"All is full of Love..."
#211
Geschrieben 11. Mai 2009, 00:25
#212
Geschrieben 14. Mai 2009, 00:17
Ehrlich: So schön man die Charaktere der Classic-Serie getroffen hat, so wenig hat die Welt, durch die sie gejagt werden, mit Star Trek zu tun. Netter, kurzweiliger Film, aber ... falsche Etikette.
#213
Geschrieben 26. Mai 2009, 15:27
Rick Berman/Michael Piller/Jeri Taylor, USA 1995-1996
DVD, OmU
Die Erinnerung
Der Tag, an dem erstmals der Pilotfilm des dritten Ablegers der Original-Serie im deutschen Fernsehen lief (21. Juni 1996) - an den kann ich mich noch heute sehr genau und lebhaft erinnern. Alle Bilder sind präsent. Dies muss dementsprechend auf der Höhe meines Fan-Daseins gewesen sein, wo man dann auch so etwas gesammelt hat. Aber ich war nie ein guter Fan - egal um welches popkulturelles Phänomen es gehen mag - und ich werde auch nie einer sein. Dementsprechend habe ich auch schnell das Interesse verloren. Doch die Erstausstrahlung der ersten Staffel von Voyager, das war ein Ereignis, welches mich noch euphorisch machte. Das stelle ich voran, um damit mitzuteilen, dass ich sowieso vorgeschädigt bin...
Die Geschichte
Voyager zeigt in der ersten Staffel eine sehr strenge Einzelfolgen-Handlungsstruktur. Nicht einmal einen saftigen Cliffhanger gibt es am Ende der 16 Folgen. Natürlich ist sie in ihrem Grundkonzept trotzdem so ausgerichtet, dass sie wohl das größte Vernetzungspotential aufweist, welches bis dato eine Star Trek Serie besaß. Im Pilotfilm nämlich wird die USS Voyager von einem mächtigen Wesen in einem der Sternenflotte vollkommen unbekannten Teil unserer Milchstraße transferiert, den Deltaquadranten - 70.000 Lichtjahre von der Erde entfernt, also 70.000 mal 9,5 Billionen km. Selbst mit Höchstgeschwindigkeit bräuchte das Raumschiff 70 Jahre für diese Wegstrecke. Dies ist also die Grundfolie, die jeder Folge unterliegt: Eine Odyssee. Grundsätzlich heißt das drei Dinge:
(1) Abenteuer & Entdeckungen: Die Serie kommt damit ganz automatisch der Grundidee der Original-Serie am nächsten, "fremde, neue Welten zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen aufzuspüren und mutig dorthin zu gehen, wo nie ein Mensch zuvor gewesen ist." Denn selbstverständlich wird auf dem Weg nach Hause geforscht, was das Zeug hält.
(2) Familie vs. Sternenflotte: Die Sondersituation der Voyager-Crew ist unmittelbar einsichtig - man ist auf keiner spezifischen Mission mehr, man sitzt zusammen in einem Boot, um zu überleben und nach Hause zu kommen. Die hierarchische Struktur und die Regularien der Sternenflotte befinden sich in Konflikt mit der erzwungenen familiären Situation und der schieren Notlage der Crew. Das hat Potential für kontroverse Entscheidungen, von denen in dieser Staffel noch nicht zu viele zu sehen sind. Aber Captain Janeway läuft sich schon warm, wenn sie implizit die heilige Kuh der Sternenflotte, die Oberste Direktive, schlachtet: "How many times have we been in the position of refusing to interfere when some kind of disaster threatened an alien culture? lt's all very well to say we do it on the basis of an enlightened principle, but how does that feel to the aliens? l'm sure many of them think the Prime Directive is a lousy idea."
(3) Potential zu übergreifenden Handlungsbögen: Leider liegt jenes in der ersten Staffel doch etwas brach. Weder was die Psychologie der Figuren, noch was Handlungselemente angeht, setzen die Macher sonderlich auf Vernetzung und Veränderung. Allerhöchstens betreffs fremder Alien-Rassen lässt sich ein wiederkehrendes Element finden. Und dabei gibt es Schatten und Licht in dieser Staffel: Mit den Kazon haben sich die Schreiber wirklich vertan, als man sich eine Hauptfeind ersann, der noch öfter durch die frühen Staffeln geistern wird. Außer ihrer Frisur ist an denen alles langweilig, nichtssagend und vollkommen austauschbar. Die Vidiianer hingegen, die in Staffel 1 in zwei starken Episoden ihren Auftritt haben, sind wirklich ein Geniestreich: Von einer Krankheit gezeichnet, können sie nur überleben, indem sie ihren Körper ständig mit den Organen anderer Wesen instandsetzen. Als es auch ein Crewmitlgied der Voyager trifft, darf Janeway mal wieder zu einer famosen Standpauke ansetzen, die ich hier leider nur im Wortlaut wiedergeben kann: "They may have found a way to ignore the moral implications of what you are doing, but I have no such luxury. I don't have the freedom to kill you to save another. My culture finds that to be a reprehensible and entirely unacceptable act. If we were closer to home I would lock you up, I'd turn you over to my authorities for trial. But I don't even have that ability here, and I am not prepared to carry you forever in our brig. So I see no other alternative, but to let you go. If I ever encounter your kind again, I will do whatever is necessary to protect my people from this harvesting of yours. Any aggressive actions against this ship and its crew will be met by the deadliest force. Is that clear?"
Darüberhinaus fallen Vernetzungsversuche in dieser Staffel recht plump und unorganisch aus. Am amüsantesten ist ein sehr auffälliger Auftritt eines Crewmans in Folge 13: Zwei- oder dreimal informiert er Captain Janeway mit einer ihresgleichen suchenden Impertienz über den Status von irgendetwas, fast so, als ob er dem Zuschauer zuwinken wolle. Das hat auch seinen Grund: er stribt in der nächsten Folge. Der Tod sollte wohl extra-dramatisch wirken, weil uns die sterbende Figur schon vorgestellt wurde. Dann doch lieber Redshirts...
Die Figuren
Es gibt eigentlich nur zwei wirklich interessante Figuren auf der Voyager: Captain Janeway und der Holodoc. Von den anderen blassen Stereotypen will ich hier nicht wirklich anfangen: Der Quoten-Indianer (mit viel Mojo!), der Quoten-Afrovulkanier, der Quoten-Asiate, das Quoten-Blümchen-Liebespaar Kes & Neelix, die Quoten-Mensch-Klingon-Hybridin, der Quoten-James-Dean. Obwohl: bei Letzerem, dem Lieutenant Paris mit der Frisur aus den 1950ern, da gefällt mir sein südstaatliches Zerkauen der Sätze im Original-Ton. Wenn die Quoten-Figuren Glück haben, kriegen sie einmal eine gute Einzelepisode geschenkt, in der ihr Charakter etwas plastischer ausgewalzt wird, ansonsten stehen sie nicht unmittelbar im Mittelpunkt meines Voyager-Interesses. Dort halten sich eher Janeway und der Doktor auf.
Im Pilotfilm wird uns Janeway (Kate Mulgrew) noch als sehr schnippische, fast herrische und unnahbare Kommandantin vorgestellt. Dies wird sich im Verlauf der ersten Staffel sehr schnell ändern. Es gibt einen einzigen direkten Hinweis auf diese Veränderung in der sechsten Episode, in einem Eintrag in das persönliche Logbuch Janeways: "Our journey home is several weeks old now, and I have begun to notice in my crew, and in myself, a subtle change as the reality of our situation settles in. Here in the Delta Quadrant, we are virtually the entire family of man. We are more than a crew, and I must find a way to be more than a captain to these people... but it’s not clear to me exactly how to begin. At the Academy, we’re taught that a captain is expected to maintain a certain distance." Die Distanz wird von Janeway schnell abgebaut und sie zum Matriarchat der Voyager, welche neben ihrem strengen Befehlston blitzschnell auf mütterliche Beschützerinstinkte umschalten kann. Am auffälligsten wird dies in ihrem ständigen Anfassen ihrer Gesprächspartner, wenn es um private und intimere Themen geht. Sie kennt da nichts: Einmal pro Episode liegt sie ihre Hand auf Schultern, Hände und Arme ihrer "Kinder" und kommt ihren für einen Captain so geradezu ungewöhnlich nahe.
Der Holodoc (Robert Picardo) anderseits ist ein holographisches Notfallprogramm, welches durch den Tod des Schiffsdoktors die Verantwortung eines leitenden medizinischen Offiziers übernehmen muss. Er nun macht wirklich eine sehr faszinierende Entwicklung durch - in der ersten Staffel werden folgende Etappen abgesteckt: vom ausführenden Programm zum lernenden Individuum. Katalysator dieser Entwicklung ist Kes - und in der Rolle macht sich ihre sonstigen Quotenhaftigkeit auch kaum bemerkbar. Schon in der fünften Folge gibt es einen zentralen Dialog, in dem das kybernetische Selbstverständnis des Doktors durch ein menschliches, welches ihm Kes entgegenhält, ersetzt wird:
Zitat
Kes: Give yourself some credit. You saved his life. You did. Not some programme.
Doc: It may seem that way to you.
Kes: That’s exactly how it seems.
Doc: You’re very... kind.
Kes: How does a real doctor learn to deal with patients emotional problems anyway?
Doc: They learn from experience.
Kes: Aren’t you capable of learning?
Doc: I have the capacity to accumulate and process data, yes.
Kes: Then I guess you’ll just have to learn like the rest of us.
An ihm spiegelt sich somit am radikalsten das Grundkonzept von Voyager und vielleicht Star Trek überhaupt: Zu lernen und Erfahrung zu sammeln, mit dem Fremden und Neuen konfrontiert & gleichzeitig als Individuum und Teil einer Gemeinschaft vollwertig zu werden. Vielleicht ist er der rote Faden der Serie?
Die Geschichten
Vielleicht habe ich bisher den Eindruck gemacht, Voyager sei Durchschnitt für mich. Das könnte ich jetzt nicht bestätigen. Alles in allem wirkt Voyager aus der Perspektive des heutigen US-Serien-Landschaft gewiss altbacken. Selbst wenn von den 16 Folgen dieser ersten Satffel gewiss einige etwas zerrig sind, gibt es doch genügend Strahlpunkte, die ein Star Trek zeigen, so wie ich es mir vorstelle. Die 14. und 15. Episode sind für mich die klaren Highlights: In der ersten Episode wird einer alten Idee neues Leben eingehaucht, in dem Quoten-Mensch-Klingon-Hybridin B'Elanna Torres von den Vidiianern in zwei Lebensformen zerteilt wird: die klingonische und die menschliche Seite ihres Wesens. Ihre inneren Dämonen und der Widerstreit zwischen ihnen werden somit externalisiert - und schauspielerisch wurde das von Roxann Dawson famos umgesetzt. Und die andere Episode ist nichts anderes als eine Allegorie der Hiroshima-Bombe und den damit zusammenhängenden Fragen um Schuld und Verantwortung, besonders der Wissenschaft. Düster, grimmig, hoffnungslos. Die Handlungen also, die im Gegensatz zu Deep Space Nine wieder etwas tiefer in die Kantische Fragentrias "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" eindringen - diese machen Voyager sehenswert.
#214
Geschrieben 26. Mai 2009, 23:15
David Cronenberg, Kanada 1975 / 1977
O-Ton
In den zwei frühen Filmen Cronenbergs zeigt sich doch schon eine beeindruckende Kraft, die sich hinter den ungestümen Handkamera-Kompositionen und den auffälligen Settings verbirgt. In Beiden empfand ich die Splatter-Effekte als rein dienende Elemente, die nicht um des exploitativen Willens eingesetzt wurden. Aus Ton, Bild und ihrer Synthese wird von Anfang eine Grundspannung geschöpft, die einen nicht etwa vollends abstößt, sondern hineinzieht, obwohl man sich von den parasitären Treiben auf dem Bildschirm doch distanzieren will. Zu faszinierend sind all die sexuellen Anspielungen und gesellschaftlichen Hintergründe. Da ich mich nicht wirklich imstande fühle, weiter etwas über diese Filme als Cronenberg-Filme zu sagen, wird es vielleicht das Fruchtbarste sein, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der zwei Filme näher zu betrachten. Beide sind von ihrer Handlungsstruktur sehr ähnlich, denn in Beiden werden die Szenenfolgen von eine Logik der Epidemie dirigiert, schließlich geht es um die Ausbreitung von - im weitesten Sinne - Krankheiten. Eindeutige kausale Zusammenhänge werden mithin durch loose verbundene Übertragungsszenarien ersetzt, die relativ unabhängig voneinander geschaltet werden. In diesen wird zumeist Gewalt und Sexualität miteinander verschränkt. Funktion dieser Szenarien ist klar: sie verbildlichen die wellenartige Entfaltung der Krankheit. Shivers bleibt dabei bloß auf einen Ort beschränkt und deutet die weitere Expandierung der Epidemie am Ende nur an, wobei sich in Rabid das Ausbreitungsgebiet auf ganz Montreal erstreckt. Der Ursprung der Epidemien ist in beiden Filme ärztliche Hybris, welche sich in ihrer leichtfertigen Experimentierfreudigkeit mit neuen Behandlungsmethoden aufzeigt. Und der Ursprung ist jeweils sehr eng verknüpft mit einem architektonisch unterkühlten Gebäudekomplex, in dem wir unseren hoch-modernen Bedürfnissen, unserem Wellness- und Wohlfühl-Wahn nachgehen: In Shivers ein Komfort-Apartment-Komplex ("Starliner"), der mit allen Annehmlichkeiten für das moderne Leben aufwartet. Und in Rabid ist es eine abgelegene Schönheitsklinik ("Keloid Clinic"), in der man sich mal eben das Näschen neu richten lässt, weil Papa die alte Knolle nicht gefällt.
Zuviel zu den Ähnlichkeiten. Was die "Krankheiten" selbst angeht, bestehen gewiss große Unterschiede. Shivers konfrontiert den Zuschauer mit wurmartigen, ja fast penisförmigen Parasiten, die die Libido der Infizierten um ein Vielfaches steigern und ihre Vernunft aussetzen. Ergebnis sind "Sex-Zombies", die über ihre Opfer herfallen, um sie ebenfalls mit dem Parasit und gewiss auch anderweitig (das wird hier einerlei) zu penetrieren. Strittig, ob man hier überhaupt von einer Krankheit reden kann - oder eben einer Freisetzung dessen, was dem Menschen sowieso inhärent ist, jedoch durch die Vernunft eingezäunt wird. Freuds Pansexualismus schaut einem hier von überall entgegen: "That even dying is an act of eroticism. That talking is sexual. That breathing is sexual. That even to physically exist is sexual." In Rabid ist dies nicht ganz der Fall: Der jungen Rose (gespielt von Pornodarstellerin Marilyn Chambers) wuchert durch eine neue Hauttransplantationsmethode in ihrer Achselhöhle ein ausfahrbares Organ (selbstverständlich penisförmig), mit dem sie ihren geweckten Durst nach menschlichem Blut stillen kann. Dies bedarf natürlich einer Annäherung an Menschen - und dies geht zumeist nur unter der Vorspiegelung sexueller Interessen bzw. fällt das Sexuelle auch hier wieder zusammen mit dem Akt der Übertragung einer Krankheit und der Penetrierung mit etwas Körperfremden/Körpereigenem (das Cronenberg'sche "New Flesh"). Diese Krankheit lässt diesmal allerdings keine Sex-Zombies entstehen. Nur ganz normale Zombies mit Heißhunger auf Fleisch. So wird dem Sex im Gegensatz zu Shivers etwas weniger Raum gelassen, wohingegen Rabid seine Faszination aus anderen Spannungsfeldern bezieht: Hier wäre einmal die Überträgerin der Krankheit, Rose, zu nennen, die ihrem neuen Trieb & Triebbefriedigungsorgan mit wachem Verstand und aufgeweckter Vernunft begegnet. Marilyn Chambers ist die Darstellung dieses inneren Kampfes ziemlich ansehnlich und nachfühlenswert gelungen. Auf der anderen Seite zeigt Rabid fast nebensächlich und trocken die radikale Reaktion der kanadischen Behörden auf die Epidemie und die Infizierten: Abknallen und ab in den Müllcontainer.
Bei diesen Beobachtungen will ich es belassen. Die große Deutung können ja andere versuchen... (und haben andere natürlich schon vielfach versucht.)
#215
Geschrieben 28. Mai 2009, 13:47
David Cronenberg, Kanada 1979
DVD, OmU
Nachdem man in Shivers und Rabid noch einen gewissen dreckigen und billigen Indepent-Charme verspürt hat, kann man diesen Film wohl als endgültigen Einstieg Cronenbergs in die Professionalität ansehen. Und was für ein Einstieg das ist! Die Handkamera wird weggelegt und durch sehr ruhige (jedoch keinesfalls beruhigende) Bildkompositionen des Kameramanns Mark Irwin ersetzt. Meist regungslose, moderat distanzierte Einstellungen, hier und da aufgewertet durch langsame Kamerabewegungen - keine Hektik, nur Ruhe, die uns unvermittelt das unruhige Treiben vor der Kamera präsentiert. Und dieses Treiben hat mir teilweise richtige Angst gemacht...
Thematisch wird deutlich an Shivers und Rabid angeknüpft: wieder geht es um die Hybris der Wissenschaft, wieder um eine neue Behandlungsmethode, wieder um eine Einrichtung mit einem auffälligen Namen: Somafree. Somafree ist ein psychologisches Institut, in welchem abgelegen in schneebedeckter Landschaft die Patienten behandelt werden. Auffällig ist die Veränderung in der architektonischen Struktur im Gegensatz zu den Vorgängerfilmen: Die nackten und rechteckigen Stein- und Zementbauten, in der die Epidemien ihren Ursprung nahmen, weichen einem großen Holzhaus in Hüttenform, in dem gleichermaßen runde wie dreieckige Strukturen integriert sind. Was nicht heißen soll, dass diese Formen keine ungefährliche Plage gebären helfen. Nun waren die Geburtshelfer in Shivers und Rabid Mediziner - in The Brood ist es der Psychotherapeut Dr. Hal Raglan (Oliver Reed), der das Institut leitet und dort seine neue Behandlungsmethode namens "psychoplasmics" erprobt. (Vermutung betreffs "Somafree" I: Intertextueller Verweis, dass der Film vom Somatischen, also dem körperlichen Aspekt abrücken wird.) Raglan - besonders wegen der eindringlichen Spielweise Reeds - hat den Gottkomplex vollends verinnerlicht und hilft somit, das Hybris-Thema weiter zu forcieren: Seine Behandlung besteht darin, sich vollkommen in die verdrängten Ängste und Wünsche seiner Patienten zu involvieren und ihnen Rollen vorzuspielen - meist von Personen, die ursächlich mit ihren Traumata verbunden sind. Und gegen diese Personen bzw. ihrem Surrogat, Dr. Raglan, sollen die Patienten ihre negativen Gefühle wenden, zumeist Wut und Hass. Dabei kommt es zu einem Externalisierungs-Prozess, in dem sich diese Gefühle körperlich manifestieren. (Vermutung betreffs "Somafree" II: Ein Paradoxon, denn das Körperliche scheint integraler Teil der Behandlungsmethode zu sein - von einer Befreiung vom Somatischen kann hier keine Rede sein, allerhöchstens von einer Befreiung des Somatischen, indem das "neue Fleisch" durch die Externalisierung der Emotionen zu wuchern beginnt.)
Gleich in der ersten Szene des Films wird man Zeuge der Behandlungsmethode Raglans - obwohl man es anfangs gar nicht weiß. Zuerst hält man die Szene für ein echtes, konzentriertes Gespräch zwischen Vater und Sohn, die in intensiver Form ihre Probleme aufarbeiten. Schuss-Gegenschuss-Komposition mit vollkommen schwarzen Hintergrund und somit unklarer Raumsituation. Dann wird der Raum plötzlich erweitert und man sieht, dass sich das Gespräch auf einer Bühne vor einem Publikum abspielt. Nun hält man die Szene für eine Theatervorführung, in der das problematische Verhältnis von Vater und Sohn aufgearbeitet wird. Als nun die Vater-Figur den Sohn, dem sie seine Männlichkeit abspricht, auffordert, seiner Wut freien Lauf zu lassen, bilden sich an dessen ganzen Körper Pusteln. Ich sagte noch zu mir, dies sei aber ein beeindruckender Theatereffekt, bis mir langsam klar wurde, dass ich Zeuge einer öffentlichen Therapiesitzung war. Die Selbstgefälligkeit, mit der Raglan seine Methode der Öffentlichkeit vorstellt und somit Anhängerschaft begründet, verbindet Therapie und Theater natürlich in einem rituellen Prozess, in dessen Zentrum er steht. Doch kommen wir jetzt endlich zur "Brut", bevor ich mich in den zahllosen Details dieses großartigen Films verliere. Dr. Raglan behandelt ebenfalls Nola Carveth (Samantha Eggar), die offenbar Probleme mit ihrer Beziehung zu ihrem Mann Frank (Art Hindle) und ihrer Tochter Candice (Dindy Hinds) hat. In zwei Therapiesitzungen erfährt man von einer problematischen Kindheit, in der Nola von ihrer Mutter geschlagen worden wäre, während der Vater nur weggesehen hätte. (Die Wahrheit dieser Aussagen lässt sich nicht verifizieren, womit der Film leichten Fußes beliebige, plumpe Vergeltungshandlungsstrukturen umgeht.) Beiden Therapieszenen folgen jeweils Mordszenen, in denen einmal Nolas Mutter und ein andermal ihr Vater von einem deformierten Kind oder zwergenähnlichen Wesen brutal umgebracht werden - immer mit Hilfe eines stumpfen, zufällig herumliegenden Gegenstandes, mit dem ohne Unterlass auf das Opfer eingeschlagen wird. (Es geht also weniger um das Ergebnis, als vielmehr um den Weg dorthin.) Dabei ist das erste Auftauchen dieses Wesens so unvermittelt, unangekündigt und rätselhaft und der Tode der Mutter so grausam, dass ich es wirklich mit der Angst bekam. Schnell vermutet man natürlich die Verbindung zwischen Nolas Wut und dieser "Brut", was die Angelegenheit natürlich noch unangenehmer und weniger greifbar macht. Nicht umsonst heißt das Buch Raglans "The Shape of Rage" - hier wird Wut eine Gestalt verliehen. Dabei inszeniert Cronenberg die Szenen sehr geschickt, indem er diesen Wesen bis zum Ende einen eher übersinnlichen Charakter verleiht. Ihr plötzliches Erscheinen (z.B. beim Vatermord das typische Horror-Topos unter-dem-Bett-hervor) lässt sie wie aus reiner Luft entstanden anmuten.
Das Ende überraschte mich doch ein wenig - was aber wohl mit meiner Unerfahrenheit betreffs Cronenberg zu tun hat. Eine radikale Wendung zum Extrem-Körperlichen geschieht: Die Brut taucht nicht einfach aus dem Nichts auf, nur vom geistigen Impuls angetrieben. Nola gebiert sie mit einem externen Uterus, der wahrscheinlich als Folge von Dr. Raglans Therapie wuchert. (Vermutung betreffs "Somafree" III: Soma heißen auch die Körperzellen, die nicht zur Fortpflanzung dienen, also sogut wie alle Zellen außer den Samen- und Eizellen. Frei von Soma müsste dann heißen: durchdrungen mit Keimzellen - Nola kann Nachfahren allein aus ihrem Körper erschaffen.) Standen in Shivers und Rabid noch körperliche Krankheiten, die psychosexuelle Anspielungen in ihrer Ausbreitung und ihren Symptomen enthielten, im Mittelpunkt, ändert sich hier die Perspektive auf das gleiche Phänomen radikal: Eine extreme Psychosomatik bahnt sich mit The Brood an, die den symbolischen Gehalt der früheren Filme nun eine diegetische, eine körperliche Gestalt gibt. Das neue Fleisch wächst nun nicht mehr wegen eines medizinischen, also körperlichen Experimentes - es wuchert direkt aus dem Geist. Die Grenzen verschwimmen...
(Der Film ist natürlich soviel reicher und andeutungsvoller, als ich das hier je herausarbeiten könnte.)
#216
Geschrieben 26. Juni 2009, 01:31
#217
Geschrieben 26. Juni 2009, 22:45
#218
Geschrieben 29. Juni 2009, 00:43
1. Transformieren: Als Kind war ich Fan der Zeichentrick-Serie. Und es gab dafür nur einen Grund: das Konzept des Transformierens - die sichtbare Umschichtung und Verschiebung von Elementen eines Objektes, um ein neues Objekt zu erschaffen. Genau dieser Prozess ist in Bays Verfilmung durch einen übertriebenen Hang zu mechanischen Details allzu kleinteilig geraten. Ich habe mittlerweile meinen Frieden mit dieser "unübersichtlichen" Art des Transformierens gemacht - und bin mit dieser letzten Sichtung entzückt davon.
2. Dynamisieren: Hier gibt es einige der unglaublichsten Action-Sequenzen überhaupt - im Sinne reiner Dynamik. Unübersichtlichkeit herrscht in den eigentlichen Einstellungen nicht. Nur die Schnitte hinken manchmal den hochkomplexen Bewegungschoreographien an verschiedenen Orten gleichzeitig nach.
3. Emanzipieren: Die Frauen-Figuren sind in diesem Bay-Film wirklich die interessantesten und haben mehr Mumm und Dimension als alle männlichen Figuren zusammen.
4. Familisieren: Die Familie ist hier ein zutiefst und ekelhaft kleinbürgerliches und lächerliches Konstrukt, welches in keinster Weise in der Lage ist, Geborgenheit, Wärme und Heimeligkeit zu bieten.
5. Positionieren: Der Film spielt an Schauplätzen, die eine ungewöhnliche Melange aus real existierenden und fiktiven Orten darstellen, wobei erstere immer durch Namenseinblendungen markiert werden, letztere hingegen weitestgehend ungenannt bleiben. Die Bewegung zwischen diesen Orten geschieht spielend und ist nicht weiter tragend - bei Bay ist, es entspricht der simplen Geisteshaltung des Films, das Ziel das Ziel.
6. Bay-isieren: Neben den obligatorischen Wüsteneinstellungen, die Hubschrauber (und andere militärische Fortbewegungsmittel) in Zeitlupe vor Sonnenuntergängen abbilden, müssen schon ein paar mehr typischen Formalia von Bays Filmen genannt werden: Leuchtende und rauchende Signalfackeln, wohin das Auge reicht; riesige, leerstehende Hallen, deren Außenfasaden fast immer nach Jugendstil aussehen; Müll so schön, dass man sich darin schlafen legen will; sauhässliche Lensflares, überstrahlende Gegenlichter und sowieso eine Lichtregie zum Weglaufen, die nie das Maß und die Atmosphäre sucht.
7. Militarisieren: "Listen to me! You are a soldier now!"
#219
Geschrieben 30. Juni 2009, 23:39
kørken sagte am 29.09.2008, 23:45:
bekay sagte am 29.09.2008, 23:38:
kørken sagte am 29.09.2008, 23:33:
#220
Geschrieben 02. Juli 2009, 00:16
#221
Geschrieben 07. Juli 2009, 23:39
#222
Geschrieben 21. Juli 2009, 20:11
"It must have absorbed the old man completely!"
#223
Geschrieben 30. September 2009, 00:33
David Cronenberg, Kanada 1981
DVD, O-Ton
Soviel kann ich schon einmal schreiben: Ich werde nicht allzu viel schreiben. Dass ich es überhaupt tue, ist diesem kanadischem Regisseur zu verdanken, dessen unterkühlte Filme meinen Gedanken immer richtig Feuer machen. Scanners empfand ich von der Erzählweise ein ganzes Stück unkonventioneller als Cronenbergs Vorgängerfilm The Brood, der mit klareren Inszenierungsstrategien und subtileren Inhalten aufwartete: Die Figuren hatten mehr Identifikationspotential, die Konflikte waren nachvollziehbarer. Scanners hingegen scheint eher an die etwas grobe Dramaturgie von Shivers und Rabid anzuschließen. Das will ich jetzt jedoch nicht als Rückschritt verstanden wissen - eher als Wertschätzung. Denn Cronenberg erzählt eine eigentlich reichlich "billige" Geschichte: in medias res werden wir mit einer Figur konfrontiert, die weder zur Identifikation geeignet ist, noch überzeugend gespielt wird. Das ist Cameron Vale (Stephen Lack), der von der Dr. Paul Ruth (Patrick McGoohan) festgesetzt und auf seine telepathischen Fähigkeiten aufmerksam gemacht wird. Er ist ein Scanner und der Doktor braucht ihn, um eine Scanner-Untergrundorganisation mit sinistren Absichten zu infiltrieren. Diese wird von ultrafies dreinschauenden Darryl Revok (Michael Ironside) angeführt. Vale stapft auf seiner Suche nach Zugang zur Organisation nun von Schauplatz zu Schauplatz - das alles ist reichlich unverbunden, es gibt Welteroberungspläne wie in einem Superhelden-Comic und familiäre Enthüllungen wie in einer Soap.
Das Faszinierende ist eigentlich, dass Cronenberg seinen campy Inhalt vollkommen uncampy erzählt. Die Photographie bleibt stets stilvoll, die Montage moderat und Howard Shores Score macht niemals Anstalten, ins Dramatische oder Emotionale abzurutschen. Hingegen wabern seine unmelodiösen Kompositionen in ein unangenehmes Sounddesign, wenn die Telepathen ihre Scanner-Fähigkeit einsetzen. Es fast so, als ob Cronenberg seinem Schlock-Plot mit Desinteresse begegnet, so unpointiert und verschleppt erzählt der Film. Und trotzdem geht von ihm diese Cronenberg'sche Magie aus, ein Fesselungsmoment, welches mich auf "distanzierte Nähe" hält. Seine Filme sind eben auch immer zum Sinnieren da, welches durch diese offene Inszenierung, die bei The Brood ein wenig verloren ging, verstärkt wird. Und zustande kommt es natürlich erst durch die typischen Subtexte, auf die ich schon in den vorherigen Einträgen meiner kleinen Cronenberg-Retrospektive hingewiesen habe und die sich gleichfalls durch Scanners ziehen. Thematisch erweist sich Cronenberg als unglaublich homogener Regisseur:
(1) Wieder ist es die wissenschaftliche Hybris, die für das Unheil verantwortlich ist. Wie in The Brood gibt es auch hier eine charismatische Doktor-Figur.
(2) Auffällige Architektur gibt es ebenfalls zu bewundern: Das Holzhaus aus The Brood weicht den kalten, eckigen und klotzigen Bauten als Geburtshelfer des Unheils, wie es schon in Shivers und Rabid der Fall war.
(3) Das Unheil ist auch hier wieder die Fähigkeit der Externalisierung von menschlichen Empfindungen und Gedanken. Telepathie wird im Film als ein "direct linking of nervous systems separated by space" beschrieben und somit als Möglichkeit, anderen Menschen Ideen, Emotionen, ja selbst körperliche Zustände aufzuzwingen.
(4) Einmal mehr sprechende Namen, wohin man schaut: Unternehmen, die ConSec und Biocarbon Amalgamate; ein Arzneimittel namens Ephemerol und ein Geheimprojekt mit dem Titel Ripe.
Gerade bei Punkt drei gibt es jedoch einige Neuerungen, die wohl eine Interessenverschiebung Cronenbergs andeuten: Der unheilbringenden Telepathie wird auch emanzipatives Potential zugesprochen und zwar in einem telepathischen Zirkel, in dem mehrere Menschen in eins verschmelzen. Außerdem wird die Stoßrichtung der Externalisierung auffallend erweitert: War der bisherige Vektor einer, der vom Mentalen ins Biologische reichte, breitet sich dieser nun auch ins Elektronische aus. Der Scanner wird zu einer lebendigen Schnittstelle zu einem technischen Netzwerk. Der Medientheoretiker McLuhan, der durch Medien unsere Sinne sich ausbreiten sah, wird hier also beim Wort genommen.
Übrigens, The Brood hat mir ein Stück besser gefallen...
#224
Geschrieben 04. Oktober 2009, 19:17
Pete Docter/Bob Peterson, USA 2009
3D-Kino, Synchro
Lange, lange hat der Pixar-Geist durchgehalten, bevor er wieder vom Disney-Dämon besetzt wurde. Diesmal wohl am längsten. Ich wäre zwar auch einmal gerne für einen Komplett-Exorzismus, aber ich will ja nicht orthodox daherkommen: Das war eine tolle erste Hälfte, die am Anfang ganz flüssig und vollkommen ohne Worte das Lebensglück zweier verliebter Menschen zeichnet, welches unmerklich und in kleinen Schritten vom Alltag und Schicksalsschlägen eingeholt wird - aber glücklich bleibt man, denn man hat ja einander - bis am Ende nur noch einer übrigbleibt, unser Protagonist. Peu à peu gelingt diesem Animationsfilm ein Einblick, fast ein Einleben in die Lebens- und Gemütswelt dieses älteren Menschen. Die knochige Verbitterung wird nachfühlbar - und natürlich ebenfalls für einige hintergründige Seitenhiebe auf das Rentnervolk genutzt. Das kann ja Pixar ganz vorzüglich. Dann wird es satirisch (der dicke Sidekick-Pfadfinder), darauf fantastisch (das fliegede Haus), dann kommt der göttliche Bewegungsslapstick (Riesenvogel) und alsgleich klopft auch schon der Disney-Teufel an die Tür: Ab geht es in sattsam bekannte (und schon fast schlaftrunken machende) Handlungsverzweigungen, also nicht nach oben, sondern geradwegs nach unten: Der Antagonist und seine Schergen werden vorgestellt, der Protagonist und sein Sidekick trennen sich im Streit, nur um sich kurz vor dem Showdown wieder zusammenzuraufen. Im Grobian-Muster kommt es folglich zur sträflichen Versimpelung der bisher so fein entfächerten Senioren-Thematik: Der Bösewicht stellt sich auch als verbitterter "Alter" heraus, der sich gegenüber der sozialen Welt abgeschottet hat. Unser Protagonist kann durch seine Öffnung, der Überwindung seines Senior-Unwillens zum Helden werden. Das geht natürlich ganz schnell und einfach, die Altlasten des Lebens und der Trauer abzuwerfen - leichter zu werden. Mit anderen Worten: Nach oben zu kommen. (Der Böse hingegen stürzt disney-typisch in die Tiefe hinab; sterben soll er schon, nur den harten Aufprall will man den Kinder verweigern.) Der kurze Titel steht am Ende dann leider doch für die kurze Gedankenpuste, die jedem Pixar-Film gegen Ende ereilt...
Es wäre noch zu sagen: Zum ersten Mal habe ich einen 3D-Film im Kino gesehen und bin davon sehr angetan. Weder war ich nach dem Abspann euphorisch, noch enttäuscht. Es ist ja wie mit jeder das Erlebnis des Kinos erweiternden Technik: Sie kann ihre volle Kraft nicht den ganzen Film über ausspielen. So ein Breitbildformat kann auch nur bei Panoramen und geschickt gefilmten Totalen voll erblühen, ein Surround-Sound auch nur erklingen, wenn es die räumliche Situation einer Szene wirklich verlangt bzw. zulässt. So kann der 3D-Effekt ebenfalls nur dort richtig auf sich aufmerksam machen, wo Action ist (dann kommt es zum "Ah, da kommt etwas aus der Leinwand!") oder ein abgebildeter Raum weit in den Hintgergund reicht (dann kommt es zum "Uh, jetzt fall ich in die Leinwand!"). So erscheint der Film größtenteils moderat dreidimensional, nur ein bisschen in die Tiefe gehend. Und das ist auch richtig so - schließlich will man einen Film sehen, der bekanntlich aus mehr besteht als der Schein-Dreidimensionalität. Der Effekt wirkt eher "hintergründig" (ho-ho) und die Gewöhnungsbestie Mensch (jedenfalls haust sie in mir) hat sich schnell angepasst, die Aufregung ist zügig routiniertem Schauen gewichen. Angenehm finde ich, dass es zu keinerlei Kopfschmerzen oder Übelkeit kam. Ob das die Zukunft des Kinos ist, vermag ich nicht zu sagen. Hingegen ist es vielsagend, dass ich in den 3D-Saal zurückkehren werde, vielleicht sogar in Filme, die ich mir normalerweise nicht auf der großen Leinwand gegeben hätte...
#225
Geschrieben 22. Dezember 2009, 00:56
James Cameron, USA 2009
3D-Kino, Synchro
Ich bin offiziell enttäuscht. Insofern kann man natürlich von einem gelungenen Kino-Erlebnis sprechen, aber meines Erachtens eben nur von einem Scheiß-Film. Zusammenhängend wird das jetzt nicht, was ich schreibe. Ich versuche also einmal mehr eine Stichpunktsammlung meinem verstreuten Gemüt abzuringen.
1. Mit 3D, besonders über solche Längen, wird Kino eine äußerst anstrengende Angelegenheit - noch anstrengender als es sowieso schon ist, sich in einen dunklen Saal einzuschließen und auf eine riesige Leinwand zu schauen, auf die ein gleißendes Lichtspiel den Augen etwas vorgaukelt. An dieser Feststellung führt kein Weg herum. Sein Gehirn nun mit zwei künstlichen Lichtspielen zur selben Zeit zu befeuern, damit jenes uns eine Dreidimensionalität vorgaukelt, die für meinen Geschmack sehr wenig mit dem echten Sehen zu tun hat, das zerrt an den Nerven. Die Wirkungen werden wohl stark von der erlebenden Person abhängen, aber Schwindel, allgemeines Unwohlsein, leichte Kopfschmerzen - all das wird das 3D-Kino verstärken. (Ich krieg so etwas ja schon beim Gang ins normale Kino.)
2. Trotz alledem: Natürlich sprengt Camerons Anwendung des 3D-Effektes jegliche Vorstellungskraft und lässt Bilder entstehen, die beeindruckend tief wirken. Aber sie stimmen eben trotzdem (irgendwie) nicht...
3. Besonders lästig allerdings ist die silberbeschichtete Leinwand, die man für das RealD-Verfahren braucht. Diese nun ist besonders empfindlich und gerade beim Aufspannen soll Acht gegeben werden. Ob nur im Erfurter Cinestar während der Installation etwas schief ging oder sich gewisse Schäden sowieso nicht vermeiden lassen, weiß ich nicht. Jedenfalls sieht man vertikale Wellenformatinen - also Streifen von hell und dunkel - auf dieser Leinwand. Diese sind so auffällig: machen einem die Materialität der Leinwand so bewusst, dass die Immersion, das Eintauchen ins Filmbild, stellenweise massiv gestört ist. Katastrophal statt lästig ist wohl der bessere Begriff.
4. Die Animation von Lebewesen - besonders von menschenähnlichen - hat mit diesem Film einen Quantensprung gemacht. Du nimmst diese blauen Aliens wirklich für voll. Dein Gehirn nimmt sie an und dieser "Das ist ein Effekt"-Moment wird einem nur klar, wenn man sich aktiv bewusst macht, dass ein Großteil des Films animiert ist. Aber solange man dieses Wissen verdängen kann: maßstabsetzend.
5. Mich interessiert nicht, ob hier die "ausgelutschte" Pocahontas-Geschichte erzählt wird: Mich interessiert nur, wie sie erzählt wird. Cameron geht auf Nummer sicher - überraschungsarm & genre-stereotyp bis weit hinter die erträgliche Grenze. Alles nicht so schlimm, wenn es einen wenigstens richtig packen und emotional angehen würde. Ich hab mich die ganze Zeit gefühlt, als ob ein kalter, toter, stinkender Fisch mich zu knutschen versucht. Hauptgrund:
6. James Horner. Geh nach Hause, du monströses Untalent, du Moloch der Kreativität! Klar könnte ich die alt bekannten Vorwürfe gegen ihn stark machen - man kann es auch nett formulieren: Er "zitiert" den ALIENS-Score - und alles andere, was nicht niet- und nagelfest ist (von ihm oder anderen Komponisten). Aber viel wichtiger ist, glaube ich, dass er der Hauptgrund ist, dass dieser Film emotional so verarmt ist. Die Filmmusik ist schrecklichster Ramsch und dümmstes Klischee - und das ist auch noch so unglaublich leicht herauszuhören...
7. Wo wir gerade bei Klischees sind: Camerons soziokulturelles Bild der Na'vi, des Volkes auf Pandora, vereint wirklich alle Klischees - welch niederen Formates und ideologischen Verschnitts sie auch immer sein mögen - die sich der Westen so von "Eingeborenen" und "Wilden" macht(e). Verklebt wird das alles mit Eso-Ethno-Kleister, der einen an der Aufklärung zweifeln lässt.
8. Die Imagination eines fremdartigen und faszinierenden Öko-Systems ist Cameron hingegen visuell vorzüglich gelungen - leider kommt der EE-Kleister auch hier zum Einsatz, um der Natur eine mythische Stimme zu verleihen. Ein bisschen weniger Kitsch hätt's auch getan, Jim! Hier und da brechen sich interessante Andeutungen zur Natur als Computer Bahn, mit der man (Daten-)Verbindung über verschiedene Arten von "Sticks" aufnehmen kann.
9. Auch wenn das schrecklich konservativ klingen wird und es mir peinlich ist, mit solchen öden Binsenweisheiten zu schließen: Nur weil's gut aussieht, ist's noch lange nicht gut. Filmisch ist der Film eine mittlere Katastrophe, seine Geschichte lustlos und stellenweise inkonsequent erzählend, zerfallen seine beeindruckenden Bilder zu Bilderabfolgen, nicht fähig, eine Einheit - den Film eben - zu erschaffen. Er bleibt Bilderschau, will aber mehr sein...
(Hätte er mehr Selbstironie-Signale, würde er wenigstens als Parodie von Blockbusterstreifen konsumiert werden können.)
#226
Geschrieben 01. Januar 2010, 22:17
M. Night Shyamalan, USA 1998
DVD, Synchro
So schließt sich der Kreis. Dieser zweite Film von Shyamalan, vor THE SIXTH SENSE produziert, bestätigt eins über Allem: Dieser Auteur (in einer erst einmal ganz unwertigen Minimaldefintion: Drehbuchautor und Regisseur in Personalunion) macht "Kinder-Filme". Damit meine ich nicht (nur) Filme für Kinder, sondern Filme über Kinder. Dieses Thema scheint ihn sehr zu beschäftigen. Hat er z.B. in THE HAPPENING sehr radikal an einem Rollentausch von Erwachsenen und Kindern gearbeitet - die von Mark Wahlberg und Zooey Deschanel gespielten Hauptfiguren verhalten sich stets und ständig äußerst kindisch (deswegen überleben sie übrigens) - so verwendet er hier eine weitaus gebräuchlichere Struktur für "Kinder-Filme": Er lässt Kinder äußerst reif und mit einem geradezu ultrafeinen Sinn für Ironie auftreten. Das ist nichts neues und überhaupt ist der Film für sich betrachtet eher konventionell: Der von Joseph Cross gespielte Joshua Beal ist auf der Suche nach Gott, denn er will sich des Wohlbefindens seines verstorbenen, gläubigen Opas versichern, zu dem er eine äußerst enge, liebevolle Beziehung hatte. Dabei zerfällt WIDE AWAKE in einzelne Abschnitte, die verschiedene Stationen und Anläufe dieser Suche schildern. Das gibt Shyamalan die Chance, sich sehr genüsslich und müßig dem Alltag der katholischen Schule, die Joshua besucht, zu widmen. Zusammengehalten wird diese Handlungsstruktur von einem Voice-Over Joshuas, der mit doppeldeutigen Kommentaren die Wirren des Glaubens, seiner Familie und der Schüler aufs Korn nimmt. Satire pur, urkomisch. Schon allein deswegen lohnt sich der Film. Auch die Gespräche zwischen Joshua und seinem besten Freund Dave sind teils von einer reflexiven Art geprägt, die hintergründig das eigene Kind-Sein mitkommentieren. Zehnjährige reden so selbstverständlich nicht - Spaß macht das trotzdem. Nun ist die Handlung selbst doch etwas zerrig - die Suche nach Gott natürlich als ein Coming of Age, ein geistiges Reifen des Kindes zu verstehen. Am Ende gibt es sogar eine göttliche Offenbarung. Da fragt man sich schon: Mystery um jeden Preis, auch wenn sie das eigentliche Coming-of-Age-Konzept konterkarriert?
Der Film hat also durchaus seine Schwierigkeiten. Aber eines merkt man ungelogen: Das inszenatorische Talent Shyamalans. Besonders auffällig wird es, wenn er aus dem Nichts und mit einfachsten Mitteln eine spannende und unheimliche Atmosphäre kreiert. Am Anfang z.B. geht Joshua in das Zimmer seines verstorbenen Opas, zieht dessen Hausmantel an, setzt sich auf den Schaukelstuhl und steckt sich eine Pfeiffe in den Mund. Diese ganz unscheinbare Szene ist geradewegs gruselig. Zwei Dinge faszinieren: Wie simpel es ist durch einen schlichten Inhalt und eine gewisse Kameraführung den Zuschauer schon so zu verunsichern. Zweitens: Es gibt keinen zwingenden Grund für diese Verunsicherung im Kontext des Filmes. Viel mehr ist es wohl so, dass das "Beklemmende" Teil von Shyamalans Filmen und den in ihnen gezeigten Welten ist. Es ist praktisch allgegenwärtig. Genauso wie das "Skurrile". Vielleicht sind es auch nur zwei Seiten einer Medaille. Schließlich ziehen sich beide Aspekte wie ein roter Faden durch sein Werk.
Shyamalan-Liebhabern, wie ich einer bin, würde ich diesen Film unbedingt ans Herz legen. Denn in den Konventionen dieses Frühwerks lassen sich so viele Einfälle, Brüche und Lücken finden, die den späteren Shyamalan klar andeuten und für eine reizvolle Geschlossenheit seines Oeuvres stehen, dass man damit sehr viel Spaß haben kann. Um die deutsche Vertonung mache ich hingegen in Zukunft einen großen Bogen - Synchronisation von Kindern ist ein schwieriges Feld und diese hier kommt doch sehr lustlos und größtenteils äußerst unnatürlich intoniert daher.
#227
Geschrieben 05. Januar 2010, 23:46
Man könnte noch viel schreiben, z.B. dass schon hier das Plot-Twist-Konzept sebstbezüglich als solches entlarvt wird. Wer meint, Shyamalans Filme wären Variationen von einer Art Film - nämlich der mit überraschendem Ende - der hat schon hier nicht bemerkt, dass der Film unserer Erwartungshaltung einen Spiegel vorhält. Der Abwehrmechanismus gegen diese Erwartungshaltung wird in THE HAPPENING seinen krönenden und fulminanten Abschluss finden.
#228
Geschrieben 06. Januar 2010, 23:54
Im Herzen ist dieser Film natürlich einmal mehr eine clevere Umdichtung bzw. Entschlackung eines Genres. Der globale Alien-Invasionsfilm spielt endlich mal jenseits des amerikanischen Präsidenten oder der Helden, die in die UFO-Mutterschiffe fliegen, um diese prunkvoll in die Luft fliegen zu lassen. Shyamalan konzentriert sich kammerspielartig auf eine Pfarrersfamilie, deren Oberhaupt (Mel Gibson) nach dem Tod der Frau seinen Glauben verloren hat. Er, seine zwei Kinder und sein Bruder erfahren von der globalen Bedrohung der bevorstehenden Invasion nur über das Fernsehen - und dem Babyfon, das sie im Keller gefunden haben. Da ist es ja schon wieder, das Kind und seine Perspektive! Komischerweise ist also das Babyfon(!) prädestiniert dafür, die Nachrichten der Außeriridischen zu empfangen. Ebenfalls sind es die zwei Kinder, die die Kornkreise entdecken, die "Monster auf dem Dach" sehen - die schlichtweg offener sind für das Unglaubliche & Unheimliche. Am Ende werden die Kinder dann sogar zu göttlichen Zeichen überstilisiert, womit wir auch schon...
... beim "Plottwist" sind. Wo war der eigentlich? Soll etwa die "Auflösung" sein, dass alle bisherigen Ereignisse des Films (der Tod der Ehefrau und ihre letzten Worte, die Wasser-Marotte der Tochter, das Asthma des Sohnes) göttliche Fügungen waren, um die Invasion zu überleben? Das ist jetzt keine pikierte Frage an den Filmemacher, sondern an die Filmrezipienten. Der eigentliche Twist ist ja der: Diese Ereignisse werden als Zeichen göttlicher Fügungen interpretiert und sind es nicht einfach. Shyamalan betreibt nicht etwa religiöse Propaganda, wie es auf den ersten Blick scheint. Er ist klug genug, in der eindringlichsten Schauspielleistung des Films (Gibsons "Parabel von den zwei Menschengruppen") offen zu definieren, was Glauben ist: Eine Projektion des Menschen in Ereignisse, der in ihnen Zeichen eines höheren Wesens sieht. Für die Nicht-Gläubigen sind diese Ereignisse nur Zufälle. Der Twist ist also nicht, dass es Gott gibt - für solcherlei plattes Message-Kino scheint mir Shyamalan zu klug - sondern, dass wir Zeuge werden, wie jemand von der einen Menschgruppe zur anderen wechselt. Die Frage, ob Gott wirklich existiert, ist für diesen Wechsel vollkommen belanglos. Es ist eine Entscheidung, die der Mensch zu treffen hat.
Ach ja, Shyamalan ist ein Meister der Point-of-View-Shots - also Einstellungen aus der Perspektive von Figuren. Er verwendete sie bisher in jedem Film seit THE SIXTH SENSE und das in äußerst weiser und effektiver Weise.
#229
Geschrieben 10. Januar 2010, 01:38
THE VILLAGE wird man wohl gut und gerne als Shyamalans geschicktestes Perspektiven-Experiment beschreiben dürfen. Zuerst muss ich ganz ehrlich zugeben, dass dieser Film einer meiner Lieblingsfilme ist und würde ich jemals eine Liste meiner All Time Favorites erstellen (was ich niemals tun würde), wäre dieser immer mit dabei.
Wovon THE VILLAGE handelt, ist wohl weitestgehend bekannt: Von einer Dorfgemeinschaft Ende des 19. Jahrhunderts, abgeschnitten von der großstädtischen Zivilisation durch einen Wald, in dem Monster hausen - von der Gemeinde Those we don't speak of genannt. Am Ende werden einem gleich zwei Enthüllungen geboten: Die Monster sind nur Schwindel, erdacht und sogar verkörpert von den Dorfältesten. Genauso wie die Zeit und zeitgemäße Lebensweise in diesem Dorf nur Täuschung ist: Die Dorfältesten sind moderne Großstädter, deren Vergangenheit von gewalttätigen Schicksalsschlägen geprägt war. Aus diesem Grund haben sie diese autarke und von Zeit und Raum abgeschnittete Gemeinde gegründet - um ihren Kindern die Unschuld zu bewahren.
Shyamalans Abwehr-Reaktion auf die platte Kategorisierung seiner Werke als Plot-Twist-Filme ist dieses Mal eine Kaskade von Plot-Twists - denn zwischen den zwei bereits erwähnten macht die Handlung einen weiteren Haken, indem sie kurz die Möglichkeit andeutet, Those we don't speak of gäbe es wirklich. Dass es Zuschauer gab, die sich das alles vorher denken konnten, kann ich mir nicht vorstellen - aber falls doch, gratuliere ich ihnen zu diesem Wissen! Es ist jedenfalls ganz unerheblich für Shyamalans pfiffige Erzählstrukur: Er führt die Zuschauer mit den Augen der Kinder in die Dorfgemeinschaft ein. Das erste Mal hören wir von Those we don't speak of, als Edward Walker (William Hurt) der Schulklasse die Geschichte und Art dieser Wesen (wahrscheinlich ein weiteres und nicht das letzte Mal) erklärt bzw. eintrichtert. Wir sind die Schulklasse! Auch die Hauptfiguren, die blinde Ivy Walker (Bryce Dallas Howard), die gerne "Jungssachen" macht, und der verschämte junge Schmied Lucius Hunt (Joaquin Phoenix), sind "Kinder". Ihre Liebe zueinander und ihre Verlobung zeigen sie zwar in einem Übergangsstadium, welches jedoch noch nicht abgeschlossen ist. Sie müssen reifen und wir mit ihnen - dazu gehören auch die Plot-Twists, die - sowohl für Ivy als auch den Zuschauer - ein höheres Verständnis der Welt verheißen. Jedoch muss bei diesem Prozess eines erhalten werden - eines der zentralsten Konzepte Shyamalans, Katalysator in all seinen Filmen und untrennbar mit seinem Glauben an das Kind verbunden: Unschuld (ein Wort, das oft in diesem Film fällt).
Geradezu subversiv ist Shyamalans Einfall, die monomythische Heldenreise, in dessen Verlauf es zu einer geistigen Reifung kommt, von einer blinden Frau bestehen zu lassen. Die Enthüllungen, die sich im Film selbstverständlich auf der visuellen Ebene abspielen, den Zuschauer mit und durch die Augen einer Blinden als Identifikationsfigur erleben zu lassen, darauf muss man erst einmal kommen! Passend dazu beweist Shyamalan einmal mehr seine Meisterschaft des Point of View: Wie setzt man den subjektiven Blick einer blinden Person um? Ganz einfach, man stellt die Kamera hinter diese Person, so dass der Zuschauer zwar mit ihrer Blickrichtung schaut, aber durch den Hinterkopf sein Sichtfeld versperrt wird.
Shyamalans Steuerung des Zuschauer-Blickes erlebt mit diesem Film ihren Höhepunkt und ihre dichteste Form. Wie er uns zuerst auf den kindlichen Blick festlegt, um uns dann im Laufe des Films die Welt zu entdecken - parallel zum Reifungsprozess der Heldin. Die "Plot-Twists" sind hier aufs engste mit der Handlung verflochten und somit gar keine Twists mehr, sondern fügen sich absolut organisch ins Ganze ein...
#230
Geschrieben 11. Januar 2010, 01:52
"What kind of person would be so arrogant as to presume the intention of another human being?"
"Story wants to go home and she can't."
Zwei Schlüsselsätze aus LADY IN THE WATER, die ganz gut an das Verständnis dieses Filmes heranführen. Der erste ist natürlich eine leidenschaftliche Absage an den Intentionalismus, derer sich der Regisseur Shyamalan durch die Filmkritik ausgesetzt sah. Ich selbst sehe mich ja als Antiintentionalist und halte diesen Film für eine Verteidigung dieser Denkrichtung. LADY IN THE WATER ist ein Märchenfilm, der seine eigene Beziehung zum Märchen auslotet. Er trägt seinen Subtext offen vor sich her - was ihn sehr angreifbar und gleichzeitig unendlich vieldeutig macht. Deuten oder angreifen, das ist hier die Frage! Denn ob die Story nach Hause kommt - die Geschichte erhört wird - hängt letztendlich nicht von ihr ab, sondern vom Zuhörer respektive Zuschauer.
Es war einmal in einer idealisierten Alltäglichkeit in einer Apartment-Anlage in Phiadelphia. Der Hausmeister Cleveland Heep (Paul Giamatti) kümmert sich liebevoll um die verschrobene Multi-Kulti-Mieterschaft und ihre Probleme. Hier herrscht bedrückende Normalität. Diese sieht sich bald einer anderen Welt ausgesetzt und zwar der des Märchens, der Sage, der Gute-Nacht-Geschichte. Diese fantastische Welt ("The Blue World") bricht über den Swimming-Pool, in dem eine Nymphe lebt, in die Realität ein. Sie ist eine Narf und ihr Name ist Story (Bryce Dallas Howard). Story muss gerettet werden vor bösen Mächten, die mit ihr in die Tristesse des Wohn-Komplexes eingedrungen sind. Wie rettet man Story? Also anders gefragt - der Film trägt bekanntlich seinen Subtext offen vor sich her: Wie rettet man eine Geschichte? Ganz klar, in dem man sie kennt, erzählt und tradiert. Cleveland kennt die Geschichte der Narfs ganz offensichtlich nicht. Sie ähnelt allerdings einem koreanischen Märchen, soviel kann Studentin Young-Soon Choi (Cindy Cheung - was für eine großartige Verkörperung des weiblichen Uni-Slackers!) Cleveland sagen. Sie hat die Geschichte, die ihr als Kind erzählt wurde, leider vergessen - wie das Erwachsene im Zeitalter des Nicht-Mündlich-Tradierens eben zu tun pflegen. Ihre Mutter hingegen kennt das Märchen - da sie aber nur koreanisch sprechen kann und sowieso auf Kriegsfuß mit ihrer Tochter steht, da ihr Slackertum eben nicht gerade den Weg sozialen Aufstiegs verheißt, erfährt Cleveland die Details der Geschichte nur schrittweise während des Filmverlaufs. Diese Zerstückelung des Märchens ist gleichzeitig eine Analyse (griech. analysein: auflösen). Dadurch, dass uns die Geschichte nicht richtig erzählt wird, wirkt sie unglaublich lächerlich und zerfällt in ihre Bestandteile: so werden die Funktionen und Regeln der Geschichte offengelegt. Shyamalan macht eigentlich nichts anderes als die Morphologie des Märchens aufzuzeigen, wie es z.B. der russische Märchenforscher Vladimir Propp getan hat.
So erfahren wir von den Scrunts - bösen Biestern, die die Narfs angreifen und vom Kontakt mit den Menschen abhalten wollen. Eigentlich werden sie von den Tartutics - drei affenähnlichen Wesen, die gewaltsam die Ordnung und das Recht in der Blue World aufrechterhalten - in Schach gehalten. Allein, da Story keine normale Narf, sondern die Madam Narf - die zukünftige Königin ihres Volkes - ist, sind die Scrunts besonders hartnäckig. Story braucht also Hilfe, um in ihre Welt zurückzukehren, wie der Held in einem Märchen immer Helfer benötigt: Diese werden uns in Form von Aktanten vorgestellt. Das sind Handlungsrollen, die unabhängig von einer speziellen Figur eine Funktion im Märchen erfüllen: The Symbolist, the Guardian, the Guild, the Healer. Nun ist es an Cleveland, diese Handlungsrollen mit Mietern aus den Apartments zu füllen. Und es ist an den Mietern, ihre Rolle zu spielen. Was sie dazu benötigen, sollte man im Kontext meiner bisherigen Texte leicht erraten können: ihre Kindlichkeit und Unschuld. Denn das erlaubt es ihnen, an Märchen zu glauben und offen für das Fantastische zu sein. Eine konzisere und kompaktere Darstellung der Funktionsweise von Märchen und ihrer engen Verschlungenheit mit dem kindlichen Gemüt hat man in einem Film wohl selten gesehen. Und dazu noch urkomisch und hochgradig skurril!
Insofern sollte man auch mal mit den ewigen Vorwürfen der Religiösität und Spiritualität Shyamalans Schluss machen: Das Märchen ist nicht etwa eine höhere Macht, die von außen an die Bewohner der Apartment-Anlage herantritt. Das Märchen wirkt von Innen, es entsteht ausschließlich aus dem Menschen selbst. Er erweckt es zum Leben. Märchen ist für Shyamalans deckungsgleich mit: Gott, Liebe, Kindlichkeit, Unschuld.
Zu Shyamalans durchaus problematischen "Cameo-Auftritt": Man muss nun wissen, dass die Narfs aus einem ganz bestimmten Grund die Nähe zur Realität suchen. Ihre Aufgabe ist es, einen bestimmten Menschen (Vessel) zu inspirieren (das Gefäß zu füllen), so dass er Gutes tut. In diesem Fall ist das ein Autor, gespielt vom Regisseur höchstpersönlich, mit Schreibblockade. Nach einem Treffen mit Story ist diese wie weggeblasen und sein ominöses Werk, nur "The Cookbook" genannt, sei dazu vorherbestimmt, einen Jungen derart zu beflügeln, dass er "Leader of this Country" wird. So die Prophezeiung Storys. (Im englischen Wikipedia-Artikel steht, damit wäre der US-Präsident gemeint - anhand der im und durch den Film offengelegten Märchen-Funktionsweise, besonders ihrer Vagheit und Austauschbarkeit, halte ich das für einen intentionalistischen Gewaltakt.) Es kommt noch härter: Dazu muss der Autor sterben, denn erst dadurch wird das Cookbook zum Märtyrer-Klassiker, welches Wirkung entfalten kann. Shyamalan trägt gewiss dick auf, aber wenn man den Film, wie ich, als Appell für die Tradierung von Geschichten - und der damit verbundenen Erzählkunst - versteht, so ist seine Rolle nichts anderes, als eine Fußnote dafür, was Story vermag... Überhaupt: die ironische Brechung mit dem Titel "Cookbook" ist eigentlich Material genug, aus diesem Handlungsstrang einen messianischen Witz zu backen.
#231
Geschrieben 12. Januar 2010, 00:21
(Regieanweisung) "Ja, Colin, jetzt gehe einfach da lang und schau in den Himmel."
"Wo lang genau?"
"Oder besser: Du schaust dir einfach diesen wunderschönen Baum an und sagst nichts."
"Also jetzt zum Baum?"
"Nein, warte! Lauf einfach durch diese hohen Gräser und starre mit großen Augen durch das Dickicht."
"Und dann?"
"Nichts..."
Gar nichts. Außer einer Figur, die mitten in der Natur steht. Terrence Malicks Filme sind erst einmal genau das: Filme über Personen, die in der Natur stehen, durch die Natur gehen, mit der Natur arbeiten - die ihre Umgebung erfahren. Und der Zuschauer ist immer dabei, die Kamera kommt den Gesichtern und Körpern nahe, zu nahe, berührt sie fast, dann bewegt sie sich wieder von ihnen fort, nimmt Landschaften ins Blickfeld, wie sie schöner nicht sein könnten. Der Schnitt ist elliptisch und radikal, reißt uns hin und zurück in der Zeit, überspringt Sekunden, Minuten, Tage, Monate, Jahre mit Leichtigkeit. Alles ist im Fluß - und wir werden mitgerissen. Erfahrungsschnipsel leuchten vor unseren Augen kurz auf, flackern, vergehen. Diese Technik bar jeder erzählerischen Konvention intensiviert das Gefühl, etwas zu beobachten, was wir sonst selten in einem Film sehen: das Erleben der Welt. Oder eben: der neuen Welt. Jedenfalls in diesem Versuch, die Pocahontas-Geschichte neu zu erzählen. "Versuch", weil ich nicht weiß, inwiefern Malick hier bei den historischen Fakten der "westlich kultivierten" Indianer-Prinzessin bleibt. Sei es drum - so wichtig will es mir nicht erscheinen. Diese Geschichte nutzt Malick einmal mehr dazu, darüber zu meditieren, wie der Mensch und seine Umgebung aufeinander wirken, zur einen Seite Gedanken formend, zur anderen Natur verändernd. Ich muss hier auch abbrechen, so gewaltig will mir Malick erscheinen. Ach ja, eines will ich noch sagen: THE NEW WORLD ist ein Liebesfilm. Der wundervollste, den ich in den letzten Jahren gesehen habe.
(Ach ja, dieses eine noch: So geht das, Herr Cameron!)
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