer Abwesenheit geht die Entführung unspektakulär zu Ende und es nimmt nicht mal jemand richtig Notiz von ihrem Verschwinden. Stattdessen muss sich bei einem Vortrag in der Schule über die Entführung wieder dem Spott aller aussetzen. Symptomatische Szenen für das Leiden von Dawn. Bei der Entführung ihrer Schwester brechen Vater und Mutter zusammen, das Verschwinden von Dawn wird gar nicht zur Kenntnis genommen.
„Welcome to the Dollhouse” geht recht unkonventionell vor. Solondz bricht mit allen „Regeln“ ähnlicher Streifen. Es wird keine Wandlung von Dawn geben. Ihr geht es nach dem abrupten Ende des Films nicht besser als zuvor, sie wird weiter so gedemütigt leben müssen, wie bisher, bis sie älter ist. Dawn wird nicht die hübsche Prinzessin werden, wie es in einem Hollywood-Kitsch-Film sein würde.
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Das wäre auch falsch, denn Dawn ist auch nicht die typische Hollywood-Heldin, sie ist vielmehr eine Anti-Heldin. Ihr Verhalten ist höchst ambivalent, sie muss selbst viel einstecken, teilt aber auch aus wenn sie die Gelegenheit bekommt. Ralphy, der einziger der „schwächer“ ist als ihr, wird von ihr als „Homo“ beschimpft und zurückgestoßen. Sie lässt ihren einzigen Freund fallen. Ihre Mitschüler werden von ihr verpetzt, wenn sich ihr die Gelegenheit bietet. Sie ist also selbst nicht ganz unschuldig an den Demütigungen, die sie erleiden muss. Sie rebelliert, oftmals unnötig gegen ihre Familie und verschlechtert dadurch ihre Lage noch weiter.
Diese Rebellionen von Dawn sind immer mit einer fast aggressiven, kurzen Melodie unterlegt, die diese Szenen ankündigt und unterstreicht. Allgemein spielt die Musik eine wichtige Rolle in Solodonz’ Streifen. Das beginnt mit den einleitenden, harmonischen Klavierklängen, setzt sich mit der Musik von Tschaikowsky fort, welche die Ballerina Aktionen von Dawns kleiner Schwester unterlegt und die bestimmende Musik im Haus ist und gipfelt natürlich, in der eher mittelmäßigen Band von Dawns großem Bruder, die plötzlich mit Steve als Frontmann Musik machen kann. Der Einsatz der Musik unterstreicht perfekt die jeweilige Stimmung des Films.
Solondz erzählt seine Geschichte mit viel Witz und viel traurigen Momenten. Oftmals muss man, ob des schwarzen Humors des Streifens, lachen, oft ist die Geschichte aber so traurig, dass man fast weinen möchte. Dabei schafft es Solondz aber seine Protagonistin nicht der Lächerlichkeit preiszugeben und den Kitsch zu meiden. Der schwarzhumorige Witz von „Welcome to the Dollhouse“ ergibt sich vor allem aus den absurden Szenen des Films, ähnlich wie in Happiness, dort allerdings noch absurder.
F A Z I T
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“Welcome to the Dollhouse” ist ein Contra zu den tpyischen Highschool Filmen aus Amerika. Der Film greift das oft verwendete Thema der Beliebtheit auf, doch so ernüchternd wurde dieses Thema noch nie behandelt. Solondz wandelt perfekt vom Komik zu Tragik und wieder zurück. Einfach ein toller Film für den es schwer fällt die richtigen Worte zu finden. Zehn von zehn Punkten!
Interview mit Todd Solondz zum Film:
http://www.kn-online.de/htm/dauer/freizeit.../c-solondz.html