
(Hunger)
Dänemark, Norwegen, Schweden 1966
Regie: Henning Carlsen
nach dem Roman von Knut Hamsun
Kristiania, 1890. Ein Mann treibt ziellos durch die Straßen der Stadt. Er will Schriftsteller werden. Die verfassten Artikel verkaufen sich schlecht, werden zumeist von den Zeitungen abgelehnt. Stück für Stück trägt der Mann sein Hab und Gut zum Pfandleiher bis ihm nur noch das Allernötigste bleibt. Der immer stärker werdende Hunger geht an die Substanz, versetzt ihn aber auch in rauschähnliche, bewusstseinsverändernde Zustände, die seine geistige Aufnahmefähigkeit sowohl steigern als auch trüben. Es beginnt ein Kampf ums Überleben, den der Schriftsteller mit allen Mitteln zu kaschieren sucht. Er wird dadurch immer tiefer in einen Strudel aus Armut und Hunger gesogen, der ihn an den Rand des Hungertodes bringt.


Knut Hamsuns erster Roman ist autobiographischer Natur. In seiner psychologischen Studie verarbeitet er eigene Erfahrungen aus seiner Zeit in Oslo (das damalige Kristiania), erzählt durch einen namenlosen Ich-Erzähler und innere Monologe. Die dadurch bedingte Subjektivität der literarischen Vorlage, die ein hohes Maß an Identifikation mit dem Protagonisten mit sich bringt, galt es in den Film zu übertragen. Der Protagonist ist im Film in nahezu jeder Szene zu sehen, wenn er nicht im Bild ist, ist zu sehen, was er sieht oder denkt. Auf diese Weise wollte Regisseur Henning Carlsen der Erzählweise des Romans gerecht werden. In die Rolle des Protagonisten schlüpft der schwedische Schauspieler Per Oscarsson. Was heißt Rolle, Per Oscarsson ist die Hauptfigur des Romans! Die Darstellung dieser komplexen Figur ist umso höher einzuschätzen, berücksichtigt man, dass in Hamsuns Vorlage der wechselnden geistigen Verfassung, Gedankengängen, sprich allgemein der Psyche eine besondere Bedeutung zukommt. Dort in viele Worte gekleidet, verzichtet der Film fast gänzlich auf voice-over. Zwar werden einzelne Gedanken im Film in Selbstgesprächen zum Ausdruck gebracht, dennoch fällt der Mimik, Gestik, dem gesamten Auftreten, der Betonung usw. freilich ein viel größeres Gewicht zu. Die innere Zerrissenheit, die Gratwanderung am Rande des Wahnsinns, das Meer an Gefühlen, das den Protagonisten übermannt, das emotionale Wellental, das er durchschreitet, die schwankenden Gemütszustände, kurzum all das, was den Roman so lesenswert macht, verkörpert Per Oscarrson in seiner beängstigend guten, atemberaubenden Darstellung des Schriftstellers. Ich hatte zeitweise das Gefühl, die Gedanken des Protagonisten im Film erahnen, sein Hirn arbeiten sehen zu können. Das Buch habe ich erst nach dem Film gelesen und muss unter dieser Voraussetzung der These, es sei unmöglich, das Buch zu lesen, ohne Per Oscarsson vor Augen zu haben, zustimmen. Das gereicht dem Vergnügen aber keinesfalls zum Nachteil, sondern passt wie die Faust aufs Auge. Überhaupt bin ich der Ansicht, dass sich Film und Buch wunderbar ergänzen, ganz gleich in welcher Reihenfolge man sich dem Stoff widmet.


Die Situation in die der Schriftsteller hineingerät und die sich zusehends verschärft, hat er großenteils sich selbst zuzuschreiben. Seine Prinzipien und hauptsächlich sein Stolz wirken sich selbstzerstörerisch aus. Sogar in größter Not schlägt er sich ihm öffnende Türen zu, weil sie seine Ehre beschmutzen könnten. Damit nicht genug, setzt er noch einen drauf und tritt seinerseits als Gönner auf. Aus Zuständen des Verfalls und der Apathie reißen ihn kurzzeitige, kleinste Erfolge – oft reicht die Aussicht darauf – und die Begegnung mit einer Frau, die er Ylajali tauft. "Es gäbe Naturen, die sich von Bagatellen nährten und an einem harten Wort stürben.", so charakterisiert sich der Protagonist an einer Stelle im Roman.
"Hunger" ist nicht nur aufgrund der grandiosen Darstellung von Per Oscarsson als außergewöhnlich zu bezeichnen, er ist zudem hervorragend photographiert, an Originalschauplätzen in Oslo, in Gebäuden, die teilweise nach Drehschluss abgerissen wurden, gedreht. Die Musik stammt von Krzysztof Komeda, dessen Klänge spärlich aber höchst effektiv zum Einsatz kommen.
Es gäbe noch viel zu sagen, z.B. dass Per Oscarsson für den Film tatsächlich hungerte, dass mit Gunnel Lindblom eine Schauspielerin mitwirkte, die zuvor schon in einigen Filmen von Ingmar Bergman zu sehen war oder dass die Verfilmung des Romandebüts von Knut Hamsun die erste Koproduktion Dänemarks, Schwedens und Norwegens war. Weitere Anekdoten und technische Aspekte werden auf der DVD näher beleuchtet.
"Hunger" ist ein erstaunlicher, intensiver und großer Film, dessen Hauptdarsteller ich wohl nie vergessen werde.
Gesehen auf DVD (US), Dänisch, Norwegisch, Schwedisch DD 2.0, ~112 Min.