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24 Frames/Sec - Spektralanalyse & Halogenflackern - Filmforen.de - Seite 25

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24 Frames/Sec - Spektralanalyse & Halogenflackern


818 Antworten in diesem Thema

#721 moodswing

    Albert Emanuel Voglers Adjutant

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Geschrieben 17. August 2008, 10:02

White Dog
Samuel Fuller, USA 1982

Fuller erzählt in seinem fast verschollenen Rassismus-Drama eine höchst simple, aber effektive Geschichte. Eine Frau fährt nachts einen Hund an und nimmt ihn mit zu sich, päppelt ihn wieder auf und lässt ihn zu ihrem Begleiter und Beschützer werden. Nach kurzer Zeit muss sie jedoch feststellen, dass ihr neuer Freund ein "White Dog" - also darauf abgerichtetet ist, Schwarze zu attackieren. Sie gibt ihn in die Hände eines Tierdompteurs, der versucht ihn darauf zu konditionieren, Farbigen wieder Vertrauen entgegen zu bringen.

Fullers Drama ist gradlinig, fast konventionell erzählt. Die Sprengkraft entsteht aus dem Sujet und dem Thema - Rassismus wird offen ausformuliert als unheilbare Krankheit einer Gesellschaft, exemplarisch verdeutlicht am von ihr dressierten, unschuldigen Tier. Der Hund ist unberechenbar und wird nicht umsonst in einer Schule für "wilde Tiere" - zwischen Löwen und anderen Raubtieren - erzogen. Und selbst diese Erziehung muss letztlich scheitern. Der Mensch kann als Raubtier eben auch nicht seine Untugenden "auslöschen" und "wegtrainieren".

Das besondere Gefälle entsteht in Szenen, wie dem Aufeinandertreffen der Frau und des ehemaligen Besitzers des Hundes - keinem kahlen Nazi, sondern einem gebrechlichen Opa, dessen zwei Enkelinnen gerne wieder mit dem Hund spielen würden. Der Rassimus ist so tief in der Gesellschaft verankert, dass eine einfache Gut-Böse Unterscheidung kaum mehr möglich ist. Der liebevolle Familienhund ist gleichzeitig ein wütender Reißer - es kommt nur auf die Umstände an.

Viel zum gelungenen Auftritt des Films trägt Ennio Morricones großartiger Score bei. Er verleiht der einfachen Geschichte einen würdigen und gehaltvollen Rahmen. WHITE DOG war in den USA jahrelang zensiert und ist über diese Ausblendung leider vielfach in Vergessenheit geraten. Criterion arbeitet nun an einer Veröffentlichung auf DVD, bis jetzt bekam der Film auch diese versagt. Gerade deshalb ist der Hinweis auf den Film dringend nötig, ist er doch ein wichtiger Beitrag zu einem Thema, welches Fuller immer wieder in seinen Filmen aufgriff.

#722 moodswing

    Albert Emanuel Voglers Adjutant

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Geschrieben 20. August 2008, 05:37

The Killing of a Chinese Bookie
John Cassavetes, USA 1976

Bei Cassavetes-Filmen ist das so: Man kann mal kurz aufs Klo gehen und braucht gar nicht die Pause-Taste zu drücken. Wem das zu vermessen klingt, der sollte bedenken, dass dies auch ein gutes Zeichen sein kann. Bei Cassavetes lässt man den Film Film sein und begibt sich gegebenenfalls in diese Welt oder lässt sie nebenher laufen. Ein feiner New York Flavour der 60er und 70er kommt dabei herum. Viel Cinema Direct, Direct Cinema ist der Impuls für die Familienstücke Cassavetes.

Man kann das nun Unbedarftheit nennen, oder Nachlässigkeit, oder einfach nur Lässigkeit, oder die Definition von Independent, Improvisationsgeilheit, unfilmisch oder gerade das Aufdecken einer Filmrealität, die der wahren da draußen eben nicht entspricht. Cassavetes als antiintellektuelle Avant-Garde, Cassavetes aber letztlich sowieso nur wieder als Familienvater.

Ich habe mich ja nach Sichtung von SHADOWS auf eine Begriffsbestimmung wie "bewusster Dilettantismus" festgelegt. Direct Cinema, irgendwie ja, aber sich der Taten doch sehr bewusst. Freiheit der Schauspieler, Freiheit der Kamera. Das einzige, auf was anscheinend geachtet wird: Die Dunkelheit, die Schattierungen. Die mussten es schon sein.

THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE treibt ein ganz besonders eigenes Spiel. Es ist irgendwo im Zeichensystem der Genres verortet (Neo Noir, Thriller), aber schert sich darum einen Dreck. Es erzählt von einem Übervater (herausragend: Ben Gazzara) und seinen Schäfchen, die er zu behüten hat. Es erzählt von einem Jungen (once again Ben Gazzara), der leichtfertig Wettschulden macht. Doch schon allein diese einfachen Plotelemente flankieren den Rest des Films in solcher Beiläufigkeit, dass eine Inhaltsangabe - wie bei Cassavetes üblich - unnötig ist. Den Rest des Films?: Improvisation? Ambiente? Gazzara? Cassavetes macht so unheimlich leichtfüßige Filme, die so unglaublich sperrig sind, es bleibt häufig die Frage zurück: Wo ist denn jetzt der Film geblieben?

#723 moodswing

    Albert Emanuel Voglers Adjutant

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Geschrieben 22. August 2008, 01:55

Elegy
Isabel Coixet, USA 2008

Wie ist das eigentlich, wenn eine gestandene Frau einen Altherrenroman verfilmt? Das Experiment war es Lakeshore wert, Isabel Coixet auf Philip Roths Roman "Dying Animal" anzusetzen.

Für die einen kommt dabei ein seltsamer Knetball aus Hochkultur und Beziehungskitsch heraus. Für die anderen ist es ein Kammerspiel, dass Ben Kingsley und Penelope Cruz tragen. Kingsley spielt einen New Yorker Intelligenzija Professoren, der sein unabhängiges, bindungsfreies Leben genießt. Mit seinem Kumpel, einem Poeten (Dennis Hopper) sinniert man über Hedonismus, junge Dinger, Ehegelübte und nochmals junge Dinger. Penelope Cruz nun verdreht dem gestandenen Herren den Kopf, lässt ihn obsessiv und ihr hörig werden. Glücklichweise verwandelt sie sich daraufhin nicht in eine femme fatale, sondern von hier an beginnt das Beziehungs-Drama seinen Lauf.

ELEGY ist zum Einen ein Film über die Angst vorm Altern. Kingsley sitzt häufig in abgedunkelten Räumen und sinniert im Off über seine Befürchtungen vor den natürlichen Prozessen. Zum Anderen setzt sich der Film mit dem Clash des Zeitgeistes und der hier entstehenden Bildungsproblematiken zwischen Mann und Frau auseinander. Schön ist, wie er den zynischen Hedonismus thematisiert, den die Herren ganz eloquent praktizieren. Weniger schön ist, welche reaktionären Muster sich finden lassen, wenn es darum geht, andere Lebenskonzepte zu diffamieren und als "offensichtlich nicht funktionsfähig" abzuwerten.

Denn ELEGY ist ja eben auch ein Liebesfilm, wenngleich ein tragischer. Über das Suchen und Finden der Liebe handelt er im Kern, am Ende bricht sich das Emotionale hinter dem abgeklärten Zynismus des Intellektuellen seine Bahn. Er muss erkennen: Der Blick auf die Oberflächlichkeiten hat ihn seiner Sensibilität beraubt. Cruz und ihre "Merkmale" - Lippen, Augen, perfekte Haut, perfekte Brust - fungieren als dauerhaftes Symbol für "das Trugbild der Perfektion", was intellektuell inhaltlich immer wieder thematisiert und abgearbeitet wird.

Coixet schafft es immerhin eine gewisse Klebrigkeit des Altherrenromans dem Filmstoff auszutreiben. Als reine Charakterstudie, auch durch die Herausstellung des offenkundigen und lebensfeindlichen Zynismus, legt der Film es auf ein fast verkitschtes Beziehungsdrama an. Zu monolog- und dialoglastig bleibt die Literaturverfilmung und zieht sich ein wenig gegen Ende. Der penetrant blinzelnde Blick auf die Hochkultur, in dem sich ELEGY badet (und die Vorteile auskostet: Beethoven, Bach, Vivaldi - sie alle müssen zur Untermalung der Bedeutungsschwere herhalten), verkünstelt das Sujet nachhaltig. Nichtsdestotrotz ist ELEGY goutierbar, nicht unklug und letztlich ein Kino, das durch 2 Gesichter beseelt wird.

#724 moodswing

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Geschrieben 23. August 2008, 18:51

Keine Sorge, mir geht's gut
Philippe Lionet, Frankreich 2006

Mit Genrezuschreibungen ist das so eine Sache. Je vais bien, ne t'en fais pas ist eindeutig kein Thriller, bezeichnet sich aber selbst als einer. Journalisten übernehmen dies gerne, ob es nun stimmt oder nicht. Don't Worry, I'm Fine erzählt von Lili (Mélanie Laurent), deren Bruder verschwunden ist. Ihre Eltern bleiben zunächst verschlossen, sie hingegen macht eine Entwicklung von einer heftigen Neurose zur zurück ins Leben findenden Tochter durch. Kein Spur von Spannung und Suspense. Keine Sorge... ist eindeutig ein Drama, und nichts Anderes. Die großartig zurückhaltende Kamera erzählt in leisen Bildern von Figuren und ihrem Verhalten zueinander. Sieht man es dem Werk zunächst nicht an, so entwickelt es doch eine erstaunliche und unerwartete Komplexität, lässt die Charaktere nicht in ihrem Klischee zurück, sondern entwickelt vollkommen entgegengesetzte Szenarien.

Es ist ein anti-hysterisches Nebenbei, was der Film entwickelt. Die Geschichte treibt ungemein schnell voran, wirkt dabei aber nie gehetzt und irgendwann wird dem Zuschauer klar, dass hier der Plot und das Konventionelle doch nicht in dem Maße im Vordergrund stehen, wie man dies nach den ersten 30 Minuten vielleicht noch vermuten konnte. Es sind die Figuren, die hier interessieren. Fast ausschnitthaft, mit Sprüngen und Leerstellen versehen zeigt Lionet genau so viel, dass wir am Ende verblüfft sind, ob der genauen Beobachtungen, welche die Kamera gemacht hat. Ja, wir nehmen ihr alles ab, was den Film automatisch zum gelungenen Abschluss bringt.

Dabei fungiert der verlorene Bruder tatsächlich als personeller MacGuffin. Über Verlust und Sensibilität erzählt Keine Sorge..., über Antizipation und verstandene Gefühlswelten. Ein Hauch von Depression legt sich stets über die Bilder, dabei bleibt der Film seltsam geduldig und entspannt. Lionet ist ein starkes Drama gelungen, dass eine Ausbalancierung der Gefühle zum Thema hat und selbst orchestriert.

#725 moodswing

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Geschrieben 26. August 2008, 01:00

Auge in Auge - Eine deutsche Filmgeschichte
Michael Althen & Hans Helmut Prinzler, Deutschland 2008

Will man über deutsche Filmgeschichte reden, stellen sich zunächst einmal ein paar Probleme. Schließlich soll so eine Doku ja doch einen möglichst positiven Impetus besitzen. Was macht man also angesichts der Nazipropaganda, der seichten Nachkriegsfilme, des heutigen qualitativen Vakuums, welches die Filmlandschaft einnimmt.

Klar, thematisieren immer (außer das mit dem Vakuum, das wird natürlich totgeschwiegen), ergibt immerhin eine schöne Dramaturgie. Und dann haben wir da ja noch die Anfangsjahre des Kinos (immerhin sind ja auch WIR die Erfinder des Kinos, die Lumieres wussten nur mehr damit anzufangen), in denen Deutschland immerhin glänzen konnte. Michael Althens und Hans Helmut Prinzlers Schnippsel-Collage wird nach Themen (mit guten Ideen, z.B. Frauenblicke und schlechten Stichwörtern, wie Raucher) und nach Personen geordnet. Die Personen sind aktuelle deutsche Filmemacher, die ihren Lieblingsfilm jeweils in einem anderen, renommierten Arthouse-Kino vorstellen.

Hier ergibt sich dann ein zweites Gefälle, das problematisch wird. Stellt man neben gemachte und reflektierte Filmemacher wie Christian Petzold und Dominik Graf etwa eine Doris Dörrie, die von ihrem Trip nach New York erzählt und in diesen Momenten auf eine Stufe mit Filmkunst gestellt wird, ist das schon zum Augenrollen. Jeder stellt seinen Lieblingsfilm vor, Dresen mit typischer Heiterkeit natürlich ganz Ossi "Solo Sunny", Graf kann erstaunlich wenig Ergiebiges zu Lemkes "Rocker" beisteuern. Erkenntnisreicher da schon die Ausführungen Wolfgang Kohlhaases (Siodmaks "Menschen am Sonntag") und Christian Petzolds (Käutners "Unter den Brücken"). Caroline Link, die sich mit der Dörrie in Sachen Qualität ja auch nichts nimmt, wählt ausgerechnet einen Wenders, dem also - dies wird damit signalisiert - natürlich zu huldigen weil Teil der Filmgeschichte ist ("Rainer Werner war ein guter Freund von mir..."). Auch Michael Ballhaus bekleckert sich nicht mit Ruhm, als er einfach einen alten Fassbilder auskramt und sich nochmal an bestimmte Kameraeinstellungen erinnert (Kameramann selbstredend: Er selbst).

Am Ende also besinnt sich die für ihre Verhältnisse einigermaßen gelungene - da auf Analyse der Geschichte setzende - Dokumentation also auf die Anfänge, die ja eben Deutsch waren (Max & Emil Skladanowsky im Berliner Wintergarten). Das hätte nicht sein gemusst. Aber nochmals: Auch so eine Reflektion mag nicht ohne dramaturgische Schikeria auskommen.

#726 moodswing

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Geschrieben 27. August 2008, 19:18

99 francs
Jan Kounen, Frankreich 2007

Die stets gefährliche Ambivalenz von Affirmation und Kritik, die (post)modernen Filmen nur allzu gerne innewohnt, findet in 99 francs ihren durchorchestrierten Höhepunkt. Der Film erzählt sich sozusagen selbst über den Erzähler, der als Werbefuzzi seinen Zynismen letztlich erliegt, und sie rückblickend noch einmal für das Publikum offenlegt.

Der Knackpunkt ist hierbei nicht die Klischeekiste, in der Neununddreißigneunzig - so der hübsche deutsche Titel - unverhohlen wühlt, sondern die Machart, die ganz ungeniert ein Getümel zelebriert, dass dem Betrachter über den Kopf wächst. Wie soll man auch koksende Unmoralisten anders darstellen?

"Aus dem wahren Leben eines Werbetexters" - ja, das dürfte so ungefähr stimmen. Plot Point mäßig zumindest. Figurentechnisch weniger. Da geht viel Heuchlertum ab. Zu viel, und selbst wenn sein Vorhandensein stets gepredigt wird, müssen wir uns doch auf die eigenen Vorurteile und Erfahrungen verlassen.

Dafür ist 99 francs knallbunt und hysterisch. Wenn man jahrelang auf Koks in dieser Welt gehangen hat, dürfte ein Film darüber auch nicht anders aussehen. Da guckt der ein oder andere Medienfachmann verstohlen zu Boden. Gekotzt, gekackt und geblutet wird da. Recht so.

Stehlen muss auch drin sein, weiß der Film. Handelt ja schließlich vom Motiv des "Arbeitswertverlustes" - also hält Fight Club ebenso her wie In the Mood for Love oder 2001. Stört niemanden mehr, der auch die konsumkritischen Kompaktpassagen ausgehalten hat.

Zwischen herzhaftem Lacher, Überdruß und Angewidertheit entscheidet sich letztlich das Spiel.

#727 moodswing

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Geschrieben 29. August 2008, 13:36

Wolke 9
Andreas Dresen, Deutschland 2008

Andreas Dresen ist in letzter Zeit nicht mehr so unumstritten, wie er es vielleicht noch war, als er mit HALBE TREPPE 2002 einen frischen, jungen und unabhängigen Stil in die festgefahrene deutsche Filmlandschaft brachte. Inzwischen hat sich dieser "Berliner Schnauze Stil" schon fast eingebürgert (etwa in Bernd Böhlichs DU BIST NICHT ALLEIN vom letzten Jahr), und auch in den Interviews in Cannes 2008, zu welchem WOLKE 9 in der Nebensektion Un Certain Regard eingeladen war, stellte sich Dresen als Nörgler, Antielitarist und bewusst Ostdeutscher dar.

Das ist alles eigentlich gar nicht so schlimm, und doch löst es ein gewisses Unbehagen aus, war und bin ich doch jemand, der Dresens Filme immer wieder verteidigen musste. Waren seine letzten Werke jedoch auch stets von einer legeren Heiterkeit geprägt, ändert Dresen den Modus bei WOLKE 9 entscheidend und inszeniert erstmals eine reine Tragödie.

Die wohlmeinenden Worte des Feuilletons hat er nun damit, dass er ein offensichtliches Tabuthema anbricht. Sex im Rentenalter, überhaupt das Motiv der entschwindenden Liebe, die sich mit 70 noch einmal neu gesucht wird. Im Extremfall hat der Spießbürger früher gesagt, dass "eine Ehe bis dass der Tod euch scheide" gehen müsse. An ein Auseinanderbrechen von Ehen im hohen Alter ist selbst heute nicht zu denken, die moral-gesellschaftlichen Grundstrukturen der ältesten Generation geben das noch nicht her.

Inge (Ursula Werner) verliebt sich nach 30 Jahren Ehe mit Karl (Horst Westphal) in den Rentner Werner (Horst Rehberg). Noch funktionierende Beziehungsstrukturen brechen zusammen beim Geständnis der Frau. Sie entscheidet sich für "ihre Träume, Sehnsüchte und Wünsche" wie sie argumentiert und verlässt Karl.

Die Entscheidung des Films seine Figuren mit niedrigem Intellekt zu versehen, wirkt zunächst denunziatorisch. Wir lachen viel über die Charaktere, etwa wenn Karl zur Beruhigung eine Schallplatte mit Dampflokgeräuschen auflegt oder wenn Inge im Chor süffisante Folklore singt. Das alles kennt man von Dresen, die ironische Bebilderung eines Alltags, die fast ins Groteske abgleitet. Deutsche Tugenden, die noch niemand so gut präsentieren konnte wie es Dresen seit jeher tut.

Das Erstaunliche ist nun, dass die Figurenempathie dadurch trotzdem nicht leidet. Im Gegenteil vermittelt sich über die klare Sprache und Emotionslage eine Kommunikations- und Wortlosigkeit, welche die Situation für den Zuschauer greifbarer werden lässt. Waren HALBE TREPPE und SOMMER VORM BALKON Filme, deren Themen überwiegend humorvoll ausgehandelt wurden, so verschiebt dich bei WOLKE 9 der größere Anteil in die Dramatik. Der langsame Niedergang des alten Ehepaares, die offensichtlichen Lebenslügen bei gleichzeitigem, liebevollem Arrangement im Eheverband, die Aufdeckung von Mechanismen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, das alles erschüttert den Zuschauer ungemein.

Am Ende wird Dresen unverhohlen moralisch. Er kann kaum anders, weil die Dramaturgie sonst nicht geschlossen wäre, der Film an sich verlangt es so. Inge wählt den Weg des Egoismus, verdrängt die eigene Verantwortung für einen anderen Menschen und lässt ihren Mann am Ende zurück. Dafür wird sie bitter büßen und sich in die Schuld begeben müssen. Wer einen Zeigefinger dahinter vermutet, liegt sicherlich richtig, die korrekte Entscheidung Dresens war es dennoch - hier wird der Zuschauer der Erschütterung tatsächlich nicht mehr Herr.

#728 moodswing

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Geschrieben 02. September 2008, 00:45

Walk the Line
James Mangold, USA 2005

Ich glaube die grundsätzliche Problematik von Bio-Pics besteht darin zumeist weder einem diskursiven Anspruch, noch einem ästhetischen Mehrwert gerecht werden zu können. Neben dem dramaturgischen Lapsus - dem sich das Genre seit jeher automatisch aussetzt, will es doch eine "wahre" Geschichte erzählen - kann sich so ein Film seltenst behaupten.

WALK THE LINE ist da keine Ausnahme, sondern nur die harmlose Bestätigung dieser Gedanken. Mangold bricht die Figur Johnny Cash herunter auf einen nicht verarbeiteten Brudertod, einen Vater-Sohn-Konflikt und eine Liebesbeziehung, die ihren Weg erst nach 120 Minuten hin und her findet. That's it! Kein Nachstöbern in Zeit und Gesellschaft, kein Interesse für den musikalischen Werdegang und vor allem kein Wort zu einer Ikonografie des Verdammten, die an der Figur stets das Besondere ausmachte.

Statt dessen Groupies, Drogen, der Oscar. Seine Kinder ebenso wenig im Bild wie alle anderen außer June (Reese Witherspoon) und Cash selbst (Joaquin Phoenix). Am Ende wird geheiratet und sich sogar in gewisser Weise mit dem Papa versöhnt. Sonst nichts, nicht mal ein Blinzeln. Walk the average!

#729 moodswing

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Geschrieben 02. September 2008, 23:58

Der rote Kakadu
Dominik Graf, Deutschland 2006

Mit der Aufarbeitung der DDR Geschichte tut sich der deutsche Film bekanntlich pathologisch schwer. Zwischen gut gemeinter Absicht, Ostalgie und einem Nicht-verprellen-wollen des ost- wie westdeutschen Publikums findet sich die Wahrheit für die grellgrauen Komödchen der letzten Jahre. Man kann es sich eigentlich kaum mehr mit ansehen, bei jedem neuen Projekt schwindet das Interesse sich mit dem Stoff überhaupt auseinandersetzen zu wollen. Bei DER ROTE KAKADU nun machte lediglich der Name Dominik Graf aufmerksam. Tatsächlich lohnt sich ein Blick auf das Werk zu werfen. Graf geht die Sache nämlich gänzlich "eigen" an. Wie er selbst sagt, entstand das Projekt im Nebenher, ein fließender Prozess, über einzufangende Luft des Zeitgeistes und sich von selbst ergebende filmische Momente wird da geredet. Nun muss man die Worte eines Filmemachers immer auch kritisch hinterfragen, bei Graf allerdings scheint dies angesichts der offensichtlichen Ehrlichkeit kaum nötig zu sein.

DER ROTE KAKADU erzählt eine wilde, fast wirre Geschichte um eine Dreiecksbeziehung in Dresden kurz vor dem Mauerbau 1961. Rock'n'Roll, eine (noch) Unbeschwertheit und Ähnliches spielen die Hauptrolle im Leben der Studenten. Wie in einem Fiebertraum arbeitet Graf einzelne "Orte" ab. Mal verschlucken die Figuren ganze Sätze, mal zoomt Graf seine Bilder euphorisch durcheinander, dann wieder wild farbige Settings (alles auch immer als Hommage an ein gänzlich anders liegendes Genre, Mario Bava und co zu lesen). Die Dramaturgie holpert damit so dahin, aber wie gesagt, Graf ging es um die "Momente", nicht um eine stringente, runde Story, die womöglich noch eine Moral bereit hält. Stattdessen eine extrem langgezogene Love Story, im Grunde genommen sogar eine ziemlich mutige, weil dem Publikum nicht mehr Beachtung als notwendig geschenkt wird. Graf tut sich im Kontext des "DDR-Geschichte-Aufarbeitungs-Films" wohltuend hervor. Allein, ein Aha-Erlebnis ist DER ROTE KAKADU damit nicht unbedingt geworden. Eher ein ganz seltsamer, ganz eigensinniger Trip.

#730 moodswing

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Geschrieben 04. September 2008, 16:50

Hancock
Peter Berg, USA 2008

Der zwangsläufige Weg eines sich immer intensiver auf Selbstreflexion gründenden postmodernen Kinos ist mit HANCOCK einer, der sich einem der uramerikanischen Genremythen annimmt und es aufs Gröbste verformt. Die legitime Frage ist also, was passiert wenn der Superheld eine Depression bekommt? Noch genauer ist die Frage: Was ist, wenn er ein misanthroper Zyniker ist? Menschen retten, wenn's sein muss. Aber dann bleibt ein krawalliger Knall nicht aus, denn: Gewalt gegen Dinge ist in jedem Fall okay.

Der gutmenschelnde PR-Berater wird zum Retter des Retter. Der vielleicht unrealistischste aller unrealistischen Aspekte des Films. Gegen Mitte ist dann kein Klimax erreicht, sondern der Abschluss von Geschichte Nr.1: Der Superheld wieder auf die richtige Bahn gebracht. Es folgt Geschichte Nr.2: Der Superheld findet sein weibliches Pendant, es konstituiert sich die Liebesgeschichte.

Geschichte Nr.3 ist nur eine Nebensächliche: Die Bösewichte (angeführt von Charakterfresse Eddie Marsan, zuletzt in HAPPY-GO-LUCKY zu sehen) wollen Rache nehmen. Interessiert aber keinen, auch nicht den Zuschauer. Dann die spektakuläre Konstellation am Ende - happy american family und zerbrochenes Herz des einsamen Steppenwolfs auf einmal. Und doch wird es eine Zukunft geben, auch für ihn und seine Liebe. Nicht unklug.

Vielleicht hätte man sich die Engelsgeschichte sparen können, den Mythos vom Gottgesandten braucht der Film nun wirklich nicht (aber brauchte es vielleicht um Will Smith mit an Bord zu bekommen, siehe I AM LEGEND). Ansonsten bleibt HANCOCK Blockbusterkino, das dank einem punktenden Humor eher auf der Gewinnerseite aller Superheldenfilme steht.

#731 moodswing

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Geschrieben 05. September 2008, 18:04

The Incredible Hulk
Louis Leterrier, USA 2008

Das Hulk-Franchise ist sicherlich eine der spannendsten Comic-Serien, die eine mediale Wandlung durchgemacht haben. Nach der TV-Serie aus den späten 70ern und frühen 80ern, die sich bis in die Mitte 90er noch hoher Pupularität erfreuen durfte, holte man 2003 mit dem ersten Kinofilm - einer durchaus gelungenen, sehr eigenartigen und doch einer Comicvorlage unheimlich gerecht werdenden Verfilmung vom Arthouse-Ästheten und perfektionierten Melodramatiker Ang Lee - den Mythos zurück auf die Leinwand.

Verwunderlich ist nun, dass man sich nach dem mäßigen finanziellen Erfolg des Films nochmals an den Stoff gewagt hat. Als Hollywoodskeptiker konnte man nicht annehmen, dass eine Linie beibehalten würde, die einer ernsthaften Auseinandersetzung treu bleiben würde, zudem mit Louis Leterrier ein relativ unbekannter Regisseur (lediglich das Actionvehikel TRANSPORTER 2 geht bisher auf seine Kappe) als Frontmann eingesetzt wurde. Umso überraschender das Ergebnis: THE INCREDIBLE HULK ist ein praktisch durchweg gelungenes Stück Blockbusterkino, weitgehend anders als Ang Lees Version (sicherlich auch was Massenkompatiblität angeht), und doch ansprechend und enthusiastisch inszeniert. Die Liste der positiven Auffälligkeiten ist lang: Allein die rasante Anfangssequenz in den Straßenschluchten Rio de Janeiros zeigt, dass die Macher etwas von Körper- und Affektkino verstehen. Edward Norton als gebrochener Mann ist ideal besetzt, ein grandioses Bild beispielsweise wie er auf den Straßen der dritten Welt bettelnd um Geld zum Überleben kurzzeitig sein Dasein fristen muss (ein verhungernder Superheld, wo hat man das schon gesehen?). Die Liebesgeschichte erstreckt sich minutiös detailiert über weite Passagen des Films, Leterrier ist sein Werk nicht zu schade melodramatische Töne heftig anzuschlagen (eine Gemeinsamkeit mit Lee).

Weiter geht's mit dem offensichtlichen Antimilitarismus, der konsequent durch den Film getragen wird. Die subversiven Betätigungsfelder finden ihren Höhepunkt im "Endgegner", einem zum ehrgeizigen Supersoldaten mutierten Anti-Hulk (Tim Roth), der im Moment der absoluten Macht alles und jeden tötet. Nochmal der enttäuschende, herzlose Vater (auch das bekannt aus Lees Film), und am Ende ein doppelter Gimmick: Zuerst der notwendige Rückzug des Helden (in der wuseligen Masse eines Großstadtmolochs klappte es nicht, nun ist es die Wildnis als Einzelgänger), und nein, selbst buddhistische Yogaübungen können das Innerste nicht zurückhalten. Dann kurz vor dem Abspann noch angedeutete Heldencocktails, auch die exzellente Musik und der Gastauftritt von buddy Lou Ferrigno sei noch erwähnt. Ja, THE INCREDIBLE HULK ist gelungen und lässt die Franchise zur vielleicht vielseitigsten und stärksten in Sachen Comicverfilmungen werden.

#732 moodswing

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Geschrieben 08. September 2008, 18:19

The Devil Came on Horseback
Anne Sundberg & Ricki Stern, USA 2007

Eine der besten - und eine der überhaupt wenigen von außen unberührten - Sequenzen ist ein unfassbarer Moment, in der ein sudanesischer alter Mann sich bei Steidle und seiner Schwester bedankt und dabei vor Rührung fast zusammenbricht. Er sagt "Thank You America! Thank you free world!" und dies etwa 10 Mal. Steidle und seine Schwester besitzen in diesem Moment eine vollkommen unsichere Gestik und wissen mit dieser überwältigenden Menschlichkeit offensichtlich nicht umzugehen. Händeschütteln. Ein paar "Appreciate that!"s. Das war's. Die furchtbare Kamera verfolgt lieber den weinenden Alten als er sich zurückziehen will, anstatt bei den überforderten Soldaten zu bleiben.

THE DEVIL CAME ON HORSEBACK ist eine Dokumentation, die trotz bestem Willen und bester Absichten viel zu vieles falsch macht. Es geht um den Sudan, um den Genozid in Darfur. Es geht aber viel mehr um Brian Steidle, einen amerikanischen Soldaten, der zum Beobachten 2003 in die Region geschickt wurde, als nach dem Waffenstillstandsabkommen die Jagd der arabischen Reitermilizen auf die Afrikaner began. Steidle ist offensichtlich nicht allzu helle, und schockiert darüber, das sein Land nicht eingreift. Er redet davon doch eigentlich mit 38 in Vorruhestand gehen zu wollen, und brüstet sich nun damit, dies nach dem Gesehenen nicht mehr tun zu können, ganz so als sei er der Held dieser Dokumentation.

Aber es ist eben nur diese fetzig geschnittene Doku - eine, die ihre schlimmen Bilder zur richtig getimeten Dramaturgie einsetzt - welche Steidle zu diesem macht. Bewirkt hat der Soldat nämlich wenig bisher. Und weil so eine Doku, die ja auch meist noch etwas erreichen möchte, kaum im Angesicht des Schocks enden kann (wo sie realistisch enden muss), treibt sie der Geschichte einen Drive ein, und einen fast verrückten Hoffnungsschimmer ins Gesicht. Steidle wird zum narrativ nötigen, zentralen Element gemeißelt, und erzählt ungeachtet seiner teilweise zum Zerbersten dummen Beiträge ("könnte man die Welt von diesen seelenlosen Teufeln befreien, sie wäre um so viel besser.") seine Lebensgeschichte als Abgleich mit der Leidensgeschichte der Schwarzafrikaner.

Die amerikanische Sicht - eine jederzeit dreist aufgesetzte - gerät zur Zentralperspektive. Armer, weißer Soldat. Was musste er nur alles mit ansehen? Dass THE DEVIL CAME ON HORSEBACK dabei auch die Absicht erfüllt, aufzuklären und wach zu rütteln, rettet ihn vor einem völligen Abstrafen.

#733 moodswing

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Geschrieben 11. September 2008, 03:28

La Graine et le mulet (Couscous mit Fisch)
Abdellatif Kechiche, Frankreich/Tunesien 2007

Kechiches Familienkaleidoskop öffnet den Blick. In charmantester und naiver Weise wirbelt eine Kamera zwischen unzähligen Figuren einer maghrebinischen Großfamilie in Marseille umher. Schreiereien, Diskussionen, hier kommt man nicht hinterher, dort entdeckt man einen großartigen Dialog. Vollkommen losgelassen zelebriert Kechiche seine Figuren, meist ganz ohne Psychologisierungen, ohne sie zu denunzieren. Einfach ein öffnender Blick.

COUSCOUS MIT FISCH ist Komödie und Tragödie, Familien- und Liebesgeschichte, Sozial- und Migrantendrama, und doch überaus lebensfroh. Der Film ist roh, langsam, lang (151 Minuten), fordernd (mindestens die volle Aufmerksamkeit), eigentlich fast ausverschämt, weil man in seinem sozialen Realismus zunächst wenig filmische Finesse vermuten mag.

Kechiche teilt seinen Film in ein überlanges Sprachwirrwarr aus Diskussionen, alltäglichem Nebenbei, wichtigen Lebensplanungen, affektiven Streitereien und schmissigen Dialogen. Alles bleibt in der Familie. Dann wird er - eine halbe Stunde vor Apfiff - fast unerwartet exzessiv. Intensiv war er schon die komplette Laufzeit über, doch nun wird COUSCOUS MIT FISCH zur puren Extase. Die beiden Hauptfiguren (die sich auch erst jetzt als diese so richtig herauslesen lassen), nämlich der Vater (Habib Boufares) und die Stieftochter (unglaublich betörend und präsent: Hafsia Herzi) werden gegeneinander montiert. Sie rettet die Einweihungsfeier seines Restaurants mit einer nicht enden wollenden Bauchtanzeinlage, in der sie sich vollkommen hingibt. Er versucht verzweifelt dem verlorenen Couscous hinterher zu rennen. Vergeblich und tragisch. Extase, Musik und Tragödie treffen aufeinander, wenngleich die Hoffnung und die Ironie nicht aus dem Bild genommen werden.

LA GRAIN ET LE MULET ist ein warmherziger Film, in dem die Frauen kämpferisch, pfiffig und überlebenswillig - selbstredend damit einhergehend auch zutiefst hysterisch und affektiv - die Männer hingegen im Bild des Vaters als melancholisch, stur und vom Leben gezeichnet gezeigt werden. Das Geschrei ist kaum auszuhalten (der Höhepunkt ist eine 10 minütige Sequenz, in der sich der Vater von einer betrogenen Schwiegertochter anhören muss, dass sein Sohn der größte Arsch der Welt ist), und doch mag man der sinnlichen Zuneigung der Kamera zum Weibe wie zum Manne gerne zuschauen. Kechiche gelingt echtes Weltkino, dem mit Kraft und Anstrengung zu begegnen ist. In den Familienverband integriert, steht man dies aber nur allzu gerne durch.

#734 moodswing

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Geschrieben 13. September 2008, 11:44

Signers Koffer
Peter Liechti, Schweiz 1995
Signers Koffer ist sowohl Reisefilm, Sozialrealismus, Musikfilm, als auch zarte Satire und Experimentalfilm. Der Wechsel der Materialität wird bestimmend, selten zielt er darauf ab wirklich lustig zu sein, das Staunen weicht der puren Skurrilität in der Livekunst.

AlleAlle
Pepe Planitzer, Deutschland 2007
Das Klischee des grauen Ostens setzt sich seither gerne durch, in Planitzers Film tut es dies in allen erdenklichen Facetten eines ausgestellten Losertums, das im Angesicht von Countrymusik, Alkoholismus, Frauenschlägern und dem Irrenhaus einer trist-öden Lethargie das Wort redet, die auf komplette Betriebsblindheit zurück verweist.

Rescue Dawn
Werner Herzog, USA 2006
Was für ein seltsames Stück, dass vor allem nach 80er Jahre Videozusammenschnitt aussieht, und nach fanatischem Enfant terrible riecht.
Herzog erschafft an beiden Enden patriotischen Humus der billigsten Sorte ("This is the final cut we see, and I can say i'm really proud of every picture") und zwischendrin eine mysthische Dschungelschlacht im alten Stil, Aguirre auf amerikanisch und doch ungleich abgehalfterter. Unheimlich immernoch, doch wunderlich heruntergekommen. Man ist fast ein wenig entsetzt, ob der in quadratische Holzmeter eingeteilten Papp-Fragmente.

#735 moodswing

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Geschrieben 14. September 2008, 16:55

Heavenly Creatures
Peter Jackson, Neuseeland/Großbritannien/Deutschland 1994
Viel zu hysterischer, zu wild gewordener Fiebertraum aus Fantasy und Drama, aus poetisch Überhöhtem und Nacherzähltem based on true events. Die wild gewordene Jacksonsche Zoomkamera wird dem Sujet kaum gerecht, wenngleich die Entscheidung durchzudrehen für diese Kritik an einer verengten Gesellschaft in den 50ern Neuseelands nachvollziehbar ist. Verwunderlich bleibt, wie es Jackson gelungen ist, mit diesem Film und dessen Vorgängern in den Mainstream Hollywoods einzuziehen, den er mit dem gähnend langweiligen The Frighteners erreichte und mit der Lord of the Rings Serie mitbestimmte.

Freedom Writers
Richard LaGravenese, USA 2007
Hochtrabend idealistisch mit dem Glauben ans Gute im Menschen auf der Zunge. Glattpoliert und haarsträubend auf Einzelteile und Vereinfachung achtend, dass man es ihm fast nicht mehr abnehmen will. Moralisch einwandfrei, was nie nur gut ist. Trotzdem in Einzelmomenten eines Solidarisierungsidealismus fast ergreifend. Schwacher Score, allerdings schönes musikalisches Zeitkolorit von außen dank gelungener Musikauswahl mit Gang Starr und co. Schwierige Verbindung von Holocaust und Ghettolife, die aber nur zum erzwungenen, überdimensionalen Moralismus beiträgt.

Match Point
Woody Allen, USA/UK 2005
bei der Zweitsichtung überzeugender, wenngleich auch weiterhin überkonstruiert und ultrakühl. Spiel um Schuld und Sühne, die im Zeitalter des Kapitalismus zum leeren, toten Blick des Protagonisten und der gesamten Upper Class führt. Johansson gerät vom verführerischen Objekt eben nicht zur Noir femme fatale, sondern zum Opfer, dass hysterisch und verzweifelt untergeht. Beide Proletarier können sich ihrer animalischen Triebe nicht erwehren und müssen sich ihnen zunächst ausgeliefert hingeben. Am Ende bleibt der Sozialdarwinismus aber Sieger. Atmosphärisch Nahe an der Figurengestaltung eines American Psycho, am Ende zwar nicht so überhöht und brachial, aber doch ebenso böse und verzweifelt. Vielleicht Allens erster richtiger Klassiker.

#736 moodswing

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Geschrieben 16. September 2008, 13:44

Spanking the Monkey
David O. Russell, USA 1994
...oder Frank, der Hund, der beim Masturbieren zuschaut. Russells Debut zeigt sich von einer ehrlicheren Seite als seine späteren Werke aus dem New Whimsy Umfeld. Die Adoleszenzbeobachtung mutiert zum Film über Tabu, Inzest, moderner Ödipuserzählung und das damit einhergehende Blockieren der Identitätsfindung eines Jugendlichen. Die emotionale Annäherung zur Sommerliebschaft bleibt kühl, statt dessen entwickelt sich das Unerwartete. Ein Film über die Schwierigkeit von Intimität, moralisch Verbotenes, leider weiß er selber das nicht immer so ganz genau. Verstörend, wenngleich seltsam dahinplätschernd.

Rendition (Machtlos)
Gavin Hood, USA/Südafrika 2007
Vielleicht kann Hollywood stolz sein auf einen Film wie diesen. Der sich bemüht, versucht ausgeglichen Positionen abzuwägen, der sein Affektkino zielgerichtet steuert und seinen narrativen Trick eben für den maximalen Effekt im Affekt ausnützt. Der Themenkomplex der Dekade - Terrorismus, Guantanamo, Freiheit, Rechtsstaat, Folter - gießt der Film in eine Form um darüber zu debattieren. Nun ja, eine Debatte ist das Ganze bei dem hohen emotionalen Anteil dann vielleicht doch nicht, zudem Rendition dann doch zu eindeutig Position bezieht. Doch gerade die Thematisierung ohne in allzu einfache Muster abzurutschen verdient die Aufmerksamkeit. Teufelskreise des Hasses und die vollkommene Entmenschlichung in diesem Machtsystem sind Erkenntnisse, die durch Gyllenhaals Wandlung zu einem vermeintlichen Halb Happy End abgeschwächt werden, das flaue Gefühl, welches der Film dem Betrachter in den Bauch setzte bekommt er aber dadurch glücklicherweise auch nicht mehr los.

The Dead Girl
Karen Moncrieff, USA 2006
Der angenehme, leise Charakter des Films, und seine Intention ein "menschliches Porträt" einer aus Klischees und Vorurteilen geschusterten Toten zeichnen zu wollen, lassen ihm trotz der offensichtlichen Längen, die er mit sich bringt durchaus Respekt zuteil werden. 5 Episoden um 6 starke Frauen, die mit dem Tod der Prostituierten (Brittany Murphy) mittel- oder unmittelbar zu tun hatten verleihen The Dead Girl eine Struktur, die sich vielleicht am Besten mit "feministischer Kurzfilmkompilation" beschreiben lässt. Das zurückhaltende Sozialethos, welches der Film dabei stets transportiert, lässt ihn übergreifend funktionieren. Er endet im Angesicht des schockierenden Moment, ganz still und starr. Sein Clou dabei: Es gibt keinen Plottwist. Nur die Stille und Antizipation des Zuschauers...

#737 moodswing

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Geschrieben 18. September 2008, 19:44

Psycho II
Richard Franklin, USA 1982
Einen interessanten Abgleich zweier hoch unterschiedlicher Jahrzehnte bieten die beiden Sequels von Hitchcocks Großtat. Tief in den 80ern verwurzelt entwickelt Psycho II das Konzept der Hauptfigur weiter und stellt eine "Psychologisierung" des zwischen sensiblen Muttersöhnchen und voyeuristischen Perversen, zwischen Über-Ich und Es gefangenen Protagonisten in den Mittelpunkt. Eine klare Beziehungskonstellation, die Kamera immer bei Norman Bates und im Haus, alles ist diesmal wesentlich übersichtlicher, damit aber auch leidlich spannend und Angst einflößend. Die wilde Twisterei, die sich der Film am Ende erlaubt geht in Ordnung und wehrt sich offensiv dagegen, dass dem Zuschauer die Geschichte ja schon vollkommen bekannt war/ist. Bleibt der Reihe in dem Sinne treu, dass die Trademark Psycho weiterhin für höchst ungewöhnlichen Horror steht.

Psycho III
Anthony Perkins, USA 1986
Noch tiefer in den 80ern und noch ein Sequel später sieht "Mutter" inzwischen aus wie Michael Myers. Carter Burwell "scored" währenddessen hochkarätig, 20 Jahre später sollte das Hauptthema von DJ Shadow zum popkulturellen Zitat für die Ewigkeit verarbeitet werden. Bates bekommt unterdessen einen locker-männlichen Sidekick (Jeff Fahey) an die Hand geliefert, während er endlich einmal knutschen darf. Selbstredend eine Nonne, anders geht auch nicht. Schade nur, dass dem Drehbuch zu wenig Aufmerksamkeit entgegen gebracht wurde. Psycho III bleibt ein netter Slasher und kann sich als dritter Aufguss immer noch blicken lassen.

The X-Files: I Want to Believe
Chris Carter, USA 2008
Im Spannungsfeld der gewohnten Akte X Mystery greift der zweite Langfilm wieder das Grundmotiv der Triebfedern des Dualismus Glaube/Wissen, Übernatürliches/Wissenschaft auf. Trotzdem gehen die X-Files diesmal nicht über einen Hellseher hinaus. Keine Aliens mehr, keine Monster, auch keine Verschwörung. Stattdessen mehr Fokus auf das Paar Mulder/Scully und eine fast harmlos konventionelle Krimigeschichte. Ansehnlich, aber bei Weitem kein großer Wurf.

#738 moodswing

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Geschrieben 22. September 2008, 00:55

The General
Buster Keaton, USA 1926

Der Fusion-Kino-Hangar gut gefühlt. Die Leute bereit für einen Trip welcher Art auch immer. Die meisten schlafen gewohnheitsgemäß ein. Die Sitzgelegenheiten eher so mittelprächtig bis durchgenudelt. Zeit für den General von olle Keaton. Der Zug startet verspätet, die Jazz-Combo die ihn musikalisch begleitet lässt die ersten feinen Töne erklingeln. Melancholie möchte in den Raum dringen, allein der Film gibt es nicht allzu häufig her. Dann Rasantes, Mimisches, Komödiantisches, aber in erster Linie doch sehr spektakelhaft Fiebriges.

The General misst den Filmraum aus, macht statt leerer Versprechen ein ziemliches Getöse, das in seiner wilden Akrobatik zum Staunen einlädt. Es ist ein sehr naives, unbelastetes Kino, das in den Kinderschuhen (wohlgemerkt hoch durchprofessionalisiert) seine Möglichkeiten auslotet. Und als Spektakel hat man da viele.

Anti-Held und Tollpatsch, eine begehrenswerte Frau, böse Südstaatler, eine Lok, eine Verfolgungsjagd mit allerlei Raffinessen. The General ist simpelstes Unterhaltungskino, welches noch heute weit besser funktioniert als der Großteil der Nachkommenschaft.

Bitter aufstoßen möchte in solch einem Puppentheater für Erwachsene jedoch dann auch das reaktionäre und leider verherrlichende Bild vom Krieg und dem Militär. Das Bestreben und Begehren zur Befriedigung des eigenen Egos wie auch zum Erhalt des Weibes lautet: Ein anständiger Soldat werden! Keaton schafft es am Ende gar zum General und ist stolz und überglücklich, Frau ist damit auch im Sack, der Krieg war schon vorher zum weiteren "Spektakel" herunter dividiert worden. Die Moral von der Geschicht' erhellt den sonst so kreativen Input des Werkes leider nicht und so bleibt beim Applaus auch ein wenig Stirnrunzeln zurück.

#739 moodswing

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Geschrieben 24. September 2008, 21:44

Manufacturing Dissent
Rick Caine/Debby Melnyk, Kanada 2007

Die Dokumentation, die einzig und allein zur Diffamierung Michael Moores entstanden ist entpuppt sich als Lächerlichkeit und Frechheit gleichermaßen. Nicht unbedingt, weil Moore attackiert wird (das geschieht schließlich nicht grundlos und hat grundlegend seine Berechtigung), sondern weil das Publikum mit Halbgarem und längst Bekannten 90 Minuten dazu hingehalten wird eine angeblich investigative Reportage zu sehen zu bekommen.

Dabei machen Rick Caine und Debbie Melnyk schlichtweg den gleichen Fehler, den sie Moore vorwerfen. Aus Eitelkeiten und persönlicher Kränkung entsteht diese Doku, die angeblich einmal aus dem Filmemacher positiv gesonnenen Gründen ins Leben gerufen wurde. Moore stand dem anscheinend skeptisch gegenüber und kapselte sich ab. Das ist nun so schrecklich, dass Caine und Melnyk ihm seitdem permanent hinterherlaufen und "Freiheitseinschränkung" schreien. Dabei stellen sie selbst ein Filmfestival aus dem konservativen Lager vor, dass Anti-Moore-Filme dreht. Der Mann hat allen Grund jeder Kamera skeptisch gegenüberzustehen.

Aprospos konservative Stimmen: Mit denen weiß die Doku nicht umzugehen. Sammelt sie doch nur allzu gerne Argumente gegen Moore, gerät die eine oder andere Person hier aber zur Lachnummer. Als linke Filmemacher, als die sich Caine und Melnyk hier proklamieren, geht der Schuss gegen Moore nur allzu häufig nach hinten los. Sie stürzen sich wie Wölfe auf einzelne Details, die Moore verdreht hätte (wahrlich nichts Neues, er räumt es ja selber auch ein), sehen hinter ihm einen "bösen Menschen" und bekräftigen dies mit irgendwelchen, beliebig gewählten Stimmen, die ihn eben so sehen. Nichts davon überzeugend, alles ziemlich blindlinks zusammengetragen. In den "Deleted Scenes" entdeckt man dann auch Montagen, in denen er als Kind bei den Pfadfindern Süßigkeiten versteckt habe und aus denen der gemeine Zuschauer anscheinend schlussfolgern sollte: "Siehste mal an, der Moore ist ein ganz linker Hund!"

Auch wenn solch Schwachsinn am Ende der Schere zum Opfer fiel, ist sie doch aussagekräftig genug für die Ambitionen der gesamten Films. Die Doku dient zu nichts Anderem als der Diffamierung der Figur Moore, was spätestens ein der DVD angefügtes Interview mit verschiedenen Personen aufzeigt, in welchem Moore ohne Argumentation komplett verhöhnt und beleidigt wird. Bei der Masse an Anti-Moore-Propaganda kann man da schnell auf Ideen kommen und tatsächlich ragt diese Doku nur dadurch heraus, das sie vorgibt aus linker Perspektive entstanden zu sein. Ihr kommerzieller Erfolgszug und die ihnen zuteil gewordene Aufmerksamkeit zeigt nur ein Symptom auf, das unlängst bei Moore offen liegt - und auch in MANUFACTURING DISSENT wie ein investigativ recherchierter Fakt zutage getragen wird.

#740 moodswing

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Geschrieben 28. September 2008, 02:35

Filmfest Hamburg 2008__# 1 + 2


From low culture to low culture
Eine hochgeschätzte Schreiberin aus der taz erquickt sich regelmäßig daran, dass auf Filmfestivals (v.a. Venedig) auch mal B-Movies oder von ihr betitelte Abbildungen der "low culture" ihren Platz finden. Dass sollte auch auf dem Filmfest Hamburg nicht anders sein, und so startete die Filmrundschau für mich persönlich dieses Jahr mit dem Sundance-Erfolg und potentiellen San Sebastian Sieger Frozen River von Courtney Hunt (nein, den Opener Nordwand habe ich mir wohlweislich nicht gegeben. Nichts kann einem schlechtere Laune bereiten als die trendige deutschtümelnde "Geschichtsaufarbeitung"). Der kleine Ami konzentriert sich auf das White Trash Milieu im State of New York und beobachtet eine vom Leben gezeichnete Mutter bei ihren Bemühungen durch das Schleusen illegaler Einwanderer das letzte, nötige Cash zusammenzukratzen. Wo Überlebenkampf endet und Menschlichkeit anfängt beschreibt das verschneite Drama in ruhigen Bildern. Eine "low culture" beschreibt auch der argentinische Zeitdehner Liverpool von Lisandro Alonso. Der Film gehört zu den Kandidaten, die ihre ungläubig zu bestaunenden Landschaftsbilder ausstellen (das ländliche Argentinien von Schnee bedeckt) und meinen damit alles gesagt zu haben. Die Geschichte des blass-trüben Seemanns, der seine Mutter, die ihn nicht mehr wiedererkennt, besucht könnte jedenfalls nicht unmaßgeblicher sein. Die Kamera bleibt hängen an ihren elend-langen Einstellungen und penetriert die Nerven des Zuschauers. Die Hälfte des Publikums hat dies nicht durchgehalten.

Filmfest hin oder her, unglücklicherweise wurde ein weiterer, großer Event der low culture auf diesen Freitag gelegt, nämlich das Fußballrowdytum, das sich allwöchentlich über Testosteron - besser: Bierbauch-Deutschland legt, hatte einen Pflichttermin zu verbuchen: Nach 6 Jahren spielte der FC St.Pauli wieder bei Hansa Rostock. Das bedeutete in vergangenen Tagen (den 90ern) 10% rechte Stiernacken-Hools und 90% durchtrainierte Bierbauch-Bauern treffen auf allerlei linkes Gesindel vom gemäßigten Pädagogik-Studenten bis zum radikalen Antifa. Heutzutage sieht das Bild nicht viel anders aus, doch irgendwie sind alle müde geworden und hängen nur noch schlaff in der Kurve. So fuhren wir auch gleich in einer Karre mit einem Rostocker Anhänger (30-jähriger Ex-BWL-Student, Gel-Haar, Kennzeichen: markige Runterbuttersprüche) und einem Pauli-Fan (19, Zivi, Ziegenbärtchen). Alles nicht mehr so dicke mit der Feindschaft, und so sah das behäbige 3:0 auch wie ein Sieg gegen jeden anderen Gegner aus, wenngleich die Fans ihre kreativen "Scheiß Pauli" Rufe gut und gerne alle 5 Minuten erneut aufführten. Das heilige Ritual von Menschenähnlichem hinter mir bepöbelt und angemacht zu werden durfte nicht fehlen, hier zeigte sich Fußballgott allerdings ungleich kreativer als beim Spiel an sich und ließ eine Dorfdiscopille mit dem Charme einer echten Nordostdeutschen die Worte "Du Scheiß Eunuch!" mehrmals wiederholen. Mein Beklatschen zur kreativen Wortwahl wurde mit Bespucken quittiert. Das ist doch mal ein fairer Gestenabklatsch oder?!

From low culture to high culture
Zurück beim Filmfest heute in aller Herrgottsfrühe erwartete mich zunächst einmal filmkünstlerisch Hochwertiges: Der Brite Terence Davies erschafft mit Of Time and the City eine Hommage an Liverpool, eine Filmcollage mit viel Archivfootage und Elegie, deren Bilder leider anscheinend nicht für sich selbst stehen können und einen Märchenerzähler an die Seite gestellt bekommen, der die Tonspur durchweg dominiert. Der große mexikanische Abräumer beim Festival in Guadalajara The Desert Within im Anschluss benötigt solcherlei Erzählmodus nicht. Das bleischwere katholische Drama berichtet vom Vater, der seinem Fehler das Leben eines Priesters durch den Egoismus sein Kind unbedingt taufen lassen zu wollen aufs Spiel setzt, in religiösem Übereifer ummünzt und die Schuld auf das getaufte Kind projiziert. Die Tiefe Tragik und der herunterziehende Gemüt des Films ändern nichts an den zwei möglichen Lesarten - neben jener der Kritik eines religiösem Fanatismus gibt es auch den Präsenzgestus, der an Erhabenheit und tiefer Erfurcht vor dem Katholizismus nichts vermissen lässt. Technisch perfekt umgesetzt, schwitzt man als Betrachter ob des Popanz doch etwas.

Gut und gerne als schwarz/weiß-Reinfall möchte ich All That She Wants von der "kanadischen Arthouse-Hoffnung" (Programmheft) Denis Côté bezeichnen. In lässiger Lethargie wird hier kanadischer White Trash (Aha, wieder unten angekommen!) gezeigt, und irgendwo zwischen den "Schockbildern" einer angedachten Vergewaltigung einer minderjährigen Russin und dem Stemmen gegen eine "männerdominierte Welt" (nochmal Programmheft) darf sich jeder seinen eigenen Reim auf einen Film machen, dessen Figuren nicht kaltherziger gezeichnet hätten werden können. Das Gleiche in schwarz (man verzeihe mir diesen Kalauer) dann im Anschluss aus Südafrika mit Darrell Roodts Zimbabwe, nur ungleich naiver, arthousebefreiter, moralverseuchter und technisch abgefuckter. An die Digitalkamera ohne Windschutz muss man sich erstmal gewöhnen, irgendwann klappt es aber und wir bekommen die Geschichte eines Mädchens erzählt, das nach dem HIV-Tod der Eltern nacheinander von Tante, Cousin, Zwischenhändler, Aufsichtsperson und weißem Chef und Chefin (bei denen sie putzt) ausgenutzt wird. Dem schnurgeraden Filmchen steht es da gut zu Gesicht, dass er seine Figuren rund um die Hauptfigur bitterböse zeichnet und am Ende nicht davor zurückschreckt gleich auf 3 Vergewaltigungen anzuspielen. Keine Frage, die Weißen sind hier vor allem die Bösewichter in ihren Stahlzaunkolossen in Johannesburg, aber damit möchte ich eigentlich kein Problem haben. Eher vielleicht mit dem zu stark im Vordergrund stehenden Dilettantismus und der simplen Moral am Ende.

Angekommen in der Höchstkultur
Eigentlich mal Zeit für einen guten Film, oder?! Mit Adoration verband ich am heutigen Tage meine größten Hoffnungen. Der kanadische Arthouseliebling mit ägyptisch-armenischen Wurzeln - Atom Egoyan - bekam den Douglas-Sirk-Preis verliehen, und wie schon im letzten Jahr gab es in der Hamburger Gute-Laune-Kultur-Society erst einmal eine Laudatio. Eine doppelte wohlgemerkt, denn er bemüßigte sich nach dem selbstbeweihräucherndem Auftritt von Wim Wenders auch Vizebürgermeisterin Christa Goetsch auf die Bühne. Nachdem Wenders schläfrige olle Kamellen aus der Mottenkiste ausgepackt hatte (in den 80ern hat er seinen Preis in Montreal an den damals noch jungen Egoyan weitergereicht - Klatsch! Klatsch! Herr Wenders), durfte Goetsch den Namen des Geehrten auch nochmal falsch aussprechen, um sich dann über sein "Oevre", dass er ja besitzt wie Festivalleiter Albert Widerspiel so gedankenscharf feststellte, zu freuen. Die ganze Chose gab es ja im letzten Jahr bereits ebenfalls, nur konnte/wollte sich dort Laudator Matussek nicht so lange auf der Bühne halten wie es Wenders und Goetsch taten. Nach 45 Minuten durfte dann der Film beginnen. Mein erster Egoyan begann erwartet bedeutungsschwer, aufgeladen und verstrickt. "Assoziativ" wurde das genannt, nun ja, anstregend und figurendistanziert ist es zunächst. Das Besondere am neuen (und den alten?) Egoyan ist nun die langsam greifende Psychologisierung der Protagonisten. Weiter und weiter dringt man in ihre Welt vor, erfährt informationsmanagementmäßig hübsch gelöst viele charakterliche Wendungen und muss sich umorientieren. "Plottwists" mag der Film zwar auch, die sind aber tatsächlich nur Nebensache. Stattdessen dominieren zunächst viele angeschnittene Diskurse - Terrorismus und seine Argumentationslogik, Xenophobie, die Möglichkeit von Ver- und Misstrauen in der aktuellen Gesellschaft, Identitätsfindung bei gleichzeitiger Trauerverarbeitung. Alles bekommt seinen Spielraum, am Ende interessieren jedoch allein die Figuren. Wer hier welche Rolle hatte - das auch, aber weniger als etwa wer hier welche Gefühlsachterbahnen durchmachen musste. Ein schöner Film, der Lust auf mehr vom Egoyan macht, die glücklicherweise demnächst im Metropolis-Kino befriedigt werden darf. (oder auch nicht, wie ich gerade lese, da sich die Werkschau auf 3 Tage während des Fests beschränken)

Aus Belgien dann zum Abschluss des Tages 2 ein verknappter, entschlackter Michael Haneke: Happy Together von Geoffrey Enthoven erzählt von einer einer Bürgerlichkeit, die beim ersten Anzeichen von Misserfolg zusammenbricht. Das ist nicht besonders originell und durchaus plakativ, aber sowas sieht man allemal lieber als Steppenfilme über Bergbauern aus Kasachstan.

#741 moodswing

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Geschrieben 30. September 2008, 03:04

Filmfest Hamburg 2008__# 3


Es gibt wie so gewöhnlich bei traditionellen Veranstaltungen auch beim Filmfest ein paar weniger schöne Neuerungen und ein paar Verbesserungen. Die unangenehmste Dinglichkeit ist wohl die Schließung des Grindel-Kinos, in dem das Fest jährlich seinen Stammplatz inne hatte. Nachdem Hamburg anscheinend brennend daran interessiert ist seine Kinolandschaft nach und nach vertrocknen zu lassen, während alle Milliönchen, die unsere nicht gerade darbende Stadt besitzt in die Sydney-Konkurrenz-Oper im Roboter-Kunstpark Hafencity gesteckt werden, musste das Filmfest nun ins letzte größere Etablissement in der Stadtmitte ausweichen - dem Cinemaxx Kino am Dammtor. Dem Filmfan ist das Kino vor allem als Austragungsort des alljährlichen Fantasy Filmfests bekannt. Nun werden alle 8 Säle mit internationalem Arthouse gestopft. Ob denen das gefällt?

Die Mitarbeiter geben sich Mühe, und dürften ob der ruhigeren, gesetzteren Kundschaft gegenüber dem Cineplex-Teen zufrieden sein - aber so ein Hungerlohn will sich auch erst mal verdient werden, nicht wahr? So sitzen dann die armen Kerls am Online-Ticket-Schalter herum und drehen den ganzen Tag Däumchen. Unsereiner verschwindet ab 10 Uhr in den Katakomben und sieht so seltsamen Kram wie etwa Eye of the Sun, einen Halb Ägypter/Halb Maroccaner, der wohl irgend so etwas wie ein authentifiziertes arabisches Kino darstellen soll. Das Filmmaterial sieht jedenfalls aus als sei eine VHS projiziert worden. Nach 10 Minuten übersteuertem Dialog-Ton bekommt man erstmal 10 Minuten lang eine Hochzeitsfeier zu sehen. Alles echt, da bin ich mir sicher, nur frage ich mich, was der Film unter den "fiktionalen Arbeiten" des Festivals verloren hat. Da war wohl mal wieder jemand zuviel Gutmensch.

In Lost, Indulgence ist man glücklicherweise wieder dazu übergegangen auf halbwegs adäquatem technischen Niveau zu filmen. Das ändert leider nichts daran, dass der Chinese seltsam skurril anmutet, obgleich er doch ein Drama darstellen will. Noch schlimmer begegnet einem da nur Good Morning Heartache, einem italienischen Liebeskomödchen, dass im Programmheft innovativer angekündigt war als es letztlich auch nur im Ansatz verkörpern kann. Nach 5 Minuten rasenden Weibertobereien - wie man sich das eben so bei Italienerinnen vorstellt - musste ich zur Nervenentspannung den Saal verlassen. Schlimm nur, dass die Russen den Italienern in Sachen Durchgeknallheit nicht viel nachstehen. Vanechka handelt von einem Mädchen, dass ein Baby nach der Ermordung der Eltern aufnehmen muss, später auch dringlich will. Korrupte Cops und finster dreinschauende Russendrescher sind ihr auf den Fersen, da lernt sie einen schmierigen Oberkapitalisten kennen, der in etwa Ähnlichkeit mit dem jungen, sympathischen Klaus Maria Brandauer hat. Der trinkt erstmal literweise Wodka, lügt ihr was von Kunstverständnis vor, säuft nochmal Wodka und leckt sie ab. Das Schöne ist: Für den bis hierhin schon lebenslustigen Film (was gibt's Witzigeres als angedachte Vergewaltigungen?) bedeutet diese Konstellation: Die große Liebe! Bevor er sich vom Hochhaus stürzt (Finanzkrise, wie aktuell) soll er doch besser der Retter für Teen (wie alt doch gleich nochmal?) und Kind sein. Am Ende dreht sich die Kamera vom Hochhaus in etwa der gleichen Geschwindigkeit weg, die auch eine Flasche Wodka im Kopf des Betrachters auslösen würde. Was lernen wir nun aus dem Film? Oligarchen sind herzensgute Samariter? In Russland sind eh alle bekloppt, da ist ein strammer Kapitalist ja noch regelrecht human? Russische Filme und europäische Festivals beißen sich wie Hund und Katze?

Gerade an so einem Tag ist es doch gut als Gegenmittel zum fast schon trashverdächtigen Filmmaterial einen unerkannten Schatz zu sichten. Der brasilianische Stray Dog von Beto Brant und Renato Ciasca erzählt eine Geschichte herausgepickt aus einer anonymisierten Junggeneration. Ciro (Júlio Andrade) ist ein streunender, lethargischer Junggeselle Ende 20, der in seiner Einzimmerwohnung in Porto Alegre sein Dasein mit Zigaretten, Alkohol und Frauengeschichten fristet. Hin und wieder besucht er seine relaxten Eltern, übersetzt irgendeinen Kram ins Russische oder erfreut sich an den Malereien seines Hausmeisters. So ein Leben - symbolisch ideal ausgedrückt in einem namenlosen Straßenhund, den Ciro aufgenommen hat - braucht keine Einführung und so sehen wir gleich in der ersten Szene eine Fickerei mit Marcela (Tainá Müller), die ihm am Folgetag ihre Nummer da lässt, weil Ciro kein Handy besitzt. Er könne sich ja mal melden, wenn ihm so danach ist. Ihm ist danach, und so wird aus dem Techtelmechtel nach einer Weile tatsächlich starke Zuneigung und so etwas wie Liebe, was Ciro in seiner Apathie nicht gleich zu erkennen vermag. Marcela bekommt Krebs und muss in die Chemotherapie, Ciro weiß sich nicht anders zu behelfen als zu trinken und sich den Komplettabschuss zu geben, bis seine Eltern ihn aufnehmen und sein Vater ihm erzählt, dass er früher mal Koks genommen hat um mehr arbeiten zu können. Hier findet sich interessanterweise das Gegenteil von Ciro, und damit auch eine spannende Generationsverschiebung vom Wirtschaftsboom zur Perspektivlosigkeit. Überhaupt ist Stray Dog die Bebilderung pathologischer Nicht-Regungen einer Generation. Ciro geht nicht zum Arzt, sucht sich nur widerwillig Jobs, die er dann doch ablehnt und verdrängt selbst die Beschäftigung mit der Zukunft seiner Beziehung, die doch so gut läuft. Andrade und Müller spielen dabei so befreit auf, dass es allein wegen dieses Schauspielerkinos ein großer Spass ist dem Film beizuwohnen. Das Bemerkenswerte ist dennoch: Stray Dog ist schönstes Intuitivkino, das offenkundig Lebensausschnitte sucht und findet, die sich jeder gängigen Dramaturgie und Narrativik des Liebesfilms verweigern. Es geht um mehr als nur die Beziehung und die Figuren, und doch sind sie das Zentrum, um das sich das Werk bewegt. Bis zur Festivalhälfte der beste Film des Fests.

Die vor Ort präsente Claire Denis präsentierte dann am Abend noch ihren neusten Schwebebalken 35 Rum. Der Film erzählt von Vater und Tochter und ihrem Figurenuniversum im Pariser Vorstadtleben. Beiden kämpfen sich durch ihren monotonen Alltag, kommen nach Hause und kochen sich geruhsam einen Reistopf. Darum geht's. Reistöpfe, oder besser gesagt: Harmonie. Denis Film ist großes Gestenkino, dass Figuren und dem zu Sehenden Zeit und Raum gibt sich frei zu entfalten. Ein Körperkino, dass in den Blicken der Figuren untereinander mehr transportiert als mit all seiner Handlung. Es wird so gelebt. Wir leben für 100 Minuten mit und müssen am Ende - wie der Vater - loslassen. Die Figuren sind uns bis hierhin nach und nach näher gekommen. Mit viel Musik wird Leben transportiert wie es - so sagt es das Klischee - für den französischen Film üblich ist.

Und doch kann man das nicht so stehen lassen, weil sich 35 Rum etwas Unentschuldbares leistet. Aus welchen Gründen auch immer (Filmförderungszuschläge, ich hör euch lachen) wandert Denis mit ihrem Film in den letzten 15 Minuten nach Deutschland, Lübeck. Und als ob es ein eisernes Gesetz ist - wenn Filmmaterial deutschen Boden betritt wird's peinlich. In Persona von Ingrid Caven leistet sich der leichtfüßige Franzose eine Faux Pas, der beinahe den schönen Rest ad absurdum führt. Die gute Frau spielt so überdreht exaltiert und deplatziert, dass der Schock die Schamesröte ins Gesicht treibt. Diesen hitzig-überdrehten Eindruck machte die "Künstlerin" selbst auch nach der Vorführung. Sie redete unentwegt, gab ihre Interpretationen zum Besten und blamierte die gesamte Filmcrew, deren der deutschen Sprache beherrschendem Teil die Chose nur allzu deutlich unangenehm war. Erst als das Publikum unruhig wurde, brach der Moderator ab. Fassbinder, einmal mehr: Was hast du uns mit deiner Filmkultur nur eingebrockt?

#742 moodswing

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Geschrieben 02. Oktober 2008, 13:10

Filmfest Hamburg 2008 # 4


Eröffnungs- und Abschlussfilme sind so eine Sache. Da das Filmfest Hamburg kein wirkliches Profil besitzt, und vor allem keinen richtigen Wettbewerb kann die Wahl dieser beiden Filmchen der Veranstaltung wenn schon kein Gesicht dann doch zumindest eine Maske geben. Als Opener wählt man nun regelmäßig deutsche Gebrauchsware, und hieß es erst noch der bestimmt ganz großartige Schnapschuss ins Techno-Submilieu Berlin Calling solle dies sein, änderte das Fest es noch zum nicht minder bemittelten Nordwand. Viel Spass dabei! Tradition verpflichtet. Auch Schlechte.

Der Abschlussfilm immerhin hörte sich zumindest auf dem Papier an als ob man dazu morgens um 10 sein Nickerchen fortsetzen kann, da man sich doch nicht allzu sehr über den Schmonzes auf der Leinwand aufregt. Eldorado handelt von 2 Männekens, die gemeinsam in die weite Welt ziehen, einer ein Griesgram mit weichem Herz, der andere eine bemitleidenswerter Drogie. Stilsicher wandelt der Film dann zwischen traurig sein machen und Schmunzeln so breit die Mundwinkel reichen. Nanu, sowas kennt man doch nur aus Skandinavien?! Nee, die Belgier können das auch ganz gut, und wenn das jetzt schon dort angekommen ist, könnte man dann nicht mal drüber nachdenken sich auch mal wieder an anderen, ehrlicheren Humor umzusehen? Wenn dieser Film ein Profil des Festivals umreißen soll, dann könnten man sich fast schämen hier Dauergast zu sein.

Ein ganz anderes Kaliber dann schon Adhen von Rabah Ameur-Zaïmeche. Der Algerier bringt den Arbeiterfilm zurück aufs Parkett, Marx würde sich da vielleicht freuen. Fragmentarisch erzählt das Werk von einer Schar nordafrikanischer Einwanderer in Frankreich, die sich in einer Paletten-Fabrik verdingen. Es geht um Religion und Arbeit, um Traditionen und Anpassung. Alles mündet in einen offenen Konflikt und Streik. Der Film ist eine Sitzprobe sondergleichen, bleibt ästhetisch naiv und simpel und entfaltet dadurch seine Kraft - wenn man nicht schon längst das Kino verlassen hat.

Spannender da schon, was Pablo Larrain in Tony Manero veranstaltet. Verrückt ist das, bekloppt, hanebüchen, unangenehm. Er schickt uns auf die Reise mit einem Unsympathen, John Travolta-Verehrer und Serienmörder. Letztgenannter Fakt ist ebenso im Nebenbei zu betrachten wie die Pinochet-Diktatur, die dort im Hintergrund rauscht. Denn das Ganze spielt im Chile der 70er Jahre. Da werden Menschen auch mal gefoltert und abgeführt. Das findet aber Off-screen statt, denn unsere Kamera interessiert sich nur für das Ekel Raoul. Der NebenAffekt bedeutet damit auch: Die Morde des Mannes, dessen Schweißperlen wir stets sehen können machen uns mehr zu schaffen als das gesellschaftliche Klima, das wir - wie er - nur partiell wahrnehmen. Ein dreckiger kleiner Film ist das, der bei mir noch Stunden nach der Sichtung für vollkommene Unschlüssigkeit sorgte. Inzwischen weiß ich: Diese Schweinerei gefällt mir. Und eine Zweitsichtung ist nötig.

Glanz und Glorie verbinden sich mit dem Namen Versailles - in Pierre Schöllers gleichnamigen Film sieht der europäische Edelort für gelangweilte Touristen auf einmal ganz düster, dreckig und grau aus. Er erzählt die Geschichte eines Kindes, das immer wieder aufs Neue verstoßen wird. Zunächst von der noch jungen Mutter im Stich gelassen, wächst es bei Aussteigern im Wald auf. Später dann kommt es in eine gutbürgerliche Familie, doch die Bindungsschäden sind inzwischen zu stark sichtbar. In Frankreich läuft etwas gewaltig schief mit dem sozialen Netz. Das verstoßene Kind darf - muss aber auch nicht - gerne sinnbildlich gesehen werden für die Schäden des Rechtsrucks, den die Bürger ertragen müssen. Der Film funktioniert auch deshalb so gut, weil alle Figuren glaubhaft vermittelt werden und die Narben ihrer eigenen Geschichte tragen.

Versailles ist auch deshalb ein schöner Film, weil er keine Künstlichkeit prätendiert. Das Hauptproblem eines der Centerpieces des Festivals - Nuri Bilge Ceylans Three Monkeys. Der Film beschaut sich die Auswirkungen eines Lügenkonstrukts. Ein Vater und Chauffeur für einen führenden Politiker geht für diesen in den Knast. In dieser Zeit vergnügt sich die Ehefrau mit dem selbstverliebten Mann, der die anstehende Wahl trotz der nicht herausgekommenen Affären haushoch verliert. Irgendwann bekommt der Sohn die Situation spitz, der Vater kommt aus dem Knast und die Lage eskaliert... Ceylans Film strotzt nur so vor Schwerfälligkeit in seinen getönten Bildern. Die schroffe Aura, die poetische Tragik in jedem transportierten Bild, die Wortlosigkeit, alles sorgt dafür, dass Three Monkeys lange Zeit ein intensives Filmerlebnis ist. Irgendwann aber wird der Zuschauer dem Gehabe überdrüssig. In Cannes schliefen die Hälfte der Kritiker während der Vorführung ein. Das ist auch kein Wunder, denn wer möchte sich schon 110 Minuten in dieser konstruierten Prätention ergehen? Ceylan macht durch sein Bestehen auf die bleierne Bedachtsamkeit auf die Überlänge erstreckt seinen Film und dessen Wirkung kaputt. Ein interessantes, aber unbefriedigendes Filmerlebnis.

Bliebe noch eine Runde Entspannung: Tokyo! umfasst drei ca 30 Minüter von drei uns bekannten Namen. Michael Gondry präsentiert uns in Interior Design einen Studentenfilm, jeder der mal in einer viel zu kleinen Butze bei Freunden untergekommen ist wird sich hier wiederfinden dürfen. Gondry inszeniert Tokyo wie es für kleines Geld eben aussieht. Enger Raum für junge Menschen. Leos Carax legt es da schon bunter und lauter an: In Merde lässt er ein koboldähnliches Wesen (Denis Lavant) auf die Japaner los, dass diese nicht ausstehen kann und terrorisiert. Carax Parabel auf Terrorismus, Fanboytum und Medien lässt sich kritisch an und erfreut sich des Bumors eines Jean-Pierre Jeunet. Kann also gar nicht so schlecht sein. Joon-ho Bong schaut am Ende noch mit seinem Märchen Shaking Tokyo in die Runde. Ein soziopathischer Einzelgänger und Zwangi schließt sich in seine Wohnung ein bis eines Tages eine Gleichgesinnte seine Denke durcheinanderwirbelt. Für den sympathischen Schnuckel gilt wie für viele Episodenwerke. Schön anzusehen, aber Druck und Erwartungen nicht zu hoch ansetzend eben auch nur verarbeitete Ideechen ohne Anspruch auf allzu große Seriösität.

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Geschrieben 05. Oktober 2008, 04:02

Filmfest Hamburg 2008 # 5


Ein Staunen ernte ich regelmäßig, wenn es wieder auf geht zum nächsten Filmfestival. Nun, das ist inzwischen 5 Mal im Jahr der Fall, also staunt meine Umgebung gewohnheitsgemäß häufig. Wie ich denn so viele Filme verarbeiten könne? Hintereinander weg! Wie ich denn den ganzen Inhalt behalten könne? Wie ich denn mit so wenig Schlaf auskäme? Tja, wenn die wüssten wie gut man in Kinosesseln schlafen kann und den Kinosaal als Traumvorkammer akzeptieren kann. Und das mit dem Verarbeiten? Da kommst du nun ins Spiel, liebes Filmtagebuch...

Bei aller Kritik, die meiner Cinedrogensucht von vielen Seiten entgegen gebracht wird, ein Argument bleibt einem doch immer noch: Den ganzen Tag Filme gucken ist immerhin besser als euer 9 to 5 Job! Der Protagonist aus Bill Plymptons neustem Streich Idiots and Angels wäre so einer, wenn er nicht wie der Titel besagt ein Idiot wäre. Nun ja, seinen täglichen Weg in die Alkikneipe könnten man allerdings irgendwie auch als 9 to 5 Tätigkeit verstehen. Irgendwann wachsen ihm Flügel, die er erstmal rabiat abrupft, doch irgendwann akzeptieren muss und menschliche Züge annimmt. Plymptons gesellschaftsbeißender Cartoon macht in seiner kurzweiligen Art Spass und lässt die "Spaßfilme" solch eines Festivals auch gerne mal auf der Strecke.

Einer von diesen wäre etwa Terribly Happy vom Dänen Henrik Ruben Genz. Nun ja, ein Spaßfilm ist das nicht direkt, aber einer der seine Kauzigkeit gerne in die Waagschale wirft und damit so eine Art Understatement-Humor etablieren möchte, wie man es die letzten Jahre bis zur Ermüdung aus Skandinavien typischerweise erleben musste. Diese Film-Schrulle handelt von einem City-Polizisten, der aufs misstrauische Dorf versetzt wird und dort den Dienst zwischen seltsamen und verschlossenen Gestalten absitzen soll. Allein diese Synopsis verrät alles über den Film. Ein Konstrukt, dass zum Gähnen zwingt. Irgendwann erstickt er dann die Frau vom Dorfalki aus Versehen und der wird beschuldigt und blah blah blah. Am Ende erfreuen sich alle der kauzigen Schnoddrigkeit, mit der diese jederzeit berechenbare Genreware vom vereisten, skandinavischen Fließband seinen üblichen Weg geht. Dass der Film in Karlovy Vary den Hauptpreis gewonnen hat, lässt mich zum ersten Mal in meinem Leben ein Filmfest von der Liste der noch zu besuchenden Festivals herunterstreichen.

Besser an kam da schon der weitaus durchdachtere Däne Fear Me Not von Dogma-Veteran Kristian Levring. Ulrich Thomsen spielt einen Mann, der vom Familienvater zum Psychopathen mutiert durch - wie er glaubt - Medikamententests an denen er teilnimmt. Gut, das mutet schon seltsam an, dass Thomsen mit seiner Familie am vielleicht paradiesischsten Ort der Welt lebt (ein Riesenhaus mit Riesenfenstern am Riesensee mit Riesenwald) und doch an gefährlichen Pillenschluckereien für ein paar müde Mark teilnimmt. Der "Placebo-Witz", der hier schon herumgeisterte und den man auch nach durchlesen der Synopsis vorausahnen kann, ist für den eigentlichen Film so nichtig, dass auch ich ihn hier gerne vorwegnehme. Fear Me Not ist vielmehr bedächtiges, angenehmes Schauspielerkino auf recht hohem Niveau. Ein Film über die Abhängigkeiten, die eine Person gerade in seiner Hybris in seinem Umfeld schaffen kann. Durchaus keine Offenbarung, aber da hätte durchaus Schlimmeres um die Ecke schielen können.

Die Amis zum Beispiel. Die bewiesen am Abend meines fünften Filmtages leider nur Geschmacklosigkeit. Mit Sunshine Cleaning erdreistet sich der gezeigte Film nicht nur, schon im Pretext auf den Erfolg von Little Miss Sunshine aufspringen zu wollen, sondern formuliert dieses Vorhaben in all seinen wieder gewählten Mechanismen zu jeder Sekunde aus. Christine Jeffs bewies mit Rain bereits, dass sie nur Intuitionsfilmchen für postpubertäre Weibchen drehen kann und bekommt hier von den Sunshine-Produzenten (beide Filme) ein exaktes Konstrukt vorgesetzt. Alan Arkin ist wieder als Kauz mit dabei. Das kleine Mädchen wird diesmal von einem kleinen Jungen gespielt. Nur ein Vater fehlt. Dafür wird unmissverständlich klar gemacht: Lesben und Behinderte gehören auch in unsere Gesellschaft und dürfen angedeuteter Weise (!!) vielleicht (!) eventuell (?) auch mal geliebt werden. Das wird im Film aber nicht gemacht. Wäre ja auch schon wieder zu direkt. Hier reicht dann das Ausstellen der dysfunktionalen Familie, zu mehr Konventionsbrüchen ist solch ein kalkuliertes Schmunzeltränen-Kino nicht bereit.

Bei Morgan Spurlocks Where in the World is Osama Bin Laden? musste man schon vor Filmbeginn ein schlechtes Gewissen haben, konnte man doch schon erahnen, dass diesen Humbug wohl die allermeisten klar bei Verstand Seienden meiden würden. Spurlock möchte sein Neugeborenes vor dieser bösen Welt schützen und macht sich deshalb auf die Suche nach dem Bösewicht der Bösewichter. Was er eigentlich macht sind aber lauwarme Scherze auf einer kleinen Urlaubsreise in den nahen und mittleren Osten. Das tatsächlich Interessanteste an Spurlocks Eskapaden sind die Reiseeindrücke, die man mit ihm gewinnen kann. Das tatsächlich Enervierendste an Spurlocks Juxereien ist Spurlock selbst. Als aufgeblasener Hampelmann im schlimmsten Raabschen Egomanentum umkreist er stets sich und seine all american family, welche mit den Kulturen abgeglichen wird und am Ende doch ernsthaft in einem pathethisch verkitschtem Schwall gefeiert wird. Das toppt nur noch Spurlock selbst mit seiner finalen Aussage/Einsicht, dass alle Menschen doch friedlich und nett miteinander auskommen sollten, weil es - oh, da schau her - ja überall auch freundlich gesonnene Wesen gibt. Überreicht doch dem Mann mal bitte einer den FIPRESCI-Preis. Am Besten Papst Bene.

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Geschrieben 09. Oktober 2008, 02:45

Filmfest Hamburg 2008 # 6

So ein Festival hat ja stets das Problem zwischen den Stühlen zu sitzen. Filmkunst wird erwartet, Unterhaltung ebenfalls. Und was ist mit Genrefilmen? Viele Kinoabsitzer haben bis heute nicht verstanden, dass sich anspruchsvolle Qualität und wiederkehrende Handlungs- und Motivreihen nicht ausschließen müssen. Beim Filmfest Hamburg hat man dann noch die TV-Produktionen, die nichts von alledem erfüllen können, aber dennoch ihre "Berechtigung" dadurch erlangen, so auch den roten Teppich füllen zu können, der sonst nur verstauben bzw zur Bewahrung vor den Peinlichkeiten gar nicht erst ausgerollt werden würde. Wer dann darüber schreitet und das Blitzlicht auf sich konzentrieren darf, darüber soll hier lieber Stillschweigen gewahrt werden. Wir wollen ja nicht dem Filmfest zu Nahe treten. Und keine Gerichtsvorladung bekommen.

Einer der wenigen Filme, die vom Papier her sowohl den künstlerischen Gedanken, als auch Genrekonventionen erfüllen hätte können kam aus Thailand. The 8th Day von Chadchai Yoodsaranee handelt von dem Verschwinden eines Mädchens vom Spielplatz. Die schlaue Lösung, das geografisch naheliegendste Haus zu durchsuchen, wird nicht angedacht, und so kann das geistig verwirrte, aber nach außen hin harmlos wirkende Großmütterchen das Kind tagelang gefangen halten. Wir wissen das, weil auch unser Protagonist - ein Medizinstudent - das weiß. Und beobachtet, für seine Abschluss-Thesis. Das hört sich doch alles ganz fesch an, denkt man sich, und die Ausgangssituation würde sicherlich auch Fläche genug bieten, um daraus was Feines zu basteln. Allein es fehlt an weiterführenden Ideen. Die Prämisse wird 90 Minuten lang durchgespielt ohne wirklich voranzuschreiten. Die Auflösung ist banal, und dass der Film in schwarz-weiß gedreht wurde erfüllt nun nicht gerade im Alleingang den Kunstaspekt. Enttäuschung quer durch die Stuhlreihen.

Viele Kanadier gab es dieses Jahr zu sehen, und wir sind noch nicht am Ende angelangt. Der Preis für das beste Erstlings-Ahornblatt beim Toronto Filmfest ging dieses Jahr an Continental, a Film without Guns von Stéphane Lafleur. Hat man den Film gesehen weiß man warum. Lakonische Abrisse und ineinanderfassende Geschichten dominieren den distanziert-unterkühlten Schelm, sowas kommt gut an, frag mal den Kaurismäki, nur hat der mehr Charme.

Centerpiece
Kommen wir zum wichtigen Teil des Abends. Auf Kiyoshi Kurosawas neusten Streich freute ich mich insgeheim am Meisten, denn nach meinem Einstand in sein Oevre mit Pulse scheint er einer der spannensten Regisseure unserer Zeitepoche zu sein. Nun, mit Tokyo Sonata legt er ein für ihn ungewöhnliches Drama vor, dass sich weiteren Genreklassifizierungen in seiner Breitfächrigkeit zunächst einmal verschließt und damit festivalgeeignet genug scheint. Wir beginnen mit einer Familie, deren Vater arbeitslos wird. Da dies in unserer Gesellschaft mit dem kühlen Blick fürs Wesentliche (Geld und Status), und der Japanischen im Speziellen, nicht so gern gesehen ist, spielt er seiner Familie vor, alles sei in Ordnung. Bei der Essensausgabe für Obdachlose lernt er einen weiteren gescheiterten Mann in Anzug und Krawatte kennen und beide freunden sich an. Unser Familienoberhaupt lässt sich - zur Wahrung der Identität seines neuen Freundes - dann auch mal zum Abendessen einladen, damit dessen Familie sieht: Alles super, auch die Arbeitskollegen kommen mal vorbei. Wenig später streift unser Papa am Haus des Kumpanen vorbei, und muss mit Erschrecken von der Haushälterin erfahren: Der Mann hat sich und seine Familie im Schlaf vergast...

Soweit, so gesellschaftkritisch. Die Gesellschaftssatire, die Kurosawa hier aufbaut fühlt sich im ersten Drittel wie eine beißende Kritik an einer kapitalistischen Normung an, bitter, kalt und nicht im entferntesten witzig. Doch die Absurdität der Situation macht es möglich, die Tragik mit trockenem Humor zu begegnen. Die Leichtigkeit, die sich trotz des Schocks beim Zuschauer einstellt, ist entfesselnd, atemberaubend und wunderschön.

Wir sind wie gesagt immer noch nicht bei der Hälfte angekommen, als die Mutter des Hauses zum ersten Mal die Bühne - Kurosawa, das wird gegen Ende ganz deutlich, rekuriert stets aufs Theater und inszeniert seinen Film nicht weit weg davon - betritt und spitz kriegt, dass ihr Mann wohl arbeitslos ist. Während dieser sich gegenüber seinen beiden Söhnen - unter dem Druck und Verlust seiner Autorität als Arbeitsloser - von nun an wie ein wild gewordener Patriarch aufführt, mildert seine Frau die Umstände ab - und entwickelt sich über die Lauflänge des Films hinweg vom stillen Mäuschen (wörtlich, von ihr ist am Anfang weder etwas zu hören, noch zu sehen) zum selbstbewussten, sich aus den Klammern befreienden Individuum. Auch den Söhnen werden ganz eigene, motivisch noch weit fassendere Geschichten auf den Leib gezimmert und somit baut Kurosawa seinen Film im Mittelteil zu einem Kaleidoskop einer Familientragik aus.

Was dann folgt - es wird noch vieles sein, eine gewisse "Vollgestopftheit" kann man dem Film wohl vorwerfen - formuliert das Drama noch weiter aus. Gegen Ende erlaubt sich Kurosawa seinem Werk einen Drall zu geben, der so weitreichende Konsequenzen beinhaltet um Tokyo Sonata berechtigterweise als existenzialistisches Drama bezeichnen zu können. Bergman schaut herein, der olle Namensvetter aus dem eigenen Lande ebenfalls. Manche Szenen sind pures Theater, gestelzt und doch so lebendig. Im Schlussbild hören wir ein Klavierkonzert des jüngsten Sohnes. Die Eltern weinen. Die Fachkundigen versammeln sich vor Erstaunung über das Talent des Jungen. Das komplette Stück wird ausgespielt, einen Moment Ruhe, der Junge und seine Eltern gehen an der Kamera direkt vorbei und die Zuschauer bestaunen: Uns. Die Zuschauer. Abspann, in welchem aus den Boxen die gleichen Laute wie aus dem Saal kommen - wir verlassen diesen Ort.

Neben diesem augenzwinkernden, intelligenten Schlussbild weist das Werk - das im Übrigen als einziger Film ohne Gäste auf dem ganzen Festival Applaus bekam (bei halbgefülltem Kino) - so viele erstaunliche Merkmale auf, dass ich versucht bin hier das böse Wort mit M zu verwenden. Bei der Zweitsichtung vielleicht. Wahrscheinlich.

Der langgezogene Höhepunkt
Nach so einer Bombe hat es der nächste Film bekanntlich schwer, und so stürzte ich ohne grosse Erwartungen ins Kino nebenan um mir Thomas McCarthys (The Station Agent) neue Tragikomödie The Visitor anzuschauen. "Von den Produzenten von Sideways" stand da noch auf dem Plakat an der Eingangstür des Kinos und ich dachte mir schon "Na dann man tau Jungs...".

Der Film erst einmal unaufgeregt. Keine Spirenzchen, keine blöden Gags, keine Anbiederungen ans Publikum. Gefiel mir. Und wurde dann sogar richtig gut.

Der New Yorker Professor Walter Vale (Richard Jenkins) reist in seine Zweitwohnung im Big Apple und findet dort ein illegal eingemietetes Pärchen aus Afrika vor. Der Syrer Tarek (Haaz Sleiman) und die Senegalesin Zainab (Danai Jekesai Gurira) ziehen sich freundlich und dankbar zurück, doch der unterkühlte, stets mit besorgter Mine versehene Prof fasst sich ein Herz und bietet ihnen an noch ein paar Tage zu bleiben, bis eine neue Bleibe gefunden ist. Er freundet sich mit dem lebensfreudigen Tarek an und legt gar seine Verkrampftheit ab um Trommeln vom jungen Wirbelwind zu lernen. Nachdem der unbedarfte Tarek in der U-Bahn überprüft und von der Einwanderungsbehörde festgenommen wird, kommt heraus, dass unser Pärchen nicht nur rechtswidrig gewohnt, sondern auch illegal im Land ist. Da auch Zainab und Tareks Mutter Mouna (Hiam Abbass) - die auf der Suche nach ihm beim Professor unter- und später diesem auch näherkommt - dank eigener Illegalität nicht mit ihm reden können, ist Vale der Einzige, der vermitteln und kommunizieren kann. Der einst so leblos wirkende Griesgram verstrickt sich in eine emotional heikle Geschichte...

McCarthys Film ist vor allem deswegen so gut, weil er - wie alle starken Exemplare der New Sincerity Welle - sich selbst zurücknimmt und seine Figuren und Schauspieler reden und agieren lässt. Letztes Jahr beim Filmfest gab es bereits exakt das gleiche Phänomen mit dem mich ebenfalls aus den Schuhen gehauen habenden The Savages. Man spürt die Spielfreude, die Freiheiten, die der Film ihnen gibt, die Natürlichkeit des Ausdrucks. Keine falsche political correctness, die sich bei dem Thema doch so anbieten würde, keine Suche nach Pointen oder Momenten der unreflektierten Überwaltigung. Die Geschichte ist traurig genug, bei einem ehrlichen Umgang mit den Figuren funktioniert sie ohne dramaturgische Fitzchen. Auch keine falschen Moralspiele. Das Plädoyer gegen die Einwanderungspolitik der westlichen Industriestaaten versteht sich ohne Belehrungen abzugeben als leises, schnörkelloses Drama. Eines der Intensivsten des Jahres.

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Geschrieben 22. Oktober 2008, 04:20

Filmfest Hamburg 2008 # 7

Ein gern gesehenes Bild heutzutage und wohl auf ewig sind die sich streitenden Studenten. Der Eine tritt vehement für den Sozialismus, der Andere für die Anarchie ein. Wenn's dicke kommt, mag da sogar noch ein Jura-Gelhaar mit bei sein, der den Neoliberaismus großspurig verteidigt.

Mancherorts gibt's keine Diskussionen mehr, sondern derlei gelebte, praktizierte Ideologie. Ein Kind wie Johnny Mad Dog beispielweise schlägt sich nicht argumentativ, sondern nur schreiend und wild polternd durch das Gebüsch. Jean-Stéphane Sauvaire liberianischer Kindersoldatenfilm war bereits ausverkauft und ich dachte mir "Nicht so schlimm, ist wahrscheinlich eh wieder nur die jährliche gutmenschliche Geste des Festivals, qualitätsarm und unangemessen." Und doch schlüpfte ich noch auf die letzte Sekunde hinein und durfte mehr als überrascht sein. Der belgisch-französisch cofinanzierte Kriegsfilm ist beinahe ein Genrefilm, ein formal-ästhetisches Gebilde mit durchdachter Basis. Der Film klebt 100 Minuten an seinen kindlichen Protagonisten, schmeißt uns ins Kriegsgebiet, hetzt von einer Grausamkeit zur nächsten. Keine Effekte, einfach die Wahrheit. Keine Vernarrativierung wie der letztjährige Ezra, sondern ein Lebensstrang, den wir entlang hangeln müssen. 100 Minuten Geschrei, sehr viel Geschrei, Schlachtrufe, Kriegsgesänge, Blut, Hinrichtung, Drogenrausch, Demütigung, Animalisches, die Lust an der puren Unterdrückung. Ein Kriegsfilm, aber nochmals sei betont keiner, der nur den Affekt des Zuschauers im Blick hat, sondern vor allem sein Sujet und dessen Rest menschlichen Antlitz, den man doch so vergeblich sucht. Einsicht oder Rationalität sind ferner als alles andere, hier zählt nur noch der Moment des dauerhaften Ausnahmezustands. Eine andere Welt? Unsere Welt!

Sauvaireund Mathieu Kassovitz als Produzent sind da etwas gelungen, was sich leicht beschreiben lässt. Die Hölle stellt man eben als Hölle da. Ist das so schwer? Wenn man Publikumszugeständnisse braucht sicherlich. Hier aber darf's gerne Terror sein. Einer, der uns Voyeuren keinen Spass mehr macht.

Das Festival rettet sich also dank der letzten 2 - 3 Abende zu einem äußerst bekömmlichen Zusammenschnitt. Viel Herausragendes, sehr viel Gutes gesehen. Danke dafür.

Und dann sind da aber auch noch Filme, die einem nicht mal für den Augenblick im Kopf bleiben. Acné etwa, Federico Veirojs uruguayanisch-argentinisches Coming-of-Age-Komödchen. Oder Daniel Alfredsons Wolf - der schwedische Blockbuster-Import aus skandinavischen Familien-Kinos eingeflogen. Immerhin vom Bruder des Alfredson Tomas und mit Peter Stormare. Naja. Schneegestöber.

Fast darunter gefallen wäre angesichts der ins Gesicht gähnenden Festivalmüdigkeit an solch einem letzten Tag auch Roser Aguilars The Best of Me. Man kennt die Geschichte von Susa Bier oder eben aus spanischem Qualitätskino: Frau stark, Mann schwach, Unsicherheiten, Liebe, Seitensprung, Krankheit, Abhängigkeit. Gut gemacht wie immer, aber langsam eine Spur zu bekannt.

Oder aktuell nochmal ganz was Furchtbares: Ocean Flame von Fendou Liu, China. Extrovertiertes Kunstkino, bei dem der Mann der brutale Zuhälter-Schläger ist und die Frau ihn hasst und ihm verfällt. Beide lieben sich und alles ist ja so unendlich tragisch im noch unendlicheren Chic des asiatischen Urbanlichtermeers. Unsere Freunde von der imdb sagen: "Why do the good girls always want the bad boys?" Genau das interessiert mich nicht und ich will's auch nicht auf Hochglanz poliert im Kino sehen. Noch ein Satz mehr und ich werd ausfällig.

Und dann schlussendlich gebe ich mich versöhnlich. Mein Abschlussfilm des Festivals ist "The Movie" zu einer in Chile äußerst erfolgreichen Puppenanimation für Erwachsene. 31 Minutos heißt die Heiterkeit, in der hässlich zusammengeflickte Puppen die Fernsehlandschaft und dann auch das Böse der Welt erkunden müssen. Satirisch ist das Ganze, wenn auch nicht übermäßig frech oder schwarzhumorig. Als Abschlussbrause aber durchaus okay, denn so ein verschmitztes Lächeln nach der Kohlensäure hat doch was.

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Geschrieben 25. Oktober 2008, 13:50

The Art of Negative Thinking
Bård Breien, Norwegen 2006

Die skandinavische Satire ist im Allgemeinen meist zu verspielt, zu sehr aufs Skurrile schielend und übermotiviert. Bård Breien nun macht in seiner Abhandlung über einen "humanen Zynismus" weitgehend alles richtig, was die Kollegen nur allzu gerne falsch machten. DIE KUNST DES NEGATIVEN DENKENS ist zunächst einmal nicht sonderlich "humorig" oder "witzig" - der Film weiß um sein Thema, weiß um das Ausmaß der Tragik und macht dies zum Ausgangspunkt.

Wieviel schwarzer Humor ist zulässig? Die Antwort: Eine Grenze kann es nicht geben. Die überhöhten Einzelschicksale der dargestellten Gruppe (Körperlähmungen und Depressionen) lassen einen gepflegten, gesellschaftlichen Umgang nicht mehr zu. Es entsteht sogar eine kurze Anti-Bewegung gegen das perfekte Ideal, das im System bei der gestylten Werbekampagne genauso zum Ausdruck kommt wie im New-Age-Positive-Thinking-Wahnsinn. Leben ist Krieg - unser Protagonist schaut den ganzen Tag Kriegsklassiker von APOCALYPSE NOW bis THE DEER HUNTER - ein Urzustand des Krieges, der Wahnsinn, überträgt sich beim "nicht mehr fassen können" des eigenen Lebenszustandes. Die zerstörte Wohnung und der Alkoholexzess zeugen von der Übermacht, die einen Menschen ergreifen kann - so stark oder labil er sein mag.

Am Ende knickt der Film vor seiner eigenen Courage ein. Keine Selbstmorde, keine Toten, sondern die Liebe steht im Endbild. Das wirkt nach 75 konsequenten Minuten wie ein Dramaturgiezwang und lässt den Film dennoch nicht in einem allzu schlechten Licht erscheinen. Breiens Abrechnung mit dem Menschen, der denkt, er könne alles bewältigen hat zu diesem Zeitpunkt schon längst gewonnen.

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Geschrieben 27. Oktober 2008, 01:25

Wanted
Timur Bekmambetov, USA 2008

Nachdem Timur Bekmambetov mit WÄCHTER DES TAGES und WÄCHTER DER NACHT zwei optisch reizvolle, wenngleich vollkommen desorientierte Literaturverfilmungen vorlegte dachte man sich in Hollywood anscheinend, der Mann könnte mit einem geordneten Drehbuch zumindest als Techniker den Studios zuträglich sein. Vor ein paar Jahren wäre man nicht auf die Idee gekommen, da einen Russen ranzulassen. Mit WANTED liegt nun sein astrein als Sommeractioner promoteter Erstling vor.

Das Schöne an dem Film ist - neben seiner unverhohlenen Bilderausstellung - das Reflektieren seiner Entstehungsepoche, und das - ebenfalls ganz ungebrochen - auf inhaltlicher Ebene. Die schon beinahe arrogant wirkende Geheimorganisation, die ihre Aufträge "von oben" erhält, um die Ordnung auf der Welt im Gleichgewicht zu halten, stellt sich zunächst unhinterfragt als "perfekt" heraus. Für jeden was dabei, vom Intellektuellen bis zum den Handwerker (Weber), vom Voyeur (Jolie) bis zum religiösen Moralisten (siehe "von oben").

Dann kommt der Plottwist, der in diesem Fall ein gelungen motivierter ist. Nix da mit der Perfektion. Gibt's natürlich nicht. Stattdessen Assimilation an die neuen Umstände. Es wird zum eigenen Vorteil gemordet, zur Sicherung der eigenen Existenz. Im Kapitalismus muss halt jeder selber sehen wo er bleibt. Am Ende bricht sich alles auf die einfache Formel des Egoismus herunter. Die Underground-Organisation mit guten Absichten ist zur berechnenden Firma für Auftragskiller geworden.

Nun, zugegeben, besonders neu ist das dann doch nicht mehr, aber klug genug, um die Rädchen des Blockbusterkinos nicht doch ein wenig zu strangulieren. WANTED ist damit glücklicherweise doch ein wenig mehr als nur ein grobschlächtiger Sommeractioner.

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Geschrieben 28. Oktober 2008, 17:12

Schläfer
Benjamin Heisenberg, Deutschland 2005

Das Feuilleton überschlug sich geradezu mit Lobpreisungen des achso leisen Films, der ja so gar nicht seinem Genre (Psychothriller, Untersorte: Intrige) entsprach, sondern einen persönlichen Konflikt angesichts einer angespannten, politischen Situation im Hintergrundrauschen bebilderte. Ein deutscher Durchschnitt (Bastian Trost) wird dabei vom Geheimdienst auf einen algerischen Mitarbeiter (Mehdi Nebbou) angesetzt. Obwohl sich der "integere" Typ zunächst weigert, sorgen aufkommender Neid und eine komplizierte Dreieckskonstellation mit einer Frau für ein Umdenken.

Heisenberg filmt seine Figuren in langen, kühlen Einstellungen in langen, kahlen Gebäuden. Der depressive Grundton dominiert den gesamten Film und verleiht ihm schnell die gewünschte Atmosphäre zwischen "Besonderem" und "Realismus". Ob dabei gerade die verstockten Darsteller ihr Zutun bewusst oder unfreiwillig ins Werk bringen, ist nicht ganz zu orten. Der Witz allein bleibt, wie hier das Politische mit dem Privaten verbunden wird. Denn eigentlich erzählt SCHLÄFER lediglich die Geschichte einer privaten, kleinen Intrige auf dem Rücken eines bedrückenden Politszenarios. Dass dabei zwischen 9/11-Sicherheits-Hysterie und DDR-Vergangenheit der Knopf beim Rezipienten schnell umgeschaltet werden kann ist mitnichten ein Beweis der Vielseitigkeit des Films, der in seiner Überkonstruktion schnell Gefahr läuft in sich zusammenzubrechen. Das eigentliche Thema - Sicherheitsbedürftigkeit vs Datenschutz - findet nicht Erwähnung, und so ergeht sich SCHLÄFER letztlich nur in der Darstellung einer rauen, unwohnlichen Welt. Dafür hätte es nicht dieses Aufhängers bedurft.

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Geschrieben 30. Oktober 2008, 17:46

Blindness
Fernando Mereilles, Kanada/Brasilien/Japan 2008

Anarchie ist ein Zustand auf den die Welt noch wartet. Eine noch nicht durchgeführte Ideologie. Wobei: Zeigt die Finanzkrise nicht gerade an, dass es da einen Zwischenraum für Anarchie gab und gibt? Dummerweise einen weltumfassenden, lebensbestimmenden? Was nun passieren würde, wenn eine amerikanische Großstadt von heute auf morgen in den Anarchozustand geraten täte, zeigt die Verfilmung von José Smaragos Romanvorlage Blindness. Alle Menschen infizieren sich und werden blind, Quarantänestationen werden eingerichtet und Gruppen rotten sich zusammen. Was auf der Strecke bleibt bei dem Spass ist die Menschlichkeit.

Tatsächlich fokussiert sich der Film auf die sich ergebenden Sozialdynamiken. Arschlöcher übernehmen das Ruder, es kommt im hermetisch abgeschlossenen Trakt zu Unterdrückung, Vergewaltigungen, Progromen, Mord. Auch die Politik ist überfordert und weiß sich außer mit dem Wegschließen der Kranken auch nicht zu behelfen. Hurtig einberufene Kongresse zur Problemlösung bringen soviel wie die Klima-Gipfeltreffen der Realität. Die betroffenen Menschen schwimmen währenddessen in ihrer eigenen Scheiße.

Amerika holt sich die menschlichen Katastrophen ins Haus, so sieht es zumindest aus. Bei vollkommener Orientierungslosigkeit zerfällt der Mensch ohne seinen wichtigsten Sinn. Das wäre die weiter gefasste Idee. In jedem Fall bietet Blindness neben seiner perfekt zugeschnittenen Optik eine ganze Menge Diskursfläche, protzt durch das Milchglas zwar hochtrabend emotional, ist aber dennoch aufs Detail der Dystopie schielend.

#750 moodswing

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Geschrieben 04. November 2008, 02:56

10 Shortys

Muxmäuschenstill
Hysterisches Gleiten zwischen bitterböser Satire und seltsamem Beziehungskomödchen. Kriegt die Idee für einen durchgehenden Tonfall nicht.

Battle in Seattle
Fetziger Agitprop, der ungebrochen die Coolness des linken Widerstandes beim WTO-Gipfel in Seattle 1999 ausstellt. Platt, emotionalisierend, unterhaltsam.

Wind Chill
Harmlose Horrorkonstruktion, bei der mal wieder alte Geister durch den Wald gejagt werden. Anheimelnd, vorhersehbar, unnötig. Aber mit herausragendem Score von Mansell.

The Wedding Planer
Die neuen Episoden aus der Telenovela "Wenn 2 Menschen für einander geschaffen sind" werden aber auch immer langweiliger...

Masters of Horror: The Black Cat (Stuart Gordon)
Grundsolider Grusel nach Edgar Allan Poe, der zum Ende hin schön selbstreflexiv und blutig wird.

Violent Shit 3 - Infantry of Doom
Amateurschrott, der sich in seinem Getrashe entweder zu ernst nimmt oder einfach zu wenig Ideen hat um sich zu rechtfertigen.

Oswalt Kolle - Zum Beispiel: Ehebruch
Humorvoller Blick in die späten 60er, eigentlich eine Sexfilmklamotte, aber eine freche.

The Plague (UK 2006)
Verquatschter, unfokussierter Milieueinblick.

Mr. & Mrs. Smith (2005)
Spassballett ohne Überraschung.

El Baño del Papa
Ethno-Liebelei mit sozialem Impetus. Zerfahren und viel zu naiv-lieblich.





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