(03. Oktober 2003 | Kino | OmspU | Yelmo Cineplex Ideál 4, Madrid)
Und hier ist er schon, der Eintrag zur 4. Sichtung! Zugegeben, ganz freiwillig war dieser Kinobesuch nicht, aber er hat sich im Nachhinein vollends gelohnt! Und nicht nur wegen der äußerst attraktiven Begleitung!
Denn zu meiner großen Begeisterung (und irgendwie ein kleines bißchen auch Enttäuschung) glaube ich, ganz kurz davor zu stehen, die Aussage "Mulholland Dr. läßt sich nicht vollkommen schlüssig interpretieren!" zu widerlegen. Mir fehlt lediglich ein Beweis für eine kleine Teiltheorie und eine Erklärung für das ein oder andere mir unverständliche Symbol, dann glaube ich, alle Widersprüche beseitigt zu haben! Mal schauen, das werde ich in nächster Zeit bestimmt einmal ausführlicher zu Papier bringen, wenn ich den Film noch einmal mit gezücktem Notizblock angesehen habe. Immerhin vergess ich bis zum Ende immer wieder die Hälfte von dem, was mir während des Films aufgefallen ist.
Warnung: Jeder, der den Film nicht kennt, hat von dem Folgenden wahrscheinlich rein gar nichts, zumindest aber jede Menge Spoiler. Deshalb: Weiterlesen auf eigene Gefahr!
Ich schreibe mal weitgehend ungeordnet, was mir im Moment alles noch einfällt und mir bei den letzten beiden Malen so aufgefallen ist (oder was ich, zuvor nur vermutet, bestätigt gefunden habe). Achja, meine Interpretation beruht auf der äußerst gängigen Theorie, dass der erste Teil ein (Wunsch-)Traum der Protagonistin des zweiten Teils sein soll.
- Zu Beginn schwenkt die Kamera nicht über zerwühlte Laken, vielmehr ist es die Perspektive einer Person, die sich eben schlafen legen will. Die Kamera sinkt dem roten Kissen entgegen. Dann beginnt der Traum.
- Nach dem Unfall legt sich Nebel über das Geschehen, viel mehr, als bei einem Autounfall realistisch erscheint. Der Nebel der ausgelöschten Erinnerung? Noch einmal sieht man solchen Nebel später im Film: Nach dem Selbstmord der Protagonistin!
- Die äußerst beängstigende Szene, des Alptraum-Patienten, der seinem Psychiater im Coffeehouse von seinen Problemen erzählt und sich daraufhin seiner Angst stellen möchte, ist keinesfalls aus dem Zusammenhang gerissen. Diese, und einige weitere, scheinbar unpassende, Sequenzen, sind ebenfalls Träume. Traum-im-Traum, sozusagen. Ganz deutlich legt sich die Gedächtnislose unter dem Tisch zum Schlafen hin, als diese Szene beginnt. Sie erwacht an ihrem Ende. (Die Symbolik lasse ich jetzt einmal außen vor...)
- Betty bezeichnet das Haus ihrer Tante als "Dream Place"!
- In der Handtasche der Schwarzhaarigen findet sich viel Geld. Woher stammt es? Hat sie ein Verbrechen begangen? Wollte sie eines in Auftrag geben?
- Der Regisseur Adam Kesher wird erpresst, eine gewisse Camilla Rhodes für eine Hauptrolle zu casten. Dabei verwendet der Espresso-Trinker (darauf komme ich später noch zurück) lediglich einen üblichen Headshot und die Worte "This is the girl!". Mehr wird zu der mysteriösen Person, die so ungerecht das bekommt, was vielleicht einer anderen zustehen würde, nicht gesagt. Auch hierzu mehr später...
- Die Bedienung im "Winkie's", das die beiden Frauen später aufsuchen, heißt Diane. (Die Begründung dafür, offenbart sich später.) Dies weckt die Erinnerung der Gedächtnislosen: Beim darauffolgenden Telefonanruf bei einer gewissen "Diane Selwyn" sagt Betty verheißungsvoll: "It's strange calling yourself!" Dann halten BEIDE Frauen ihr Ohr an den Hörer!
- Der Regisseur ertappt seine Frau beim Ehebruch. Und weder die Frau noch der Nebenbuhler zeigen soetwas wie Schuldgefühle. Folglich wird er etwas grob - und wird bestraft. Auch diese beiden Phänomene treten später erneut auf.
- Die Szene, die Betty probt, endet mit den Worten: "Before I kill you! - Then they'll put you in jail! - I hate you! I hate us both!" Wieder eine Umschreibung der Handlung im zweiten Filmteil.
- Der mysteriöse Cowboy gibt dem Regisseur den Rat, dass er, wenn er die geforderte Schauspielerin beim Casting gesehen habe, die Worte "This is the girl!" verwenden soll. Allerdings (ich formuliere bewußt als Widerspruch) sagt er auch: "Now, you will see me one more time if you do good. You'll see me two more times if you do bad.
Goodnight." Obwohl der Regisseur tut, wie ihm geheissen (wie auch analog dazu Diane im zweiten Filmteil - Erklärung folgt), taucht der Cowboy noch ZWEIMAL auf (einmal "weckt" er die schlafende Diane aus ihrem Traum, später huscht er als Partygast durch den Hintergrund)! Und es wird ZWEI Tote zu beklagen geben! Ist der erste Ratschlag des Cowboy ein emotionaler, während der zweite Ratschlag rationaler (moralischer) Natur ist? Für den Regisseur scheint es die einzige Möglichkeit, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, wenn er die geforderten Worte "This is the girl!" ausspricht.
- Kurz nachdem er dieses Vorhaben in die Tat umsetzt, trifft sein Blick auf Betty - und umgekehrt. Ist es Reue in seinen Augen? Furcht in ihren? Fluchtartig verläßt sie das Set, doch scheinbar aus einem völlig anderen Grund!
- Die beiden Frauen finden die tote Diane Selwyn auf ihrem Bett vor. Doch seltsamerweise (Grund folgt) scheint die Gedächtnislose sehr viel schwerer mitgenommen von dieser Entdeckung.
- Als Folge daraus möchte die Schwarzhaarige (Gedächtnislose) aus ihrer Identität fliehen - sie möchte sich ihre Haare abschneiden. Doch Betty hält sie davon ab, und überredet sie, eine blonde Perücke (nach offenbar mehreren andersfarbigen Versuchen) zu tragen - Bettys eigene Haarfarbe. Die Szene endet mit einer Liebesszene - die beiden Frauen "vereinigen sich", wie der Poet vielleicht sagen würde. Doch ist dies jetzt Entwicklung oder Erkenntnis?
- Die Katharsis - Läuterung - folgt auf dem Fuße. Im Club "Silencio" erfahren die beiden Frauen, dass alles eine Illusion sei, eine Aufnahme. Sie erlebten die Vergangenheit, genauer, eine vorgetäuschte/mögliche Vergangenheit. Betty, die 100%ig unschuldig und gut ist, wird von Krämpfen gepackt. Wenig später, zu Hause, verschwindet sie spurlos. Kurz bevor die Schwarzhaarige ihr eigenes Geheimnis "entschlüsselt".
Der folgende Teil ist vermeintlich einfach aufzulösen, beachtet man lediglich die kleinen Hinweise, die der Regisseur gibt: Der chronologische Ablauf läßt sich mit Hilfe diverser Gegenstände in der Dekoration rekonstruieren. Schwieriger ist es allerdings, den Bezug zum vorherigen Traum herzustellen, denn verschiedenste Personen sind vertauscht. Das Problem ist jedoch kaum die Zuordnung, sondern die Begründung dafür.
Ein Versuch einer Conclusio:
Diane wird in ihrem Traum verkörpert durch die Schwarzhaarige. Sie ist auf dem Weg, den Mord an ihrer Freundin (und damit an sich selbst, daher auch diese Gestalt) in Auftrag zu geben. Durch den Verlust ihres Gedächtnisses, kann sie jedoch alles noch einmal überdenken. (Der Unfall ereignet sich an dem Ort, an dem auch ihr endgültiges Unglück begann. Hier ist sie aus dem Auto gestiegen, um zu der Party zu gehen, wo ihre Geliebte ihre Hochzeit bekanntgibt.) Hierbei begegnet sie ihrem "guten Gewissen" in der Gestalt der grenzenlos naiven und völlig schuldlosen Betty. Sie ist hochtalentiert, herzensgut, selbstbewußt, zielstrebig, unerschütterlich und in jeder Hinsicht perfekt! Den Namen "Betty" sah sie zuvor im "Winkie's" (dem Ort ihrer Sünde, also begegnet sie in ihrem Traum-im-Traum auch hier ihrer grenzenlosen Schuld) auf dem Namensschild der Kellnerin. Und da in L.A. ja bekanntlich alle Kellnerinnen unentdeckte Filmstars sind, so heißt auch ihr unentdeckter Filmstar im Traum "Betty". Gleichzeitig markiert diese Erkenntnis auch den letzten Punkt, an dem sie noch hätte umkehren können, zu ihrer guten Seite, zu Betty. Zum (unrealistischen) Wunschtraum wird der erste Filmteil dadurch, dass sie dieser guten Seite ihr eigenes Gesicht verleiht, obwohl sie in der Realität anders entschieden hat. Ihre endgültige positive Entscheidung im Traum fällt dann, als sie sich der unausweichlichen Folge (nämlich ihr eigener Tod) bewußt wird, und sich folglich ganz mit dieser Seite einläßt. Die Show im Club "Silencio" offenbart allerdings die Sinnlosigkeit dieser Handlung, denn sie erlebt nur eine mögliche Vergangenheit, die leider nicht stattgefunden hat. An dieser Erkenntnis geht Betty zu Grunde (ihr Anfall und ihr Verschwinden!).
Ihre schlechte (vielmehr schwache) Seite, wird repräsentiert durch den glücklosen Regisseur Adam Kesher. Sein Gesicht wählt sie deshalb für diese Rolle, weil es im realen Leben er ist, der die Schuld für ihre Misere trägt - er hat sich ungefragt in ihr Leben gedrängt und ihr all das genommen, was ihr wichtig war. Doch auch er ist nicht böse, nur egoistisch und moralisch schwach. Nach einem kurzen Aufbäumen gegen das Unvermeidliche und der letzten Ermahnung durch die neutrale Stimme des Cowboys ("Du wirst es tun. Wenn du gut handelst, siehst du mich nur noch einmal (irgendwann), wenn du schlecht handelst, zweimal. Gute Nacht!" - Der erste Satz ist Prophezeiung, der zweite Satz die Auflistung seiner Möglichkeiten, samt ihrer Konsequenzen. Eine Wahl hat er aber nicht. Oder nicht mehr. Zumindest aber nicht dieser Teil von Diane Selwyns Persönlichkeit.) gibt er dem Drang nach. Es sind (moralisch) finstere Emotionen, die ihn dazu erpressen, und ebenso sehen auch die Personen aus, die sie verkörpern. Der unbeherrschte Wutausbruch des Einen, der finstere Drahtzieher im Hintergrund, die besonders markante Gestalt des Espresso-Trinkers. Diese hat das Gesicht desjenigen Partygastes, der sie anstarrte, als sie gerade ihren bitteren Espresso schlürfte. Und auch im selben Moment taucht der Cowboy ein letztes Mal - zum zweiten Mal nach seiner Ermahnung - auf, die Entscheidung ist gefallen, sie hat sich für "bad" entschieden, für den bitteren Weg, der "schlechte Espresso" eben, den diese Gestalt so verabscheut - ob er sie schon durchschaut hat, so wie der starrt? Der Regisseur entscheidet sich. "This is the girl!" sind seine Worte (dieselben Worte verwendet auch Diane, als sie dem Killer das Foto ihrer Geliebten überreicht), als er die Frau erblickt. Und diese Frau: Sie erscheint mit dem Gesicht einer mysteriösen Fremden, die die (echte) Camilla auf der Verlobungsparty leidenschaftlich geküßt hat. Sie weiß nichts über sie, wer sie ist, woher sie kommt, was sie macht. Sie weiß nur, dass sie das bekommen hat, was sie haben will, was vielleicht ihr sogar zusteht. Genau wie diese Schauspielerin in ihrem Traum, welche die Traumrolle bekommt, obwohl niemand weiß, warum. In dem Moment, als der Regisseur die verhängnisvollen Worte ausspricht, begegnet er Betty, der unendlich Guten (ebenso wie Diane im wirklichen Leben der Kellnerin Betty begegnet, als sie "This is the girl!" sagt). Doch die unendlich Gute verläßt fluchtartig den Raum - auf dem Weg, ihre eigene (oder eben die von Diane) Leiche zu finden! Als Folge dieser Entdeckung verzweifelt die namenlose Schwarzhaarige, sie wird sich ihrer Tat und ihrer Schuld bewußt, sie möchte alles ändern, rückgängig machen. Doch nicht die Selbstverstümmelung (Haare abschneiden) sei der richtige Weg, sie muß sich nur für die richtige Seite entscheiden, für Betty. Doch leider offenbart der Club "Silencio" im Anschluß, dass sie diese Entscheidung nicht mehr treffen kann. Sie hat sich bereits anders entschieden. Diese vermeintliche Auswahlmöglichkeit verschwindet. (Das Lied, dass die
sterbende Frau im Club singt, scheint eine durchaus parallele Geschichte zur erzählen, soweit ich das verstanden habe...)
Es erscheint der Cowboy, zum zweiten Mal (eigentlich zum ersten Mal nach seiner Ankündigung, bringt man die Geschichte in chronologisch richtige Reihenfolge, dann jedoch bereits zum zweiten Mal, da sein späteres Auftauchen in einer Rückblende stattfindet.) - "It's time to wake up!" - Genug geträumt, jetzt muß das unausweichliche aus deiner Entscheidung folgen! Und tatsächlich, noch am selben Tag, nachdem sie ihre Geschichte ein letztes Mal reflektiert hat, begeht sie ihren Selbstmord.
Wahrscheinlich weist diese Interpretation immer noch tausende Unzulänglichkeiten und Widersprüche auf (ich habe auch nicht jedes Detail aufgeführt, einiges sollte aber daraus klar werden), aber ich komme mittlerweile zu der Ansicht, dass "Mulholland Dr." so unlösbar doch nicht ist. Mir scheint, als gebe es sehr wohl eine eindeutige, widerspruchsfreie Erklärung.
Dann mal kurz: Vielen Dank an Yvonne Chen (auch wenn du das hier gar nicht lesen kannst), die lange Diskussion mit dir über den Film war sehr interessant und hat einige tolle Denkanstöße geliefert!
Tja, mein bisher längster FT-Eintrag. Zerpflückt ihn, diskutiert mit mir darüber, dafür gibt's ja den Kommentar-Thread. In diesem Fall bin ich sogar besonders dankbar dafür! Legt los!