Da ich mir gerade die 190 Minuten von Peter Greenaways Fake-Dokumentation THE FALLS gegeben habe, dachte ich mir, daß der Zeitpunkt gekommen sei, endlich einmal einen näheren Blick auf seine Kurzfilme zu werfen, von denen mir nur einige wenige bisher geläufig waren. Am lohnendsten erschien mir dabei erstmal A WALK THROUGH H, der sich 41 Minuten lang mit einer Sammlung von auf unterschiedlichsten Materialien ausgeführten Karten befaßt, die vom Erzähler (der offensichtlich eine sehr merkwürdige Reise unternimmt) mit überbordender Detailbesessenheit kommentiert werden. Dabei wird berücksichtigt, wo die Karten gefunden wurden, welche Geschichten mit ihnen verknüpft sind, und was für eine Relevanz sie im Hinblick auf die „Reise“ des Erzählers besitzen. Wie im 2 Jahre später gedrehten THE FALLS gefällt es Greenaway, eine Vielzahl verwirrender Randnotizen über den Zuschauer auszuschütten, der – anders als der Erzähler – keine Karte besitzt. Am besten fährt man bei Greenaway immer, wenn man sich vor Betrachten der Filme kein festes Interpretationsschema vornimmt, denn viele der kleinen Bezugnahmen sind natürlich nur spielerisch oder haben einen bestenfalls atmosphärischen Bezug zum Inhalt. Wie in vielen Greenaway-Arbeiten geht es auch hier wieder darum, daß jemand versucht, dem Chaos ein Muster zu verpassen, nach Ordnung zu fahnden. Man sollte diesen Jemand nicht notwendigerweise mit dem Regisseur verwechseln, der sich – so meine ich – einen Heidenspaß aus dem Durcheinander macht. Sehr häufig etwa behauptet der Erzähler etwa eine Eindeutigkeit, die bestimmte Karten besitzen sollen, während andere von großer Ambivalenz seien. Der ironiebefreite Betrachter nun hat mit Sicherheit eine mühsame Zeit, den Kommentarschwall auf der Tonspur mit den abstrakten Formen auf der Leinwand zu verbinden, die von böhmischen Dörfern bis zu einer komplizierten Bedürfnisanstalt so ziemlich alles bezeichnen könnten. Wie immer, wenn der Name Tulse Luper fällt, sind Vögel nicht weit. In welcher Beziehung besagter Herr Luper zum Erzähler steht, kann nur gemutmaßt werden und ist eines der vielen trocken präsentierten Rätsel, die der Film aufgibt. Locker mit den Kartenansichten verwoben sind Bilder von Zugvögeln, die mit all den flotten Gedanken, die sich der Erzähler ebenso wie der Betrachter macht, natürlich nichts am Gefieder haben und auf Autopilot ihre Wege ziehen. In THE FALLS trachten die Filmfiguren danach, sich den Vögeln anzunähern und scheitern dabei auf äußerst pittoreske und vielfältige Weise. A WALK THROUGH H demonstriert nachdrücklich, daß das Wissen um reale oder vermeintliche Geheimnisse den Weg zum Ziel zwar spannend macht, aber auch erheblich kompliziert. Ein sehr hübscher Film, in dem Greenaway auf elegante Weise komplexe narrative Gebilde mit einfachen Bildern untermalt. Ich male mir jetzt erst einmal ein Zielkreuz an den Kühlschrank und studiere dort die geheimnisvollen Wegmuster, die sich auf meinem Abendbrot befinden...
P.S.: Wie bei THE FALLS war ich überaus dankbar für die deutsche Untertitelung, die auf den DVDs der Frühwerke Greenaways zum Glück außerordentlich gelungen ist. Tulse Luper hat übrigens neulich bei mir angerufen und mir etwas über das Rothuhn erzählt, das ja bei den Sumerern als Glücksbote galt, im späten Mittelalter jedoch für Bleichsucht und Unfälle mit Zahnseide stand. Die ausgewachsene Rothenne besitzt genau 92 Federn, die sich alle einzeln bewegen lassen. In der Zeit des Rokoko war man ja der Meinung, daß sich mit ihren Schwanzfedern Liebesgedichte von filigraner Poesie verfassen ließen, während die Schwingenfedern lediglich zum Verfassen von Küchenrezepten taugen sollen. Tulse Luper hat ein Treffen mit mir vereinbart, an dem ihm sehr gelegen schien. Er wirkte gehetzt. Morgen um 12 in der Zoohandlung, direkt neben dem ausgestopften Pinguin. Jetzt erstmal eine Wurststulle!
Bearbeitet von Cjamango, 10. Juli 2007, 18:07.