To Tell You the Truth...
#1
Geschrieben 02. Juli 2009, 08:30
Casa de los babys
(Casa de los babys, USA/Mexiko 2003)
Regie: John Sayles
Darsteller: Marcia Gay Harden, Susan Lynch, Daryl Hannah, Mary Steenburgen, Lili Taylor, Maggie Gyllenhaal, Vanessa Martinez, Rita Moreno, Guillermo Iván
Obwohl Regisseur John Sayles mit "Passion Fish" (1992) und "Lone Star" (1996) zwei der bedeutendsten Independent-Filme der 90er Jahre gedreht hatte, fiel es ihm in letzter Zeit immer schwerer, Vertriebsmöglichkeiten und damit den Weg zum Publikum zu finden. "Sunshine State" (2002) durfte seine Weltpremiere noch an den Internationalen Filmfestspielen von Cannes feiern, der hier zu besprechende Film "Casa de los babys" schaffte es meines Wissens nicht einmal mehr in die deutschen Kinos!
Die Schweizer Kritiker hingegen fanden für den Film, dem der Ruf eines Meisterwerks vorauseilte, nur lobende Worte, als er in unseren Programmkinos anlief. Solche Voraussetzungen lockten natürlich zum Besuch eines Streifens, der sich dem heiklen Thema der grenzüberschreitenden Adoption widmet; sie bergen aber auch die Gefahr in sich, dass der Zuschauer in seinen Erwartungen enttäuscht wird.
Mich selber vermochte die "Geschichte", so es denn eine war, über sechs Frauen (fünf Amerikanerinnen, eine Irin), die in einem südamerikanischen Land seit Wochen der behördlichen Bewilligung zur Adoption eines Drittwelt-Babys entgegenfiebern, beim ersten Mal nicht zu überzeugen. Ich hatte wohl eine klare Botschaft zum Thema erwartet, wollte hinter die bürokratischen Kulissen eines Landes (die Aufnahmen wirkten zum Teil derart postkartenartig, dass ich froh über die fehlende Nennung seines Namens - der Film wurde in Mexiko gedreht - war) sehen, dessen einziger Tourismus- und Export-Artikel Babys sind, die von ihren Müttern nicht ernährt werden können. Stattdessen wurden mir mehr oder weniger zusammenhängende - freilich sowohl von den mexikanischen als auch von den amerikanischen Darstellern hervorragend gespielte - Episoden dargeboten, die zeigen, wie die wartenden Frauen ihre Zeit verbringen - und einiges über sie verraten. Der Hintergrund, der sich mit der behördlichen Willkür, dem bewussten Hinauszögern beschäftigt, wird weitgehend ausgeklammert. --- Man muss "Casa de los babys" jedoch mindestens (!) zwei Chancen geben; denn der Film ist, wie Sayles selber betont, nicht politisch bewusst, ideologisch. Er endet mit mehr Fragen als Antworten.
Wie stark Sayles dem Hintergründigen seiner Bilder und den raschen Wechseln der Schauplätze vertraut, zeigt bereits der Beginn des Films. Zuerst sieht man - einen zärtlicheren Anfang kann man sich kaum vorstellen - die im Heim untergebrachten schlafenden und erwachenden Babys in ihren weissen Betten liegen, umspielt von liebevoller Musik. Die Schwester hält eines der Kinder in ihren Armen und beruhigt es mit einem Lied - das scheinbare Paradies in einem Haus, das mitten im idyllischen Grün steht. Die nächste Szene lenkt die Aufmerksamkeit auf die erwachenden Strassenkinder (sie hatten nicht das "Glück", von reichen Leuten adoptiert zu werden), die aus ihren Kartonschachteln klettern - und gleich verjagt werden. Diese Kinder leben, wie spätere Szenen zeigen, vom hemmungslosen Stehlen und Betteln, ihnen wird jede Chance verwehrt bleiben. Die scheinbare Idylle erweist sich als trügerisch. - Es folgt ein Blick auf die im "Paradies" arbeitende Bevölkerung, die in Hütten wohnt und auf schlecht ausgebauten Strassen zum Bus eilt, der sie zur Arbeit fährt. Dann ein krasser Schnitt zum Swimming-Pool des kleinen Hotels, in dem die sechs Frauen wartend ihre Zeit verbringen; er wird gerade gereinigt. Küchenarbeiter bereiten das klinisch-reine Frühstück für die Gäste vor, ein Arbeitsloser bittet die resolute Besitzerin und offensichtliche Profiteurin des Baby-Handels, Señora Muñoz, vergeblich um einen Job. - Dann sieht man die athletische Skipper, eine der Wartenden, wie sie zum kühlen Pool eilt, um ein paar Runden zu schwimmen. Die anderen Frauen erscheinen zum Frühstück - und beginnen übereinander zu tatschen, zum Zeitvertreib, aber auch aus Neid.
Nach und nach kommen zum Teil bloss vermutete Einzelheiten ans Licht, die vielleicht erklären, weshalb die Frauen sich ihren Kinderwunsch in einem südamerikanischen Land statt in ihrer Heimat zu erfüllen versuchen: Nan neigt offensichtlich zur Kleptomanie, die religiöse Gayle ist Alkoholikerin, Leslie wird von den anderen für eine Lesbe gehalten - und selbst der makellosen Skipper sagt man nach, sie habe eben "something Arian" an sich. Diese kleinen "Defizite" stehen jedoch nicht im Vordergrund; Sayles belässt es bewusst beim Small Talk am Strand, den spärlichen Begegnungen mit der einheimischen Bevölkerung während eines Marktbesuchs, bei einem Stadtrundgang, für den sich der Arbeitslose, der von Philadelphia träumt, als Fremdenführer anbietet. - Die Nacht bringt dann Teile der Wahrheit sozusagen an den Tag: Señora Muñoz, verlässt kühl, wie sie am Morgen eingetroffen ist, ihr Hotel, offenbar nimmermüd', ihre Angestellten liegen erschöpft in ihren Zimmern; der arbeitslose Fremdenführer hat sich ein Los der Fernsehlotterie gekauft und schaut sich in einem Schaufenster zunehmend enttäuscht die glitzernde, von einem "Astrologen" begleitete Ziehung an, um am Ende sein Los auf die Strasse fallenzulassen, von wo es ein Windstoss zusammen mit den anderen wegfegt; wartende Frauen beten - und die Strassenkinder suchen sich unter den Booten am Strand einen Platz zum Schlafen. Ein Junge blickt zum Himmel hinauf und beobachtet zunehmend desillusioniert die Sternschnuppen; er weiss, dass sie nicht ihm gelten.
Am Ende hat möglicherweise ein Bestechungsversuch Erfolg: Zwei Frauen dürfen auf das ihnen zugesprochene Baby warten. Dann endet der Film abrupt. - Es gilt jedoch, was die Hotelbesitzerin schon am Anfang über alle Anwärterinnen sagte: "...wollen Mütter sein und brauchen selber einen Babysitter". - Die adoptierten Kinder blicken einer ungewissen Zukunft entgegen.
Letztlich erweist sich "Casa de los babys" dank seiner höchst sensiblen Annäherung ans Thema (nicht zuletzt in Nebenrollen herausragende Darstellerinnen wie Maggie Gyllenhaal, Daryl Hannah und Marcia Gay Harden tragen mit ihrem natürlichen, selbstverständlichen Spiel dazu bei) als sehenswert. Der Zuschauer muss das Puzzle von Schicksalen und kleinen Ereignissen selber zu einer "Geschichte" zusammenbauen, was oft ein lohnendes, gelegentlich ein zutiefst berührendes Unterfangen ist. Unter dem Strich bleibt jedoch eine wirkliche Begeisterung aus; man hätte sich eine weniger schematische Abhandlung gewünscht, anstelle eines bewussten Eskapismus eben doch einen Einblick in die schwierige Zusammenarbeit mit einer undurchschaubaren Verwaltung erwartet. Vor allem das plötzliche, unerwartete Ende erweckt auch den Eindruck, für einmal habe sich Sayles für den Zuschauer nicht sonderlich interessiert. - Dennoch greift etwa der Vorwurf, der Film sei zu "privat" oder - wie Kritiker Steve Rhodes meinte - einfach eine predigende Geschichte über sechs neurotische Frauen, zu kurz; "Casa de los babys" bemüht sich nämlich ernsthaft, auch der betroffenen einheimischen Bevölkerung Raum zu geben.
Da "Casa de los babys" zweisprachig ist, bietet auch die DVD keine synchronisierte Fassung, sondern ist nur mit Untertiteln erhältlich.
#2
Geschrieben 04. Juli 2009, 13:49
Tyrannische Liebe (Alternativtitel: Nachtclub-Affären)
(Love Me or Leave Me, USA 1955)
Regie: Charles Vidor
Darsteller: Doris Day, James Cagney, Cameron Mitchell, Robert Keith, Tom Tully, Harry Bellaver, Richard Gaines, Claude Stroud, Audrey Young
Am 3. April feierte Doris Day ihren 85. Geburtstag - mehr oder weniger. Die deutschsprachigen Fernsehsender feierten die "Ikone der Künstlichkeit" (Focus) mit Filmen, die zeigen, als was man sie hierzulande gerne wahrnimmt: "Ein Pyama für zwei" (Lover Come Back, 1961), "Ein Hauch von Nerz" (That Touch of Mink, 1962), und "Schick mir keine Blumen" (Send Me No Flowers, 1964). Mögen im weiteren Verlauf neben einigen im Nachmittagsprogramm ausgestrahlten schier unerträglichen Filmen aus der Zeit, als sie noch bei Warner Brothers unter Vertrag stand, auch Hitchcock's "The Man Who Knew Too Much" (1956) und David Miller's "Midnight Lace" (1960) hinzugekommen sein, so steht doch fest, dass man in ihr bis heute die Verkörperung der perfekten Sauberfrau Hollywoods sehen will (die anderen Blondinen ihrer Zeit hatten bekanntlich ein ganz anderes Image). Bezeichnenderweise fehlte im Rahmen der Würdigung denn auch jener viel zu selten ausgestrahlte Film, der zeigt, was die Diva im dramatischen Fach drauf hatte - und der von ihren Fans schon damals mit Befremden aufgenommen worden war: "Love Me or Leave Me"!
Mag auch die grosse Zeit jenes Subgenres, das man heute als "Entertainer-Biopic" bezeichnet, bereits in den 40er Jahren eingesetzt haben, so erreichte es doch in den 50ern - während der letzten Tage der Studio-Ära - einen entscheidenden Höhe- und Wendepunkt: Hollywood sah sich zunehmend gezwungen, dem neuen Konkurrenten Fernsehen Paroli zu bieten. Man tat dies u.a. mit glamourösen Film-Musicals, bemerkte aber bald, dass ein gelungener Mix aus Glamour und Gefühl noch wirkungsvoller sein könnte. So kam es zum erfolgreichen Remake "A Star Is Born" (1954) mit Judy Garland. Noch mehr verlockten jedoch "auf einer wahren Begebenheit beruhende" Geschichten über Musiker und Sänger/innen, die nach Möglichkeit harte Zeiten zu durchleben oder gar zu sterben hatten. Es entstanden Filme wie "The Glenn Miller Story" (1953) oder "The Benny Goodman Story" (1955). Zum grössten und zumindest von der Kritik auch am meisten gelobten Erfolg sollte aber eine in prachtvollem CinemaScope photographierte Verfilmung der Karriere einer Sängerin werden, deren Songs im Amerika der 50er noch immer populär waren: Ruth Etting.
Ruth Etting gehörte in den 1930ern zu den grossen amerikanischen Gesangsstars, die mit ihrer sinnlichen Jazz-Stimme auf der Bühne, im Radio und auch beim Film Erfolge feierte - und jeden Mann um den Finger wickeln konnte. Ihre Anfänge waren jedoch weitaus bescheidener gewesen und führen zurück in eine jener "Flüsterkneipen" der Prohibitionszeit, in der sie sich für 10 Cents zu einem Tanz "einladen" liess. Dort entdeckte sie der humpelnde Gangster Martin "Moe the Gimp" Snyder, der sich prompt in sie verliebte und ihr versprach, ihre Karriere zu fördern. Ruth Etting mag dem "Wäschereibesitzer" (legales Nebengeschäft) zu Beginn zwar naiv vertraut haben, nutzte ihn mit der Zeit aber sicher auch schamlos für ihre Interessen aus, ohne zu bemerken, in welche Abhängigkeit sie sich dadurch begab. Der liebenswürdige Martin brachte sie zunächst bei einer Tanztruppe unter; doch Ruth informierte ihn, dessen Annäherungsversuche sie brüsk ablehnte, sie wolle lieber singen. Also "überredete" Snyder Club-Besitzer dazu, sein Protegé bei sich auftreten zu lassen. Dies war der Start einer grossen Karriere, die von den Ziegfield Follies zu eigenen Shows ("Martin Snyder Presents Ruth Etting"), Schallplattenverträgen, Radiosendungen und Kurzfilmen in Hollywood führen sollte - aber auch unausweichlich in einer Ehe mit Martin Snyder endete. Zunehmend gewalttätigere Streitereien mit ihrem Mann machten Ruth zur Alkoholikerin, und 1937 liess sie sich (vielleicht hatte sie sich bereits in ihren Pianisten Myrl Alderman verliebt) scheiden. - 1938 schoss Snyder auf den neuen Geliebten seiner Ex-Frau und wurde wegen versuchten Mordes zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Dieser Skandal läutete auch das Ende der Karriere von Ruth Etting ein.
Ava Gardner soll sich um die Rolle der Etting im von MGM geplanten Film förmlich gerissen haben; doch James Cagney, der endlich wieder in die Rolle eines waschechten Gangsters schlüpfen durfte, liess den Produzenten Joe Pasternak wissen, er halte Doris Day, die soeben ihren 7-Jahres-Vertrag mit Warner Brothers beendet hatte, für die ideale Besetzung. Er sollte Recht behalten; denn hier lernte der Zuschauer eine ganz neue Day kennen, die sich entschlossen von ihrem bisherigen Image löste, äusserst differenziert zu spielen verstand und sich teilweise fallen liess wie die oft fehlbesetzte Susan Hayward im ebenfalls 1955 entstandenen "I'll Cry Tomorrow", in dem sie die dem Alkohol verfallene Sängerin Lillian Roth spielte und ihre Generalprobe für "I Want to Live" (1958) hinter sich brachte. Die Day tat dies aber äusserst kontrolliert, jede Facette ihres Spiels genau hinterfragend - und man durfte sie in einzigartiger Vielfältigkeit als glamourösen Star, als still vor sich hinleidende Frau und als Aufbegehrende erleben.
Hinzu kamen ihre höchst eigenen Interpretationen der grossen Ruth Etting-Hits: "Ten Cents A Dance", "Everybody Loves My Baby", "My Blue Heaven", "Mean To Me" und natürlich "Love Me Or Leave Me". Zwei weitere Songs ("Never Look Back" und "I'll Never Stop Loving You") wurden extra für die Day komponiert. - Unvorstellbar, dass diese Darstellerin und Sängerin in den 60ern "Pillow Talk" trällern sollte...
Charles Vidor, der nicht nur für ein perfektes Zusammenspiel der beiden Hauptdarsteller sorgte, sondern sich auch um eine genaue Rekonstruktion des Zeitambientes (Autos, Kostüme, Dekor) bemühte, dürfte der ideale Regisseur für den Film gewesen sein, hatte er doch u.a. mit dem 1945 gedrehten "A Song to Remember" (über Frédéric Chopin) und "Hans Christian Andersen" (1953) schon einige Biopics auf dem Kerbholz. - Der Film wurde denn auch für sechs Oscars nominiert (Doris Day ging im Gegensatz zu Cagney bei den Nominierungen leer aus, was ich als Rücksicht auf ihre enttäuschten Fans interpretiere) und gewann den Award für die beste Filmstory. - Die Day anerkannte, dass man sie als Star und nicht als grosse Schauspielerin wollte; und so liess sie sich nach ihrem Abstecher zu Hitchcock hauptsächlich in Komödien besetzen, die den verlogenen 60ern entgegenkamen und sie mit beinahe 40 Jahren noch als Jungfrau präsentierten, die beim blossen Gedanken an Sex Hautausschläge bekommt. - Es war wohl ihre Entscheidung; ich will darüber nicht urteilen.
Dieser Eintrag zu "Love Me or Leave Me" soll nicht als Rechtfertigung der so genannten "Entertainer Biopics" missverstanden werden! Ich bin mir der peinlichen Zugeständnisse, die solche Filme von Anfang an machten und noch immer machen müssen, sehr wohl bewusst: Ausblendung wirklicher Schattenseiten in den Biographien, derer sie sich anzunehmen vorgeben, Überdramatisierungen, Verherrlichungen etc. Dies trifft nicht bloss auf die neueren Vertreter des Subgenres ("Ray", 2004, "Walk the Line", 2005) zu, die sich zwar durch bemerkenswerte schauspielerische Leistungen, aber auch durch unerträgliche Überlängen "auszeichnen" - es gilt etwa auch für den hier besprochenen Klassiker: Die weitere Geschichte der Etting nach ihrer Scheidung von Martin Snyder und dessen Mordversuch an Alderman sollen dem Kinobesucher nicht auch noch aufgetischt werden. Stattdessen sieht man am Ende Snyder den Club, in dem Ruth Etting gerade singt, betreten; er stellt sich an die Bar, hört der Stimme eine Weile zu - und zeigt sich dann doch zufrieden mit dem, was er miterschaffen hat. Solche "Verschönerungen" nimmt man bei einem Film aus den 50ern, dem es letztlich eben auch um die zeitgemässe Einbettung der Gefühle in Glamour geht, eher in Kauf. Zehn Jahre später hätten sie - ich denke an Wyler's "Funny Girl" (1968) - bereits leicht angestaubt gewirkt.
Ach ja: Alles Gute zum Geburtstag, Doris - welcher es auch immer gewesen sein mag!
**********
Als staatlich geprüftes Sensibelchen verzichte ich (vorläufig) auf einen Kommentar-Thread, in dem ihr Hyänen mich auseinanderreissen könnt. Ich überlasse es jedoch dem geneigten Leser, der vermutlich bloss in meiner Einbildung existiert, also ein "eingebildeter" oder - um einen literaturwissenschaftlichen Terminus zu strapazieren - impliziter Leser ist, meinen zum Teil auf hauseigenem Mist gewachsenen Unsinn über "Entertainer Biopics" im Bereich "Filmthemen" dem Gespött der Menge preiszugeben. Vielleicht hilft mir ein guter Therapeut darüber hinweg.
#3
Geschrieben 08. Juli 2009, 00:38
Leider sind viele Produktionen, die sich deutlich aktueller Probleme der Zeit annahmen, etwas in Vergessenheit geraten. Ich möchte deshalb hier an zwei von ihnen erinnern, die von Regisseuren gedreht wurden, deren spätere Karrieren unterschiedlicher nicht hätten verlaufen können. Dass beide in irgendeiner Form mit der Schweiz zu tun haben, dürfte nicht reiner Zufall sein - letztlich müssen bloss die armen für Filmzeitschriften arbeitenden Sklaven über Erzeugnisse schreiben, mit denen sie überhaupt nichts verbindet...
Das Brot des Bäckers
(Das Brot des Bäckers, Deutschland 1976)
Regie: Erwin Keusch
Darsteller: Günter Lamprecht, Bernd Tauber, Silvia Reize, Anita Locher, Manfred Seipold, Gerhard Acktun, Ronald Nitschke
Der von Kritikern und Publikum gleichermassen gefeierte Erstling des Zürcher Filmregisseurs Erwin Keusch beschäftigt sich mit dem Niedergang des Kleingewerbes in den 70er Jahren, verpackt sein Thema jedoch zugleich in die mehr als ansprechende Geschichte des jungen Werner Wild, der eines Tages in einer fränkischen Kleinstadt die Bäckerei von Georg Baum mit den Worten "Ich ess' gern gutes Brot" betritt - und vom Bäckermeister, einem Anhänger gut durchgebackenen Brotes, augenblicklich als Lehrling eingestellt wird. Dieser macht ihn nicht nur mit den Feinheiten des Backens von Brot und Gebäck vertraut, sondern nimmt ihn auch herzlich in seine Familie, die durch die temperamentvolle Meistersfrau zusammengehalten wird, auf. Während Werner unbeschwerte Lehrjahre mit den dazugehörenden Liebeswirren durchlebt, will Baum bloss in Ruhe sein Brot verkaufen und bemerkt erst langsam die sich verändernde wirtschaftliche Umgebung, auf die ihn seine Söhne, zwei Gymnasiasten, die mit dem Betrieb des Vaters nichts zu tun haben wollen, immer wieder aufmerksam machen. Erst als ein Supermarkt im Städtchen seine Tore öffnet, erkennt er die anstehenden Schwierigkeiten, in die ein Preiskrieg ihn führen wird.
Werner identifiziert sich zunehmend mit den Problemen seines Meisters, der jetzt in grossem Stil zu rationalisieren beginnt, ohne dass sich der finanzielle Erfolg einstellen würde. Ein zweiter Lehrling schmeisst den Bettel hin, und auch Werner sieht sich nach dem Ende seiner Lehrzeit gezwungen, eine Stelle in einer Grossbäckerei anzunehmen. - Baum, der seinen Einmannbetrieb stur und hoffnungslos verteidigt, dringt eines Nachts in den Supermarkt ein und verwüstet die Brotabteilung. Seine berufliche Karriere ist damit beendet. Dass der Film trotzdem zu einem höchst fragilen Happy End findet, ist umso berührender.
Es würde mich nicht erstaunen, wenn der Bäckersohn Keusch vom Schweizer Film "Bäckerei Zürrer" (1957) auf die Idee gebracht worden wäre, sein eigentliches Anliegen zuerst raffiniert in eine scheinbare Idylle zu verpacken. Während der erwähnte Film aus der Schweiz jedoch nichts weiter als eine "Was man so alles in eine Bäckerei-Geschichte reinbringen kann"-Schnulze ist, gelingt Keusch und seinem Team ein höchst aufwühlendes Dokument über die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit. Ohne die Leistung der anderen Darsteller schmälern zu wollen, muss man sagen, dass insbesondere Günter Lamprecht als zunehmend verzweifelnder Bäckermeister einzigartig glaubhaft wirkt. Wenn man seinen Weg mitverfolgt, erkennt man, dass nicht bloss der Eindruck einer bleibenden Aktualität erweckt wird, sondern sich ein vergleichbares Schicksal jeden Tag abspielt.
"Das Brot des Bäckers" erhielt neben weiteren Preisen das Prädikat "Besonders wertvoll"; die "Financial Times" schrieb darüber sogar: "Was 'Moby Dick' für den Walfang ist, ist dieser Film fürs Brotbacken." - Ist es nicht bedenklich, dass man sich ein solches Meisterwerk auf einer bald ausgeleierten VHS-Kassette anschauen muss, weil es noch immer nicht als DVD erhältlich ist?
Die Konsequenz
(Die Konsequenz, Deutschland 1977)
Regie: Wolfgang Petersen
Darsteller: Jürgen Prochnow, Ernst Hannawald, Walo Lüond, Edith Volkmann, Erwin Kohlund, Hans Irle u.a.
Der Schweizer Schwulenaktivist Alexander Ziegler (1944-1987) war eine höchst umstrittene Person. Als Herausgeber einer Zeitschrift ("du&ich") geriet er in den Verdacht, gefälschte Interviews zu veröffentlichen; und seine Versuche, lange vor Rosa von Praunheim mit Zwangs-Outings ins Rampenlicht zu gelangen, ernteten allgemein grosse Kritik. Ziegler war 1966 wegen seiner Freundschaft mit einem knapp 16-Jährigen zu einer Haftstrafe verurteilt worden, und im Gefängnis entstand der erste einer Reihe stark autobiographisch gefärbter Romane, deren letztlich einflussreichsten Petersen 1977 für die ARD verfilmte.
"Die Konsequenz" erzählt die Geschichte des homosexuellen Schauspielers Martin Kurath, der im Gefängnis ("Ich bin nicht kriminell, ich bin homosexuell. Das ist schlimmer.") den 16-jährigen Sohn des Gefängniswärters Manzoni, Thomas, kennen lernt. Die beiden verlieben sich ineinander und wollen nach Kuraths Entlassung zusammenleben. Dies verhindert der boshafte Vater von Thomas, der seinen sensiblen Sohn in eine Erziehungsanstalt einweisen lässt. Die Erfahrungen in der Anstalt, aber auch der Preis, den Thomas für den Wunsch, seiner Veranlagung gemäss leben zu können, bezahlen müsste, enden letztlich in einem Suizidversuch.
Die Ausstrahlung des heute veraltet wirkenden Fernsehfilms sorgte schon im Vorfeld für einen Skandal: Der Bayerische Rundfunk schaltete sich entsetzt aus. Vielleicht erhielt er gerade deshalb sich vor Begeisterung überschlagende Kritiken und gab den Karrieren von Wolfgang Petersen, der schon mit dem Tatort-Krimi "Reifezeugnis" (1977) einen Beweis seines Talents erbracht hatte, und von Jürgen Prochnow einen beachtlichen Schub. Den jungen Ernst Hannawald hingegen dürfte nicht zuletzt die plötzliche Popularität in eine Depression getrieben haben.
"Die Konsequenz" erreichte das Publikum zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Weise. Während Rosa von Praunheims "Nicht der Homosexuelle ist pervers..." (1970) noch das Entsetzen der Eltern ("Hoffentlich ist mein Sohn nicht so!") geschürt hatte, traten hier Schwule als Identifikationsfiguren auf, die sich neben dem gnadenlosen Gefängniswärter (hervorragend gespielt vom in Deutschland leider kaum bekannten Schweizer Walo Lüond) noch anderer Fieslinge zu erwehren hatten. Eine grössere Anteilnahme am Schicksal Schwuler (wenn auch noch nicht deren nötige Akzeptanz) lag in der Luft, entsprach sozusagen dem Zeitgeist - und wurde mit diesem Film erzählerisch einem bislang befangeneren Publikum schmackhaft gemacht.
**********
Während "Das Brot des Bäckers" noch heute in jeder Hinsicht als sehenswert bezeichnet werden darf, ist "Die Konsequenz" hauptsächlich wegen der Wirkung auf das damalige Publikum von Interesse. Die Geschichte ist kitschig und trotz guter schauspielerischer Leistungen unglaubwürdig und lückenhaft, teilweise geradezu dilettantisch in Szene gesetzt. Wer sich den Film heute (die DVD enthält eine zensierte Fassung!!!) anschaut, tut dies weniger aus Vergnügen als weil es sich um ein beinahe historisches Dokument handelt. - Entsprechend interessant die weiteren Karrieren der beiden Regisseure: Keusch blieb dem Fernsehen treu und drehte neben Beiträgen für "Tatort", "Eurocops" und "Polizeiruf 110" eine Reihe durchaus beachtlicher Fernsehfilme, die nicht mit Pomp, aber mit Themen aufwarteten. Petersen fühlte sich zu Hollywood hingezogen, wo er u.a. mit "Air Force One" (1997) und "Troy" (2004) von sich reden machte. In meinen Augen hat Keusch das bessere Los gezogen; aber meine Augen sind nicht das Mass aller Dinge.
Ich machte zu Beginn dezent darauf aufmerksam, dass wir letztlich nicht grundlos über ganz bestimmte Filme schreiben oder sie aus einem bestimmten Blickwinkel betrachten. Manchmal schadet es nichts, sich über dieses uns Bewegende ein paar Gedanken zu machen: Ich wuchs in den 70ern in einer ländlichen Gegend der Schweiz (der ich auch treu blieb) vom Kind zum jungen Mann heran und erlebte, wie aus den fünf einst stolzen Dorfläden in einer 750-Seelen-Gemeinde immer weniger wurden, weil der gar nicht so weit entfernte Supermarkt nicht bloss alles, sondern auch alles billiger hatte. Man beklagte sich zwar über die mangelnde Qualität, nahm sie aber letztlich ebenso in Kauf wie die Klagen der Ladenbesitzer über Umsatzrückgänge. Gleichzeitig wünschte sich meine schwule Identität zunehmend, ihre Bedürfnisse in der Realität auszuleben und auch akzeptiert zu werden. Hatte ich mir den Praunheim-Film noch spät nachts mit leise gestelltem Ton angeschaut, war es schon unvermeidlich, bei "Die Konsequenz" die Anwesenheit einer möglicherweise nichts ahnenden Familie in Kauf nehmen zu müssen. - Die Auswahl der beiden Filme (es gäbe zweifellos noch viele andere, die man hier erwähnen könnte!) ist also in diesem Fall auch ein heimliches Nachdenken über mein Erwachsenwerden, was mir - man mag es glauben oder nicht - erst während der Recherchen zu diesem Eintrag bewusst wurde.
#4
Geschrieben 13. Juli 2009, 14:24
Geliebter Spinner
(Billy Liar, Grossbritannien 1963)
Regie: John Schlesinger
Darsteller: Tom Courtenay, Wilfried Pickles, Mona Washbourne, Ethel Griffies, Gwendolyn Watts, Helen Fraser, Julie Christie
Im Gegensatz zur noch immer heiss diskutierten und umstrittenen französischen "Nouvelle Vague" samt Ausläufern (François Truffaut scheint als Frühverstorbener wohl der einzige Regisseur dieser Stilrichtung zu sein, der allgemeine Anerkennung geniesst) ist das etwa zeitgleich entstandene britische "Free Cinema" ziemlich in Vergessenheit geraten - zu Unrecht, wie ich meine. Die Filme, die in den späten 50er und frühen 60er Jahren von jungen Regisseuren gedreht wurden, sind kaum mehr im Fernsehen zu sehen; nicht einmal Programmkinos kämen auf die Idee, eine Retrospektive auf die Beine zu stellen.
Man muss vielleicht zuerst betonen, dass das "Free Cinema" (dummerweise auch "New Wave" genannt) so gut wie nichts mit der "Nouvelle Vague" gemeinsam hat: Während sich die Franzosen gegen eine eingefahrene Bildsprache und einen vorhersehbaren Erzählfluss wandten, stattdessen dem Individualismus des schöpferischen Filmemachers huldigten, ging es den Briten um eine beinahe dokumentarische Nachzeichnung des Alltags (vor allem der Arbeiterklasse in Nordengland), wie sie schon die Literatur, die den Filmen oft zugrunde lag, vorweggenommen hatte. - Die englische Literatur der 50er Jahre hatte sich bewusst gegen einen internationalen Modernismus gewandt, der etwa mit dem späten Joyce und Pound an einem Endpunkt angelangt war. Sie tat dies durch Rückbesinnung auf traditionelle Formen, die die kleinen Menschen mit ihren aufbegehrenden Plänen und ihrem oft unausweichlichen Scheitern schildern sollten. Die Regisseure des "Free Cinema" erkannten in diesen Vorlagen eine Gelegenheit, sich endlich mit einem eigenen Profil gegen das übermächtige Hollywood zu behaupten, das es den Engländern schon wegen der fehlenden Sprachbarriere immer schwer gemacht hatte, ein eigenständiges Kino zu entwickeln. So entstanden in einem Zeitraum von wenigen Jahren meist in Schwarzweiss gedrehte Meisterwerke über das Banale, die Schilderung der sozialen Realität letztlich gestrandeter Existenzen, die an Originalschauplätzen gedreht wurden und sich durch ihre Umgangsprache auszeichneten. Es waren etwa Verfilmungen der Werke von Kingsley Amis, John Osborne und Alan Sillitoe: "Lucky Jim" (John Boulding, 1957), "Look Back in Anger" (Tony Richardson, 1959), "Saturday Night and Sunday Morning" (Karel Reisz, 1960) - und vor allem "The Loneliness of the Long Distance Runner" (Tony Richardson, 1962).
"Billy Liar" (der üblicherweise angebotene deutsche Titel "Geliebter Spinner" ist zum Davonlaufen!), das zweite Werk von John Schlesinger, unterscheidet sich durch einen gewissen Humor (nicht, dass die anderen Filme direkt trist wären) und die aufwändig gestalteten Traumsequenzen von den übrigen Produktionen des "Free Cinema". Dies hat jedoch mit der literarischen Vorlage, einem kleinen Roman (in England würde man beinahe von einer "long short story" sprechen) des im deutschen Sprachraum weitgehend in Vergessenheit geratenen Keith Waterhouse, zu tun.
Der Film schildert einen Tag im Leben von Billy Fisher, der bei seinen Eltern und seiner ebenso schrulligen wie herrschsüchtigen Grossmutter in der fiktiven Stadt Stradhoughton in Yorkshire lebt. Sein Alltag und sein Job als kleiner Büroangestellter bei einem Bestattungsinstitut langweilen ihn, weshalb er seiner Umgebung nicht nur lauter Lügen auftischt, sondern sich in seinen Wachträumen selber ein imaginäres Land, Ambrosia, zurechtformt, über das er als gnadenloser, aber gerechter Diktator und Kriegsheld herrscht (herrlich die Aufnahmen, in denen er in seinen Träumen als allmächtiger Regent in Uniform auf einer Rednerbühne stehend von seinen Untertanen bejubelt wird!). - In Wirklichkeit ist Billy natürlich ein Versager, der den Tag am liebsten im Bett verbringen würde. So vergass er etwa, die Jahreskalender des Arbeitgebers an dessen Kunden zu verschicken und muss sie jetzt heimlich Seite für Seite das zunehmend verstopfte Klo hinunterspülen. Hinzu kommt der Ärger mit den beiden Freundinnen Rita und Barbara, die er sich gleichzeitig leisten zu können glaubte (er muss die eine überreden, ihm den ihr geschenkten Ring zurückzugeben, damit er ihn der anderen schenken kann). An all seinen Problemen - davon ist Billy überzeugt - ist natürlich nicht er selber schuld, sondern die ihn beengende Umgebung. So träumt er, als ein bekannter Comiczeichner in die Stadt kommt, davon, mit diesem wegzugehen und selber Autor von Comics zu werden...
Dann trifft er auf seine alte Freundin Liz (Julie Christie in ihrer ersten bedeutenden Nebenrolle) und spioniert ihr mit einem Freund hinterher. Liz lebt den Traum, von dem Billy ohne fremden Anstoss wohl ewig träumen würde; denn sie reist in der Welt herum und führt ein freies Leben. Die beiden unterhalten sich bei einem "zufälligen" Treffen, und es scheint, als würde wenigstens Liz ihn verstehen. Er erzählt ihr sogar von Ambrosia. Liz überredet ihn, mit ihr nach London zu gehen, wo er ein neues, von den Zwängen der Umgebung befreites Leben aufbauen könne. - Nach einem Abend voller Ärger (Billy's Freundin Barbara ist ihm auf die Schliche gekommen) geht der zunehmend entlarvte Lügner nach Hause, um seine Sachen zu packen. - Wird er, wie etwa der "Long Distance Runner" in Richardson's Film, zu den wenigen Gestalten gehören, die ihre einmalige Chance wahrnehmen?
+++SPOILER+++SOILER+++SPOILER+++
Billy unternimmt natürlich unbewusst alles, damit er sein trauriges Dasein in Yorkshire aufrechterhalten kann, und man erhält den Eindruck, Liz habe es zum Voraus gewusst. Denn als er selbstverständlich verspätet am Bahnhof ankommt (er wollte sich vor der Abreise unbedingt noch Milch kaufen!), findet er seinen Koffer auf dem Bahnsteig - und wer den Blick sieht, den ihm die abfahrende Liz zuwirft, wird verstehen, weshalb sich David Lean um diese junge Darstellerin riss und in "Doctor Zhivago" (1965) ihre einzigartigen Augen derart hervorhob. - Billy begibt sich auf den Heimweg und träumt weiter von Ambrosia.
+++SPOILER+++SPOILER+++SPOILER+++
"Billy Liar" begründete die Karriere zweier Menschen, über die ich in meinem Filmtagebuch noch öfter schreiben werde, weil ich sie über alle Massen bewundere: John Schlesinger, der Julie Christie in zwei weiteren Filmen besetzte, drehte - z.T. unterschätzte - Meisterwerke wie "Far From the Madding Crowd (1967), "Midnight Cowboy" (1971) oder "The Marathon Man" (1976); über Julie's Filmographie zu reden dürfte unnötig sein (ich erinnere nur an einen der grössten Okkult-Thriller aller Zeiten, "Don't Look Now", 1973).
Leider war das "Free Cinema" eine Sache, die Mitte der 60er Jahre recht schnell durch Grossproduktionen abgelöst wurde (viele Regisseure liessen sich auch zu Filmen überreden, die an der Kinokasse erfolgreich sein sollten, blieben aber doch einem bemerkenswert eigenen Stil treu). Die Bewegung hatte jedoch einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf sozialrealistische Filme, wie sie seit den 80ern von Ken Loach oder Mike Leigh hervorgebracht werden. Diese kommen freilich oft wesentlich deprimierender daher. - Man sollte sich deshalb die Gelegenheit nicht entgehen lassen, eines der im Vergleich direkt erfrischenden "Vorgänger"-Werke zu geniessen. "Billy Liar" darf dazugehören.
Ich weiss, dass man einen Film ohne ständige Verweise auf seine literarische Vorlage oder gar auf die Situation der Literatur zum betreffenden Zeitpunkt wirken lassen sollte. Im Falle solcher Literaturverfilmungen geht jedoch der alte Anglist mit mir durch. Ähnliches könnte dem geneigten Leser, den ich bis jetzt noch nicht verjagt habe, auch in Zukunft blühen...
**********
Filmfreunden, die gelegentlich auch in anderen Foren stöbern, könnten Teile dieses Eintrags "bekannt" vorkommen. Ich begann tatsächlich einmal für kurze Zeit in einem anderen Forum mit einem Tagebuch, löschte dieses jedoch, als ich einsehen musste, dass ich dort nicht zu Hause war. Da mir einige der damals von mir in Angriff genommenen Filme sehr am Herzen liegen, werde ich mir erlauben, nach und nach vier, fünf der gelöschten Einträge hier leicht abgeändert und ergänzt zwischen neues Material zu stellen - ohne jedes Mal darauf hinzuweisen. - Gleichzeitig möchte ich den Leser, der sich jetzt schon an meine eigenwillige Art, auf Spoiler hinzuweisen (ich schreibe doch keine Briefe aus dem Knast!!!), gewöhnen musste, wissen lassen, dass es mir aus privaten Gründen u.U. gelegentlich bloss alle zwei, drei Wochen möglich sein könnte, einen (längeren) Eintrag in mein Filmtagebuch zu schreiben. Dies ändert jedoch nichts daran, dass ich eure älteren Beiträge fleissig aufarbeite - und die neuen gierig in mich aufsauge!
#5
Geschrieben 17. Juli 2009, 23:26
Marnie
(Marnie, USA 1964)
Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: 'Tippi' Hedren, Sean Connery, Diane Baker, Martin Gabel, Louise Latham, Bruce Dern
Hitchcock's "Marnie" ist so bekannt, dass man sich mit einer kurzen Inhaltsangabe begnügen und auch einige Spoiler in Kauf nehmen kann (ohne das Ende zu verraten, versteht sich). Gleichzeitig scheut man vor einer halbwegs umfassenden Interpretation des Films zurück, wurde er doch vielleicht noch mehr als andere Werke des Regisseurs von allen erdenklichen Seiten durchleuchtet. - Dass ich mich trotzdem an ihn heranwage, hat einen anderen, sehr persönlichen Grund: Ich möchte der Frage nachgehen, warum ich zu der zahlenmässig sicher kleineren Gruppe gehöre, die den umstrittensten Hitchcock für ein (verkanntes) Meisterwerk hält, wie ich meine Einstellung begründe und ob es mir gelingt, sie anderen halbwegs glaubwürdig zu verkaufen. Eine wirklich überzeugende Erklärung habe auch ich nicht zu bieten - was vielleicht den Reiz des Films ausmacht, aber nach einer Menge Arbeit aussieht.
Die Kleptomanin Marnie lässt sich als unscheinbare Sekretärin engagieren, um bald darauf die Tresore ihrer Chefs auszuräumen. Wieder einmal ist ihr eine perfekte Flucht gelungen, und nach ein paar Tagen bei ihrer stets kalt wirkenden Mutter lässt sie sich vom Witwer Mark Rutland anstellen, dem sie bereits an ihrem vorherigen Arbeitsplatz auffiel. Mark wartet förmlich darauf, dass die junge Frau, die eine unerklärliche Angst vor Gewittern und der Farbe Rot hat, sich auch über seinen Tresor hermacht. Er stellt die Flüchtige, fährt mit ihr zu seinem Familiensitz - und zwingt sie zur Heirat! Während Mark's eifersüchtige Schwägerin Lil - ein richtiges Biest - versucht, Marnie zu kompromittieren, will er selber dem Problem seiner frigiden Frau auf die Spur kommen. Eine Reise in Marnie's Kindheit beginnt...
Der Film wurde im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern kein Erfolg; und Hitchcock reagierte ein wenig pikiert, als ihm François Truffaut diese Tatsache in seinem berühmten Interview ("Le cinéma selon Hitchcock", 1966) dezent unter die Nase rieb. Das Publikum empfand "Marnie" als altbacken und langweilig, Kritiker warfen dem Film vor, sich einer überholten Psychologie zu bedienen und in tricktechnischer Hinsicht eine Peinlichkeit zu sein. - Tatsächlich wirken Mark's Versuche, seiner Frau mit amateurpsychologischen Methoden zu helfen, mehr als veraltet (bewusst?), und die plötzliche Erinnerung an Verdrängtes am Ende erscheint lediglich formal begründet. Zu den tricktechnischen Nachlässigkeiten werden der leicht als zweidimensionales Bild erkennbare Hintergrund der Hafenstrasse, in der Marnie's Mutter lebt, ein höchst künstlich wirkendes Gewitter (es verhilft Mark immerhin zu seinem ersten Kuss!) und eine offensichtlich im Studio aufgenommene Reitszene gezählt. - Andererseits: Hitchcock legte oft nicht besonders grossen Wert auf tricktechnische Perfektion, wenn es ihm auf den eigentlichen Effekt der Szene ankam (ich denke etwa an die Autofahrten in "North by Northwest", 1959, oder sogar "Family Plot", 1976) - ohne dass man es ihm zum Vorwurf machte!
Meines Erachtens müssen zwei weitere Faktoren berücksichtigt werden, wenn man die teilweise bis heute anhaltende laue Aufnahme des Films verstehen will: Erstens hatte das Publikum einen neuen Schocker erwartet und war enttäuscht über die Rückkehr des Meisters zum Thriller-Melodram (auch die nach "Marnie" gedrehten Spionagefilme fanden bekanntlich nicht den erhofften Beifall, der erst mit dem überschätzten "Frenzy", 1972, zurückkehrte). Es ist deshalb absurd, "Marnie" als Abschluss einer sich mit psychologischen Themen befassenden Trilogie, die mit "Psycho" angefangen habe und mit "The Birds" fortgesetzt worden sei, zu betrachten; der Film knüpft - ich komme später darauf zu sprechen - vielmehr bewusst an frühere Filme an, bedeutet eine Abkehr vom Schocker. - Zweitens spielen Gerüchte um Hitchcock's Umgang mit seinem "Besitz" 'Tippi' Hedren (er verpasste ihrem Künstler-Vornamen sogar die einfachen Anführungszeichen) eine Rolle. Die Schauspielerin, die schon die Dreharbeiten zu "The Birds" als grauenvoll empfunden hatte, fühlte sich während der Arbeit an "Marnie" vom Regisseur sexuell belästigt. Man weiss nichts Genaues, bloss, dass Hedren ihren Kontakt zu Hitchcock beendete und von ihm nicht wieder eingesetzt wurde. - 1983 erschien jedoch eines der für den Ruf des Regisseurs nachhaltig schädlichsten Bücher: Donald Spoto's höchst unbeglaubigte Biographie "The Dark Side of Genius: The Life of Alfred Hitchcock". Spoto genoss es regelrecht, den Regisseur zum seinen unterdrückten sexuellen Begierden ausgelieferten Monster zu machen, das während der Dreharbeiten zu "Marnie", bereits dem Alkohol verfallen, sich nicht mehr wie bei Grace Kelly habe zurückhalten können. Der Autor, dem zwei kurze Interviews mit Hitch gewährt worden waren und dem sich alle dem Regisseur verbunden Fühlenden verweigerten, weiss natürlich im Detail, was sich genau bei der Entstehung von "Marnie" ereignete - und leider wurde vieles von dem, was er schrieb, kolportiert und blieb in den Köpfen des Filmpublikums hängen. Besonders hübsch: Hitchcock's Interesse am Film habe nach dem Konflikt mit Hedren nachgelassen, was die vielen oben erwähnten "Flaws" erkläre. Wäre Spoto tatsächlich ein Hitchcock-Kenner, wüsste er, wie minutiös der "Master of suspense" seine Filme vorplante, so minutiös, dass er - möge es sich nun um Narkolepsie oder einen Fimmel gehandelt haben - am Set oft den Eindruck eines Schlafenden erweckte. Der Film war also im Grunde genommen bereits "fertig", als er gedreht wurde; und die Beziehung zu einer Hauptdarstellerin konnte daran kaum etwas ändern.
Was habe ich, der ich "Marnie" erstmals als zehnjähriger Bengel und seither unzählige Male sah, nun all den negativen Beurteilungen des Films entgegenzusetzen? Es ist nicht viel, lohnt aber vielleicht doch eine Überlegung: Man erhält insbesondere in gewissen melodramatischen Filmen des Regisseurs gelegentlich den Eindruck, er "leihe" seinen Protagonisten die Kamera für eine Weile, gebe sie ihnen als "Auge", damit sie dem Zuschauer für ein paar Momente die Welt zeigen können, wie sie sie sehen. Dieses Phänomen begegnete mir erstmals bei "Rebecca" (1940): Die namenlose zweite Mrs. de Winter zeigt uns nicht bloss die im ganzen Haus scheinbar übermässig verstreuten Zeichen ihrer Vorgängerin, sie nimmt auch die Bewegungen von Mrs. Danvers, der unheimlichen Haushälterin, als nicht hörbares Schweben wahr und lässt es den Zuschauer als solches empfinden. In "Notorious" (1946) etwa ist es vor allem die berühmte Gleitfahrt der Kamera vom ganzen Festsaal bis zur Hand von Ingrid Bergman, die den Schlüssel zum Weinkeller hält, von der ich den Eindruck habe, es gehe hier um die Bewegung vom "Das seht ihr!" zum "Das spüre ich!". Und in "Vertigo" (1958) ist es letztlich neben der Musik nur die Kamera, die dem Zuschauer als Auge von James Stewart vermitteln kann, wie vom Tode umgeben er die Ausstrahlung der scheinbaren Madeleine wahrnimmt.
Bei "Marnie" scheint es mir, als würde diese eigenartige Funktion der Kamera beinahe zum Prinzip erhoben, was den Film über weite Strecken zum (ich würde beinahe sagen: halluzinatorischen) Ereignis macht, das uns miterleben lässt, wie die Hauptperson sich und ihre Welt (die "Wirklichkeit" verdrängend?) wahrnimmt. Bereits der Beginn, der eine dunkelhaarige Frau zeigt, die selbstsicher einen Bahnsteig entlanggeht, erscheint wie ein Sich-Betrachten der gespaltenen Marnie von hinten: "Seht doch, wie gut ich das kann!". Die Hafenstrasse mit ihrem riesigen Schiff im Hintergrund, das so symbolträchtig ist, dass es in den jetzt kindlich gewordenen Augen ruhig zweidimensional wirken darf, offenbart dann einen anderen im Untergrund drohenden Teil der Geschichte dieses Wesens (man beachte auch die unbesorgt spielenden Kinder, zu denen Marnie nie gehören konnte!). Die Tresorräume wirken wie billige Theaterkulissen, und als solche nimmt sie Marnie auch wahr: Einzig der riesige, immer gleich aussehende Tresor spielt eine Rolle. - So gerät der Zuschauer zunehmend in die Welt dieser eigenartig-fremden Frau, empfindet das Gewitter so, wie sie es empfindet, lässt den Landsitz der Rutlands plötzlich im Vergleich zur bisherigen "Welt" so überreal erscheinen, dass er ihm beinahe Angst einjagt - und erlebt das Reiten als das einzige wirklich befreiende Erlebnis in diesem Traum, in dem sich das scheinbare tricktechnische Manko vielleicht sogar als Vorteil entpuppt (ein Reiten wie ein Schweben!). Man könnte einige dieser "Flaws" ins Gegenteil verkehren, wenn man der Welt von Marnie erst ausgeliefert ist.
Ab und zu will Hitchcock aber offenbar daran erinnern, dass es sich bei diesem Trip, dem wir zu verfallen drohen, durchaus um die Welt "in Marnie's Augen" handelt. Er tut dies raffinierterweise, indem er uns in Zweifel versetzt: Während der ersten Autofahrt zum Landsitz der Rutlands etwa wirft Sean Connery der Hedren einen derart ordinären "Dich nehm ich mir!"-Blick (den der hervorragend spielende Schauspieler nicht von seinen James Bond-Rollen her hat, sondern Hitchcock verdankt!) zu, dass man sich unweigerlich fragt, ob er bloss in Marnie's Wahrnehmung existiert oder real ist. Und ist das Gesicht, das wir von der Vergewaltigten sehen, das Gesicht, das ihr Mann sieht? Müsste er, der ihr doch helfen will, dann nicht von ihr ablassen? Sehen wir etwa vielmehr bloss das Gesicht, das Marnie ihm zu zeigen glaubt? - Eigenartige Situationen, die uns zumindest etwas erkennen lassen: Die Heldin sieht sich als in sich Brüchige umgeben von in sich selber brüchigen, z.T. zwielichtigen Gestalten (ich denke neben Lil an Strutt und den Mann, der sie beim Pferderennen erkennt: Beide begehren sie sexuell und wollen sie zugleich der Polizei ausliefern respektive erpressen). Wie aber soll sie in einer Welt voller in sich brüchiger Wesen, die wie ihre die Wahrheit verdrängende Mutter und der zwischen Begehrendem und Helfendem schwankende Mark nicht in der Lage sind, Macht über sich auszuüben, gesunden, "gut" werden? - Und letztlich: Wer ist in diesem Traum, den wir mitträumen, der Bösewicht, falls es überhaupt einen gibt?
Meiner Ansicht nach ist "Marnie" bleibend aktuell, auch in psychologischer Hinsicht keineswegs überholt. Der Film verfügt, wie sogar der "Biograph" Spoto zugeben muss, über eine eigenartige Anziehungskraft, zieht den Zuschauer auf seltsam traumhafte Weise in die gequälte Seele einer gebrochenen Frau hinein - und hebt die Zeit derart auf, dass man seine Länge gar nicht wahrnimmt. Dazu trägt die seltsam hypnotisierende, aber das Meer des Unbewussten immer wieder aufwühlende Musik von Bernard Herrmann wesentlich bei. Das erscheint mir einzigartig, meisterhaft. - Vielleicht haben letztlich das Erschiessen von Marnie's Lieblingspferd und das Aufdecken ihres Geheimnisses etwas Enttäuschendes, weil sie das Ende dieses Traums ankünden: Am Schluss verlässt eine mit dem Zuschauer "erwachte", ratlose Marnie in Mark's Armen das Haus ihrer Mutter.
Gegner von "Marnie" könnten mein höchst unvollständiges Plädoyer in der Luft zerreissen, wie ich ihre Argumente zu widerlegen versuche. Nicht viele Filme können sich rühmen, derart umstritten zu sein. Lynch's "Mulholland Drive" mit seinen ergebenen Verehrern und gandenlosen Verächtern gehört zu ihnen. Dies spricht meiner Meinung nach für "Marnie", der auf den ersten Blick sicher viel weniger komplex ist, jedoch eine Menge Stoff für Interpretationen, Liebe und Hass bietet. - Der Film ist nicht mein absoluter Hitchckock-Favorit; ich würde ihn aber zu meinen zehn, fünfzehn Lieblingen (so viele muss man dem Regisseur schon zugestehen) zählen - und ihn gerade, weil er die Zuschauer derart dezidiert in zwei Lager spaltet, jederzeit mit viel Herzblut und wenig Verstand verteidigen. Es liesse sich sogar darüber spekulieren, ob Hitchcock die Hedren nicht bewusst mit sexuellen Anspielungen zur Leistung ihres Lebens getrieben habe; was allerdings nichts daran ändert, dass er anschliessend ihre Karriere kaputtmachte.
#6
Geschrieben 22. Juli 2009, 21:40
Dummer Junge
(Garçon stupide, Frankreich/Schweiz 2004)
Regie: Lionel Baier
Darsteller: Pierre Chatagny, Natacha Koutchoumov, Rui Pedro Alves, Lionel Baier
Der Schweizer Film gilt als behäbig, stilistisch biedermännisch-altmodisch, auch thematisch alles andere als aktuell. Und es stimmt: Wer nach Beispielen sucht, muss nicht auf die "braven" Gotthelf-Verfilmungen der 50er Jahre zurückgreifen: Sogar die im Hinblick auf einen Ausland-Oscar gedrehten Streifen "Vitus" (2005) und "Die Herbstzeitlosen" (2006) bestätigen das Vorurteil.
Man vergisst darüber jedoch leicht, dass es neben dem deutschsprachigen (Dialekt-)Film noch Filme von Regisseuren aus der "französischen" Schweiz gibt, die oft eher von den Franzosen als vom deutschen Publikum wahrgenommen werden und keineswegs immer dem Klischee entsprechen. Der "Film aus der Romandie" war Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre sogar einmal regelrecht am Puls der Zeit! Regisseure wie Claude Goretta oder Alain Tanner wurden in einem Atemzug mit Godard oder Bresson genannt. - Beide feiern dieses Jahr ihren 80. Geburtstag, und ich bin überzeugt: Nicht einmal das Schweizer Fernsehen wird mit einem Film an den weitgehend vergessenen Tanner ("La Salamandre", 1971, "Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000", 1976) erinnern, der den "Zeitgeist" auf höchst eigentümliche Weise einzufangen vermochte.
Umso erstaunlicher ist es, dass seit ein paar Jahren ein junger Regisseur aus Lausanne für internationales Aufsehen sorgt, der ausdrücklich betont, er orientiere sich an Tanner: Lionel Baier, Sohn eines Pfarrers, schwul, dem Autorenfilm verpflichtet - und mit Filmen wie "Comme des voleurs" (2006) und "Un autre homme" (2008) Werke drehend, die er als "autofiktional" bezeichnet, weil sie in erster Linie um seine Person und die Welt, in der er lebt, kreisen. - Baiers erster Spielfilm "Garçon stupide" musste zum (sogar in den USA beachteten!) Erfolg werden, weil er sich eines Themas annahm, das förmlich in der Luft lag: dem schwierigen Erwachsenwerden jener Generation, die unverbindliche sexuelle Abenteuer übers Internet findet und sich doch eines Tages ihrem oberflächlichen Leben stellen muss, wenn sie das erlangen will, was man als "Identität" bezeichnen könnte.
Der 20-jährige Loïc arbeitet in Bulle im Greyerzer-Land (der tiefsten Provinz!) am Fliessband in einer Schokoladenfabrik und sucht abends, weil er sich für schwul hält, "am Fliessband" den schnellen Sex mit Männern im Internet. Auf diese Weise erlebt er ohne Einsatz unnötiger Gefühle Gruppensex, Unterhaltungen über Dildos, kommt gelegentlich sogar zu Taschengeld - und entflieht dem tristen Alltag, indem er sich "virtuellen Einheiten" hingibt. Wenn er sich von seinen nächtlichen Eskapaden erholen möchte, übernachtet er bei einer alten Freundin aus Kindheitstagen, Marie, die als Studentin in Lausanne in einem Museum arbeitet. Mit ihr kann er herumtoben, sie entlockt ihm in Gesprächen sogar - kindliche - Wünsche und Träume von einem Loïc, aus dem mal etwas werden soll; er weiss nur nicht so recht, was. Auf jeden Fall will er kein "dummer Junge" bleiben, der die Bedeutung des Wortes "Imressionismus" nachschlagen muss und nachher mit seinem Handy "impressionistische" Fotos macht, die Marie lediglich ein Grinsen entlocken.
Eines Abends verabredet sich Loïc mit einem Mann (Lionel), der zu seinem Erstaunen nicht gleich zur Sache kommen, sondern mehr von ihm erfahren will. Von diesem Moment an begleitet die Kamera das diffuse, von Sinn befreite Leben des jungen Burschen und hinterfragt es. Loïc und sein Interviewer (Baier bringt sich als fiktive Figur, deren Gesicht man erst am Ende sieht, selber in den Film ein) treffen sich immer wieder; es kommt zu Gesprächen, die ihn seine Lebenseinstellung überdenken lassen, die er jedoch auch abblockt, wenn er nicht alles über sich und seine Unreife verraten will. Diese Gespräche sind oft mit der Handkamera aufgenommen, was ein besonders liebevolles Einfangen jedes zögernden Blicks des höchst sensiblen Hauptdarstellers, jedes Zuckens mit dem Mund ermöglicht (eine besonders zärtliche Szene: die beiden sitzen auf einer Erhöhung - ich vermute, hinter Schloss Greyerz - und überblicken die ländliche Gegend, während sich Loïc dem Fremden gegenüber langsam öffnet).
In der zweiten Hälfte des Films tritt der Konflikt des Protagonisten mit der eben auch fordernden Jugendfreundin, die ihm einen Freund vorstellt, in den Vordergrund. Loïc reagiert eifersüchtig, bezeichnet sie als Nutte, fixiert sich aber gleichzeitig auf einen Fussballspieler (Rui), den er beinahe wie ein Stalker verfolgt. Es kommt zu einer Begegnung, und es stellt sich heraus, dass der angehimmelte Star selber mit familiären Problemen (er hat Frau und Kind) belastet ist. - Die Handlung beginnt sich zu verzetteln, was dem Film seltsamerweise keinen allzu grossen Abbruch tut, weil die Einzelszenen das, was im Gehirn des sich seiner selber noch Unschlüssigen abläuft, recht genau reflektieren. Allerdings erfahren wir etwa auch nicht, warum sich Marie, die ihm eben doch viel bedeutet hat, am Ende das Leben nimmt (hatte sie, die in der Realität Lebende, es satt, bloss Mutter, Babysitter und Krankenschwester für einen unreifen Bengel zu sein?). - Auf jeden Fall steht Loïc am Schluss alleine da und muss seinen Weg finden.
Man ist versucht, Baier die Unentschlossenheit, die ihn gegen Ende zwischen verschiedenen Handlungssträngen schwanken lässt, zum Vorwurf zu machen. Loïcs letzter (innerer) Monolog, der zeigt, dass er zwar - für den Augenblick! - weiss, was er NICHT werden will (Umweltschützer, Christ, schwul), aber nicht, WAS er werden will, lässt sie möglicherweise dennoch sinnvoll erscheinen. Lediglich das Ende des Films, das einen langsam von "Erleuchtung" durchdrungenen Loïc inmitten der Glitzerlichter eines Jahrmarkts zeigt, geht entschieden zu weit, wirkt aufgesetzt, kitschig (ich fühlte mich, Fans mögen es mir verzeihen, ein wenig an "My Blueberry Nights", 2007, erinnert und konnte die Symbolik schlicht nicht erfassen).
Der Film wurde von Lobeshymnen begleitet,was er neben den stimmungsvollen Bildern nicht zuletzt den grossartigen Darstellern verdankt: Dirk Jaspers schreibt, er sei wie ein Faustschlag, unerhört und kompromisslos. Auch die wie die Realität wirkende Direktheit wird oft gerühmt. Und in diesem Punkt scheint mir Baier an Alain Tanner anzuknüpfen: Die Dialoge wirken oft improvisiert und kosten jedes Zögern aus. Die Fokussierung auf die Darsteller ermöglicht es, etwa den städtischen Hintergrund nicht als heimliche Werbung für die Schweiz zu nutzen, sondern als das zu zeigen, was er ist: kalt, trostlos, anonym. - Und ich bin überzeugt: Die Szenen am Fliessband der Schokoladenfabrik sind eine Referenz an die legendäre Wursterei in Tanners "La Salamandre". - Könnte sich der grosse alte Regisseur etwas Schöneres wünschen?
Ich selber vermag "Garçon stupide" einiges abzugewinnen, liess mich vom Sog der Bilderflut erfassen (vom Splitscreen wird in den Sexszenen reichlich Gebrauch gemacht) und schätze vor allem die offene Thematisierung eines "heissen Eisens" - möchte aber nicht jede seiner Schwächen (Aufsplitterung der Handlungsstränge, am Ende unbeantwortete Fragen, eigenartig schnelle Abkehr von der schwulen Identität) ins Gegenteil verkehren. Man merkt dem Film an, dass er in erster Linie ein beachtliches Erstlingswerk (mit all den Fehlern, die einem Erstlingswerk anhaften) über die Suche nach Identität ist. Ein Profi (und Baier ist dabei, sich zu einem zu entwickeln) hätte sich allen Nachteilen einer klar strukturierten Handlung zum Trotz auf die Beziehung zwschen Loïc und dem Interviewer konzentriert, einen Schwerpunkt gesetzt, weil der unschlüssige zweite Teil beim besten Willen nicht zu einer Enträtselung verlockt. - Dennoch: Der Schweizer Film scheint wieder zu leben, zeitgemäss und provokativ!
"Garçon stupide" enthält Szenen, die zwar nicht explizit pornographisch sind, aber als anstössig empfunden werden könnten!
**********
Baier nähert sich seinen "Verwirrungen des jungen Loïc" auf eine unerbittliche Weise an, die meines Erachtens erstaunlicherweise eher für den französischen und schweizerischen Film "typisch" ist: Die Engländer ("Beautiful Thing", 1996) und die Deutschen ("Sommersturm", 2004) neigen seit einiger Zeit dazu, den Problembereich "Auffinden und Sich-Eingestehen seiner (sexuellen) Identität" zu romantisieren. Was "Garçon stupide" anhand der Internet-Generation weitgehend realistisch aufzeigt, hatten hingegen "Der verführte Mann" ("L'Homme blessé", 1983) und "Der Traum vom schlafenden Hund" ("De Fögi sch en Souhund", 1998) bereits mit der Thematisierung eines Provinzburschen, der im Strichermilieu landet, respektive eines männlichen Groupies, den sein Liebhaber zum Fixer macht, hart und gnadenlos vorweggenommen. - Ich dachte zuerst daran, diese beiden beachtlichen Filme zusammen mit "Garçon stupide" zu besprechen (Aufzeigen eines Traditionsstrangs), wollte mich aber als Schreiber langer Einträge nicht auch noch dem Verdacht aussetzen, hier so etwas wie eine "Zwangsumschwulung" vornehmen zu wollen - und mir die letzten Sympathien verspielen. Vielleicht reden wir ein andermal über die erwähnten Filme - wenn Gras über den "dummen Jungen" gewachsen ist...
#7
Geschrieben 26. Juli 2009, 22:11
Die Dolmetscherin
(The Interpreter, England/USA/Frankreich 2005)
Regie; Sydney Pollack
Darsteller: Nicole Kidman, Sean Penn, Catherine Keener, Jesper Christensen, Yvan Attal, Earl Cameron
Die in Afrika geborene, jetzt bei den Vereinten Nationen in New York arbeitende Dolmetscherin Silvia Broome hört zufällig ein Gespräch mit, in dem es um die Ermordung des Diktators aus einem fiktiven (!) afrikanischen Staat geht. Sie erstattet Meldung beim Secret Service. Der mit dem Fall beauftragte Agent Tobin Keller glaubt ihr zunächst nicht, stellt aber zunehmend fest, dass sie selber einiges über ihre Vergangenheit zu verbergen hat. Als er endlich Vertrauen fasst, entwickelt sich beinahe so etwas wie eine nicht ausgelebte Liebesgeschichte zwischen den beiden desillusionierten Menschen.
Ich wollte Sydney Pollack's letzten Spielfilm, der als erster innerhalb des Hauptsitzes der Vereinten Nationen gedreht werden durfte (was eigentlich Hitchcock zugestanden hätte!), ursprünglich in den Kurzkommentaren abfertigen, dachte dann aber, es könnte meinem Filmtagebuch gut tun, auch mal mit einem Verriss zu glänzen. - "The Interpreter" ist vieles, kann sich aber nicht so recht entscheiden, was er letztlich sein will. So schwankt er - den Zuschauer langweilend - zwischen Liebesgeschichte und Thriller, dessen Auflösung sich leicht voraussehen lässt. Er nimmt aber vor allem die in der Anfangsszene regelrecht angekündigte politische Brisanz des Stoffs nicht ernst, und das enttäuscht - vor allem, wenn man ihn mit Filmen wie "The Constant Gardener", 2005, vergleicht, der eines der Probleme Afrikas (das der Willkür westlicher Konzerne Ausgeliefertsein) wirklich in den Vordergrund rückt.
De mortuis nil nisi bene. - Ich vermag dem frommen Grundsatz im Falle von Pollack nicht zu folgen. Er drehte mit "Tootsie" (1982) eine hübsche Komödie und brachte mit "Out of Africa" (1985) die Frauen scharenweise zum Weinen. Aber seine angeblich gesellschaftskritischen oder (offen) politischen Filme (mit Ausnahme von "The Three Days of the Condor", 1975) sind mir alle zu glatt, zu sehr auf Blockbuster hin gedreht, als dass sie zu überzeugen vermöchten. Dies gilt von "They Shoot Horses, Don't They?" (1969) bis zu "The Interpreter", einer regelrechten "Summa" der eigentlichen Absichten des Regisseurs. Am meisten enttäuschte mich in dieser Hinsicht "The Way We Were" (1973), ein Film, der endlich mit der McCarthy-Ära hätte abrechnen können, jedoch in eine banal-süssliche Liebesgeschichte ausartete, in der sich Robert Redford noch ohne Weichzeichner zeigen konnte. - Ich hätte mir "The Interpreter", der sich bis ins Detail in Pollack's aufs Massenpublikum ausgerichtete scheinengagierte Hochglanz-Filmographie einreiht, sparen können. Der Regisseur wäre der ideale Mann für sämtliche Grisham-Verfilmungen gewesen - was er ja mit "The Firm" (1993) auch bewies.
Was mich immer wieder erstaunt: dass sich hochkarätige und für nicht-konforme Filme bekannte Schauspieler wie Sean Penn für Pollack den Körperteil aufrissen, den man bei Dünpfiff eigentlich zusammenklemmt (die schauspielerischen Leistungen sind überhaupt abgesehen von den Auftritten eines Nebendarstellers, der "zufällig" den gleichen Namen hat wie der Regisseur, durchwegs beachtlich!). Ob es wohl doch schön ist, sich gelegentlich in einem unverbindlichen Streifen sehen zu lassen, der beim Publikum mit grösster Wahrscheinlichkeit ankommt?
Womit ich den bislang kürzesten Eintrag in mein Filmtagebuch geschrieben hätte!
Bearbeitet von Zodiac, 26. Juli 2009, 22:12.
#8
Geschrieben 02. August 2009, 00:08
Wenn die Gondeln Trauer tragen
(Don't Look Now, Italien/England 1973)
Regie: Nicolas Roeg
Darsteller: Julie Christie, Donald Sutherland, Hilary Mason, Clelia Mantania, Massimo Serato
"What is it you fear?"
Um ehrlich zu sein: Ich fürchte mich vor einem Eintrag zu einem Film, der nicht nur selbstverständlicher Bestandteil meiner "Kiste der 25 für die einsame Insel" wäre, sondern von mir als eines der vollendetsten und zugleich unergründlichsten filmischen Kunstwerke überhaupt betrachtet wird. Ich fürchte, nicht die ihm angemessenen Worte zu finden, mich vor lauter Enthusiasmus in ein Durcheinander verwickeln zu lassen, dem man nicht mehr folgen kann - seiner nicht würdig zu sein! Und doch zieht es mich seit langem zu "Don't Look Now" hin.
Man sollte vielleicht mit einer nicht zu viel verratenden Zusammenfassung der Handlung beginnen und sich anschliessend - Spoiler bis zu einem gewissen Mass in Kauf nehmend - in jene Bereiche begeben, die "Don't Look Now" zu dem machen, was er ist; wobei Vollständigkeit gar nicht angestrebt werden darf. Am Ende möchte ich mich kurz mit einer Frage beschäftigen, die sich jedem Betrachter stellt: Lässt sich der Film überhaupt "in eine Schublade stecken"? Und wenn ja, welcher Kategorie ist er zuzuordnen?
Das Ehepaar Laura und John Baxter reist ins winterliche Venedig, um über den schrecklichen Unfalltod seiner Tochter Christine hinwegzukommen. Dort treffen sie auf zwei schrullige schottische Schwestern, Heather und Wendy. Die blinde Heather behauptet, über übersinnliche Fähigkeiten zu verfügen und mit der Seele des verstorbenen Mädchens in Verbindung zu sein ("I've seen your little girl, and she was laughing"). Während John, ein Kirchenrestaurator, abweisend, ja geradezu schroff auf solchen Unsinn reagiert, fühlt sich Laura, die noch immer Medikamente gegen eine Depression einnimmt, von den beiden Schwestern regelrecht angezogen und trifft sich heimlich mit ihnen. Während dieser Zeit wird Venedig zum Schauplatz unerklärlicher Morde. --- Ein Zwischenfall im Internat, in dem die Baxters ihren Sohn untergebracht haben, veranlasst Laura, die gewarnt wurde, ihr Mann befände sich in Gefahr, für kurze Zeit nach England zurückzukehren. Doch schon bald wähnt John sie wieder in Venedig, sieht er sie doch in Trauerkleidung zusammen mit den beiden Schottinnen in einer Gondel vorbeifahren. Bald glaubt er auch seine verstorbene Tochter in der Stadt zu entdecken...
Was sich in der Zusammenfassung nach einem durchschnittlichen Grusler anhört, ist in Wirklichkeit eine tiefgründige Studie über Kräfte, die im Menschen zu schlummern vermögen und auf die er sich - sind sie erst aufgewacht - vielleicht besser nicht einlassen sollte, da er sie ohnehin nicht richtig zu interpretieren vermag und sie ihn sogar ins Verderben führen können. Es handelt sich um Kräfte, die die meisten von uns in der harmlosen Form des "Déja-vu-Erlebnisses" kennen und von denen oft selbst Fachleute nicht wissen, ob sie dem Gebiet der Psychologie zuzuordnen oder bereits als "parapsychologisch" zu betrachten sind. Der Basler Psychiater C.G. Jung schrieb über sie in seinen Studien zur Synchronizität und Akausalität: "Für die unbewusste Psyche scheinen Raum und Zeit relativ zu sein, das heisst, das Wissen befindet sich in einem raumzeitlichen Kontinuum, in welchem Raum nicht mehr Raum und Zeit nicht mehr Zeit ist. Wenn daher das Unbewusste ein gewisses Potential zum Bewusstsein hin entwickelt oder erhält, dann entsteht die Möglichkeit, dass Parallelereignisse wahrgenommen beziehungsweise 'gewusst' werden können." - Halbwegs verständlich ausgedrückt: Es geht um eine "Gabe", die den Menschen zu verunsichern vermag, weil er - von ihr ergriffen - nicht mehr dem gewohnten Raum-Zeit-Schema vertrauen darf, sondern Dinge und Ereignisse auf neue Art (etwa als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen) wahrnimmt. Und diesem Thema widmet sich der Film, der nicht über die reine Handlung, sondern über Stimmungen und Atmosphäre funktioniert, voll und ganz - ohne es gleich zu verraten!
Bereits die Eröffnung von "Don't Look Now", die ganz auf wiederkehrende Motive (die Farbe Rot, Wasser, Scherben, Spiegelungen und in Venedig das Läuten von Kirchenglocken) hin stilisiert ist, erweist sich am Ende als geniale Umsetzung des Phänomens, dessen sich Roeg annimmt: Sie verrät im Grunde genommen alles; aber man kann sie erst am Schluss des Films richtig verstehen (was allerdings oft eine zweite Sichtung erfordert). Weitere Anspielungen eines perfekt konstruierten Meisterwerks, in dem jede Szene mit z.T. vielfacher Bedeutung erfüllt zu sein scheint, enthüllen sich dem Zuschauer mit der Zeit: So hat etwa eine in Zeitlupe gedrehte Aufnahme (Julie Christie fällt in einem Restaurant in Ohnmacht, reisst die Tischdecke mit, Wasser tropft auf den Boden) eine genau korrespondierende Szene, die einen beinahe tödlich verlaufenden Unfall in der Kirche zeigt (John befindet sich - man beachte den Hintersinn! - beim Zusammensetzen eines Mosaiks, dessen Steine zusammen mit Scherben auf den Boden fallen). - Immer wieder versucht die Wintersonne durch gitterartige Vorhänge oder vergitterte (Kirchen-)Fenster zu dringen, als versuche sie verzweifelt, Licht, "Erkenntnis" zu vermitteln. Später spiegelt sie sich nur noch im Wasser (das Wasser "fängt" die Sonne ein), weil sie das Innerste des Menschen nicht zu erreichen vermag. Scheinbar mysteriöse Gestalten (vielleicht betrachten sie ihrerseits das Ehepaar Baxter als mysteriös) begegnen uns auf Schritt und Tritt: Von der italienischen Frau auf dem Klo des Restaurants, über den an der Restauration der Kirche seltsam desinteressierten Bischof bis hin zum wie in Trance ein Phantombild vollkritzelnden Kommissar ("What is it you fear?"). Raffinierte Schnitte verunsichern den Zuschauer einerseits (Laura nimmt die blinde Heather dreifach im Spiegel wahr, man sieht plötzlich die laut - hämisch? - lachenden Schwestern in der Pension), vermitteln durch kurze Rückblenden aber auch dieses seltsame Gefühl, dass wir uns hier ausserhalb gewohnter Vorstellungen von Raum und Zeit bewegen. - Und natürlich das omnipräsente rote Cape, das die Tochter der Baxters zum Zeitpunkt ihres Todes trug und das jetzt auch als einzige satte Farbe im trostlosen, von Touristen verlassenen Venedig ständig auffällt. Es, dieses rote Cape, repräsentiert - auch darauf kommt man erst mit der Zeit - das Irrational-Mysteriöse. - Gegen Ende des Films fallen zweimal Türen auffallend deutlich ins Schloss (einmal im Internat in England, einmal in der Pension der beiden Schwestern aus Schottland). Sie weisen darauf hin, dass das Schicksal nun unabwendbar seinen Lauf nehmen wird, dem Ende, das uns auf unnachahmliche Weise zeigt, wie im Augenblick des Sterbens das Ungleichzeitige vielleicht doch gleichzeitig wird, nicht zu entkommen ist.
Julie Christie und Donald Sutherland verkörpern grandios ein typisches britisches Bildungsbürger-Ehepaar der 70er Jahre, dessen Leben aus den Fugen gerät, aber durch eine Liebe, die den ganzen Film durchzieht, zusammengehalten wird (man beachte jedoch die unterschedlichen Charaktere mit vielleicht unterschiedlichen "Fähigkeiten": Während John's Geräusche, als er die tote Christine zum Haus trägt, an die eines waidwunden Tieres erinnern, wirkt Laura's hysterischer Aufschrei geradezu "menschlich"). Mag John Baxter auch verhalten-zornig auf die Abhängigkeit seiner Frau von den beiden Schwestern und ihre eigenartige Verwandlung in eine übermässig fröhliche Person, die es plötzlich zu einem Gebet in einer Kirche reizt, reagieren, so zügelt er doch seine Emotionen. Auch das in grau-grünen Tönen gehaltene Venedig, das schon beim gemeinsamen nächtlichen Rundgang durch die engen Gassen wie ein mythisches Labyrinth wirkt, bringt ihn, den künstlich (?) "zivilisierten Menschen", nicht aus der Ruhe. Erst als dieses Venedig nach Laura's Rückkehr nach England sein wahres Gesicht zu zeigen beginnt, lässt jede unerwartete Regung (das plötzliche Wegfliegen der aufgescheuchten Tauben, das Geräusch eines Motorboots) sein Gesicht immer verwirrter erscheinen. Hinzu kommen die plötzlich noch deutlicher nachhallenden Schritte, seltsame Schreie. - Zeigt die Stadt nun ihr Gesicht - oder "erkennt" John es erst jetzt? Spielt sich in Venedig, wie es Ulrich Behrens in einer Kritik formuliert, gar eine "Verschwörung aus dem Jenseits" ab (Was bläst eine Kerze aus, die Laura in der Kirche für Christine angezündet hat? Was lässt den Bischof im für die Geschichte bedeutendsten Moment aus seinem Schlaf hochfahren?)?
Während Julie Christie einfach froh war, Mammutprojekten wie "Doctor Zhivago" (1965) oder "Far From the Madding Crowd" (1967) und ihrer Problembeziehung mit Warren Beatty für eine Weile zu entkommen, soll Donald Sutherland - der Zeit und seiner bisherigen Filmographie angemessen ohnehin ein wenig "esoterisch" gestrickt - Nicolas Roeg, dem er als "unerfahrenen" Regisseur offenbar nicht so recht über den Weg traute, ständig telefonisch gebeten haben, ja darauf zu achten, dass das Übersinnliche der Geschichte (ich habe die Erzählung von Daphne du Maurier bewusst nie gelesen, weil die Werke der Autorin erfahrungsgemäss erst in Verfilmungen richtig aufzublühen vermögen) rüberkomme. - Mein Gott, es kommt rüber! So sehr, dass mich jahrelang keine zehn Pferde nach Venedig gebracht hätten, weil ich diese Stadt mit ihren engen Gassen immer als DEN Ort betrachtete, der Kräfte im Menschen freizusetzen vermag, von denen ich bloss als Filmliebhaber etwas wissen wollte.
Solche Dinge beschäftigten jedoch das damalige Publikum (und vor allem die sensationsgeile Presse!) nicht gross. Es war vielmehr eine lange, auf einen Streit des Paars folgende Liebesszene, die wegen ihrer eigenwilligen Montagetechnik (man sieht die beiden abwechselnd beim Vorspiel, beim zärtlichen Sex und beim anschliessenden Sich-Ankleiden) für Furore sorgte. Dutzende von Klagen, man hätte entdeckt, dass der Sex nicht bloss gespielt worden sei, veranlassten Roeg, die Szene noch einmal Bild für Bild zu durchforsten. Vielleicht kann die Reaktion der Zuschauer sogar als Beleg für eine der Kernaussagen des Films betrachtet werden: Sind die im Unbewussten schlummernden Kräfte (hier Wunschvorstellungen) erst einmal geweckt, fällt es schwer, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. - Auf jeden Fall veranschaulicht diese grossartige Szene, an die sich nur ein Europäer wagen konnte, jene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die wir vielleicht lediglich beim Akt der Liebe und beim Sterben erfahren dürfen.
Obwohl sich Horror- und Mystery-Filme auf vielfältige Art unterteilen lassen, fiel es mir immer schwer, "Don't Look Now" in eine gängige Schublade zu stecken. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass zumindest die Voraussetzungen für das Geschehen (etwa die Fähigkeit, das "zweite Gesicht" zu haben) als selbstverständlich hingenommen werden. Das erstaunt natürlich nicht, gewann doch in den 70ern jene Modeerscheinung, die unter dem Sammelbegriff "Esoterik" zusammengefasst wird, an Popularität. Es führt jedoch (auch Jungs Überlegungen einbeziehend) dazu, dass man "Don't Look Now" zwar als Thriller betrachten, aber nicht dem "Unheimlichen" zuordenen kann - was für mich irgendwie auch nicht stimmt. - Recherchen zu diesem Eintrag brachten mich nun auf eine Idee, die vielleicht als Ansatz dienen könnte: Roman Polanski's Verfilmung von Ira Levin's "Rosemary's Baby" (1968) bewegt sich nicht nur lange Zeit im Bereiche des "Normalen", er nimmt auch die Geburt vom Sohne Satans als etwas Normales hin (warum sollte sie auch innerhalb einer Tradition, die an die Geburt eines Gottessohnes glaubt, unglaubwürdig sein?). - Vielleicht ist es das selbstverständliche Hinnehmen eines Phänomens innerhalb eines Denkens, das die beiden Filme auf ungewöhnlich ruhige Weise - und vor allem ohne Monster und die in dieser Zeit zunehmenden Schockmomente - miteinander verbindet. Sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht auch von "ruhigen" Horror-Filmen in der "Haunted House"-Tradition, bilden sozusagen ein eigenes Sub-Genre ohne nennenswerte Nachfolger (der Film "The Comfort of Strangers", 1990, versucht ebenfalls an das unheimlich-düstere Venedig anzuknüfen, scheitert aber trotz namhafter Besetzung kläglich). - Ein Meisterwerk der Sonderklasse ist "Don't Look Now" allemal. Leider hat Nicolas Roeg nie wieder einen annähernd ebenbürtigen Film gedreht.
**********
Üblicherweise ist es Sache der Leser, im Filmtext-Register nach anderen Einträgen zu einem Film zu suchen und Vergleiche anzustellen. Ich möchte - da mein Beitrag vielen als zu lang und zu wirr erscheinen dürfte - für einmal eine Ausnahme machen und mir die Freiheit nehmen, selbstverständlich ohne Verlinkung auf zwei Einträge hinzuweisen, die in weniger und besseren Worten das zu "Don't Look Now" auf den Punkt bringen, was ich eigentlich umständlich sagen wollte. Die beiden Einträge, die ich empfehlen möchte, stammen von Immo und Tornhill. Ich kann ihnen nur vorbehaltlos zustimmen.
Bearbeitet von Zodiac, 02. August 2009, 00:20.
#9
Geschrieben 05. August 2009, 21:05
So sind die Tage und der Mond
(Il y a des jours ... et des lunes, Frankreich 1990)
Regie: Claude Lelouch
Darsteller: Gérard Lanvin, Patrick Chesnais, Marie-Sophie L., Vincent Lindon, Annie Girardot, Gérard Darmon, Phillipe Léotard, Serge Reggiani, Anouk Aimée u.a.
Und da ich nun schon in meine "Kiste der 25" (langsam mache ich mir Gedanken über ein "Lonely Island Cinema") gegriffen habe, ziehen wir vielleicht am besten noch einen raus:
Episodenfilme, die ganz auf ein grosses Ensemble bauen, haben es bei mir nicht leicht, weil ich sie automatisch an Robert Altman's Meisterwerk "Short Cuts" (1993) messe, zu dem sie entweder hinführen oder den sie nachahmen - und an dem sie, insbesondere wenn es wie in "Magnolia" (1999) zu allem Überfluss noch Frösche regnet, für gewöhnlich scheitern. Der Vergleich mit Altman scheint mir gerechtfertigt, gilt "Short Cuts" doch sozusagen als Mutter aller Ensemblefilme, als unerreichter Höhepunkt.
Claude Lelouchs "Il y a des jours ... et des lunes" ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme, was wohl nicht bloss mit dem Herkunftsland Frankreich, sondern vor allem mit der eigenartigen poetischen Stimmung, ja traumhaften Schwerelosigkeit, die den Film im Gegensatz zu Altman's bewusst auf dem Boden bleibendem Mix aus Erzählungen von Raymond Carver durchzieht, zu tun haben dürfte. Bereits am Anfang sehen wir die dreizehn zentralen Figuren an einem Tisch im Freien sitzen und von den Klängen eines Pianisten begleitet, der auf einem "unsichtbaren" Klavier (die Tasten scheinen in der Luft zu hängen) spielt, ein seltsam unstimmiges Chanson singen --- und wir erfahren, dass eine dieser Figuren in 24 Stunden nicht mehr am Leben sein wird. Dies der Beginn eines heiter-melancholischen Films, dem man gleich anmerkt, dass er nicht wie andere Filme ist und dessen Titel auf jene Tage anspielt, die man lieber vermeiden würde, weil das unsagbar Grosse (der Vollmond) sich über uns unbedeutende Wesen lustig macht, die wir schreien und flüstern, andere zum Lachen oder Weinen bringen - und eventuell sterben!
"Il y a des jours ... et des lunes" beginnt in einer Frühlingsnacht, in der Vollmond, eine Mondfinsternis und die Zeitumstellung zusammenfallen. Eine solche Nacht habe es in sich, berichtet ein redseliger Rentner, in dessen Wohnung Dutzende von Fernsehapparaten aus unterschiedlichen Zeiten herumstehen, einer Meinungsforscherin; und er warnt eindringlich vor dem Mond, dessen Macht unserem Leben eine katastrophale Wende zu geben vermöge. - Tatsächlich wirken die Erlebnisse der Hauptpersonen, von denen uns Lelouch temporeich und in rasch wechselnden Szenen (wodurch der Zuschauer regelrecht in den Sog des Geschehens hineingezogen wird) erzählt, auf den ersten Blick alltäglich, wenn auch leicht skurril: Ein Lastwagenfahrer, der seine Lieferung (Autos) wegen der fehlenden Stunde nicht rasch genug nach Paris bringen kann, schnappt sich einfach einen Wagen, mit dem er durch die Gegend fährt und und eine junge Frau mitnimmt (sie ist ihrem Mann nach der Hochzeit davongelaufen und möchte ans Meer); ein Arzt, der sich intensiv um seine Patienten kümmert, so intensiv, dass er sich nicht mal Zeit für seine schwangere, noch verheiratete Geliebte nimmt; ein Restaurantbesitzer, der beim Glücksspiel alles verloren hat und von seiner Frau, mit der er noch um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter spielt, verlassen wird; eine mögliche Käuferin, die dem Koch nicht passt; ein einsamer Gast aus Rio, der ein Hotelmädchen zu sich aufs Zimmer bestellt, damit er mit jemandem reden kann; ein von einer jungen Frau umgarnter Priester, Komödianten, die mit dem Bus unterwegs sind. - Alle diese und andere Figuren scheint nichts zu verbinden, ausser der fehlenden Stunde, die sie an diesem Tag wohl brauchen könnten. Sie leben einfach ihr Leben, das aus Lieben, Weinen, Trennung, Trost, Hoffnung und ständiger Todesnähe besteht. Und doch hat Lelouch, der seine Geschichte immer wieder vom Pianisten mit dem unsichtbaren Klavier begleiten lässt, am Ende (jemand kommt tatsächlich ums Leben) eine Überraschung parat, die scheinbar banal wirkt, aber jedes "Konzept" von Zufall in Frage stellt.
Dem kleinen Meisterwerk, das - ohne die "Ikonen" des französischen Kinos (Deneuve, Huppert, Depardieu etc.) in Anspruch zu nehmen - mit einem hervorragenden Ensemble etwas völlig Eigenes auf die Beine stellt, haftet etwas Mystisches an. Es wirkt unwirklich und doch leicht zugänglich, erzählt wundersame Geschichten - und stellt Fragen: Weshalb hat der Mond angeblich solche Macht über uns? Warum beschert er uns diese Leidenschaften und Obsessionen? Muss er ein Menschenopfer fordern? Macht er sich über unsere nichtigen Zweifel lustig - oder ist alles doch bloss das, was auch immer wir unter "Zufall" verstehen?
Lelouch, der sogar seine Darsteller (er arbeitet gerne immer mit den gleiche Schauspielern, die ihn wie eine Familie umgeben sollen) bis zum Ende über den Handlungsablauf im Unklaren liess, soll seinen 31. Film in 31 Tagen gedreht haben. Ich weiss nicht, ob diese Behauptung bloss in die Welt gesetzt wurde, um den mysteriösen Charakter von "Il y a des jours ... et des lunes" zu unterstreichen; auf jeden Fall fand der in Frankreich stets umstrittene Regisseur (ist er nun trivial oder genial?), dessen Anfänge mit der Nouvelle Vague in Verbindung gebracht werden und der schon für "Un homme et une femme" (1966) den Oscar für das beste Originaldrehbuch erhalten hatte, bei Kritikern und Zuschauern für einmal grossen Anklang - verdientermassen! - Ich schaue mir den Film gerne an einem Abend an, an dem ich weder Probleme wälzen noch unterhalten, sondern einfach von einer unaussprechlichen Leichtigkeit erfüllt werden möchte. Dass er diese Wirkung zu erzeugen vermag, ist einem Balanceakt zu verdanken, wie sie sonst bloss ein Meister des Soufflés zustande bringt: Wäre eine "Zutat" falsch dosiert oder im ungünstigen Moment eingesetzt, würde das Kunstwerk in sich zusammenfallen. Erst am Ende, wenn die luftige Köstlichkeit aus dem Ofen genommen wird, darf ein Moment des wahrhaft Tragischen einsetzen. Lelouchs kleiner Triumph über das Medium Film mit all seinen Tücken ist in diesem Punkt mit Jim Jarmusch's "Night on Earth" (1991) vergleichbar, dessen Hang zur Schwerelosigkeit auch erst mit dem ächzend hervorgebrachten Wort "Helsinki" am Ende aufgehoben wird.
Bald ist Vollmond! Gäbe es einen besseren Zeitpunkt für diesen Film?
Bearbeitet von Zodiac, 05. August 2009, 21:09.
#10
Geschrieben 09. August 2009, 21:16
“Zodiacli”, raunte Mutti mir gelegentlich zu (sie pflegte mich “Zodiacli” zu raunen), “heute kommt tief in der Nacht - um 21 Uhr 30! - ein gar schrecklicher Gruselfilm, der nicht für Kinder wie dich geeignet ist. Wollen wir uns den zusammen anschauen, während Vati den Schlaf des Gerechten schnarcht?” - Natürlich wollte ich! Und so sassen wir denn zitternd auf dem Sofa und harrten ebenso ängstlich wie gespannt der Dinge, die uns Titel und Fernsehansagerin versprachen (man war seinerzeit auf die Lokalzeitung angewiesen und konnte nicht ahnen, dass Bob Hope ein höchst selbstgefälliger Komödiant war, der sich überhaupt nicht in ein Ensemble zu integrieren vermochte, weil er jede Pointe für sich in Anspruch nahm - oder dass sich Veronica Lake in die kleine Reihe von Schauspielerinnen eingliedern liesse, die mich zu einem Nümmerchen hätten überreden können). Ich lasse “Topper Takes a Trip” (1938), diesen fiesen Versuch, eine erfolgreiche Fortsetzung von “Topper” (1937) so gut wie OHNE Cary Grant zu drehen, jetzt mal beiseite und erzähle euch stattdessen von zwei Gänsehaut-Erlebnissen, um deren Wiederholung ich vergeblich gebetet habe, die ich aber kürzlich als qualitativ mässige 10 Minuten-Clips auf “youtube” wiederentdecken durfte:
Erbschaft um Mitternacht
(The Cat and the Canary, USA 1939)
Regie: Elliott Nugent
Darsteller: Bob Hope, Paulette Goddard, John Beal, Douglass Montgomery, Gale Sondergaard
Zehn Jahre nach dem Tod des exzentrischen Millionärs Cyrus Norman versammeln sich dessen noch lebende Verwandte in seiner heruntergekommenen Villa mitten in den Sümpfen von Louisiana zur Testamenteröffnung. Die unheimliche Hauhälterin Miss Lu, die, ein perfektes Vorbild für Hitchcock’s Mrs. Danvers in “Rebecca” (1940)!, in dem verlotterten Gebäude mit all seinen “Geistern” ausgeharrt hat, warnt von Anfang an vor Zeichen und drohendem Unheil; doch die auf das Erbe - Bob Hope als Wally Campell natürlich auf Pointen - lauernde Sippschaft nimmt sie zunächst nicht ernst, auch wenn das Schlagen einer Uhr, das Flackern des Leuchters und eine schwarze Katze die dräunende Musik wirkungsvoll unterstützen. - Es stellt sich heraus, dass die hübsche Joyce zur Alleinerbin ernannt wurde. Da jedoch gewisse Mitglieder der Familie immer dem Wahnsinn anheim fielen, hat der reiche Cyrus noch ein zweites Testament verfasst - für den Fall, dass Joyce das unheilvolle Erbe in sich tragen oder die Nacht nicht überleben sollte. Jetzt fehlt bloss noch der Gefängniswärter Hendrick, der den Versammelten von einem verrückten Mörder, “The Cat”, erzählt, der ausgebrochen sei und sich in der Gegend herumtreibe - und eine Nacht kann ihren Lauf nehmen, eine Nacht, in der würgende Hände zwischen den Wänden einer Bibliothek hervorkriechen, spinnwebenverhangene Gänge und wertvolle Schmuckstücke entdeckt werden, Menschen ums Leben kommen, Fensterläden auf- und zuklappern und Vorhänge sich schaurig bewegen.
Das Theaterstück von John Willard wurde mehrere Male verfilmt, zuletzt - gähnend langweilig - 1979 mit einer Reihe nicht unbedeutender englischer Schauspieler. Die Verfilmung von 1939 ist - wie könnte es mit Bob Hope in der Hauptrolle auch anders sein? - weitaus die witzigste, was man spätestens merken sollte, wenn der Zigarrenstummel, den Wally in den Sumpf schmeisst, von einem Alligator gierig aufgefangen wird. Sie ist aber zugleich die schaurigste von allen, in der Schatten sich noch unheilvoll an den Wänden vergrössern, der Zuschauer zusammen mit den z.T. schrulligen Darstellern zusammenzuckt, weil das Büsi (= schweizerdeutsch für Kätzchen) auftaucht und Paulette Goddard als “young heiress in distress” durch dunkle Gänge irrt - ein richtiger Grusler eben, der in der Tradition der Romane von Ann Radcliffe steht, in denen sich das “Übernatürliche” am Ende als boshaftes Spiel eines Schurken entpuppt, wobei die Auflösung in “The Cat and the Canary” recht enttäuschend -weil vorhersehbar - daherkommt. - Dass der Film über weite Strecken dennoch so stimmungsvoll-unheimlich wirkt, verdankt er wohl nicht zuletzt seinem Regisseur Elliott Nugent, der als Darsteller die Stummfilmzeit überstanden und deshalb als Regisseur (ab 1932) von B-Movies eine Ahnung davon hatte, wie man Bilder und Musik wirkungsvoll einsetzt (der Alkohol beendete zu Beginn der 50er Jahre die nicht berauschende Karriere des armen Kerls, der neben Bob Hope auch Danny Kaye zu “seinen“ Schauspielern zählen durfte).
Bob Hope verdankte übrigens “The Cat and the Canary” einen kleinen, wirklich guten Dialog, den er ein Leben lang bei jeder Gelegenheit anbrachte:
Cicily: “Do you believe people come back from the dead?”
Wally: “You mean like Republicans?”
Meine Frau, die Hexe
(I Married a Witch, USA 1942)
Regie: René Clair
Darsteller: Fredric March, Veronica Lake, Cecil Kellaway, Susan Hayward, Robert Benchley, Robert Warwick
Es gibt wohl keinen anderen Film, in dem auf einer “verhexten” Hochzeit zwecks Überbrückung der unterbrochenen Feierlichkeiten so oft das Lied “I love you truly” angestimmt werden muss! - Aber beginnen wir von vorne: Bei den Hexenprozessen von Salem werden Hexenmeister Daniel und seine Tochter Jennifer zum Tode verurteilt und verbrannt. Denunziant war der mit einer Furie von Weib verheiratete Jonathan Wooley, der sich wohl vergeblich an Jennifer ranmachen wollte und den die Hexe vor ihrem Tod mit einem Fluch belegt: Alle Nachkommen des Puritaners sollen mit ähnlichen Ehefrauen geschlagen sein wie er. Und so geschieht es: Auch wenn die Geister der Verbrannten unter einem Baum gefangen sind, heiraten alle Wooleys (durchgehend gespielt vom unsterblichen Fredric March) über die Jahrhunderte hinweg die denkbar bösesten Weibsstücker ihrer Generation - bis wir uns eines Tages in einer Zeit wieder finden, in der man die leicht fallenden Party-Kleider der späten 30er Jahre trägt und zu locker-jazziger Musik tanzt. Denn ein weiterer Wooley, Wallace, ist nicht nur im Begriff, als Gouverneur zu kandidieren, sondern eine Furie (ausgerechnet die junge Susan Hayward!) zu ehelichen. Da schlägt ein Blitz in den Baum der Verbannten ein und befreit Hexenpapi und Tochter, die nun als Nebelchen den Wandel der Welt in den paar Jährchen bestaunen, aber weiterhin auf Rache an den Wooleys sinnen. Als erstes fackeln sie allerdings das “Pilgrim Hotel” (allein schon wegen seines Namens!) ab, was Jennifer auf die Idee bringt, sich die Gestalt der Femme fatale par excellence anzueignen und Wallace zu ihrem Retter zu erküren. Von nun an hängt sie wie eine Klette am jüngsten Spross der verhassten Familie und will ihn - sozusagen als Höhepunkt ihrer Rache - in sich verliebt machen. Doch einige Kleinigkeiten des fiesen Plans entwickeln sich nicht ganz nach Wunsch… - Nur dies sei verraten: Auch dem Hexenvater Daniel wird die Freude am Alkohol am Ende zum Verhängnis!
“I Married a Witch” zeigt vorbildlich, wie man mit Hilfe kleiner Tricks und an passender Stelle eingesetzter Gags eine höchst kurzweilige, im wahrsten Sinne des Wortes zauberhafte Liebesgeschichte auf die Beine zu stellen vermag. Schon allein Veronica Lake’s Reaktion auf March’s Frage, wie um alles in der Welt sie hergekommen sei, macht einfach Freude: Ein flüchtiger Blick auf den Hexenbesen und die hingeworfene Bemerkung: “You wouldn’t believe me if I told you…” Das ist Screwball vom Feinsten! So etwas gibt es heute gar nicht mehr; und man könnte sich fragen, ob dies nicht auch daran liege, dass Schauspieler mit Höchstgagen zu grossen Einfluss auf ihre Filme und deren Drehbücher ausüben. - Der Film diente wohl nicht nur als Vorlage für die Fernsehserie “Bewitched”, sondern dürfte auch das Theaterstück “Bell, Book and Candle”, das 1958 mit einer ausnehmend erotischen Kim Novak verfilmt wurde, angeregt haben. Neuere Machwerke, die dem Subgenre zuzuordnen sind, ohne annähernd an die grandiosen Vorgänger heranzureichen, seien bloss am Rande erwähnt: “Hocus Pocus” (1993), “Practical Magic” (1998) oder “Bewitched” (2005), der peinliche Versuch, die Serie für das Medium Film wiederzubeleben.
Der französische Meisterregisseur René Clair (“Sous les toits de Paris”, 1930) verliess das von den Nazis besetzte Frankreich im Jahre 1940 und drehte insgesamt vier Filme in Hollywood, darunter “And Then There Were None” (1945), die wohl beste Adaption von Agatha Christie’s berühmtem Roman. Als er - zurück in Frankreich - erkennen musste, dass die “Nouvelle Vague” die Regeln seines Kinos über den Haufen zu werfen im Begriff war, wandte er sich der Schriftstellerei zu. - Veronica Lake durfte 1946 in “The Blue Dahlia” zeigen, dass sie weitaus mehr als nur ein “süsses Hexchen” war, und der unglaublich wandlungsfähige Fredric March erhielt von einem meiner Lieblingsregisseure, Stanley Kramer, vielleicht die Rolle seines Lebens, als dieser ihn in “Inherit the Wind” (1960) den Fundamentalisten Matthew Harrison Brady spielen liess.
**********
Ich finde es bedauerlich, dass die beiden hier kurz besprochenen Filme - wie auch andere Wertstücke aus den 30ern und 40ern - nicht oder kaum mehr im Nachtprogramm unserer vielen Sender ausgestrahlt werden - und dies nicht bloss, weil Zodiacli gerade eine nostalgische Anwandlung hat! Ich denke einfach daran, dass René Clairs herrlicher Hexenfilm (der eventuell auch erklären könnte, wie es Arnold Schwarzenegger schaffte, zum Gouverneur von California gewählt zu werden) 77 Minuten lang ununterbrochen Spass bereitet, während die meisten “romantischen Komödien” des neuen Jahrtausends dem Starkult huldigend eine Regel der “Betroffenheitsfilme” übernommen haben: Je länger, desto besser! Diese Regel beraubt sie (ich picke zwei beliebige Beispiele heraus: “Rumor Has It…”, 2005, “Must Love Dogs”, 2005) oft nicht bloss jeder Romantik , sondern auch all dessen, was eine gute Komödie ausmacht: Leichtigkeit, Witz etc. Und ich denke daran, dass Paulette Goddard im gruseligen Geheimgang eine einzige Spinnwebe entfernen musste, während (wieder ein beliebiges Beispiel, das es meine Wissens glücklicherweise nicht einmal ins Kino schaffte) Denzel Washington sich in “Fallen” (1998) durch ganze Gebilde fleissiger Spinnen arbeitete, ohne dass die geringste Stimmung aufgekommen wäre. - Die Möglichkeit, heutige Filme mit den Werken früherer Epochen vergleichen zu können, dürfte auch von vielen jüngeren Filmliebhabern geschätzt werden, sie zum Nachdenken über die verschiedenen Ansichten, wer denn nun am besten die Wirkung eines Streifens auf den Zuschauer vorhersagen könne, anregen. - Zodiacli bereut es auf jeden Fall nicht, von seiner Mutti schon als Knirps verdorben worden zu sein; und er wird wohl auch in Zukunft auf vergessene Perlen vergangener (Hollywood-)Zeiten aufmerksam machen.
“I Married a Witch” ist als DVD mit deutscher Tonspur (angeblich miserable Tonqualität) erhältlich; “The Cat and the Canary” muss man sich auf Englisch ansehen.
#11
Geschrieben 13. August 2009, 14:02
A Little Trip to Heaven
(A Little Trip to Heaven, Island/USA 2005)
Regie: Baltasar Kormákur
Darsteller: Forest Whitaker, Julia Stiles, Jeremy Renner, Peter Coyote, Alfred Harmsworth u.a.
Die erste isländisch-amerikanische Co-Produktion wurde von den US-Kritikern nicht gut aufgenommen und gelangte zumindest im deutschen Sprachraum gar nicht erst ins Kino. Mittlerweile stellt sich der ablehnenden Gruppe eine Schar enthusiastischer Fans entgegen, die den ursprünglichen Vorwurf, “A Little Trip to Heaven” wolle wie “Fargo” sein, mit der Floskel “als hätten sich die Coen-Brüder und David Lynch getroffen” kontert und den Film zum “Geheimtipp” erklärt. Man wundert sich ein wenig, dass Kormákur nicht gelegentlich als eigenständiger Regisseur betrachtet (schon im Zusammenhang mit “101 Reykjavik” ernannte man ihn zum Almodóvar Islands) und sein filmisches Schaffen entsprechend interpretiert wird.
Zur Handlung: Abe Holt ist Mitarbeiter beim Versicherungsunternehmen “Quality Life” und als “Schadensbegrenzer” dafür zuständig, dass Begünstigte mit allen denkbaren legalen und illegalen Mitteln (Überwachung, Druck etc.) um ihren Anteil geprellt werden. Als 1985 ein Mann bei einem Autounfall ums Leben kommt, bei dem es sich vermutlich um den gesuchten Trickbetrüger Kelvin Anderson handelt, wird die “Maschine” Holt auf einen “Wochenend-Trip” ins verschneite Nest Hastings in Minnesota geschickt, wo Kelvin’s Schwester Isold lebt, die im Falle von Kelvin’s Ableben Anrecht auf 1 Mio. Dollar hat. Abe’s Aufgabe: Einen Versicherungsbetrug aufdecken! - Er stösst auch rasch auf Unstimmigkeiten, lässt sich aber zunehmend in das triste Leben von Isold, die mit ihrem dubiosen Ehemann Fred und dem kleinen Thor in ärmlichsten Verhältnissen lebt, hineinziehen, vielleicht sogar in die traurige Atmosphäre jenes Städtchens, das man eigentlich nur verlassen möchte, um nie wieder zurückzukehren.
Obwohl die Handlung in Minnesota angesiedelt ist, wurde “A Little Trip to Heaven” zum grössten Teil in Island gedreht; und dies merkt man dem Film, hinter dem ein weitgehend isländisches Produzenten-Team und eine einheimische Crew stehen, auch an. Er wirkt mit seinen eigenwilligen Kamerapositionen, stilisierten Bildern und und schnellen Schnitten nicht so gefällig wie eine “glattgebügelte” amerikanische Mainstream-Produktion, lässt sich zum Widerwillen vieler Kritiker auch nicht ganz in ein herkömmliches Genre (Neo-Noir) pressen. Wer dies nicht akzeptiert, gar Vergleiche mit amerikanischen Filmemachern heranzieht, verkennt die zunehmende Eigenständigkeit des isländischen Films in den letzten Jahren (ich denke neben den Werken von Kormákur etwa an den hervorragenden “Englar alheimsins”, 2000, oder an “Nói albinói”, 2003).
Es geht in “A Little Trip to Heaven” nicht in erster Linie um die eigentliche Story; deshalb die Logiklöcher und fehlenden Erklärungen. Die anfängliche äussere Brutalität (der Film beginnt mit einem Mord) wird rasch von einer inneren abgelöst, weil der Fokus auf die Figuren, ihre oft unausgesprochenen Beziehungen und die Umgebung, in der sie sich befinden, gelegt wird. Und die oft düsteren Bilder lassen auch erkennen: Hastings ist eine Art Vorhölle, ein Ort, an dem selbst die Farben ihre Farbe verlieren (man beachte die Wände der Dreckhütte, in der Isold lebt). Hier gibt es nichts Schönes; in dieser Gegend, die sich einem Schwarz-Weiss annähert, drückt man sich wie die fette Wirtin sogar beim Tanzen an einen Fremden, darauf hoffend, “etwas anders” zu spüren. - Wer aber kann an so einem Ort ohne oft verheimlichte Schuld leben, weil er bloss an eines denkt: wie er seinem erbärmlichen Dasein entkommen kann ? Und passt Abe Holt, der Schadensbegrenzer, nicht genau hierher?
Die leeren Gesichter (selbst ein Lächeln von Julia Stiles wirkt leer) der Hauptfiguren zeigen es: Man ist zu jeder Brutalität fähig, kann der von Regengüssen und Schneestürmen dominierten Vorhölle Hastings (sie befindet sich auch im Versicherungsgebäude mit Abe’s zynischem Vorgesetzten) aber doch nicht entrinnen, weil man dafür längst zu schwach ist. Es sind die Umstände! - Der Zuschauer kann sich nicht mit den Figuren in diesem Film identifizieren, verstehen kann er sie wohl alle ein wenig - sogar Isold’s brutalen Mann. An diesem Ort hülfe nur ein Akt der Menschlichkeit, und der bietet sich dem ständig mit schwarzer Wollmütze herumlaufenden Holt (auch ein Mensch mit einem leeren Gesicht!) unerwartet an. Es gibt nämlich sogar in Hastings jene Unschuld, der er nicht so leicht zu widerstehen vermag: den kleinen Thor, der wissen möchte, ob es ein weiter Weg bis zum Himmel ist. Mit ihm legt sich Abe in den Schnee und formt “Engel mit Flügeln”, von ihm erhält er die Chance, aus seinem kleinen Trip nach Hastings einen vielleicht auch nur kleinen Schritt Richtung Himmel zu machen, ohne Rücksicht auf die “Quality Life”, deren heuchlerische Werbung immer wieder im TV zu sehen ist. Wird er diese Chance nutzen? Und wen dieser “Schuldigen” soll er dem kleinen Jungen mit auf den Weg in die Freiheit geben?
“A Little Trip to Heaven” zeichnet ein düsteres Bild von der Menschheit und der Welt, der sie ausgesetzt ist. Es fehlt ihm auch weitestgehend jener “schwarze Humor”, der “Fargo” recht unterhaltsam macht. Wer sich einem solchen Thema nicht aussetzen möchte, dürfte mit dem Film, dessen optische und atmosphärische Klasse (warum wohl brachte man nicht auch noch Jarmusch als Vorbild ins Spiel?) ebenso zu überzeugen vermag wie die Darsteller, nichts anfzufangen wissen. Für mich vergingen die 90 Minuten dank der straffen Inszenierung wie im Flug. - Sicher kein Meisterwerk, aber eben ein “Geheimtipp”. Und “Geheimtipps” haben es leider an sich, dass man sie sich alleine ansehen muss und weder eine bestätigende noch eine ablehnende Diskussion in Gang setzt.
Bearbeitet von Zodiac, 13. August 2009, 14:08.
#12
Geschrieben 19. August 2009, 22:16
Olivia de Havilland ging schon früh einen jener berüchtigten Siebenjahresverträge mit Warner ein und wurde in der Folge mit Vorliebe als Partnerin von Errol Flynn besetzt, der dafür bekannt war, dass er sämtliche gut aussehenden Frauen und Männer, mit denen er spielte, ins Bett zu kriegen versuchte, während ausgerechnet die Schauspielerin, in die er sich hoffnungslos verliebte, nicht an ihm interessiert war. - Es kam zu einem ersten Konflikt mit ihrem Studio, als man sie für “Gone With the Wind” nicht an Selznick ausleihen wollte. Anfangs der 40er Jahre wurde de Havilland von Warner suspendiert, weil sie sich weigerte, eine Rolle anzunehmen. Gleichzeitig entliess man sie nicht aus ihrem mittlerweile abgelaufenen Vertrag. Gegen diese Allmacht der Studios zog die Schauspielerin bis vor den Obersten Gerichtshof der USA. Ihr Sieg läutete den Beginn einer neuen Ära ein.
Nach ihrer Rückkehr ins Filmgeschäft war de Havilland zwar weiterhin auch in Melodramen zu sehen (ihren ersten Oscar erhielt sie für die Schnulze “To Each His Own”, 1946); aus heutiger Sicht interessanter dürfte jedoch ihre Entscheidung sein, vor allem auch zwielichtige, zwiespältige, ja in sich gebrochene Charaktere zu spielen - denn solche Rollen ermöglichten es ihr, in der zweiten Hälfte der 40er Jahre Gestalten auf die Leinwand zu bringen, wie man sie bis anhin nicht gesehen hatte. Dass solche Rollen überhaupt in den Bereich des Möglichen gerieten, hatte mit dem aufflammenden Interesse Hollywoods am Psychoanalytischen zu tun, das dank über 400 aus Europa emigrierter Psychiater und Psychoanalytiker dabei war, die USA zu erobern. Und es waren, was wohl nicht erstaunlich ist, vor allem ursprünglich aus Europa stammende Regisseure, die das Interesse mit z.T. kleinen Meisterwerken zu bedienen wussten. --- Hier soll an zwei Filme erinnert werden, mit denen Olivia de Havilland nach ihrem Comeback das Publikum überraschte:
Der schwarze Spiegel
(The Dark Mirror, USA 1946)
Regie: Robert Siodmak
Darsteller: Olivia de Havilland, Lew Ayres, Thomas Mitchell, Richard Long, Charles Evans, Lela Bliss
Es war vor allem der “Film noir”, der sich psychoanalytischer Elemente begeistert annahm und dem von John Huston und Billy Wilder (“Double Indemnity”, 1944) geprägten Modell (desillusionierter Mann erliegt einer “femme fatale”) ein zweites entgegenstellte, in dem ursprünglich psychologische Elemente von Drehbuchautoren oft derart popularisiert wurden, dass sie kaum mehr etwas mit der eigentlichen Wissenschaft zu tun hatten (Hitchcocks “Spellbound”, 1945, Langs “Secret Beyond the Door”, 1947, Ophüls’ “The Reckless Moment”, 1949). - Robert Siodmak, ein Regisseur, dem ein typisch deutsches Emigranten-Schicksal beschieden war (er hatte 1929 in Deutschland als Co-Regisseur mit dem Meisterwerk “Menschen am Sonntag” begonnen und endete auch in Deutschland mit Karl May-Filmen!), drehte im Exil in Hollywood einige Klassiker des psychologisch angehauchten “Film noir”, darunter einen der grossen Nägelkauer der Filmgeschichte, “The Spiral Staircase” (1945). --- “The Dark Mirror” zeigt schon zu Beginn, dass er diesem Subgenre zuzuordnen ist, machen doch bereits hinter dem Vorspann die berühmten Rorschach-Tintenkleckse auf sich aufmerksam. Ein Arzt wird in seiner Wohnung ermordet aufgefunden, und der Fall scheint für Lieutenant Stevenson auf den ersten Blick so gut wie gelöst zu sein: Mehrere Zeugen sagen aus, der Ermordete habe mit Terry Collins ein Verhältnis gehabt, und diese sei nach der Tat beim Verlassen der Wohnung beobachtet worden. Plötzlich tauchen aber auch Zeugen (darunter ein Polizist) auf, die Terry zur Tatzeit in einem weit entfernten Park gesehen haben. Die junge Frau scheint also ein perfektes Alibi zu haben. Der verzweifelte Lieutenant begibt sich noch einmal in die Wohnung der ursprünglich Verdächtigten - und es erwartet ihn eine Überraschung: Terry hat eine (identische) Zwillingsschwester namens Ruth! Von nun an zeigen sich die beiden Frauen (beide gespielt von Olivia de Havilland) wenig kooperativ, was den Polizisten dazu veranlasst, die Hilfe des Psychologen Dr. Scott Elliott in Anspruch zu nehmen. Dieser soll es mithilfe “psychologischer” Ermittlungsverfahren ermöglichen, zwischen einer “guten” und einer “bösen” Zwillingsschwester zu unterscheiden.
Der Film musste mit einem kleinen Budget gedreht werden, was man ihm an vielen Details anmerkt: Lew Ayres, der mit seinen Dr. Kildare-Filmen eine gewisse “Berühmtheit” erlangte, wirkt als sich langsam in die unschuldige Schwester verliebender - langweiliger - Psychiater so deplaziert wie manche andere Darsteller, die man wohl verzweifelt akzeptieren musste; das Drehbuch, dessen Pseudo-Anleihen bei der Psychoanalyse gelegentlich zum Lachen reizen und Hitch’s “Marnie (1964) direkt professionell erscheinen lassen, strotzt vor Ungereimtheiten (der “Kenner” der Materie negiert die Möglichkeit, dass Zwillinge die gute und die böse Seite im Menschen repräsentieren können, was aber genau der Clou dieser Neuauflage von “Dr. Jekyll and Mr. Hyde” mit weiblicher Besetzung ist, der man allerdings zugute halten muss, dass sie nicht darauf aus ist, einem klassischen “Whodunit” Konkurrenz zu machen). Auch die Musik von Dimitri Tiomkin übertreibt es in gewissen Szenen (beim Test mit dem Lügendetektor wird jeder Ausschlag mit der Nadel musikalisch derart unterstützt, dass der Eindruck entsteht, man eile einer Katastrophe entgegen). Sogar Siodmak scheint sich einige Nachlässigkeiten zu erlauben: Warum etwa muss er die beiden Schwestern durch Halsketten und Broschen mit Namen voneinander unterscheiden, wo Olivia de Havilland’s Gestik und Mimik doch bereits mehr als deutlich verraten, mit wem wir es gerade zu tun haben (die unschuldige Schwester tritt stets freundlich, aber mit gesenktem Blick und unruhig gefalteten Händen, die schuldige selbstbewusst, sich ihrer zu sicher, auf). Ein typisches B-Movie eben! Oder doch nicht so ganz?
“The Dark Mirror” beeindruckte mich als kleinen Knirps, der sich nach dem wöchentlichen Bad noch einen Film anschauen durfte, zutiefst. Eine kürzlich erfolgte Neusichtung (der Film ist nicht in deutscher Sprache als DVD erhältlich; eine Kollegin aus England lud mich jedoch zu einem VHS-Nachmittag ein) liess mich ihn vor allem als Kind seiner Zeit verstehen und früher nicht bemerkte Details schätzen: Ich denke etwa an die in vielen Szenen unauffällig platzierten Spiegel und das raffiniert eingesetzte Schüfftan-Verfahren, mit dessen Hilfe eine hervorragend spielende Olivia de Havilland als Zwillingsschwestern Terry und Ruth im gleichen Bild gezeigt werden konnte. Und noch immer weist die beängstigende Entwicklung zwischen den Schwestern (die Mörderin versucht ihre zunehmend besorgt reagierende Schwester in den Wahnsinn zu treiben, indem sie ihr einredet, sie leide unter Halluzinationen) auf die dunkle Seite der menschlichen Psyche hin, lässt uns an Freuds “Das Unheimliche” denken. Als dann gegen Schluss die eine (böse) Variante von de Havilland der Polizei einzureden versucht, ihre tot geglaubte Schwester habe den Mord begangen, blitzt der blanke Wahnsinn aus ihren Augen. Diese schauspielerische Meisterleistung (wer hätte sie von “Melanie Hamilton” je erwartet?) kann man nur bewundern. - Sie lässt das tatsächliche Zerbrechen eines Spiegels am Ende des Films wie eine Erlösung erscheinen.
Der zügig inszenierte Thriller erhielt immerhin eine Oscar-Nominierung für das Drehbuch, was zeigt, dass er dem entsprach, was die Zuschauer damals von einem psychologischen Thriller erwarteten. Wenn man ihn kritisiert, dann muss man es auf hohem Niveau tun, ihn etwa mit den oben genannten Filmen von Hitchcock oder Lang vergleichen.
Die Schlangengrube
(The Snake Pit, USA 1948)
Regie: Anatole Litvak
Darsteller: Olivia de Havilland, Mark Stevens, Leo Genn, Celeste Holm, Leif Erickson, Beulah Bondi
Auch “The Snake Pit” wird heute oft nur noch als “ehrenwertes Drama” wahrgenommen, das etwas melodramatisch wirkt und - vor allem - überholt ist. Diesen zeitbedingten Schwächen (man könnte sogar auf einige Längen hinweisen) ist entgegenzusetzen, dass vor Anatole Litvak’s ziemlich freier Adaption eines autobiographischen Romans von Mary Jane Ward kein Film den Mut aufgebracht hatte, sich mit dem Leben von Menschen in einer psychiatrischen Klinik auseinanderzusetzen. Und man scheint einen Erfolg erwartet zu haben; denn de Havilland musste sich gegen eine Reihe namhafter Darstellerinnen durchsetzen.
Der Film, der nur dank aufwändiger Recherchen und einer langen Drehzeit zustande kam (man benötigte die Hilfe von Psychiatern und wollte - inklusive Regisseur und Hauptdarstellerin! - sich vor Ort über die aktuelle Situation informieren), erzählt die Geschichte der 24-jährigen Virginia Stuart Cunningham, einer bislang erfolglosen Schriftstellerin, die sich kurz nach ihrer Hochzeit mit dem Verleger Robert auf eigenartige Weise veränderte und ins Juniper Hill State Hospital, ein renommiertes Heim für psychisch Kranke, eingewiesen wurde. Dort versucht der fürsorgliche Doktor Kik, der sich von Virginia’s Mann die Geschichte der gemeinsamen Ehe erzählen lässt, ihrem Leiden auf die Spur zu kommen. Dies erweist, sich, wie schon die ersten Bilder des Films zeigen, als alles andere als einfach; denn Virginia ist eine in ihrer eigenen Welt lebende Frau, die Stimmen wahrnimmt und zwischen Realem und Nicht-Realem gar nicht mehr zu unterscheiden vermag, ja, dem Realen (hier in Form einer Patientin, die sich um sie kümmert) misstraut. Sie ist, wie sich rasch herausstellt, schizophren.
Im weiteren Verlauf zeigt “The Snake Pit”, mit welchen Methoden - sie lassen dem heutigen Zuschauer die Haare zu Berge stehen! - Dr. Kik seiner Patientin zu helfen versucht: Elektroschock-Therapie, normative (= mit Befehlen arbeitende) Hypnose, die durch Injektionen unterstützt wird, notfalls Isolation in Zwangsjacke. Erst als Virginia in der geschlossenen Abteilung bei den “hoffnungslosen” Fällen landet, findet sie zu sich selber und erhält den Eindruck, man habe sie in eine “Schlangengrube” (der Begriff wurde zu einer Art “Terminus technicus”) geworfen, der sie jetzt entkommen wolle. In einem letzten, aufschlussreichen Gespräch klärt sie der Freudianer Kik (die Kamera lenkt unsere Aufmerksamkeit bei jeder Gelegenheit auf ein Bild des Begründers der Psychoanalyse, das im Büro des Psychiaters hängt) über ihre Vergangenheit auf, die natürlich auch einen Ödipuskomplex zum Vorschein bringt. Am Ende kann eine “geheilte” Virginia zusammen mit ihrem Mann das Pflegeheim verlassen - nachdem sie dem Arzt gestanden hat, jetzt nicht mehr in ihn verliebt zu sein...
Der Film vermag trotz zahlreicher Zugeständnisse ans Publikum (ein Fest im Hospital endet im gemeinsamen Singen der Patienten, und Leo Genn, der vielen von uns für immer als Starbuck in John Huston's “Moby Dick”, 1956, in Erinnerung bleiben wird, nervt schlicht als verständnisvoller, ständig mit einer Pfeife in der Hand herumlaufender Psychiater, der Virginia beinahe zu nahe an sich herankommen lässt) noch heute aufzuwühlen, vielleicht mehr als der - dies das Bekenntnis eines Sünders, der Forman oft für etwas überschätzt hält - leicht kitschige “One Flew Over the Cuckoo’s Nest” (1975); denn er zeichnet einen Klinikalltag, der Mitte der 40er Jahre durchaus Realität gewesen sein dürfte: Schwestern, die nicht böse, aber kalt sind, weil sie sich selber vor der Horde willkürlich zusammengeworfener Kranker fürchten, nichts von ihnen verstehen; Ärzte, die wenig von Zusammenarbeit halten; Behandlungsmethoden, die uns heute unfassbar erscheinen, Räume, die den Eindruck erwecken, das “Narrenschiff”, von dem Foucault behauptete, es habe wirklich existiert, sei in eine Klinik verlegt worden. Daneben gelingen Litvak Bilder von unnachahmlicher Intensität (das Ertrinken, die Darstellung der “Schlangengrube”), aber auch zarte Szenen (etwa das gehauchte “Goodbye!” einer bislang stummen Patientin, um die sich Virginia gekümmert hat, am Ende des Films).
Olivia de Havilland lieferte als psychisch Kranke wohl die Leistung ihres Lebens, auch wenn sie als Virginia in “The Snake Pit” nur für einen Oscar nominiert wurde. Wer aber - auch dies eine Frage, die man sich mit Verwunderung stellen darf - hätte dem Unschuldsengel “Melanie Hamilton” wohl eine solche Entwicklung zugetraut?
**********
Die Schauspielerin war später noch für zwielichtige Gestalten zu haben; wobei an dieser Stelle bewusst nicht auf Wiegenlieder eingegangen wird (es gibt keine Spoiler)! Ich möchte jedoch auf einen Film hinweisen, der mich vor vielen Jahren beeindruckte und über den ich gelegentlich - jetzt wohl aus anderer Sicht - schreiben möchte: “My Cousin Rachel” (1952). De Havilland spielt in der Verfilmung eines Romans von Daphne du Maurier eine Frau, die vor allem in den Augen ihres jungen Liebhabers (Richard Burton) einen zwielichtigen Eindruck erweckt. Im Gegensatz zu “The Snake Pit” gibt es den Film meines Wissens hierzulande nicht auf DVD.
UND WENN ES IN DER SCHWEIZ WEITERHIN SO HEISS BLEIBT, GIBT’S HÖCHSTENS NOCH ALLE DREI WOCHEN EINEN EINTRAG IN MEIN FILMTAGEBUCH!!!
Bearbeitet von Zodiac, 19. August 2009, 22:57.
#13
Geschrieben 23. August 2009, 14:16
...und das Leben geht weiter
(And the Band Played On, USA 1993)
Regie: Roger Spottiswoode
Darsteller: Matthew Modine, Alan Alda, Patrick Bauchau, Nathalie Baye, Christian Clemonson, Phil Collins, Alex Courtney, Richard Gere, Anjelica Huston, Richard Jenkins, Steve Martin, Ian McKellen, Lily Tomlin, Roland Guttman u.a.
Lange Zeit betrachtete Hollywood den Themenbereich “HIV und AIDS” als heisses Eisen und überliess ihn lieber den Europäern (“Les nuits fauves”, Frankreich und Italien 1992, “Peter’s Friends”, Grossbritannien 1992) oder den amerikanischen Independent-Regisseuren (“Parting Glances”, 1986, “Longtime Companion”, 1990). Das Jahr 1993 bescherte uns jedoch gleich zwei Überraschungen: Jonathan Demme wartete mit dem rührseligen, aufs Publikum hingedrehten “Philadelphia” auf, einem Film, der eigentlich eher ein typisch hollywoodesques Gerichtsdrama als ein AIDS-Film war und Tom Hanks seinen ersten Oscar einbrachte, den - wenn schon - wohl eher Denzel Washngton als ursprünglich schwulenfeindlicher Anwalt mit Entwicklungspotential verdient hätte (ich lache mich heute noch krumm, wenn ich Hanks beim letzten Tänzchen mit seinem Film-Lover - ausgerechnet Antonio Banderas! - sehe). - Gleichzeitig schaffte es der Film “And the Band Played On” in die Kinos, den Roger Spottiswoode (“Under Fire”, 1983) gegen heftigsten Widerstand der Studios ursprünglich für das Fernsehen gedreht hatte - und der mit einer mehr als ansehlichen Garde von Hollywood-Stars aufwarten konnte, die z.T. in Kurzauftritten ihre Solidarität mit Betroffenen bekunden wollten (sie spendeten ihre Gage der AIDS-Hilfe und -Forschung). Richard Gere, der im Film einen HIV-infizierten Choreographen spielt, hatte sich wesentlich dafür eingesetzt, dass die Verfilmung des Romans von Randy Shilts überhaupt realisiert werden konnte (und wurde von der Regenbogenpresse natürlich gleich verdächtigt, selber infiziert zu sein). Ihm und den anderen Mitwirkenden gebührt Dank für den nicht alltäglichen Mut, den sie aufbrachten - ich drücke bei der Beurteilung schwächerer Filme, in denen sie mitwirkten, oft ein Auge zu...
Im Gegensatz zum melodramatischen “Philadelphia” ist “And the Band Played On” ein halbdokumentarischer Film über die Anfänge der Entdeckung der Immunschwächekrankheit AIDS. Matthew Modine spielt den Virologen Don Francis, der im Sudan mit einer unerklärlichen Krankheit konfrontiert wird, die durch das Ebolavirus, dem bis zu diesem Zeitpunkt einzigen beim Menschen beobachteten Retrovirus, ausgelöst wurde. Wenige Jahre später tauchen in den USA und in Europa vor allem bei einigen homosexuellen Männern seltene und tödlich verlaufende Krankheiten (der Hautkrebs “Kaposi Sarkom” oder die Lungenentzündung PCP) auf. Die Jagd nach dem Erreger der bald als “Schwulenseuche” bezeichneten Krankheit beginnt. Mit der Entdeckung von “Patient Zero”, einem infizierten Airline-Stewart, der einem promisken Lebenswandel frönte, stellt sich heraus, dass die Krankheit (mittlerweile als GRID = “Gay-Related Immuno Deficiency” bezeichnet) vor allem durch sexuelle Kontakte übertragen wird. Besitzer von Schwulensaunen (Phil Collins in einer herrlichen Rolle!) werden aufgefordert, ihre Betriebe zu schliessen. In der Homosexuellenszene macht sich Hysterie breit; aber auch der Widerstand gegen christlich-fundamentalistische Kreise, die die mittlerweile als AIDS bezeichnete internationale Epidemie zur “Strafe Gottes” erklären, nimmt zu. - Währenddessen muss sich Dr. Francis mit Politikern herumschlagen, die nicht das geringste Interesse daran haben, die Forschung mit Geldern voranzutreiben, obwohl längst auch Drogenabhängige und Menschen, die Blutkonserven erhielten, an der Krankheit sterben. Dieser Gleichgültigkeit steht eine immer grössere Zahl von in ihrer Hilflosigkeit aufbegehrenden Opfern gegenüber, die keine Lobby und keine Aussicht auf Medikamente hat.
1982 wird das HI-Virus isoliert - und schon setzt unter den Forschern ein Streit ein, der den mittlerweile Millionen von Kranken und Sterbenden auch nicht weiterhilft: Es geht einzig um die Frage, wer der eigentliche Entdecker des Virus sei, der ehrgeizige Amerikaner Robert Gallo (von Alan Alda als blasierter Golfspieler grandios verkörpert), der den Nobel-Preis für sich einheimsen will, oder das Pasteur-Institut in Paris, das mit seinem Arzt Luc Montagnier von Anfang an die Krankheit begleitet hatte. - All dem stehen die vielen Einzelschicksale, die der Film auch beleuchtet, gegenüber - und die weiterhin bestehende Gleichgültigkeit der Politiker, insbesondere jener der Reagan-Regierung.
“And the Band Played On” gibt sich nicht rührselig, sondern schildert präzise Fakten. Dies mag den Film gelegentlich etwas kalt wirken lassen; einzelne Ereignisse werden trotz der 140 Minuten Laufzeit bloss kurz angetönt, einige Figuren wirken klischeehaft. Aber es ist ein wahrer Film, der gnadenlos mit Forschern (der wirkliche Robert Gallo verkündet noch heute an jedem AIDS-Kongress irgendwelche “Entdeckungen”, die sich in Luft auflösen; er wird von manchen Forschern nur noch als “alter Gauner” bezeichnet) und Politikern (Präsident Reagan erwähnte AIDS erst 1986 in einer öffentlichen Rede!) ins Gericht geht. - Am Ende erinnert er an Prominente, die bis 1993 an der Immunschwächekrankheit verstorben waren. Randy Shilts, der Verfasser des dem Film zugrunde liegenden Romans, verstarb 1994 selber an den Folgen von AIDS.
Ich halte “And the Band Played On” für weitaus bedeutender als den Hollywood-tauglichen “Philadelphia”, der leider im Umfeld des Welt-Aids-Tags noch immer regelmässig von diversen Fernseh-Sendern ausgestrahlt wird; denn kein anderer Film beschreibt die Entdeckung einer der heimtückischsten Krankheiten des letzten Jahrhunderts derart genau und erinnert an eine Zeit, die - wenn auch von vielen nicht bewusst miterlebt - gar nicht so weit zurückliegt. Er vermag vielleicht gerade Menschen, die AIDS heute irrtümlich für heilbar halten, zu zeigen, welcher Kampf zu Beginn der 80er Jahre ausgetragen wurde, wie viele Todesopfer er forderte - und welchen Fortschritt wir ihm letztlich doch verdanken, auch wenn es in unserer Welt in erster Linie um Geld, Ruhm und Macht geht.
**********
Als der Film 1993 entstand, gab es neben jenem Medikament, das Al Pacino in “Angels in America” (2003) als privilegierter Anwalt in Unmengen hortete und das als Retrovir in die Geschichte eingehen sollte, erst zwei weitere der gleichen Wirkstoff-Gruppe (NRTI) angehörende Mittel, die die so genannten CD4-Zellen anzuheben und den Virus zeitlich beschränkt zu bekämpfen vermochten. Wer Glück hatte und keine übermässigen Resistenzen entwickelte, durfte Mitte der 90er Jahre die ersten frühzeitig auf den Markt gebrachten Protease-Inhibitoren erleben, die eine wirkungsvolle Kombinationstherapie erst ermöglichten. Unterdessen bemüht man sich um immer nebenwirkungsärmere Medikamente; auch neue Wirkstoffgruppen (an deren Erforschung nicht zuletzt das Basler Pharma-Unternehmen Roche, das den Bereich HIV vor kurzem leider aufgegeben hat, beteiligt war) stehen zur Verfügung. - Die Krankheiten, die ursprünglich besonders gefürchtet waren (etwa eine zur Blindheit führende CMV-Retinitis) sind bei erfolgreich Therapierten verschwunden. Gleichzeitig müssen “Long Term Survivors” (heute als “Versuchskaninchen” anerkannt) - selbst wenn der Virus in ihrem Blut nicht mehr nachweisbar ist - die durch die eigentliche Infektion oder Therapie verursachten Spätfolgen in Kauf nehmen: Diabetes, Lymphome (der Virus zieht sich ins Lymphsystem zurück, wo er weiter zu wirken vermag!) und eine erhöhte Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Störungen (einer Fettumverlagerung im Körper zu “verdanken“). AIDS ist eine Geschichte mit einem Anfang; ein Ende ist trotz aller Erfolge nicht in Sicht. - Vielleicht ist die hier skizzierte Fortsetzung für Fim-Fans jedoch von geringem Interesse, da sie kaum Stoff für einen Film bieten dürfte.
#14
Geschrieben 28. August 2009, 22:22
Cinema Paradiso
(Nuovo Cinema Paradiso, Italien/Frankreich 1988)
Regie: Giuseppe Tornatore
Darsteller: Philippe Noiret, Jacques Perrin, Marco Leonardi, Salvatore Cascio
Heute mal kurz und kitschig: Als “Nuovo Cinema Paradiso” den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt (er hatte sich immerhin gegen das Meisterwerk “Jésus de Montréal”, 1989, durchgesetzt!), fühlte man sich beinahe verpflichtet, diese Ode an das Kino uneingeschränkt zu lieben. Entsprechend fand auch ich nach der ersten Sichtung nur die Worte, die man noch heute in beinahe jeder Kritik lesen kann. Ich sprach von einem der schönsten Filme aller Zeiten, von unbeschreiblicher Leichtigkeit, einem nostalgischen Traum, den leichten Tönen, wie wir sie nur dem italienischen Kino verdanken würden... - Die zweite Sichtung (ich rannte nach ein paar Tagen in Begleitung einer Kollegin erneut ins Kino) führte bereits zu einer Hinterfragung des “Meilensteins der Filmgeschichte”: War das Ganze nicht etwas zu bewusst überzuckert, wie eine Cremetorte, die zwar gut schmeckt, letztlich aber bloss den Cholesterinspiegel erhöht? War der Film nicht geradezu ein Schmachtfetzen im schlechtesten Sinne des Worts?
Und so geschah es immer wieder: Manchmal suchte ich regelrecht nach Ansätzen zur Kritik (kann ein junger Mann - ausgerechnet in Italien! - überhaupt seine Mama 30 Jahre lang nicht mehr sehen wollen, weil ihm ein blinder Filmvorführer zur Flucht in die Grossstadt geraten hat, wie kommt es, dass sich die holde Geliebte ausgerechnet in dem Moment über den jungen Helden beugt, als dieser deprimiert im Regen vor sich hin leidet?); manchmal ergab ich mich schon den ersten Bildern (dem Blick aus dem Fenster aufs Meer, der Schale und den wehenden Vorhängen, dem langsamen Gleiten der Kamera ins Zimmer) und der Musik von Morricone. Noch heute stelle ich mir, den Zwiespalt, mit dem ich “Nuovo Cinema Paradiso” gegenüberstehe, langsam akzeptierend, gelegentlich die Frage, ob es nicht bedeutendere Filme gibt, in denen ein bestimmtes Kino eine wesentliche Rolle spielt? Ich denke etwa an Bogdanovich’s “The Last Picture Show” (1971) und muss feststellen, dass mich die Hure Erinnerung die Wichtigkeit des Kinos im Film überschätzen liess; ich denke an Fellinis “Amarcord” (1973); dabei kommt die Bedeutung des italienischen Kinos für sexuelle Aktivitäten in Tornatores Film mindestens so deutlich zum Ausdruck. - Und so bleibt mir letztlich wohl nur ein Film, den ich “Nuovo Cinema Paradiso” gegenüberstellen könnte: Die deutsch-österreichische Doku “Bellaria - So lange wir leben” (2002). Aber was - ausser der eher unterschiedlich bewerteten Nostalgie - haben diese beiden Filme gemeinsam?
Man muss akzeptieren, dass “Nuovo Cinema Paradiso”, mag er auch voller kleiner Fehler stecken und (ich beziehe mich auf die internationale Version, da ich die legendäre längere Fassung nie gesehen habe) die Grenzen zum Kitsch arg touchieren, eine auf seltsame Weise einzigartige filmische Komposition ist (dass es an den schauspielerischen Leistungen nichts auszusetzen gibt, versteht sich von selber), deren durch Bild und Musik hergestellter Magie der kritische Blick manchmal zu widerstehen vermag, manchmal auch nicht. Dies hat sicher damit zu tun, dass wir alle ein Stück von uns in sie hineinprojizieren: Ich fahre etwa gelegentlich mit dem Bus durch eine Ortschaft, deren Blickfang bis vor wenigen Monaten ein heruntergekommenes Kino war (man hat die “Schande” abgerissen und errichtet jetzt dort schon beinahe selbstverständlich eine Bank und ein Versicherungsgebäude). Der Sohn unserer Nachbarin sah in den 60ern in diesem damals sicher stattlichen Kino “Doctor Zhivago” und baute vor lauter Erschütterung einen kleinen Unfall. Hätte ich an dieser Ruine von einem Kino vorbeifahren können, ohne an “Nuovo Cinema Paradiso” zu denken? - Das ist wohl der Stoff, aus dem Märchen gemacht sind - unvollkommen, aber unser Innerstes berührend.
Nächstes Mal wieder mehr zur Sache. Versprochen!
#15
Geschrieben 02. September 2009, 00:24
Schloss des Schreckens
(The Innocents, Grossbritannien 1961)
Regie: Jack Clayton
Darsteller: Deborah Kerr, Michael Redgrave, Pamela Franklin, Martin Stephens, Megs Jenkins
What shall I sing to my lord from my window?
What shall I sing, for my lord will not stay?
What shall I sing, for my lord will not listen?
Where shall I go, for my lord is away?
Whom shall I love when the moon is arisen?
Gone is my lord, and the grave is his prison...
Dieses Gedicht, das der kleine Miles im Rahmen einer Aufführung (die beiden Kinder tragen Kronen und Kostüme) für seine Gouvernante und die Haushälterin aufsagt, hört sich Miss Giddens zu Beginn mit interessiertem Lächeln an; am Schluss lächelt sie nicht mehr, sondern blankes Entsetzen erfüllt ihr Gesicht. Doch es soll noch schlimmer kommen - und es stellt sich die Frage, ob die puritanische Gouvernante jede sich bietende Gelegenheit für die Vollendung einer bloss in ihren Wahnvorstellungen entstehenden Geschichte ausnützt oder ob die manchmal seltsam wirkenden Kinder tatsächlich von zwei verstorbenen Wesen besessen sind. Dies wissen sie und der Zuschauer auch am Ende, das hier an den Anfang des Films verschoben ist und vom hilflosen, zu spät kommenden Satz “All I want to do is save the children, not destroy them” begleitet wird, nicht.
In meiner Kindheit trauten die wenigen Fernsehprogramme ihren Zuschauern “Horrorfilme” noch kaum zu. Man wagte sich bereits mit “Topper” (1937) und “The Canterville Ghost” (1944) in unerforschte Bereiche vor. Dann kam endlich Bela Lugosi als Dracula der 30er, und wir durften uns mit ansehen, wie schwul sich James Whale die Erschaffung der “Bride of Frankenstein” (1935) vorstellte. --- Eines Tages kündigte dann das ZDF die Ausstrahlung eines Films mit dem furchterregenden Titel “Schloss des Schreckens” in der klassischen Reihe “Der phantastische Film” an. Was ich zu sehen bekam, war nicht der erhoffte von ein paar Bluttropfen triefende “Schocker”; aber es war der erste Film, dem es gelang, mir eine schlaflose Nacht zu bescheren. - Warum?
“The Innocents” arbeitet nicht mit ebenso gräulichen wie veralteten Monstern, und er fährt auch nicht, wie der deutsche Titel fälschlicherweise suggeriert, auf der Hammer-Schiene. Er arbeitet vielmehr mit unserem Unbewussten, zeigt uns, wie schwer die Grenze zwischen dem, was wir scheinbar mit unserer Vernunft wahrnehmen und dem “Wahn” festzulegen ist. Er hinterfragt unsere Identität, lässt uns erkennen, dass wir selber nicht mehr in der Lage sein können, das Gesehene und Erlebte einer “Wirklichkeit” zuzuordnen. So etwas fährt ein - sogar in die Seele eines Kindes.
Die Zeit um 1900 war eine Zeit der Reisen nach Innen und Aussen.: Freud und andere erforschten die Tiefen der Seele (die berühmte, 1899 erschienene “Traumdeutung” wurde bewusst auf 1900 vordatiert, um der “Moderne” ein rundes Datum zu geben), der Drang, neue Gebiete der Welt zu entdecken, veranlasste aber auch die intensive Erforschung etwa des afrikanischen Kontinents. Wer solche “Entdeckungsreisen” literarisch aufarbeitete, kam grundsätzlich ohne die überwunden geglaubte Kategorie des Unheimlichen nicht aus. Dies betrifft die dem Inneren nachgehenden Short Stories von Henry James (etwa “The Real Thing” und “The Jolly Corner”), es betrifft - meine ehemaligen Englisch-Professoren mögen mich dafür umbringen! - aber auch die Abenteuergeschichten von Joseph Conrad (“Heart of Darkness” ist letztlich eine “Gothic Tale”, und Coppola wusste, weshalb er Marlon Brando in seiner Adaption “Apocalypse Now”, 1979, stets wie ein Gespenst im Dunklen zeigte). --- Man erkannte in jener Zeit: Das Unheimliche lässt sich nicht einfach auf frühere Epochen (hier: von der Romantik bis zum späten Viktorianismus) abschieben; es gehört zum Menschen, ist “modern”. Und jetzt ging es darum, dem Wesen dieses Menschen, der das Unheimliche wahrnahm (man denke etwa an die zahlreichen Sagen, die vor allem aus ländlichen Gebieten überliefert sind!) auf die Spur zu kommen.
Henry James (1843-1916), amerikanischer Wahl-Londoner, beschäftigte sich in seinem Werk nahezu obsessiv mit dem Gegensatz Unschuld (die er den Amerikanern zuordnete) und Dekadenz ( für sie standen die kultivierten, aber bis ins Mark hinein verdorbenen Europäer). Die Thematik wird in Romanen wie “The Portrait of a Lady” und der Erzählung “Daisy Miller” besonders intensiv ausgelotet; aber auch die berühmte Long Short Story “The Turn of the Screw”, die Jack Clayton indirekt als Vorlage diente (“The Innocents” soll die Verfilmung einer dramatisierten Version sein, was einige Abweichungen erklären würde; sie gibt den Geist, der das ursprüngliche Werk durchdringt, jedoch exakt wieder), beschäftigt sich auf besonders perfide und erhellende Weise mit der Verdorbenheit des “kultivierten” Europäers. Denn es geht in letzter Instanz um nichts anderes als das Unausgesprochene (hier das unausgesprochen bleiben müssende Sexuelle), das der Auslöser all jener Dinge ist, die sich in Wirklichkeit oder nur im Gehirn einer hysterischen Gouvernante abspielen mögen. James macht sich dabei eine Vorliebe der amerikanischen Short Story zunutze: den Einbezug des Übernatürlichen (es scheint, als habe sich die Gattung für diesen Bereich von Washington Irving, über Hawthorne und Poe, bis hin zu Melvilles “Bartleby, the Scrivener” als besonders geeignet erwiesen).
Die Pfarrerstochter Miss Giddens nimmt Mitte des 19. Jahrhunderts ihre erste Stelle als Gouvernante auf dem Landsitz Bly an, wo sie sich um die beiden Waisenkinder Flora und Miles kümmern soll. Deren Onkel, der Miss Giddens einstellt, erwartet bloss, nie mit eventuell auftauchenden Problemen belästigt zu werden (die in der Erzählung wichtige Verliebtheit der Jungfer in ihn kommt im Film nicht dezidiert zum Ausdruck, ihr “hypnotisierter” Blick hat eher mit seiner Überredungskunst zu tun, mit der er ihr weismachen will, sie sei für die Stelle geeignet). Das schlossähnliche Anwesen erweist sich als sommerliche Idylle, die die neue Gouvernante dazu verführt, bereits bei ihrer Ankunft zu Fuss den Weiher mit den Seerosen entlangzuspazieren. Auch Flora und der unerwartet früh eintreffende Miles (er wurde aus unerklärlichen Gründen von der Schule verwiesen) geben sich als Engel, allerdings als Engel mit dem Hang, gelegentlich auch eine andere Seite zu zeigen (um für Abwechslung zu sorgen?). - Doch schon nach kurzer Zeit macht die offensichtlich überforderte Miss Giddens (sie vermag etwa auf einen Kuss, den ihr Miles auf den Mund drückt, nicht adäquat zu reagieren) eigenartige Erfahrungen. Ein Mann scheint auf dem Turm zu stehen und wieder zu verschwinden, eine weinende Frauengestalt taucht immer wieder auf - und seltsame Geräusche bewegen die verängstigte Frau dazu, nachts mit ihrem fünfarmigen Kerzenleuchter das riesige Anwesen zu durchsuchen. Sie ringt der Haushälterin, Mrs. Grose, nach und nach die Details einer schaurigen Vorgeschichte ab: Die frühere Gouvernante der Kinder hatte sich mit dem groben Verwalter Quint in eine Affäre eingelassen, die von den Kindern offen verfolgt werden konnte. Was sich sündig entfaltete, endete im Tod. - Bald nimmt Miss Giddens Quint nicht nur leibhaftig wahr, sondern ist überzeugt, die beiden Toten seien zurückgekehrt, um Besitz von den Kindern zu ergreifen. Ihr Wunsch, die Kinder zu “beschützen”, führt zu Massnahmen, deren Druck die beiden nicht gewachsen sind...
Henry James vermittelt seine Erzählung über komplizierte Umwege: Der Erzähler gibt eine Geschichte wieder, die ein anderer Erzähler am Kamin eines Landhauses vorlas. Es handelte sich dabei um die in der Ich-Form erzählte Geschichte einer namenlosen (!) Gouvernante, die der zweite Erzähler als vertrauenswürdig bezeichnete. Mit anderen Worten: Der Leser, der der höchst bedeutungsschwangeren und viele Interpretationen ermöglichenden Geschichte folgen will, weiss auch am Ende nicht, woran er ist (postmoderne Kritiker betonen zu Recht die Vieldeutigkeit von “The Turn of the Screw”), wenn auch viele Stellen die Versuchung aufkommen lassen, die Gouvernante als neurotisches Wesen zu betrachten, dessen unterdrückte (und durch die bruchstückhaften Informationen über ihre Vorgängerin und Quint erst recht geweckte) Sexualität es in eine Unheil bringende Hysterie führt. - Der Film scheint ganz offensichtlich diese realistische Sichtweise, die Miss Giddens zur kranken, zunehmend den Verstand verlierenden Frau macht, zu bevorzugen, weshalb ich “The Innocents” letztlich nicht in die “Haunted House”-Tradition einzureihen vermag. Zwar sehen wir (als einzige!) die unheimlichen Erscheinungen; aber wir nehmen sie wie alles durch die Augen der Gouvernante wahr. Selbst die zum Teil eigenartig hypnotischen Zustände der Kinder, auch die aufkeimende Sexualität von Miles, werden uns durch das Empfinden von Miss Giddens vermittelt. Es fällt zudem auf, dass sie “konkretere” Erscheinungen (die weinende Vorgängerin am Pult etc.) erst wahrnimmt, wenn sie der zunehmend zu ihr auf Distanz gehenden Mrs. Grose wieder einen Teil der “wahren” Geschichte entlockt hat. Dann beginnen jene schlaflosen Nächte, die doch von Träumen begleitet werden und im von Geräuschen begleiteten Umherwandeln auf Bly enden. - Als sie dann der Haushälterin vor der Kirche ihre zusammengeschusterte Geschichte von den besessenen Kindern erzählt hat, wird sie selber zum eigentlichen Gespenst von Bly und sieht alles so, wie sie es wahrnehmen will. Sie bemerkt nicht, womit das zunehmend eigenartige Benehmen der Kinder zu tun haben könnte: der Unfähigkeit, die schrecklichen Erlebnisse der Vergangenheit ohne Unterstützung zu verarbeiten. Und am Ende (respektive am Anfang) das verzweifelte Gesicht einer ausgebrannten Frau, die ihre Hände betend zusammenhält. Wer je diese letzte Einstellung vergisst, die eine an aller “Realität” verzweifelnden Frau zeigt, hat kein Gefühl für das, was der Film als Kunstwerk vermag.
“The Innocents” beginnt, was vielleicht noch besonders erwähnenswert ist, mit einer Art “Präludium”. Man hört noch im Dunklen eine Kinderstimme, die ein Lied singt, das im Film beinahe symbolisch aufzeigt, wie Miss Giddens alles nach ihrem Gutdünken interpretiert (es handelt sich um eine Melodie, die sie beim Öffnen einer Spieldose wieder erkennt und bald mit den “Geistern” - als würde sie die Kinder mit ihnen verbinden - in Zusammenhang bringt.
Nicht nur die Schatten und Licht in eindrucksvollen Schwarzweiss-Bildern beherrschende Fotografie, auch die - psychedelische - Musik und die schauspielerischen Leistungen (inklusive die der Kinder) sind grandios. Manche Liebhaber behaupten, die so oft für billige Melodramen missbrauchte Deborah Kerr (“An Affair to Remember”, 1957) habe in Miss Giddens die Rolle ihres Lebens gefunden (ich bin mir nicht ganz sicher, weil ich sehnsüchtig auf das Erscheinen der DVD von “The Sundowners”, 1960, warte). - “The Innocents” ist noch heute ein Ereignis, betrachte man ihn nun als Horrorfilm oder als Studie einer kultivert-dekadenten Frau, die lieber Gespenster sieht, als dass sie das Unausgesprochene aussprechen würde (was sie am Ende stattdessen vom kleinen, überforderten Miles verlangt). --- Leider wurden solche subtilen “Horror”-Filme, die uns im Innersten treffen, mehr und mehr zur Rarität. Man zog es vor, auf der Schiene der Hammer-Productions immer blutiger weiterzufahren und landete letztlich bei DEN Splatter-Movies, in denen Tarantino (in Anspielung auf seine Bemerkung über Eli Roth) die Zukunft des Films sieht. Nur noch wenige Regisseure gingen erfolgreich das Risiko ein, ihren Zuschauern vorzuführen, was uns wirklich das Fürchten lehrt: die Erkenntnis, dass wir der Scheinbarkeit allen Seins wehrlos ausgeliefert sind. Weshalb es gerade unter den Spaniern solche Regisseure hat, vermag ich nicht zu sagen; aber Amenábar lieferte mit “The Others” (2001) ein Werk, das - wenn auch “The Innocents” nicht ebenbürtig - in dieser Tradition steht.
Ich bin wieder einmal ziemlich auf der literarischen Vorlage herumgeritten, was man eigentlich nicht tun sollte, da ein Film seine Wirkung selber entfalten muss. In diesem Fall lohnt sich die Kenntnis der Erzählung von Henry James jedoch ausnahmsweise. Sie lässt Clayton’s Film nicht schlechter davonkommen, sondern ergänzt vielmehr unsere Wahrnehmung, zeigt etwa, dass sich auch jene den Aberglauben schürende Atmosphäre, die Bly durchdringt, nicht verleugnen lässt. Der Leser weiss nach dieser Reise ins Innere einer seltsamen Frau nicht, was er nun tatsächlich für real halten soll. - Hätte ich die Alma Mater je als Ordinarius für Englische Literatur der Neuzeit betreten, wären meine Studenten bestimmt in den Genuss einer Vorlesung über “Late Victorian and Early Modernist Gothic” gekommen. Leider reichte es mir nicht einmal zum ordentlichen Wohnungsreiniger...
Ich werde mich - dies als Warnung an pasheko und seine Monster vom Hotel Meinster - bei Gelegenheit wohl noch einer Horror-Gestalt des späten Viktorianismus (Dracula) annehmen. Anschliessend tapple ich vorläufig nicht mehr ungelenk in ihrem Fachbereich herum.
Bearbeitet von Zodiac, 02. September 2009, 00:26.
#16
Geschrieben 06. September 2009, 23:16
Der letzte Coiffeur vor der Wettsteinbrücke
(Der letzte Coiffeur vor der Wettsteinbrücke, Schweiz 2003)
Regie: Jacqueline Falk/Christian Jamin
Darsteller: Charly Hottiger
In den 70er Jahren waren die Institute der Uni Basel noch über die ganze Stadt verteilt, und das Deutsche Seminar hatte sich in regelrechten Büroräumen in der Clarastrasse im Kleinbasel eingenistet. Man nannte diesen nördlich des Rheins gelegenen Teil der Stadt auch das “mindere” (= weniger bedeutende) Basel, weil er traditionell mit der Arbeiterschaft in Verbindung gebracht wurde und nicht über noble Gegenden wie das St. Alban-Quartier verfügte. Gerade diese Eigenart des “Minderen” brachte jedoch Gestalten hervor, die durch ihre spezielle Liebenswürdigkeit zu Stadtoriginalen wurden und von denen es noch heute ein paar seltene Exemplare gibt (ich erkenne sie etwa daran, dass sie mich, wie der Besitzer eines kleinen Cafés in der Utengasse, schon bei der zweiten Begegnung mit “Du” anreden).
Wenn ich keine Lust hatte, mit dem Tram (= Strassenbahn) durch die ganze Innenstadt zu fahren, um vom Deutschen Seminar zum Bahnhof zu gelangen, ging ich oft zu Fuss zum Wettsteinplatz, von wo aus mich der 2er zügig an jenen Ort brachte, dessen Existenz ich, ein heimlicher Basler, manchmal gerne verleugnet hätte. Mein Weg führte mich beinahe unweigerlich durch die Rebgasse, die nicht nur mit der Buchhandlung “Haus der Bibel” und zwei Schwulenlokalen aufwarten konnte, sondern auch der Ort zu sein schien, den sich sämtliche Friseure der Stadt als Bleibe ausgesucht hatten. Man stolpert noch heute durch eine direkt unanständige Ansammlung von Coiffeur-Geschäften, und ein gelegentlicher Blick ins Innere verrät, dass sie so leer sind wie damals. - Beinahe am oberen Ende der Rebgasse steht ein heruntergekommenes Gebäude, hinter dessen Schaufenster sich offensichtlich kein Geschäft mehr befindet, das aber lange Zeit mit einem auffällig-unauffällig angebrachten Schildchen auf Sinn und Zweck seines Daseins aufmerksam machte: “Der letzte Coiffeur vor der Wettsteinbrücke”.
Ich wusste nie, was es mit dem “letzten Coiffeur” auf sich hatte (Basler Studienkollegen zuckten mit den Schultern und murmelten etwas von einem “Original”) oder was sich hinter dem Schaufenster abspielte, wäre wohl auch nicht auf die Idee gekommen, das schäbig wirkende Geschäft zu betreten. Der nur etwa 60 Minuten lange Dokumentarfilm von Jacqueline Falk und Christian Jamin zeigte mir, was ich verpasst habe...
Der über 80-jährige Charly Hottiger galt lange Zeit als einer der dienstältesten Friseure der Schweiz. Man nannte ihn früher in Basel den “Kischtli”-Coiffeur, weil in den 50er und 60er Jahren die Kinder des nahe gelegenen Waisenhauses (“Kischtli”) zum Haare schneiden zu ihm geschickt wurden. Und dieser Mann scheint über eine besondere Gabe verfügt zu haben; denn noch nach Jahrzehnten suchten “Ehemalige” sein kleines Geschäft auf und sogen dessen einzigartigen Charme in sich auf! - Jacqueline Kiss, die schon lange einen Film über das Quartier hatte drehen wollen, sagt, ihr Vater habe sie auf die Idee gebracht, den Coiffeur, bei dem auch sie als Kind sich die Haare schneiden liess, zum Mittelpunkt einer Doku zu machen, die in bester deutschschweizerischer Tradition steht (Dokumentationsfilme können kostengünstiger hergestellt werden als Spielfilme, und wir haben diesen Umstand zu unserem Vorteil ausgenutzt!).
Charly’s Geschäft war mehr als ein Coiffeursalon, er war vielmehr für Freunde, Nachbarn und alte Kunden ein Ort der Begegnung, ein zweites Zuhause: Man redete zusammen, schaute fern, trank einen Kaffee oder einen Grappa - und fühlte sich auch im tiefsten Winter (der Film wurde im Februar gedreht) nicht einsam! Charly, der trotz seines Alters von Mittwoch bis Samstag oft ohne Mittagspause arbeitete, um seine kleine Rente aufzubessern (er hatte nie zu den “Wohlhabenden” gehört), wusste, wie man als Coiffeur mit Leuten umgeht. Man darf nicht den tollen Kerl raushängen lassen, sondern muss ihnen das bieten, was ein guter Entertainer bietet: die richtige Bemerkung zur rechten Zeit, die - gelegentlich grobe - Freundlichkeit, die einer Identifikationsfigur mit Vorbildcharakter aus dem “minderen” Basel wohl ansteht, Wärme. Man muss ihnen aber auch zuhören, sie erzählen lassen können. Und so erleben wir ihn, wenn er etwa vom Telefon kommt und einem Kunden sagt, seine Frau habe angerufen, er müsse heimgehen. Der Kunde erwidert etwas unwirsch: “Was will sie denn wieder?” Worauf Charly meint, sie warte wohl schon nackt im Schlafzimmer auf ihn. Altmodisch, aber von einem Charme, der dem Zuschauer die Tränen in die Augen treibt, wirkt es, wenn er von seiner verstorbenen Frau erzählt und sie spassig als “alten Drachen” bezeichnet oder mit seiner ältesten Kundin, Luki, flirtet, die er an Weihnachten zum Essen ausführt und die ihm im Gegenzug gelegentlich etwas zum Essen vorbeibringt. Und wir erleben den alten, vor Leben strotzenden Mann beim Schneeschaufeln vor seinem Laden.
Auch im Umgang mit dem Filmteam erweist sich Charly als Mensch, der “die Würde und Weisheit eines Mannes ausstrahlt, der das Leben versteht” (Christian Jamin): Er erzählt offen von seiner nicht besonders glücklichen Kindheit (ihm fehlten Liebe und Wärme!), seinen Lehrjahren, der sportlichen Tätigkeit (er war Langläufer, Fussballer und Radfahrer). Wir erleben ihn - vielleicht ein wenig anders, als Bonvivant - während seiner Skiferien in den Alpen; er erlernte mit 75 das Alpinskifahren und bildet sich etwas darauf ein. Die Interviewpartner sind - und das ist eine der grossen Qualitäten dieses Dokumentarfilms, der uns von einer Vergangenheit erzählt, die für viele Menschen auf wundersame Weise in die Gegenwart hineinreichte - einfach da, hören dem grossen Mann, der manchmal in die Rolle des Conférenciers schlüpft, sie aber auch abzulegen vermag, zu und stellen ihre Fragen zurückhaltend.
“Der letzte Coiffeur vor der Wettsteinbrücke” ist ein Basler Film, ein Film über ein Basler Original - und er begegnet Charly Hottiger mit der Herzenswärme, die er seinen Kunden schenkte. Dies und die feinfühlige Inszenierung machen ihn weit über Basel hinaus zum sehenswerten Ereignis; denn er erzählt von jener manchmal, wenn auch selten Wirklichkeit werdenden Gemeinschaft ausserhalb der Familie, von der wir wohl alle gelegentlich träumen.
Ende 2008 musste das Geschäft von Charly Hottiger geschlossen werden; der Besitzer hat andere Pläne mit der Liegenschaft.
Dällebach Kari
(Dällebach Kari, Schweiz 1970)
Regie: Kurt Früh
Darsteller: Walo Lüönd, Lukas Ammann, Anemarie Düringer, Ellen Widmann, Hans Gaugler, Erwin Kohlund u.a.
Auch der 1970 entstandene Spielfilm “Dällebach Kari” erzählt von einem Friseur, der zu einem Stadt-Original wurde - und der einfühlsame Leser wird vielleicht nachvollziehen können, warum ich dieses Mal den neueren Film zuerst ansprach und die Variante “per astra ad aspera” wählte.
“Dällebach Kari” gilt weit über die Stadt Bern hinaus als der Possenreisser und Witzeerzähler, um den sich Legenden ranken, neue Witze bilden und von dem viele letztlich wohl gar nicht wissen, ob er, der Coiffeur mit der Hasenscharte, je existiert hat. Jede Stadt dürfte solche Figuren haben, denen bessere oder schlechtere Witze zugesprochen und -gedichtet wurden und die zugleich unter einer körperlichen Auffälligkeit, die zum sie kennzeichnenden “Makel” erhoben wurde, litten (im Moment fallen mir dank einer Suchmaschine gerade der Mannheimer Blumenpeter oder der Aachener Lennet Kann ein). - Kurt Früh, der lange Zeit eher behäbige, das Bürgerliche feiernde Schweizer Filme wie “Polizist Wäckerli“ (1955) oder “Bäckerei Zürrer” (1957) gedreht hatte, nahm sich der Figur an, unter dem Einfluss des “neuen Schweizer Films” aber auf eine Weise, die den Zuschauer im Innersten zu treffen vermag, sozusagen durch Mark und Bein geht. Denn bei ihm wird “Dällebach Kari” zum an sich und seiner Umgebung leidenden Neurotiker, den das biedere Bern, das hier als beinahe schaurige Kulisse dient, sehr wohl duldet, so lange er sich an seine Rolle als Hofnarr hält, von dem, dem zunehmend dem Alkohol Verfallenden, man aber nicht hören will, dass er bald sterben werde. Und so nimmt man weder seine unglückliche Liebe noch seine Krebserkrankung zur Kenntnis; sogar als er, der sich aus Verzweiflung das Leben nahm, nach zehn Tagen aus der Aare gefischt wurde, sagt einer jener fetten Bürger, der im öffentlichen Aushang die Zeitung liest: “Dällebach Kari und zehn Tage lang Wasser saufen? Wenn das nicht ein Witz ist!”
Kurt Früh gibt in seinem episodenhaft-balladenartigen Film (der Aufbau erinnert beinahe ein wenig an Arthur Penn’s “Bonnie and Clyde”, 1967) durchaus einige der berühmten Dällebach-Sprüche und -witze (etwa wie er einem Nationalrat nur die eine Hälfte der Haare schneidet, weil er aus einem "halben" Kanton komme) zum Besten; aber sie wirken bewusst schal, unbedeutend und mit Traurigkeit erfüllt, wenn man in der nächsten Szene den völlig besoffenen Coiffeur durch die Gegend schwanken oder vom Tod reden hört. Auf diese Weise werden dem “Original” all jene volkstümelnden Eigenschaften entzogen, die es zu einer witzigen Figur machen wollen. Und auf diese Intention bereitet uns bereits der Beginn des Films, der nicht zu Unrecht als einer der besten Schweizer Filme überhaupt betrachtet wird, vor: Wir sehen die nächtliche Brücke, die Kari den Sprung in die Erlösung ermöglicht hat und hören in einer Ballade des berühmten, jung verstorbenen Berner Troubadours Mani Matter (1936 - 1972), der in der Schweiz selber zur Legende wurde, worauf wir uns gefasst machen müssen - nämlich auf eine abseits vom gewohnten Heimatkitsch liegende Geschichte. - Dann entdecken zwei Polizisten den Abschiedsbrief des Coiffeurs mit dem Wunsch, man möge sich beim Leichenmahl der Gemütlichkeit und dem Humor hingeben, zum Abschluss aber sein Lieblingslied “Wie die Blümlein leise zittern” singen; und schon sieht man die Trauergemeinde (darunter etwa Lukas Ammann, der in Deutschland durch die Serie “Graf Yoster gibt sich die Ehre” bekant wurde) beim Fressen und der “Wisst ihr noch?”-Legendenbildung. - Dass uns die Figur des “Dällebach Kari” derart ergreift, ist in erster Linie das Verdienst des grandiosen Walo Lüönd, auf den ich in meinem Eintrag zu Wolfgang Petersens “Die Konsequenz” bereits zu sprechen kam. Er, der in Deutschland leider kaum bekannte Meister des Einfühlens in eine Figur, fand als an seiner Existenz verzweifelnder und unverstandener “Kari” die Rolle seines Lebens und wird sogar von amerikanischen Filmkennern als Oscar-würdig erachtet. - Leider wird der Film ausserhalb der Schweiz immer ein Geheimtipp bleiben.
Der Coiffeurmeister Karl Tellenbach (1877 - 1931) lebte übrigens wirklich. Sein Coiffeurgeschäft in der Berner Neuengasse wurde zum Treffpunkt für alle, die sich über den Mann mit der Hasenscharte und der nasalen Sprechweise lustig machen, aber auch seine schlagfertigen Sprüche geniessen wollten. Nach zwei erfolglosen Krebs-Operationen nahm er sich das Leben, indem er von der Berner Kornhausbrücke sprang. Tellenbachs Nichte empfand Kurt Frühs Film als Ärgernis, weil einige Details nicht korrekt wiedergegeben wurden und sie sich an der Zeichnung ihres Onkels als Säufer störte. - Man sollte den Film jedoch weniger als “Biopic” denn als eine Art Mahnmal betrachten: Er zeigt uns, was eine in sich kranke bürgerliche Gesellschaft aus einem letztlich verfemten Aussenseiter macht, der sie doch eine Zeitlang zum Lachen brachte: Ein Original!
Die DVD ist mit Untertiteln für Gehörlose und Leute, die des Berndeutschen nicht mächtig sind, ausgestattet. Ich will hier wirklich nicht für die Filmindustrie meines Landes Werbung machen - aber: “Dällebach Kari” sollte man gesehen haben!
**********
Eine eigenartige Sache: Zwei Schweizer Städte mit zwei Stadtoriginalen, über die die Menschen wohl noch lange, wenn auch unterschiedlich, sprechen werden - und beide waren sie Friseure! Da wird dem Schreiberling (ich wollte ursprünglich über zwei ganz andere Filme schreiben; aber ein brennender Dornbusch im Zimmer rief mir zu: “Zodiac! Friseure!”) plötzlich bewusst, welch wichtige Rolle der Figur des Friseurs in der Filmgeschichte überhaupt zukommt. Ich hielt sie bis jetzt immer für eine jener tuckigen Nebenfiguren, die in den prüden Hollywood-Komödien bis in die 60er Jahre hinein gerade noch durchgingen. Tatsächlich gibt es wohl derart viele Filme, in deren Mittelpunkt ein Friseur (in unterschiedlichen Funktionen!) steht, dass man beinahe eine Arbeit darüber schreiben könnte. - Ich erwähne bloss ein paar aus dem Ärmel geschüttelte Stücke und lasse “You Don’t Mess With the Zohan” (2008) mal aussen vor: “The Great Dictator” (1940), “Blanc” (1994) von Kieslowski, “The Big Tease” (1999), “Chain of Fools” (2000), “The Man Who Wasn’t There” (2001), “Blow Dry” (2001). - Könnte man da nicht direkt in Versuchung geraten, die Liste zu erweitern und ihrer Bedeutung nachzugehen?
Zum Schluss noch etwas in eigener Sache: Ich war bis jetzt ein fleissiger Tagebuch-Schreiber, der alle vier, fünf Tage ein Ei in die “filmoren.de” legte, dessen “Grösse” den Schliessmuskel beinahe überstrapazierte. Dies wird sich vermutlich für den Rest des Monats ändern, da sich meine Termine auf eine Weise zu häufen beginnen, von der Brad Pitt nicht zu träumen wagt. Ich werde selten genug dazu kommen, mir einen Film anzusehen; noch seltener werde ich die Zeit für unmassgebliche Betrachtungen im Tagebuch aufbringen. - Aber seid gewarnt: Ich gedenke nicht zur Eintagsfliege zu werden und bemühe mich, so oft wie möglich einen Eintrag reinzuschmeissen. - Im Oktober sollte sich das Leben ohnehin wieder normalisieren. - That’s all. Folks!
#17
Geschrieben 13. September 2009, 01:37
Das Haus am Meer
(Life As a House, USA 2001)
Regie: Irwin Winkler
Darsteller: Kevin Kline, Kristin Scott Thomas, Hayden Christensen, Jena Malone, Mary Steenburgen, Mike Weinberg, Scotty Leavenworth
“Life As a House” lebt, wie schon der Titel verkündet, von einer Metapher, die leider etwas überstrapaziert wird und deren herzige “Begründung“ am Ende zumindest ein europäisches Publikum nicht so recht befriedigen dürfte: George Monroe lebt in einer alten, verlotterten Hütte am Meer, die den reichen Nachbarn schon lange ein Dorn im Auge ist. Sie entspricht jedoch seinem kaputten Leben; denn die Ehe des Versagers wurde nicht nur vor zehn Jahren geschieden, auch sein Sohn Sam, ein drogensüchtiger (mein Gott, er kifft!) Marilyn Manson-Verschnitt, ist ihm längst entfremdet. Nun erfährt George, der als altmodischer Modellbauer von Häusern in einem Architekturbüro noch widerwillig geduldet wurde, nicht nur, dass man ihn nicht mehr braucht (er läuft kurz Amok und verwüstet alle Modelle, die er in zwanzig Jahren gebaut hat) - nein, man teilt ihm nach einem Zusammenbruch im Spital auch noch mit, dass er Krebs im Endstadium (um welche Art von Krebs es sich handelt, verschweigt man dem offenbar nicht wissbegierigen Publikum) hat. Höchste Zeit für George, sein kaputtes Leben samt seiner kaputten Hütte abzureissen und noch ein neues Haus, von dem er immer geschwärmt hat, zu bauen, sprich: aus den Trümmern seines Lebens etwas zu machen. - George verlangt von seiner Ex-Frau Robin, sie solle ihm den gemeinsamen Sohn für den Rest des Sommers überlassen, damit er den Lümmel, der für seinen Dealer-Kollegen sogar den Stricher (mit einem Mann, oh Graus!) machen soll, zur Mithilfe beim Hausbau überreden und ihm gleichzeitig Manieren beibringen (sprich: die amerikanischen Werte vermitteln) kann. Nach und nach eilt die Nachbarschaft herbei, um den beiden Männern ihre Hilfe anzubieten, was Sam zu einer anständigen Dusche verhilft und diverse Beischlafszenen (sowohl Mutti als auch Tochter geben sich ihm gerne hin) mit sich bringt. Aber auch Robin kommt mit Lunchpaketen für die beiden sich immer mehr amerikanischen Vorzeigemännern angleichenden Arbeiter vorbei, wobei sie sich ihrem Ex-Mann unerwartet wieder annähert. Am Ende stirbt George, der seine Krankheit noch offenbart hat, termingerecht nach vier Monaten; das Haus, dessen Bau er zuvor in Angriff nahm, ist jedoch beinahe fertig gestellt, und aus einer Horde unglücklicher Menschen wurde ein sinnvolles Ganzes, nämlich eine zufriedene Arbeitsgemeinschaft wie sie sich die Upper Class wünscht. Und wir erkennen bewegt: Das Leben ist ein Haus!
“Life As a House” will sich offensichtlich in jene Tradition von gehobenen Soap-Operas einreihen, als deren berühmtestes Beispiel “Terms of Endearment” (1983) gilt, dessen Hauptdarsteller sich geschlossen gegen die Angriffe europäischer Kritiker (seichter, banaler Film) zur Wehr setzen mussten - was zeigt, dass solche Filme vor allem ein amerikanisches Publikum bedienen wollen. Während die Oscar-prämierte Mutter-Tochter-Geschichte jedoch wenigstens mit einer halbwegs nachvollziehbaren Handlung inklusive Tränengarantie aufwarten konnte, bietet Winkler nur eine in eine Metapher verpackte reaktionäre Botschaft, die sich zwei endlose Stunden lang über uns ergiesst, ohne das geringste Interesse für die Charaktere und deren Innenleben aufzubringen (ich habe mir den Film vor dem Eintrag extra noch einmal angesehen und könnte den “Handlungsablauf“ nicht mehr rekonstruieren). Entsprechend schwer fällt es, die schauspielerischen Leistungen zu bewerten; denn es sind letztlich alles sich in glückliche Zombies verwandelnde Typen, die den hervorragend spielenden Kevin Kline, der für Bubis Seelenheil sogar einen Sprung von der Klippe in Kauf nimmt, umkreisen - die Ex-Frau, die erschöpft und in ihrer zweiten Ehe unglücklich das Gesicht mit den Händen bedeckt, die stets gutgelaunte und hilfsbereite Nachbarin samt für Bubi wie gemachter hübscher Tochter, der drogensüchtige Eigenbrötler... - Ich könnte Kristin Scott Thomas oder Hayden Christensen weder kritisieren noch loben; sie langweilen einfach, ohne daran die geringste Schuld zu haben. - Da bleibt letztlich nur die wunderschöne Photographie, die die Ansammlung von Sinnlosigkeit in einen Rausch von Hochglanzbildern verpacken soll. Schon der Beginn ist tiefgründig: Die Kamera zeigt uns die Küste, fährt den Villen entlang und landet beim Schandfleck, der Hütte von George, die - man ahnt es kaum - noch durch ein Haus ersetzt wird. Was folgt, sind in der Sonne glitzernde Gegenstände und arbeitsame Menschen, die sich traumtänzerisch auf den Dachbalken bewegen - und hochromantische Sonnenuntergänge en masse (die Bevölkerung scheint in den Genuss eines 5 Stunden -Tags zu kommen); sie ermöglichen dem todkranken George sogar noch den Anflug eines Tangos, bei dem Robin ihr Beinchen malerisch anwinkelt.
Und hier setzt meine eigentliche, einem Ärgernis entspringende Kritik ein, die vielleicht auch erklärt, weshalb ich die Thematisierung des Problems “Krebs“ im Film ins Lächerliche ziehe: Wer je einen Menschen gesehen hat, der sich - sei es mit Chemotherapie oder Morphium - im Endstadium einer Krebserkrankung befand, weiss, dass all die Energie, die George aufbringt, der von grösstem Lebenswillen zeugende Arbeitseinsatz jemandem, dessen Körper zunehmend schwächer wird, gar nicht möglich sind. Im Gegenteil: Welcher Körperteil selbst eines Filmhelden, der noch vier Monate zu leben hat, auch immer betroffen sein mag (wir erfahren es ja nicht einmal, was schon von einer unsäglichen Gleichgültigkeit der Drehbuchautoren zeugt) - ihn als munter an seinem Häusle (auch metaphorisch) bauenden Kerl zu zeigen, ist ein Affront gegenüber Menschen, die wirklich an Krebs erkrankt sind, an ihrem Dasein leiden und ihre Schmerzen vielleicht nur noch mit Hilfe sedierender Medikamente halbwegs unter Kontrolle halten können! Eine schwere Krankheit wird in den Dienst einer reaktionären Message gestellt: Das ist mehr als ein starkes Stück, es ist ein wahrhaftes Ärgernis - traurig und billig, weil es jede Menschlichkeit vermissen lässt, sie nur vorheuchelt.
Trotzdem kam der Film in den USA an; Hayden Christensen wurde sogar für einen Golden Globe nominiert. Wie also hätte Kevin Kline gar auf das Angebot verzichten sollen, für Winkler als Cole Porter vor der Kamera zu stehen?
De-Lovely - Die Cole Porter Story
(De-Lovely, USA/Grossbritannien 2004)
Regie: Irwin Winkler
Darsteller: Kevin Kline, Ashley Judd, Jonathan Price, Kevin McNally, Sandra Nelson, Allan Corduner u.a.
Zuerst ein Outing: Ich bin ein grosser Fan älterer Musicals im Film und auf der Bühne, und ich schätze Cole Porter nicht zuletzt deshalb, weil er seiner Musik einzigarte, oft rotzfreche, aber auch zärtliche Liedtexte zu unterlegen vermochte. Diese Fähigkeit verdankte er einer Zeit, in der das Motto “Anything Goes” mit einer Bedeutung erfüllt war, die in einer Musical-Verfilmung oder gar in einem Biopic deutlich zum Ausdruck kommen müsste... - Leider erwies sich das moralinsaure Hollywood als unfähig, diese Aufgabe auch nur annähernd zu bewältigen: Filme wie “Kiss Me, Kate” (1948) oder “High Society” (1955) kommen viel zu bieder daher; das von Michael Curtiz gedrehte Biopic “Night and Day” (1946) mit Cary Grant muss eine derart überzuckerte und verlogene Schnulze sein, dass mir ein paar Ausschnitte reichten. - Im Jahre 2004 hätte man eine dem Leben des grossen Komponisten angemessene Verfilmung, die das Schrille, Abgründige jener Zeit, in der der von inneren Dämonen gequälte Komponist seine grossen Erfolge feierte, nicht bloss andeutungsweise (Dekor und Kostüme) vermittelt wird, erwarten dürfen; freilich nicht unter der Regie von Irwin Winkler!
“De-Lovely” bettet die Geschichte von Cole Porter in eine bereits vielsagende Rahmenhandlung ein: Der dem Tode nahe Komponist darf seine wichtigsten Stationen (Paris, Venedig, New York, Hollywood) noch einmal in Form einer Nummernrevue an sich vorüberziehen lassen - Regisseur ist Gabe (der Erzengel!). Und wir erleben mit ihm noch einmal in schwelgerisch-farbenfroh arrangierte Bilder (das himmlische Personal hat weder Kosten noch Mühen gescheut!) eingebettete Höhepunkte aus dem wiederum zurechtgerückten Leben eines Genies, die mit den wunderschönen, leider oft von bedeutungslosen Dialogen begleiteten Songs (sie werden z.T. von zeitgenössischen Künstlern wie Robbie Williams, Alanis Morissette, Sheryl Crowe und Natalie Cole interpretiert) des Künstlers angereichert sind - und ohne jeglichen Tiefang geradezu langweilig-uninspiriert abgespult werden (selbst das berühmte Duett “Well Did You Evah!” wirkte 1955 von Bill Crosby und Frank Sinatra performt wesentlich frecher, dem Geist von Cole Porter entsprechender, als hier), was den Eindruck erweckt, Winkler habe lediglich eine - allerdings kostspielige - Pflichtübung in Sachen Kitsch absolviert.
Kevin Kline und Ashley Judd spielen ihre Rollen als Ehepaar (genauer: Komponist und Muse) Cole und Linda Porter hervorragend, überzeugen als jugendliche “Let’s Misbehave”- Europäer ebenso wie als langsam alternde und leidend-gehässige Figuren (Cole Porter war nach einem Reitunfall schwer verletzt und musste sich gegen Ende seines Lebens beide Beine amputieren lassen, die Kettenraucherin Linda starb an einer kaputten Lunge); sie wurden entsprechend auch für den Golden Globe nominiert. Die sie umgebenden Figuren, die - wie Monty Woolley, Irving Berlin oder Louis B. Mayer - für Leben und Karriere des Komponisten von grosser Bedeutung waren, wirken hingegen so blass und bedeutungslos wie die vielen Männer, mit denen Cole Porter Sex hatte (Cole war schwul, wenn er hier auch als bisexuell gekennzeichnet und bloss beim Sich-Anziehen nach einer Nacht mit einem russischen Balletttänzer oder beim Kuss im Halbdunkel gezeigt wird - was der reaktionären Tendenz des Films entspricht). - Das Ehepaar scheint sich jedoch nicht viel zu sagen zu haben: Cole betont höchstens alle drei Minuten, er habe den eben gehörten Song bloss für Linda geschrieben. Wie unsagbar billig, einfallslos und verlogen!
Einige Szenen deuten an, was aus “De-Lovely” hätte werden können: Ich denke etwa an die Reaktion Porter’s auf das Aufbegehren eines Schauspielers, er könne das (einen grossen Stimmumfang benötigende) Lied “Night And Day” nicht singen. Der Komponist begibt sich auf die Bühne, zeigt dem sich Beklagenden, wie man sich einfühlt - und dann performt der Junge, der nach der Premiere seinem Lehrer “zur Verfügung” steht, den Song perfekt vor Publikum. Besonders hübsch wirkt auch Cole’s Reaktion auf die Bitte von Louis B. Mayer, für den Film einfache Songs zu schreiben: Er macht ihn zum Song “Be A Clown” zum - Clown! - Andererseits verzichtet Winkler auf eine lineare Abfolge der Songs, was wenigstens die Chronologie der Erfolgsmusicals von “Paris” über “Anything Goes” bis zum nach einem langen Tief unerwarteten Comeback mit “Kiss Me Kate” rekonstruieren liesse. Stattdessen werden - und das empfand ich als grösstes, weil richtig peinlich wirkendes Ärgernis - die Songs so eingebaut, dass sie der Handlung gerade entgegenkommen: Wenn Cole mit Linda im Park spaziert, stösst man "zufällig" auf ein Klavier und trällert “Easy to Love”, wenn er eine Bar mit schwulen Strichern betritt, erklingt passend “Love For Sale” - und kurz vor seinem Tod tröstet ihn der Chor mit “Blow, Gabriel, Blow”(keine Hintergedanken, bitte!). - Dies sind die Momente, in denen man sich fragt, warum man sich anstelle der DVD nicht eine CD mit Cole Porter-Songs gekauft hat...
Die “Komische Oper Berlin” inszenierte 2008 “Kiss Me Kate” auf eine Weise, die dem Perfektionisten Cole Porter vielleicht nicht gefallen hätte, jedoch zeigte, dass man den der Musik zugrunde liegenden Geist heute sehr wohl zu erfassen und dem Publikum zu vermitteln vermag: schrill, ausgelassen, wild, bewusst dekadent eben. Die Bianca umschwärmenden Männer (“Any Dick, Tom, Or Harry”) werden zu glitzernden Cowboys, einer von ihnen zieht sich hinter der Bühne gelegentlich eine Prise Koks rein und der Beginn des zweiten Akts (“Too Darn Hot”) präsentiert herrlich gelangweilt-besoffene Gestalten usw. usw. - Leider war es mir nicht möglich, mir diese heute eines Cole Porters würdige Inszenierung in Berlin anzusehen, und ich musste mich auf eine Aufzeichnung von 3sat verlassen. Sollte sich der Sender gelegentlich zu einer erneuten Ausstrahlung aufraffen: dort kann man sehen, was gezeigt werden müsste, man von einem Vertreter des neuen reaktionären Kinos wie Irwin Winkler jedoch nicht im Traum erwarten darf.
Bearbeitet von Zodiac, 13. September 2009, 01:53.
#18
Geschrieben 16. September 2009, 09:54
(What’s the Matter with Helen?, USA 1971)
Regie: Curtis Harrington
Darsteller: Debbie Reynolds, Shelley Winters, Dennis Weaver, Micheál MacLiammóir, Agnes Moorehead, Helene Winston u.a.
Es erfüllt mich mit Stolz (wobei ich eine gewisse Häme kaum zu unterdrücken vermag), dass ich noch vor sämtlichen Meistern der Monster und anderen Freunden des Hartgesottenen an eine hierzulande leider etwas in Vergessenheit geratene Perle erinnern darf, die ich vor längerer Zeit im TV geniessen konnte und an die mich ausgerechnet youtube wieder erinnerte.
Im Jahre 1934 hält - wie uns die Wochenschau zeigt - nicht nur Präsident Roosevelt eine berühmte Rede; in Iowa werden auch die minderjährigen Söhne der Freundinnen Adelle und Helen wegen eines brutalen Mordes verurteilt. Von nun an wird das Leben der beiden einem Spiessrutenlauf unterworfenen und von anonymen Telefonanrufen gequälten Frauen unerträglich, und Adelle überredet Helen dazu, mit ihr nach Hollywood zu ziehen, wo sie, früher selbst Tänzerin, eine Tanzschule eröffnen und ein neues Leben beginnen will. Schon bald unterrichten die nicht mehr ganz taufrischen Mädels unter den wachsamen Augen ehrgeiziger Mütter zukünftige Shirley Temples, wobei Adelle, die sich mittlerweile in einen Mae West-Klon verwandelt hat, ihre grandiosen Stepkünste zur Schau stellt, während das mütterliche Pummelchen Helen, das sich in der neuen Umgebung offensichtlich nicht wohl fühlt, die Lehrstunden am Klavier begleitet. - Doch während Adelle nichts anderes als ein neues Leben an der Seite eines wohlhabenden Mannes sucht, fühlt sich ihre Freundin von den Geistern der Vergangenheit verfolgt und fürchtet zunehmend jeden Schatten, jede sich öffnende Tür, jeden fremden Menschen. Als die anonymen Telefonanrufe tatsächlich auch am neuen Wohnort wieder einsetzen, sieht sie sich in ihren Vorahnungen bestätigt und entwickelt sich vollends zum zitternden Nervenbündel, das Trost in einer evangelikalen Radiosendung sucht, in der die geldgierige Sister Alma (Agnes Moorehead, die grösste Nebenrollendarstellerin aller Zeiten, darf einen Kurzauftritt hinlegen, der es in sich hat!) die Worte des Herrn verkündet. Diese nützen allerdings nicht viel; denn die unheimlichen Ereignisse setzen sich fort und entwickeln sich - gelinde gesagt - zunehmend blutiger. Da fragt sich nicht nur Adelle: “Was ist denn bloss mit Helen los?”.
Der fiese kleine Thriller setzt ganz offensichtlich eine mehr oder weniger von Robert Aldrich (“What Ever Happened To Baby Jane?”, 1962) begründete Tradition fort und macht aus langsam alternden Schauspielerinnen --- Ghouls! Dabei stehen Shelley Winters als hysterisches Psychowrack und Debbie Reynolds als sich künstlich verjüngendes Lebeweibchen (man fragt sich nicht nur, welche der beiden Damen wohl der grössere Ghoul ist, sondern auch, ob sich Debbie auf ihre auch im Leben gespielte Rolle - sie gilt bekanntlich als die Schauspielerin, die nicht in Würde altern konnte - überhaupt gross vorbereiten musste) ihren Vorgängerinnen Bette Davis und Joan Crawford in nichts nach. Einen weiteren Glanzpunkt setzt Micheál MacLiammóir, der - beinahe ein Replacement für Victor Buono in den Filmen von Aldrich - als arbeitsloser Sprachlehrer Hamilton Starr von Adelle eingestellt wird und den kleinen Mädchen Unterricht in “perrrfect En-glish” erteilt, damit sie als angehende Filmstars auch über das nötige Rüstzeug verfügen. - Es ist vielleicht nicht erstaunlich, dass Henry Farrell, der Autor des Romans “What Ever Happened To Baby Jane?” auch das Drehbuch zu Curtis Harrington’s kleinem, aber wertvollen Schocker mit garantiert unvergesslichem Ende schrieb.
Ich könnte jetzt lang und breit über die homosexuellen Implikationen des Films (hat Helen lesbische Neigungen? Waren die Söhne der Freundinnen schwul und begingen den Mord, weil sie damit symbolisch ihre Mütter umbringen wollten?) sinieren. Ich halte mich jedoch ausnahmsweise zurück und fordere die geneigten Freunde dreckiger kleiner Altweiber-Schocker auf, für eine auch im deutschen Sprachraum erhältliche DVD von “What’s the Matter with Helen?” auf die Barrikaden zu gehen oder sich wenigstens zu einem Sitzstreik vor der ZDF-Sendezentrale zu versammeln, damit sich der Sender dieses Films mal wieder annimmt. - Und zum Schluss: Singet voller Freude mit Sister Alma “What a Friend We Have In Jesus”, vergesset aber anschliessend nicht, einen erheblichen Geldbetrag in ihren goldenen Topf zu legen. Erst das bringet euch die wahre Vergebung des Herrn! --- HA! Zodiac was first!
Bearbeitet von Zodiac, 16. September 2009, 09:58.
#19
Geschrieben 21. September 2009, 18:05
(Das Glas Wasser, Deutschland 1960)
Regie: Helmut Käutner
Darsteller: Gustaf Gründgens, Liselotte Pulver, Hilde Krahl, Sabine Sinjen, Horst Janson, Rudolf Forster, u.a.
Ob man nun Klaus Manns 1936 erschienenen Roman “Mephisto” gelesen hat oder nicht: Gustaf Gründgens wird wohl für immer die zweifelhaft schillernde Gestalt bleiben, die um ihrer Karriere willen in einem schicksalsträchtigen Jahrhundert jeweils unverbindlich mit der Bewegung liebäugelte, von der sie glaubte, ihr gehöre die Zukunft - und die sich dann doch an den Beelezebub verkaufen musste, um nicht ganz in die Klauen des Teufels zu geraten. Was er als Intendant des Preussischen Staatstheaters, der vom Teufel dann doch zu Rollen in Propagandafilmen (“Ohm Krüger”, 1941) beordert wurde, heimlich an Menschlichem vollbracht haben mag - wir wissen es nicht. Denn das Deutschland der Nachkriegsjahre verzieh und vergass. - Ich kann als ehemaliger Germanist und Filmfreund die recht wenigen Filme des Schauspielers nicht ohne “Hintergedanken” geniessen: Hinter dem Schränker in Fritz Langs “M - Eine Stadt sucht einen Mörder” (1931) verbirgt sich für mich der Salonkommunist, der abends in den Kabaretts seine schlüpfrigen Chansons zum Besten gab, sein “Friedemann Bach” (1941) ist der - vergebliche - Versuch, schlimmeren Filmproduktionen zu entgehen. Vor allem aber muss ich ständig daran denken, dass Klaus Mann seinem Hendrik Höfgen nur in beschränktem Masse schauspielerische Fähigkeiten zugestand: Er sei der Mephisto gewesen, daneben habe er sich als Causeur in französischen Komödien glänzend gemacht; gerade “teutonische” Rolleninterpretationen (etwa sein Hamlet, den der wirkliche Gründgens ja 1959 tatsächlich an den jungen Maximilian Schell abgab) seien jedoch nicht sein Ding gewesen.
“Das Glas Wasser”, der letzte Film, in dem Gründgens neben der filmischen Adaption seiner Faust-Inszenierung nach langer Zeit wieder mitspielte, beruht auf einer solchen französischen Komödie von Eugène Scribe (1791-1861) und ist ein herrlich-flauschiges Nichts, in dem der zweifellos grosse Schauspieler noch einmal zeigen konnte, wie er mit seinem “aasigen Lächeln” (Klaus Mann) einer an sich belanglosen Geschichte den Hauch des Schlüpfrigen zu verleihen vermochte. - Das bewusst in fragmentarischen Dekors (einzelne Rückblenden werden in Schwarzweiss auf einem Hintergrund dargestellt) gedrehte Filmmusical zeigt vor allem eines: dass selbst die grössten politischen Krisen den Liebeswirren unterlegen sind und sich durch ein raffiniertes Ränkespiel in Wohlgefallen auflösen. Während des Spanischen Erbfolgekriegs im 18. Jahrhundert wird England von der willensschwachen Köigin Anna regiert. Sie steht ganz unter dem Enfluss der Herzogin von Marlborough, die den Krieg unbedingt fortsetzen will, damit sie ihren Gatten vom Hofe fernhalten und ungestört ihren amourösen Interessen nachgehen kann. Sir Henry St. John, Herausgeber einer Zeitung, ist der grösste Gegner der Herzogin. Er, der ebenso begnadete wie narzistische Redner, entdeckt schon bald, dass weder Queen noch Herzogin dem ungelenken Charme eines jungen Fähnrichs widerstehen können - und schleust die stellenlose Abigail, die natürlich auch in den Fähnrich verliebt ist, als Hofdame bei der Königin ein; sie soll ihm dazu verhelfen, die Macht der Herzogin zu untergraben und Anna auf seine Seite zu bringen. Am Ende ist es tatsächlich ein Glas Wasser, das die Entscheidung herbeiführt...
Helmut Käutner, einer der wenigen bereits im Dritten Reich tätigen Regisseure, die ohne dunkle Flecken wegkamen (selbst der grosse Wolfgang Staudte hatte - sicher nicht freiwillig - in Harlans “Jud Süss” (1940) mitgespielt), inszenierte “Das Glas Wasser” wesentlich süffiger, unbeschwerter als etwa Kurt Hoffmann seine biederen Musicals (“Feuerwerk”, 1954, “Das Wirtshaus im Spessart”, 1957). Die herrlich vorgetragenen Chansons (“Es muss an Arthur selber liegen”, “Schöne Queen, arme Queen”, “Ich wäre gerne ehrlich”, “Das Sprichwort sagt, wer wagt, gewinnt”) haben etwas regelrecht Frivoles, sind tendenziell eher spitz als süsslich - und nehmen, wenn auch bloss dezent, Bezug auf die 60er Jahre. - Der bislang leider nicht auf DVD erschienene Film ist ein Genuss, der den Zuschauer beinahe vergessen lässt, dass er es hier nicht bloss - immanent - mit einem höchst gelungenen komödiantischen Streich zu tun hat, sondern - problemgeschichtlich - auch mit dem wohl eigenartigsten Aufeinandertreffen zweier Generationen in der Geschichte des Films. Ähnliches war zwar früher schon vorgekommen; aber hier trafen der zwielichtige Gründgens und Hilde Krahl, die ihre Karriere als Dunja im Film “Der Postmeister” (1940) richtig begründet hatte, auf Schauspieler wie Sabine Sinjen und Horst Janson. Man müsste aus heutiger Sicht annehmen, dieses Treffen sei nicht ohne Fragen (“wie war es damals wirklich?”) abgegangen. Dabei vergisst man jedoch leicht, dass man beim Film einfach für kurze Zeit zusammen arbeitet - und man vergisst vor allem jenen ungeschriebenen Generationenvertrag, der erst von den 68ern durchbrochen wurde. Ein für den heutigen Zuschauer beinahe makabres Aufeinandertreffen, wie es in dieser Form später gar nicht wieder vorkommen konnte: Gustaf Gründgens starb 1963 in Manila an einer Überdosis Schlaftabletten; ihm blieb wie Rühmann das Schicksal eines senil vor sich hin schwärmenden Johannes Heesters erspart. Und vielleicht sollte man ihn einfach mit jenem Ausruf ziehen lassen, den Klaus Mann seinem Hendrik Höfgen - zwar im spöttischen Sinn - in den Mund legte: “Ich bin doch nur ein Schauspieler!”
**********
Man ist es von mir zwar gewohnt, dass meine ellenlangen Einträge vor allem mit einem grossen Interesse am “Kontext” (welcher Art auch immer) zu tun haben. Für einmal habe ich mehr über den Kontext als über den Film geschwafelt, was man mir verzeihen möge. Es hat mit dem “Das Glas Wasser” für mich noch einmal charakterisierenden Nachhallen jener Zeit zu tun, für die man beileibe nicht nur die Deutschen verantwortlich machen kann. Ich will aber auch nicht abstreiten, dass Gustaf Gründgens, dem schwulen Karrieristen, der sich durch zwölf Jahre Drittes Reich mogelte, etwas eigenartig Faszinierendes anhaftet.
Die wenigen Bilder zum Film werden vom Burda-Verlag derart drohend gehütet, dass ich auf einen Screenshot verzichtete.
#20
Geschrieben 24. September 2009, 13:00
Wer den Wind sät
(Inherit the Wind, USA 1960)
Regie: Stanley Kramer
Darsteller: Spencer Tracy, Fredric March, Gene Kelly, Dick York, Donna Anderson, Claude Akins, Florence Elridge
1925 fand im amerikanischen Dayton der so genannte “Affenprozess” statt, der internationale Aufmerksamkeit erregte und wesentlich zur Ausbreitung einer modernen Form des christlichen Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten beitrug. Es ging um die Durchsetzung eines Gesetzes, das die Behandlung der Darwin’schen Evolutionstheorie an öffentlichen Schulen verbieten sollte, weil sie der biblischen Schöpfungsgeschichte widersprach. Der vor Gericht stehende Lehrer wurde zwar lediglich zu einer lächerlichen Geldstrafe verurteilt; für die Fundamentalisten war der “Affenprozess” jedoch der Anfang einer Bewegung, die zuerst mit Zeltmissionen (vgl. die leider etwas in Vergessenheit geratene Verfilmung des Sinclair Lewis-Romans “Elmer Gantry”, 1960, mit Burt Lancaster) die USA überschwemmte, später aber auch zuerst verteufelte Kommunikationsformen (das Fernsehen als “Elektronische Kirche”, die Rockmusik zum Anlocken Jugendlicher) für sich entdeckte. - In den folgenden Jahrzehnten durchlebte die Bewegung ihre Höhen und Tiefen, spielte gelegentlich jedoch sogar bei der Wahl von US-Präsidenten eine gewisse Rolle. Ihrer radikalen Botschaft blieb sie sich treu: Verurteilung von Abtreibung und Homosexualität, Befürwortung der Todesstrafe - und vor allem wortwörtliche Auslegung der Bibel (nach ihrem Gusto!). Wer sich als Filmfreund eine Vorstellung von der Hartnäckigkeit des christlichen Fundamentalismus machen will, muss nicht einmal die unerträglichen Arche-Gottesdienste (mittlerweile auch von deutschen TV-Sendern übertragen) über sich ergehen lassen; Formans “The People vs. Larry Flynt” (1996) vermittelt sie auf eine wesentlich unterhaltsamere Art...
1955 entstand ein frei an den “Affenprozess” angelehntes Bühnenstück, das von Stanley Kramer als “Inherit the Wind” verfilmt wurde: Im amerikanischen Städtchen Hillsboro veranlasst ein fanatischer Prediger die Verhaftung des Lehrers Bertram T. Gates, weil er seinen Schülern von der Evolutionstheorie erzählt hat. Die Geschichte schlägt hohe Wellen, als sich herausstellt, dass der streng bibelgläubige Harrison Brady - einst Präsidentschaftskandidat, jetzt bloss noch fresssüchtig - die Anklage vertreten wird. Der zynische Reporter Hornbeck wittert die Chance, einen pressetauglichen Sensationsprozess auf die Beine stellen zu können - und organisiert für den Verhafteten den für die Freiheit des Denkens kämpfenden Henry Drummond als Verteidiger. Drummond und Brady waren einst Freunde; die zunehmend fanatische Gesinnung Brady’s führte jedoch zu einer Entfremdung.
Ein hochdramatischer Prozess beginnt, in dem sämtliche Zeugen, die Drummond aufrufen will, vom Gericht abgelehnt werden. Die Bürger von Hillsboro stehen als “aufrechte Christen” beinahe geschlossen hinter Brady und feiern ihn wie einen Heiligen. - Dann kommt Drummond, der sich im überhitzten Gerichtssaal mit seinem Gegner schon ebenso erbitterte wie herrliche Wortgefechte geliefert hat, auf eine Idee: Er fordert den bibeltreuen Ankläger selber dazu auf, den Zeugenstand zu betreten, und versucht ihm das Eingeständnis zu entlocken, dass gar nicht alle Bibelstellen wortwörtlich ausgelegt werden können!
+++SPOILER+++SPOILER+++SPOILER+++SPOILER+++
Am Schluss gelingt es dem völlig erschöpften Brady, seinen Kopf mit einem Verweis auf den 90. Psalm aus der Schlinge zu ziehen, wonach für Gott tausend Jahre wie ein Tag seien, die Schöpfungsgeschichte unter diesem Gesichtspunkt also richtig sei. Der Lehrer Gates wird zu einer Geldstrafe verurteilt und der Zyniker Hornbeck, der sich über den vor Anstrengung verstorbenen Brady lustig macht, von Drummond persönlich zurechtgewiesen. Am Ende verlässt Drummond - dies als Symbol für die Freiheit des Denkens - den Gerichtssaal mit beiden heiss umstrittenen Büchern, der Bibel und Darwins “On the Origin of Species”, unter dem Arm.
+++SPOILER+++SPOILER+++SPOILER+++SPOILER+++
Stanley Kramer ist ein Regisseur, den ich - von einem einzigen (im nächsten Eintrag zu besprechenden) Film abgesehen - ausserordentlich schätze. “Inherit the Wind” dürfte wohl sein Meisterstück sein, ein Meilenstein der Filmgeschichte, dessen Schwarzweiss-Bilder eine ungeheure Intensität erzeugen. Das Zusammenspiel von Tracy, March und Kelly, der hier endlich zeigen durfte, was für ein grossartiger Schauspieler er auch in ernsten Filmen war, ist einzigartig, ein Erlebnis, auf das man nicht verzichten möchte - und das von den Remakes natürlich nicht annähernd erreicht werden konnte. Der Film kann es noch heute problemlos mit jedem Gerichtsthriller, den uns Hollywood in den letzten dreissig Jahren “bescherte”, aufnehmen. - Was ihn jedoch überdies besonders wertvoll macht, ist das Aufzeigen jenes Fanatismus, zu dem ein fehlgeleitetes Christentum fähig ist: Fensterscheiben werden eingeschlagen, eine Puppe, die Drummond symbolisieren soll, verbrannt - und der Prediger (Claude Akins gestaltet diese Szene geradezu dämonisch) hält einen “Freiluftgottesdienst” ab, in dem er von einem alles andere als “Heiligen” Geist besessen die Bergpredigt ins Gegenteil verkehrt: Er verflucht seine eigene Tochter, die zum Angeklagten, mit dem sie verlobt ist, steht!
“Inherit the Wind” wurde für vier Oscars nominiert, ging jedoch - was in dieser noch unter den Nachwehen der McCarthy-Ära leidenden und sich unpoltisch gebenden Zeit zu erwarten war - leer aus. Kramer zeigte sich von Spencer Tracy’s Leistung derart beeindruckt, dass er ihn in drei weiteren Filmen besetzte, von denen zwei (“Judgment at Nuremberg“, 1961, “It’s a Mad Mad Mad Mad World”, 1963) ein wenig darunter litten, dass der Regisseur, der von Anfang an sein eigener Produzent gewesen war, immer weniger erkennen wollte, wie sehr Überlängen die Geduld der Zuschauer strapazieren können.
Was noch hinzuzufügen wäre: Viele Filme setzen mit der Zeit ein wenig Staub an. “Inherit the Wind” wirkt heute jedoch derart aktuell, dass man ihn beinahe als visionär betrachten möchte, Denn wer glaubt, es habe sich beim christlichen Fundamentalismus um eine historische und auf die USA beschränkte Angelegenheit gehandelt, irrt. Mittlerweile macht auch im deutschen Sprachraum eine kleine, aber lautstarke Gruppe von sich reden, die auf einer wörtlichen Auslegung der Schrift beharrt und verlangt, dass der Kreationismus (biblische Schöpfungsgeschichte) an öffentlichen Schulen gleichwertig neben der Evolutionstheorie behandelt werden müsse. Christliche Privatschulen entstehen, in denen kleinen Kindern viele Errungenschaften unserer Kultur vorenthalten werden, weil man sie bloss mit der Bibel konfrontiert. Was viele für überwunden hielten, erweist sich als erstaunlich, ja beängstigend lebendig. Deshalb sollte ein Film wie “Inherit the Wind”, der die Freiheit des Denkens einfordert, besonders geschätzt werden.
#21
Geschrieben 26. September 2009, 19:53
Das Narrenschiff
(Ship of Fools, USA 1965)
Regie: Stanley Kramer
Darsteller: Vivien Leigh, Simone Signoret, José Ferrer, Lee Marvin, Oskar Werner, Elizabeth Ashley, George Segal, José Greco, Michael Dunn, Charles Korvin, Heinz Rühmann u.a.
1962 veröffentlichte Katherine Anne Porter, eine damals nicht nur in den USA hoch geachtete Autorin von Kurzgeschichten, ihren einzigen Roman, “Ship of Fools”, der zwar von der Kritik zwiespältig aufgenommen, vom Publikum aber geschätzt wurde. “Ship of Fools” bot sich dem Hollywood der 60er Jahre, das mit einem Riesenaufgebot an Stars gegen den Konkurrenten Fernsehen ankämpfen wollte, geradezu an, lebt das Werk doch von einer Überfülle an Gestalten (sie werden zu Beginn wie in einem Drama aufgelistet und kurz beschrieben, was die Lektüre weder einfacher noch erträglicher macht), die sich auf einem Passagierschiff, das am Vorabend des “Dritten Reichs” von Vera Cruz nach Bremerhaven fährt, begegnen. - Es gelang Stanley Kramer denn auch, für seine Verfilmung eine mehr als beachtliche Anzahl grosser und hervorragend spielender Schauspieler (darunter Vivien Leigh in ihrer letzten Rolle) aufzutreiben; und man durfte von ihm mit gutem Recht etwas anderes erwarten als eine gehobene Soap Opera à la Asquith’s “Hotel International” (1963). - Dass der Film dennoch enttäuscht, ja in gewisser Hinsicht unverzeihlich ist, hat andere Gründe:
Porter’s Roman hat keine geradlinige Handlung, sondern besteht - was zeigt, dass die Autorin eher für Short Stories gemacht war - aus locker aneinandergereihten Episoden, die zeigen sollen, wie die oberflächlich skizzierten Typen auf dem Schiff ihre wahren Gefühle zu verbergen versuchen, ihre Masken auf einem Maskenball (wie hintersinnig!) dann aber doch fallen lassen müssen. - Entsprechend vermag auch Kramer seinen rund 150 Minuten dauernden “Jahrmarkt der Eitelkeiten” lediglich mit sich in ihrem eigenen banalen Elend suhlenden Figuren zu füllen, die mit flachen Dialogen und mangelndem geistigem Tiefgang für Langeweile sorgen: Da gibt es die ehemalige Filmdiva Mary Treadwell, die nicht mit ihrem Alter zurechtkommt, einen versoffenen Ölmulti aus Texas, eine naive Studentin, die noch nichts über die Liebe weiss, eine morphiumsüchtige Exil-Fürstin, der die Verhaftung droht, einen Rassisten, der seine Kabine unfreiwillig mit dem Juden Lowenthal teilen muss und viele andere mehr. Die einzigen als wahrhafte, nicht bloss auf sich bezogene Menschen gezeichneten Figuren sind der Schiffsarzt Dr. Schumann, der sich verlieben und an gebrochenem Herzen sterben wird (höchst berechtigte Oscar-Nominierung für Oskar Werner!), und der kleinwüchsige Carl Glocken, der mit der Weisheit des Narren die anderen Narren vorstellt und kommentiert. - Sie alle haben ihre grossen Momente, werden aber doch nicht richtig ausgeleuchtet oder zu einer den Zuschauer berührenden Geschichte zusammengeführt (sie verlassen im Gegenteil am Ende wieder mit gespielter Würde das Schiff, als ob die Reise gar nie stattgefunden hätte). Man könnte - wären da nicht das gelegentlich schier unerträgliche Pathos und der wahrlich ernsthafte Hintergrund - beinahe auf die Idee kommen, der Regisseur habe das sicher aus edler Absicht in Angriff genommene Projekt zu einer Art “Traumschiff” verharmlost. Immerhin verzichtet Kramer auf die z.T. billige Antipathie gegen alle Deutschen, die den Roman von Katherine Anne Porter durchzieht (die Autorin will eigene auf einer Passage nach Europa im Jahr 1932 gemachte Erfahrungen verarbeitet haben).
Was ich Kramer jedoch beim besten Willen nicht verzeihen kann: dass er, der Regisseur von “Judgment at Nuremberg” (1961), die Rolle des kleinen Juden Lowenthal, der an das Gute im Menschen glaubt und in ein Deutschland zurückkehren will, in dem ihn Verachtung und Tod erwarten, ausgerechnet mit Heinz Rühmann besetzte. Rühmann, über dessen Schweigen bis heute nicht gesprochen wird, hatte sich zwar in den 50ern auf die Rolle des kleinen Mannes spezialisiert, entwickelte sich - auch das muss man neidlos zugeben - zum bedeutenden Charakterdarsteller (manche Leute halten seine Leistung in “Es geschah am helllichten Tag” (1958) für beeindruckender als die von Jack Nicholson in “The Pledge” (2001). Dies alles ändert jedoch nichts daran, dass der als unpolitisch geltende Rühmann zu den willigsten Schauspielern gehört hatte, wenn es darum ging, für Goebbels “lustige” Propagandafilme (ja, das gab es auch!) zu drehen. Er durfte sogar, während etwa ein Heinrich George, der für “üble” Propagandafilme eingesetzt worden war, in sowjetischer Gefangenschaft sterben musste, in der Bundesrepublik Deutschland unbehelligt bis ins hohe Alter hinein seine Rollen (am Ende sogar den traurigen Clown) spielen - ohne je auf die Fragwürdigkeit von Filmen wie “Quax, der Bruchpilot” (1941) und seinem rassistischen Nachfolger “Quax in Afrika” (1945) auch nur angesprochen zu werden. Ein hochpolitischer Regisseur wie Kramer hätte erkennen müssen, dass Rühmann der letzte Schauspieler war, dem die Rolle eines kleinen, die Zeichen der Zeit missverstehenden Juden zustand. Er hätte ihn, diesen wohl bei allem Talent unsympathischsten deutschen Mimen des 20. Jahrhunderts, für die Rolle eines Opfers gar nicht in Betracht ziehen dürfen.
Die DVD von “Ship of Fools” ist nur in Englisch mit Untertiteln in so ziemlich allen Sprachen ausser Deutsch erhältlich. Wer sich den Film trotzdem ansehen und mir entschieden widersprechen möchte, ist mehr als willkommen. Die Beurteilung von Filmen ist bekanntlich immer eine höchst subjektive Angelegenheit, und es gefällt mir selber nicht, dass ich ausgerechnet einen Film von Stanley Kramer in der Luft zerreissen muss. Denn vielleicht erkenne ich wirklich nicht, welch bedeutendes Werk (es wurde immerhin für acht Oscars nominiert und erhielt deren zwei) der Regisseur da erschuf - und vielleicht ärgere ich mich zu sehr über die Besetzung des Juden Lowenthal.
Bearbeitet von Zodiac, 26. September 2009, 19:59.
#22
Geschrieben 30. September 2009, 15:07
Ich bin ein Fan von Uwe Ochsenknecht, seit ich ihn in “Schtonk!” (1983) als erkälteten Fälscher Prof. Dr. Fritz Knobel sah, der Hitler in “seinem” Tagebuch über eine Erkältung jammern liess. Was mich an Uwe so begeistert: Er belästigt uns nicht mit einer langweiligen und nichts sagenden hollywoodesquen Schönheitslarve wie etwa Tom Cruise; sondern er stellt sich einfach - dies vielleicht eine Eigenart so mancher deutscher Schauspieler wie etwa auch Moritz Bleibtreu - mit seiner immer zur Rolle passenden Charakterfresse vor die Kamera, als wolle er sagen: Take it or leave it! - Und Uwes Charakterfresse hat es in sich, was nicht bloss mit dem Trost, den sie mir spendet, zu tun hat - sie ist vielmehr wie gemacht für originelle Komödien, scheint sie regelrecht hervorzuzaubern. Zwei Beispiele, die mir besonders unvergessliche Fernsehabende geschenkt haben (leider ist nur eines von ihnen auf DVD erhältlich):
Küss mich, Tiger!
(Küss mich, Tiger!, Deutschland 2001)
Regie: Jan Ruzicka
Darsteller: Uwe Ochsenknecht, Barbara Rudnick, Peter Sattmann, Dominique Horwitz, Charlotte Schwab, Anian Zollner, Jockel Tschiersch u.a.
Prof. Hartmut Popp ist ein Literaturprofessor, wie er im Buche steht: kultiviert, aber wenig auf sein Äusseres achtend (er läuft gelegentlich mit seinen Fahrradklammern in der Gegend herum), seit 14 Jahren scheinbar glücklich verheiratet und dennoch während einer Sprechstunde von einem Nümmerchen mit einer Studentin träumend (ich berufe mich im Falle einer Abmahnung auf David Lodge’s Roman “Changing Places”, 1975, der zeigt, dass so ziemlich alle Literaturprofessoren so sind!), neidisch auf einen Kollegen - und besonders erzürnt über seinen Nachbarn Robert Merten, der, wahrlich auch nicht jünger, aber dafür ein “Gewusst wie”-Casanova”, mit allabendlich wechselnden Schönheiten im sich jugendlich gebenden Arm nach Hause kommt. Dieser Nachbar ist dem griesgrämig dreinblickenden Popp ein besonderes Ärgernis, so dass er dessen Santana-Verführungsmelodie mit lautstark aufgedrehten böhmischen Märschen kontert. Denn Popp hat höchstens seinen ehemaligen Kommilitonen und immer noch studierenden Freund Dux, der unter einer ausgeprägten Identitätskrise leidet (“ich will einen anderen Namen, färbe meine Haare grün oder rot, werde Türke und schwul”) nicht im Arm, aber am Hals.
Just an dem Tag, an dem Popp seine Frau Sabine, eine erfolgreiche Architektin mit einer heissen Nacht in einem Liebesnest für “Paare” überraschen, will, muss er erfahren, dass sie ihn - nicht zuletzt aus Langeweile - seit einiger Zeit betrügt - und zwar mit seinem ohnehin gehassten Kollegen an der Uni. Es kommt zur Trennung, und der verzweifelte Schöngeist wendet sich an seinen Nachbarn, der ihm dabei helfen soll, der Welt und Sabine zu zeigen, was für ein heisser Tiger in Wirklichkeit in ihm steckt. - Tatsächlich wird Popp innert kürzester Zeit in einen Frauenhelden verwandelt, der - nomen est omen - mit neuer Garderobe, neuem Haarschnitt und dem Benehmen eines Playboys jedes Mädchen poppen könnte. Aber ist das wirklich das, was er will?
Nur dies: Es kommt am Ende zu einem regelrechten verbalen Showdown; denn Sabine besucht zusammen mit ihrem neuen Lover eine Rede, die ihr Noch-Gatte halten soll - und Popp versucht verzweifelt, diese Rede in eine Liebeserklärung an seine Frau umzuwandeln...
Es gab und gibt diese Aschenputtel-Geschichten immer wieder, sie wurden gelegentlich auch mit Männern durchgeführt (etwa in “Cinderfella”, 1960, mit Jerry Lewis). “Küss mich, Tiger!” verankert jedoch nicht nur seine Geschichte im Alltäglichen, er wartet auch mit alltäglichen, und gerade deshalb besonders erfrischenden Dialogen auf. Dies und die offensichtlich gute Laune aller Schauspieler (der Griesgram wurde Uwe Ochsenknecht natürlich auf den Leib geschrieben - und welcher Schauspieler aus Tinseltown brächte schon den Mut dafür auf, obwohl ein bisschen weniger Zement im Gesicht z.B. einen Brad Pitt rasch in einen Popp verwandeln würde?) machen den Fernsehfilm zu einem herrlich leichten, immer wieder sehenswerten Vergnügen. Es gibt nicht viele neue Hollywood-Komödien, von denen man dies sagen kann!
Harte Brötchen
(Harte Brötchen, Deutschland 2002)
Regie:Tim Trageser
Darsteller: Katharina Thalbach, Uwe Ochsenknecht, Herbert Knaup, Anna Thalbach, Gerda Katharina Kramer, Regine Zimmermann
In einem wohl unvergesslichen Film aus den 40er Jahren musste sich Henry Travers mal als Engel seine Flügel verdienen. Eine ähnliche Aufgabe erwartet Uwe Ochsenknecht als verstorbenen Kioskbesitzer in “Harte Brötchen”, wobei der nörgelnde Charakterkopf wesentlich mehr auf zeitgemässe Medien setzt als Gabriel in “It’s a Wonderful Life” (1946):
Die Ehe von Christa und Theo Zerrbeck ist alles andere als glücklich. Sie betreiben im Ruhrpott einen Kiosk, den Christa so schnell wie möglich loswerden möchte; denn Theo lässt seine Kumpels grosszügig anschreiben und verwettet die geringen Einnahmen beim Pferderennen. Und just an dem Tag, an dem das in Schulden schwimmende Paar den Preis für den “unverfälschtesten” Kiosk im Revier erhält, stirbt Theo an einem Herzinfarkt. - Christa steht mit dem nahezu bankrotten Laden alleine da, soll die Kunden weiter anschreiben lassen - und erhält nicht die geringste Hilfe von ihrer zickigen Mama und den beiden Töchtern. Doch unerwartete Unterstützung naht via Glotze! Ihr Verblichener stört das Abendprogramm, weil er seine Engelsflügel erst erhält, wenn er seine Gattin post mortem glücklich gemacht hat. Das heisst für ihn: Er will ihr dabei helfen, den Kiosk wieder in Schwung zu bringen. Dies, so behauptet der Engel in spe, gelinge ihr nur, wenn sie wieder die nach seinem Geheimrezept hergestellten Frikadellen verkaufe. - Christa ist über das wiederholte aufdringliche Erscheinen des unzufrieden dreinblickenden Fernseh-Toten alles andere als glücklich; denn erstens ist sie eingefleischte Vegetarierin (Frikadellen!), und zweitens hofft sie schon auf ein völlig neues Leben an der Seite des taubenzüchtenden Lehrers Jörg Erdmann, den sie vor kurzem kennen gelernt hat. Aber Engel sind bekanntlich nicht so leicht abzuwimmeln. - Ob Theo am Ende zu seinen Flügeln kommt, verrate ich nicht. Leider müssen Neugierige abwarten, bis sich das Fernsehen mal wieder des Films annimmt.
Meine Beschreibung mag Klamauk pur erwarten lassen. Das täuscht! Denn im Mittelpunkt des Films steht die nicht zuletzt bittersüsse Geschichte einer mit ihrem Leben unzufriedenen Frau in den besten Jahren, die die Chance verlangt, doch noch ihr Glück zu finden. In diesem auch melancholisch-ernsthaften Rahmen wirkt das komische “Übersinnliche” (Uwe Ochsenknechts Auftritte als herrischer Engel) keineswegs dominant, das Thema “Tod in der Komödie” artet weder zum Klamauk aus, noch streift es, wie etwa in “Ghost” (1990), die Grenze des unerträglich Sentimentalen. - Kritiker betonen auch gerne, “Harte Brötchen” würde jedes Ruhrpott-Klischee umgehen. Ich bin in diesem Punkt nicht Spezialist, hatte aber auch den Eindruck, der Kiosk von Christa und Theo könnte mit all den ihn bevölkerndern Figuren überall stehen. Katharina Thalbach arbeitete übrigens erstmals mit ihrer Tochter Anna zusammen.
**********
Interessanterweise scheinen diese beiden Fernehfilme wesentlich unterhaltsamer und weniger umstritten zu sein als einige spätere Kinofilme, in denen Uwe Ochsenknecht mitwirkte (“Vom Suchen und Finden der Liebe“, 2005, “Elementarteilchen”, 2006, “Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken”, 2007). Man könnte sich in diesem Zusammenhang fragen, ob diverse deutsche Filmemacher nicht endlich jenen Komplex loswerden sollten, den sie seit dem berüchtigten, wenn auch nicht immer zu Recht postulierten “Tiefpunkt” des deutschen Films in den 50er Jahren offenbar mit sich herumtragen - um stattdessen gelegentlich schlicht auf gute Unterhaltung zu setzen. Fernsehregisseure tun dies nämlich schon lange mit Erfolg!
Bearbeitet von Zodiac, 30. September 2009, 17:19.
#23
Geschrieben 03. Oktober 2009, 20:11
(Old Acquaintance, USA 1943)
Regie: Vincent Sherman
Darsteller: Bette Davis, Miriam Hopkins, Gig Young, John Loder, Dolores Moran, Phillip Reed, Esther Dale u.a.
Nach der Beendigung ihrer Zusammenarbeit (und ihrer Liaison) mit William Wyler begeisterte Bette Davis in den 40er Jahren vor allem als Hauptdarstellerin in Melodramen (“The Great Lie”, 1941, “Now, Voyager”, 1942, “Mr. Skeffington”, 1944, “Deception”, 1946), die dem heutigen Zuschauer gelegentlich etwas zu schwerblütig daherkommen. Umso erstaunlicher ist es, dass einer ihrer Filme hierzulande so gut wie in Vergessenheit geraten ist, der als über Jahre beobachteter Kampf zwischen zwei Weibern, die sowohl Freundinnen als auch Rivalinnen sind, trotz melodramatischer Momente nicht nur blendend unterhält, sondern auch die perfekte Vorbereitung für “All About Eve” (1950) gewesen sein dürfte: “Old Acquaintance”:
Kit Marlowe (Davis), eine von Kritikern für ihren ersten Roman gepriesene Schriftstellerin, besucht ihre ziemlich neurotische Jugendfreundin Millie Drake (Hopkins), die bald erkennen lässt, dass sie mit ihrem im Grunde beneidenswerten Leben in einer Kleinstadt (verheiratet mit einem fürsorglichen Mann, schwanger) nicht zufrieden ist. Denn: Auch sie möchte berühmt sein. Und schon hält sie der Freundin einen dicken, kitschigen Liebesroman, den sie heimlich geschrieben hat, unter die Nase. Die Veröffentlichung - Kit sollte ihn einem Verleger empfehlen - verhilft dem Dummchen tatsächlich zu unerwartetem Ruhm; und während sich Kit nicht nur ein weiteres Buch abringen, sondern sich auch der immer heftiger werdenden Liebesschwüre von Preston, dem vernachlässigten Mann ihrer Freundin, erwehren muss, lässt Millie Wälzer auf Wälzer folgen, badet im Wohlstand und kümmert sich nicht einmal mehr um die Erziehung ihrer Tochter. - Eines Tages verlässt Preston seine Frau endgültig, wird jedoch auch von Kit, die trotz ihrer Liebe zu ihm ihrer Freundin gegenüber loyal bleiben will, abgewiesen.
Die Jahre vergehen, aus Deirdre, der Tocher der immer mehr auf sich selber bezogenen Millie, ist eine junge Frau geworden, und Kit, die sich mittlerweile mit schlechtem Gewissen einen wesentlich jüngeren Liebhaber (den ewig zu Nebenrollen verurteilten Gig Young, den Filmliebhaber etwa aus Wyler’s “The Desperate Hours”, 1955, oder "That Touch of Mink", 1962, gewöhnliche Sterbliche aus dem Peckinpah-Brutalo “Bring Me the Head of Alfredo Garcia”, 1974, kennen, in einer seiner ersten Rollen!) hält, arbeitet während des Kriegs für das Rote Kreuz. Es kommt zu einer erneuten Begegnung mit Preston. Dieser will sich aber nicht mit seiner Frau versöhnen; er will die Scheidung! - Am Ende steht auch Kit (“It’s late, and I’m very, very tired of youth and love and self-sacrifice.”), die ihren Liebhaber Deirdre überlassen muss, ohne Mann da, und die zwei Frauen, die nur noch einander haben, sitzen gemeinsam, vielleicht mit ihrem Los doch zufrieden, vor dem Kamin und leeren eine Flasche Champagner.
Es heisst, “Old Acquaintance” sei einer jener Filme, die Männern per definitionem nicht gefallen würden. Man kann aus meiner doch recht wohlwollenden Aufnahme schliessen, ich sei vielleicht nicht “Manns genug” für ihn. Man müsste aber auch darauf verweisen, dass der Film eben das Produkt zweier schwuler Regisseure ist, von denen einer offenbar während der Dreharbeiten beinahe draufging (oder es zumindest vorgab): Ursprünglich hatte man nämlich Edmund Goulding auf die beiden “Damen” angesetzt. Er zog es jedoch schon bald vor, sich mit einem Herzinfarkt die Sache vom Hals zu schaffen und Vincent Sherman die Fertigstellung zu überlassen. Davis und Hopkins hatten nämlich bereits in “The Old Maid” (1939) alles andere als friedfertig zusammengearbeitet; und wenn man bedenkt, dass Davis ihre Filmpartnerin noch in hohem Alter als “a real bitch, just the worst unprofessional-behaved person” bezeichnete, lässt es sich leicht vorstellen, wie turbulent die Dreharbeiten von Anfang an gewesen sein müssen.
Glaubt man Davis, so soll Miriam Hopkins auf ihre unschuldig-kindlich wirkende Art in gemeinsamen Szenen ständig versucht haben, sich mit den einer Schauspielerin zur Verfügung stehenden Tricks in den Vordergrund zu drängen (was ihr in ihrer Rolle als exaltierte Neurotikerin mit ausgeprägter Gestik auch leicht gefallen sein dürfte). Regisseur Sherman betonte jedoch, Bette sei der anderen Hexe in nichts nachgestanden, habe aus “künstlerischen” Gründen ständig Verlängerungen von Nahaufnahmen gefordert, in denen sie mit ihren berühmten Augen die intellektuell leidende Kit zur Geltung brachte. - Höhepunkt von “Old Acquaintance” ist eine Szene, in der eine völlig hysterische Hopkins ihrer Freundin vorwirft, sie habe ihr den Ehemann ausgespannt, worauf die bereits im Gehen begriffene Bette sich umdreht, ruhig auf Hopkins zuschreitet, sie bei den Schultern packt und so heftig durchschüttelt, dass ihr Hören und Sehen vergeht. Bette soll (sie behauptete: zum Vergnügen des ganzen Studios) die Szene bewusst immer wieder vergeigt haben; und als dann endlich alles zu klappen schien, zeigte die Kamera das schon zum Voraus völlig verängstigte, tränenüberströmte Gesicht von Hopkins, was erneute Aufnahmen erforderte (vermutlich hätte sich die Crew auch nicht daran gestört, wenn Bette Davis die Durchgeschüttelte gewesen wäre; die ursprünglich für die Rolle der Millie vorgesehene Norma Shearer weigerte sich nicht ohne Grund, mit dem Drachen von Warners zu spielen...). - Auf eine mir unerklärliche Weise brachte Vincent Sherman die Sache zu einem Abschluss, und Bette war mit ihm so zufrieden, dass sie ihn 1944 auch bei ihrer Produktion von “Mr. Skeffington” Regie führen liess. Miriam Hopkins jedoch, deren Zeit als Hauptdarstellerin wohl ohnehin vorüber war, zog sich für eine Weile vom Filmgeschäft zurück und trat erst 1949 für William Wyler’s “The Heiress” wieder vor die Kamera.
So verrückt es klingen mag: Die legendär gewordene Spannung am Set erwies sich als Glücksfall für “Old Acquaintance”. Man spürt das Knistern, den untergründigen Hass in den gemeinsamen Szenen von Davis und Hopkins förmlich, die Rivalität nimmt Gestalt an - und man fragt sich, wie schwer den beiden Hexen wohl die letzte Szene, die sie einander vergebend vor dem Kamin zeigt, gefallen sein muss.
Zwei der grossen Schwuchteln unter den Regisseuren Hollywoods wurden bereits genannt; man möge mir nachsehen, dass ich noch eine dritte ins Spiel bringe: 1981 drehte George Cukor unter dem Titel “Rich and Famous” ein Remake des kleinen Klassikers. Die Hauptrollen spielten die oft unterschätzte Jacqueline Bisset und eine grottenschlechte Candice Bergen. Cukor bemühte sich in dem Film, der sein letzter werden sollte, um eine leichte Aktualisierung der Geschichte, setzte der hauptsächlich in Innenräumen spielenden Warner Produktion (bei Jack durfte bekanntlich kein Geld verschleudert werden!) Aussenaufnahmen entgegen - und erfüllte sich einen sicher lange gehegten Wunschtraum: Er zeigte den nackten, knackigen Po eines jungen Mannes, mit dem Bisset wohl allerhand anstellte, als Grossaufnahme. Trotz dieser Neuerungen (und der romantischen Musik) wirkt Cukor’s Remake eigenartig fade, geradezu langweilig - was zeigt, dass Geschichten eben oft in eine gewisse Zeit gehören und in dieser belassen werden sollten: Die Postulierung der Freundschaft zwischen zwei Frauen als Gegenkonzept zur hergebrachten Ehe mag in den 40ern für Diskussionsstoff gesorgt haben, und eine Szene, in der Bette Davis nur im Oberteil eines Pyjamas herumlief, erregte damals wohl auch wesentlich mehr Aufsehen als ein Knack-Po in den 80ern. Hinzu kommt: Es bedarf für gewisse Rollen schon auch gewisser Schauspieler(innen). Wer Bette Davis erlebt, wie sie Deirdre halb ironisch-herablassend, halb erzieherisch mit den Worten “My dear, I was hiding behind screens before you were born” abkanzelt, wird verstehen, was ich meine.
“Old Acquaintance” scheint in unseren Breitengraden derart in Vergessenheit geraten zu sein, dass es nicht einmal möglich ist, an eine englischsprachige DVD zu gelangen. Ich benötigte also mal wieder mein Vögelchen aus den Staaten, das den von mir heiss ersehnten Film extra für mich in erstaunlich guter Qualität auf “yotube” hochlud. Sollte hier ein Mann das krankhafte Bedürfnis empfinden, sich auf einen Frauenfilm einlassen zu wollen, vermittle ich via PN gerne die URL der Playlist.
Bearbeitet von Zodiac, 03. Oktober 2009, 23:31.
#24
Geschrieben 08. Oktober 2009, 00:42
Tom Jones - Zwischen Bett und Galgen
(Tom Jones, Grossbritannien 1963)
Regie: Tony Richardson
Darsteller: Albert Finney, Susannah York, Hugh Griffith, Edith Evans, Joan Greenwood, Diane Cilento, George Devine, David Tomlinson, Rosalind Atkinson, Angela Baddeley, Peter Bull, George A. Cooper, David Warner, Rachel Kempson, Rosalind Knight, John Moffatt, Lynn Redgrave u.a.
Ich schreibe üblicherweise nicht über Pornos; und um einen Porno muss es sich beim nicht übermässig brutalen “Tom Jones” wohl handeln, gab ihn doch die FSK erst ab 18 frei. Freundliche Worte eines Users, die auch als sanfte Nötigung zu verstehen waren, veranlassen mich zu einer Ausnahme. - Doch beginnen wir, wie dies auch die Geschichte tut, beinahe (!) von vorn:
Im 18. Jahrhundert etablierte sich in England der (moderne) Roman als Kunstform. Federführend waren zu Beginn Autoren, die wie Daniel Defoe die puritanischen Werte einem neuen Bürgertum zu vermitteln versuchten. Besonders berühmt wurde Samuel Richardson, der in seinen Briefromanen (“Pamela”, 1740) tugendhafte Frauen ihre Keuschheit verteidigen liess. Gegen ihn richteten sich die Romane von Henry Fielding, die auf humorvoll-übertriebene Weise eine andere Seite der englischen Wirklichkeit zeigten. Fielding parodierte zu Beginn mit Werken wie “Shamela” seinen Kontrahenten offen; zum grössten Erfolg sollte jedoch der 1749 veröffentlichte “The History of Tom Jones, a Foundling” werden - ein Werk, das in der Tradition des Schelmenromans steht, rotzfrech ist und sich beim besten Willen bloss in einen dicken, nahezu 800 Seiten umfassenden Wälzer pressen lässt. Selbst wenn man berücksichtigt, dass sich das jeweils erste Kapitel der sechs Bände auf witzige Weise mit poetologischen (hier: romantheoretischen) Fragen beschäftigt (Fielding zieht etwa die alte Streitfrage, ob eine Geschichte nun “ab ovo”, von Anfang an, oder “in medias res”, also mitten im Geschehen zu beginnen habe, durch den Kakao), muss sich der Held in so vielen Abenteuern “zwischen Bett und Galgen” bewähren, dass man eine halbwegs kinotaugliche Verfilmung wie so oft für undenkbar hielt - obwohl es nur der passenden Zeit dafür bedurfte.
Dem ehrenwerten Gutsherrn Allworthy wird ein Säugling, mutmassliche Frucht der sündhaften Begierde zweier Angestellter, sozusagen direkt ins Bett gelegt. Er entschliesst sich, den Bastard wie seinen eigenen Sohn aufzuziehen, und der kleine Tom Jones wächst zum mehr als stattlichen jungen Mann heran, der weder sein Interesse am Wildern noch am weiblichen Geschlecht (“It’s a good night to be abroad and looking for game.”) - Erbe seiner “Eltern”? - im Zaum zu halten vermag. Diese “Schwächen” machen ihn zur Zielscheibe seiner Lehrer und des heuchlerisch-frömmelnden Cousins Blifil, dem Inbegriff eines fiesen Schufts. Blifil wiederum wurde als Mann von legitimer Abstammung für die schöne Nachbarstochter Sophie Western auserwählt, in die sich der Schwerenöter Tom bereits hoffnungslos verliebt hat. Die Intrigen seiner Feinde führen dazu, dass Allworthy seinen Ziehsohn verstösst und mit einem kleinen Erbe in die Welt entlässt.
Auf seiner Reise, die ihn letztlich nach London führt, hat Tom all die Abenteuer zu bestehen, die ihn in die Arme lüsterner Frauen treiben, in Degenkämpfe verwickeln - und am Ende an den Galgen zu bringen drohen. Es gibt jedoch eine Frau, die ihm nacheilt und ihn vor seinem Tod zu retten vermag: die schöne Sophie, die sich natürlich auch in ihn verliebt hat... - Am Ende warten Roman und Film mit einer Überraschung auf, die es in sich hat.
Im Gegensatz zu den etwa von David Lean oder Stanley Kubrick kongenial verfilmten Romanen des 19. Jahrhunderts (von Thackeray oder Dickens) nimmt sich “Tom Jones” nicht bierernst; Fielding spielt vielmehr unferfroren mit einer noch unausgereiften Gattung. Und genau dieses Spielen galt es in einer Verfilmung zu vermitteln. - Dass ausgerechnet der den “Angry Young Men” zuzuordnende Dramatiker John Osborne als Drehbuchautor und Tony Richardson, einer der führenden Regisseure des britischen “Free Cinema”, diese Aufgabe in Angriff nahmen, mag auf den ersten Blick erstaunen. Es ging jedoch dieser Generation nicht zuletzt darum, sich - auch in filmischer Hinsicht - von einem in seinen Traditionen festgefahrenen Amerika zu befreien, Eigenständigkeit zu postulieren. Und wer sich die einfallsreichen Tricks anschaut, mit denen aus einem “unverfilmbaren” Roman eine höchst intelligente Parodie auf den Abenteuerfilm gezaubert wurde, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, hier würden die vor allem mit England in Verbindung gebrachten “Swinging Sixties” eingeläutet: Der Anfang wird als Stummfilm mit Zwischentiteln dargeboten (wobei eine Zofe beinahe den blanken Hintern des ehrenwerten Squire Allworthy zu sehen bekommt), die bis in die kleinsten Nebenrollen hervorragend besetzten Darsteller wenden sich in “Asides” gelegentlich direkt an den Zuschauer (eine Technik, die für die “well-made plays” des 19. Jahrhunderts typisch war) - besonders hübsch ein “Hilfe!”, das der aus einer Herberge flüchtende Tom halb im Hemd, halb bereits in Hosen, uns zuruft. Und da im Roman ein “auktorialer Erzähler” häufig und gerne von der Redefreiheit Gebrauch macht, kommen wir natürlich auch im Film in den Genuss einer Off-Stimme, die uns die herrlichsten Boshaftigkeiten (“We are all of us as God made us, and many others much worse”) vermittelt. - Ich bin davon überzeugt, dass der Film mit seinem nicht auf Konventionen achtenden herrlichen Tempo eine neue, wenn auch kurzlebige Ära einleitete, der sich etwa auch Richard Lester in seinen Beatles-Filmen (“A Hard Day’s Night”, 1964, “Help!”, 1965) verpflichtet fühlte. Es gibt Leute, die den fehlenden Respekt vor dem Herkömmlichen sogar zum Vorläufer für MTV erklären, was mir leicht übertrieben scheint; denn der Film machte sich nach den Sixties auf die Suche nach neuen “Tricks”, mit denen er vom überholten Studiofilm Hollywoods loszukommen versuchte (ich würde nach erneuter Sichtung des Klassikers auch nicht mehr behaupten, er könne es in Sachen Tempo ohne weiteres mit einem Mantel- und Degen-Film vom Kaliber eines “The Three Musketeers”, 1993, aufnehmen). Gerade weil “Tom Jones” ein Kind der 60er Jahre ist, mag er vielleicht einigen Betrachtern heute leider etwas veraltet vorkommen - zu Unrecht! Wenn man bedenkt, gegen welche amerikanische Grossproduktion das mit wenig Geld, aber der Elite des britischen Kinos (anbei ein paar Bilder diverser Angehöriger des weiblichen Geschlechts, die unserem Helden an den Kragen oder an andere Teile der Kleidung wollen)
gedrehte Historien-Spektakel 1963 antrat, begreift man, wie bedeutend es für das damals festgefahrene Kino war: Joseph. L. Mankiewicz‘ “Cleopatra” mit Liz Taylor und anderen bedeutenden Stars, die in teuren Kulissen unerträgliche Langeweile verbreiteten! Dagegen wirken die wunderschönen Aufnahmen (vermutlich vermochte die DVD leider nicht mehr die Fülle der ursprünglichen Farbe zu rekonstruieren) der englischen Landschaft (etwa einer Jagd) regelrecht erfrischend, während der Gegensatz zwischen den Bewohnern eines Londons, das im Elend ersäuft, und einer dekadenten Elite (besonders widerlich: ein adliger Lüstling, mit dem Sophie verkuppelt werden soll und der ihr ständig ans Knie fasst), die in teuren Palästen wohnt und sich auf Maskenbällen in Vauxhall Gardens herumtreibt, durchaus zeigt, wie eine Satire von Ernsthaftigkeit durchzogen sein muss.
Es wäre mir unmöglich, jede der schauspielerischen Grossleistungen einzeln hervorzuheben. Ich gebe aber gerne zu, dass ich eine besondere Schwäche für Hugh Griffith als fressenden, saufenden und die Mägde in den Heuhaufen werfenden Spuire Western, den Vater von Sophie, habe. Auch die unsterbliche Edith Evans als dessen sich in gehobener Gesellschaft wohler fühlende Schwester (“Br-r-r-r-other!”) ist eine Perle. Und man beachte: Joan Greenwood liefert als intrigierende Lady Bellaston den Beweis, dass in London noch viel dreckigere “Liasons dangereuses” eingefädelt wurden als im langweiligen Frankreich. - Der leider etwas in Vergessenheit geratene Film wurde für 10 Oscars nominiert und ging in die Geschichte ein, weil gleich drei Nebendarstellerinnen (Diane Cilento, Edith Evans, Joyce Redman) zu den Nominierten gehörten; er erhielt vier der begehrten Preise, u.a. für den “Besten Film”, die “Beste Regie” und die “Beste Filmmusik” (die barockisierenden Cembaloklänge sind ein Genuss und eine humoristische Zugabe sondergleichen). Albert Finney, der einen herrlich seinen und den Lüsten der Frauen ausgelieferten Tom Jones spielt, ging leider leer aus.
Ich habe nichts erwähnt, was diesen in den 70ern von der ARD noch um 20.15 ausgestrahlten Film zu einem Porno machen könnte - seltsam! Aber es gibt natürlich eine lange, höchst sittenwidrige Szene, auf die man zu sprechen kommen muss, weil sie eine jungen Gemütern schädliche Lüsternheit vorführt, die jedes Sexfilmchen überbietet - ohne auf gängige Kopulationsmuster zurückzugreifen: In einer Herberge soupiert Tom Jones mit einer recht offenherzigen Dame, die er vorher aus den Fängen eines Soldaten befreit hat - und das Essen, das uns dargeboten wird, ist purer Sex! Jeder langsam-gierige Biss in einen Schenkel, jedes Ausschlürfen einer Auster, ja jeder Schluck aus dem Weinbecher spricht Bände. Ein Souper, wie man es nie zuvor in einem Film gesehen hat. - Und deshalb gab man “Tom Jones” wohl erst ab 18 frei...
“Tom Jones” ist nach wie vor ein unglaublich spannend und witzig gemachter Film, der mit allen erdenklichen Mitteln eine grosse Geschichte erzählt. Die DVD gehört in die Sammlung eines Film-Fans. Ich möchte sogar jedem, der den Roman gelesen hat, auch den Film ans Herz legen - et vice versa, selbstverständlich. Ein solches Kompliment bekommt die Verfilmung eines Klassikers nicht oft von mir zu hören. Es bleibt zu hoffen, dass mich Michael Winterbottom’s “A Cock and Bull Story”, die Verfilmung eines anderen “unverfilmbaren” englischen Klassikers des 18. Jahrhunderts, ebenso begeistern wird.
Bearbeitet von Zodiac, 08. Oktober 2009, 00:47.
#25
Geschrieben 11. Oktober 2009, 23:24
Die Zürcher Verlobung
(Die Zürcher Verlobung, Deutschland 1957)
Regie: Helmut Käutner
Darsteller: Liselotte Pulver, Paul Hubschmid, Bernhard Wicki, Wolfgang Lukschy, Roland Kaiser, Rudolf Platte, Werner Finck, Sonja Ziemann, Anny Ondra u.a.
Eigentlich wollte ich frohen Mutes über einen deprimierenden Film schreiben; aber als Quotenschweizer komme ich um Lilos 80. Geburtstag wohl nicht herum - und ich entschied mich boshaft, wenn dadurch auch selber in Depressionen getrieben, für einen Streifen, der uns nicht nur mit dem schönen Schlager “Ja, ja, die Liebe in der Schweiz” erfreut, sondern auch Werbung für ein unschuldig-verschneites St. Moritz macht, in dessen Einkaufszone sich heute nur noch Ölscheichs und Prince Charles zusammen mit anderen Mitgliedern der Russenmafia tummeln.
“Die Zürcher Verlobung” war für mich immer der Inbegriff des “Nierentisch”-Films, obwohl ich heute bei einer unfreiwilligen Neu-Sichtung feststellen musste, dass gar keine Nierentische mitspielen. Es ist das ganze Ambiente, das die Helmut Käutner-Verfilmung eines Romans der Unterhaltungsautorin Barbara Noack so typisch für die 50er Jahre erscheinen lässt: die Kleidung, die Wohnungseinrichtungen, das Benehmen, die aufgeblähte, wenn auch ganz amüsante Liebesgeschichte, deren Ansiedlung im Filmmilieu einst als ironisch empfunden wurde.
Kurz zum Plot: Julchen reist nach einem Streit mit ihrem Freund zu ihrem Onkel nach Berlin, wo sie als dessen Zahnarztgehilfin arbeitet, aber weiterhin ihren Träumen, Drehbuchautorin zu werden, nachhängt. In der Praxis lernt sie den Schweizer Arzt Jean (gespielt vom Schönling Hubschmid) kennen, der seinen ruppigen Freund “Büffel” zur Extraktion begleitet. Julchen verliebt sich natürlich in den Arzt und lässt ihrer (Drehbuch)-Fantasie freien Lauf. Es entsteht die - ach so fiktive - Liebesgeschichte zwischen einer Zahnarztgehilfin und einem Schweizer Komponisten. Dummerweise stellt sich heraus, dass ausgerechnet der Rohling “Büffel” als Regisseur für den Film vorgesehen ist. Auf einer Reise in die schöne Schweiz erweist sich der Vater eines Sohnes, der, unzufrieden mit dem psychologisch nicht ausgefeilten Drehbuch, zusammen mit Julchen die Geschichte ausbessern will, als gar nicht so unsympathisch. Wäre da nicht noch Jean, der unser Julchen Juliette nennt, sie zum Kauf eines Skianzugs überredet, der damals wohl der letzte Schrei war, und eine noble, wenn auch ständig leicht alkoholisierte Tante hat, die ihre Haare und die ihres Pudels lila färbt... - “Büffel” muss alle Register ziehen, einen von Julchen erfundenen Verlobten mit dem Namen Uri aus dem Hut zaubern, im Schneesturm eine Berghütte erreichen, in dem sich seine “Drehbuchautorin” mit ihrem Traumprinzen aufhält und in einer Silvesternacht Julchens Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau entdecken. Am Ende ist es aber wohl sein Sohn Pips, der ein Wörtchen mitreden darf.
Die in vielerlei Hinsicht etwas arg zeitgebundene Liebeskomödie lebt vom lockeren Spiel der Darsteller (Bernhard Wicki verkörpert den hartherzigen Burschen mit weichem Kern geradezu berührend; man darf froh sein, dass der grosse Regisseur gelegentlich auch als Schauspieler sein Talent unter Beweis stellte), zu denen in Nebenrollen Werner Finck, Rudolf Platte und einige andere gehören, die z.T. als sie selber auftraten. Roland Kaiser, der den kleinen Pips spielte, ereilte das typische Schicksal eines Kinderstars: Mit dem Erwachsenwerden ging seine Karriere zu Ende. Der Schweizer Paul Hubschmid zeigte hingegen im Laufe seiner Karriere die weniger schöne Seite, jener “Tugend”, die wir als “Neutralität” bezeichnen, beispielhaft auf: Er begann mit dem Schweizer Propagandafilm “Füsilier Wipf” (1938), mit dem seine Landsleute an ihre Eigenständigkeit und ihren Wehrwillen erinnert werden sollten; anschliessend arbeitete er je nach Gelegenheit sowohl für die Nazis als auch in Hollywood. Die wohl angepeilte Unsterblichkeit blieb ihm, dem kaum Talentierten, versagt.
Der Film von Käutner muss damals als Liebesgeschichte und als Lustspiel die Kinogänger angesprochen haben. Heute bringen bloss noch positive Vorurteile über die Schweiz und einige Brocken in bemühtem Dialekt zum Brüllen: “Frag ihn, ob er ein Heiliger ischt!” - Wir wohnen übrigens nicht alle in Häusern mit antiken Möbeln und Vorhängen aus Damast, und ich färbe zumindest die Haare meines Pudels nicht lila.
Bearbeitet von Zodiac, 11. Oktober 2009, 23:46.
#26
Geschrieben 15. Oktober 2009, 22:54
Engel des Universums
(Englar alheimsins, Island/Norwegen u.a. 2000)
Regie: Fridrik Thór Fridriksson
Darsteller: Ingvar Eggert Sigurdsson, Baltasar Kormákur, Björn Jörundur Fridbjörnsson, Hilmir Snaer Gudnason, Margrét Helga Jóhannsdóttir u.a.
Fridrik Thór Fridriksson, dessen “Children of Nature” (Börn náttúrunnar, 1991) noch für den “Auslands-Oscar” nominiert wurde, erntete in den letzten Jahren auf internationaler Ebene wesentlich weniger uneingeschränktes Lob als in seiner Heimat, wo er wohl mehr als Hrafn Gunnlaugsson den Ruf geniesst, das isländische “Wesen” mit seiner Schwermut, seiner Ironie und seinem Hang zum Mythos auf einzigartige Weise in Bilder und Geschichten zu verpacken. - Dass die Bilder von Filmen wie “Fálkar” (2002) oder “Niceland” (2004) bestechen, den mit dem isländischen Film weniger vertrauten Betrachter sogar bestechen müssen, ist unbestritten. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass Island ein für bestechende Bilder privilegierter Flecken Erde ist - und dieses Privileg kann leicht dazu verlocken, im Kern immer wiederkehrende Geschichten über Aussenseiter mit oft recht banaler Botschaft als Verpackung für grossartige Aufnahmen zu benutzen.
“Englar alheimsins”, der erste Film, den ich von Fridriksson sah (eine Kollegin kehrte vor einigen Jahren nach längerem Aufenthalt aus Island zurück und drückte mir ein paar DVDs in die Hand, die mich erstmals auf das Revival des isländischen Films aufmerksam machten), ist dem Genre des Psychiatriefilms zuzuordnen, das natürlich geradezu zu “vieldeutig-raunenden” Bildern verführt. - Páll, ein begabter Maler und Musiker mit grossen Plänen, der - für ledige Männer in Island nicht untypisch - Ende der 60er Jahre noch bei seinen Eltern lebt, wird von seiner Freundin, Tochter aus besserem Hause, sitzen gelassen. Im Kopf des sensiblen jungen Mannes, der schon immer mit seiner Kindheit verbunden war und an seltsamen Vorstellungen hing (er denkt, die NATO wälze ihre Kriege in seinem Kopf ab, hängt einem Traum seiner Mutter nach, in dem sie vier Pferde aus dem Meer daher galoppieren und eines zusammenbrechen sah), beginnt sich der Wahnsinn auszubreiten. Agonie und Aggression wechseln sich ab. Er hält sich für van Gogh, schmiert Bilder auf grossflächige Leinwände, bearbeitet sein Schlagzeug bis zur Erschöpfung und lässt sein Bett hin-und herschwanken, als hätte ein Poltergeist von ihm Besitz ergriffen. All diese Veränderungen überfordern die Eltern von Páll, der auch (ein weiteres Zeichen, dass ihm sein Körper zuwider ist) seinen Schädel kahlgeschoren hat, und sie weisen ihn in Kleppur, eine psychiatrische Klinik, ein. Dort diagnostiziert man: Schizophrenie.
In Kleppur begegnet Páll drei weiteren Männern, die unter einem Wahn leiden, den - wie man in Gesprächen bald feststellt - die Isländer für ihre verborgene Volkskrankheit halten, weshalb sie Leute mit einem deutlich abweichenden Bild von der traurigen Wirklichkeit wegsperren: Peter hält sich für Schiller, Óli (verkörpert von Baltasar Kormákur, der mittlerweile selber zu den bedeutenden Regisseuren Islands zählt) ist ein Musiker, der von den Beatles den Auftrag zu erhalten glaubt, ihre ungeschriebenen Songs zu schreiben - und Viktor hat sich in die Rolle eines philosophierenden Nazis hineingesteigert. In Gesprächen, die Christus als möglichen Wahnsinnigen (“man würde ihn heute wegsperren”) und die Tötung Gottes durch einen Satz von Nietzsche thematisieren, findet man rasch heraus, dass die eigentlichen Wahnsinnigen draussen in der Welt leben und in Kleppur nur durch das kühle, sterile Klinikpersonal vertreten sind. Fazit: Die ganze Welt ist eine Anstalt; wir aber sind die Engel, die von Gott in diese Anstalt Welt gesandt wurden. - Welch eine (billige) Botschaft, die durch eines jener unangenehm symbolträchtigen Bilder (Páll kann in einem “Traum” auf dem Wasser gehen) unterstrichen wird!
Der in die “Freiheit” entlassene Peter kommt - was durchaus realistisch erscheint - mit seinem neuen Leben nicht zurecht und wählt den Freitod. Seine drei Freunde erhalten für die Beerdigung Freigang (ein Zeichen des Vertrauens, wie der Arzt betont) und nutzen die Gelegenheit zum Besuch eines Nobelrestaurants, in dem sie sich mit den erlesesten Speisen verwöhnen lassen. Die Szene bildet den humoristischen Höhepunkt des sonst schwer verdaulichen Streifens und mündet in eine Pointe, die sich beinahe mit Hlynurs in “101 Reykjavík” (2000) gezeigtem Versuch, sich im Schnee das Leben zu nehmen, vergleichen lässt. - Am Ende entlässt man auch Páll, und der Zuschauer weiss, wie er, der in der Anstalt zu seiner “Berufung” fand, enden wird.
Es handelt sich bei “Englar alheimsins” um die Verfilmung eines Romans des mit Fridriksson befreundeten Schriftstellers Einar Már Gudmundsson. Die beiden Künstler gelten als ausserordentlich heimatverbunden und die isländische Mythologie, die zum Teil ins Christliche übertragen wird, auskostend. Dies erklärt wohl einige der etwas arg mit “Bedeutung” beladenen und letztlich gar nicht so originellen Vorstellungen und Bilder. Denn wenn Fridriksson sich einfach seiner Geschichte und den der natürlichen Umgebung abgerungenen Bildern hingibt, wirkt sein Film durchaus stark. Man sieht etwa Óli und Páll mit flatternden Mänteln durch eine triste, vom Wind beherrschte und sonnenlose Landschaft laufen (Óli will den Präsidenten besuchen und ihm von seiner Verbindung mit den Beatles erzählen) - und man begreift, weshalb die Häuser in Island so bunt und malerisch wirken müssen: Sie bilden eine mehr als nötige Festung gegen die Natur mit ihrer dunklen Traurigkeit (die Isländer sollen nur mit viel Sex und Alkohol durch die Wintermonate kommen), deren vergeblich unterdrückten Einfluss auf den Menschen sich in der Figur eines scheinbar glücklich verheirateten Schulfreundes von Páll bemerkbar macht, der sich auch das Leben nimmt. - Und der Schluss des wahrhaft nicht für schwache Gemüter und regnerische Herbsttage gemachten Films könnte geradezu überzeugend sein, weil er zunächst nicht mit Symbolik aufwartet, sondern einfach die Wirklichkeit zeigt: Die Kamera lenkt den Blick auf auf- und zuklappernde Balkontüren, fährt auf den Balkon hinaus, man sieht einen Stuhl, von dem aus Páll, der auf dem Boden in einer Blutlache liegt, den erlösenden Sprung gewagt hat; ein Krankenauto fährt heran, die Bilder überblenden sich. Páll wird abtransportiert, am Ende bleiben nur die Blutlache und die hilflosen, sich umarmenden Eltern in der leeren Wohnung. Doch während der Beerdigung (sie wird aus der Luft aufgenommen) erzählt uns Pálls Stimme aus dem Off, er sei nicht tot, sondern ein Bestandteil des Meeres geworden. Und dann eine mythologisierende Erhebung, die ebenso unnötig wie pathetisch wirkt. - Alles in allem: “Englar alheimsins” ist ein (gut gespielter) Film, der einen höchst zwiespältigen Eindruck hinterlässt, “Anfängern” in seinen starken Momenten vielleicht einen Einblick in die naturbedingte isländische Schwermut zu vermitteln vermag - aber von manchen Kritikern des Regisseurs nicht zu Unrecht als Beginn eines Abstiegs ins Aufdringlich-Symbolische mit fader Geschichte betrachtet wird.
#27
Geschrieben 19. Oktober 2009, 23:03
Zu den beiden hier zu einem Paket “verschnürten” Filmen gibt es bereits mehrere Einträge von anderen Usern, mit denen ich mich weitgehend identifizieren kann. Es geht mir deshalb auch weniger um eine "neue" Sichtweise als um die vielleicht abwegige Konfrontation eines Werks aus den 30er Jahren mit einem aus dem neuen Jahrtausend. Obwohl es sich bei beiden Produktionen um Gangsterfilme handelt, war es mir wichtig, dass sie nicht ganz dem gleichen Muster folgen, damit nicht der Eindruck entsteht, ich würde hier in der Tradition von Walter Muschgs “Tragischer Literaturgeschichte” eine “Tragödie” mit Filmen anzurichten versuchen. - Vielleicht zeigt sich im Verlauf der Gegenüberstellung, was die ganze Sache eigentlich bezwecken soll.
Chicago - Engel mit schmutzigen Gesichtern
(Angels with Dirty Faces, USA 1938)
Regie: Michael Curtiz
Darsteller: James Cagney, Pat O’Brien, Humphrey Bogart, The Dead End Kids, Ann Sheridan, George Bancroft
In den 30er Jahren galten Warner Brothers als das Studio, das im Gegensatz zu MGM mit seinen verschwenderischen Produktionen “ökonomische” Filme drehte. Dabei ging es Jack Warner sicher in erster Linie ums Geld; er wollte aber auch seinem Publikum in 70-90 Minuten das bieten, wofür die Konkurrenz zwei - gelegentlich langweilige - Stunden brauchte. Spannung ohne Schnickschnack war angesagt, und die Fähigkeit, selbst aus einem weniger originellen Drehbuch ein kleines Ereignis zu machen. - Es zeigte sich rasch, dass Michael Curtiz, als Regisseur ein verhasster Tyrann, genau der Mann war, der aus jedem Skript eine mitreissende Geschichte, die sich durch innovative Bilder auszeichnete, basteln konnte, und er entwickelte sich rasch zu einem “Hausregisseur” der Filmgesellschaft, die ihm zunehmend bedeutende Produktionen übertrug. Er blieb Warners 26 Jahre lang treu.
“Angels with Dirty Faces” ist einer jener Filme, die in kürzester Zeit mit einer gewaltigen Geschichte aufwarten, weil er sich auf das Wesentliche konzentriert, ohne die Komplexität der Hauptfiguren zu vernachlässigen: Als Jugendliche leben die Kleinganoven Rocky Sullivan und Jerry Conelly in einem heruntergekommenen Stadtteil von Chicago, das die Kamera zu Beginn des Films mit noch heute als stilbildend geltenden Aufnahmen erfasst. Beim gemeinsamen Versuch, Ware aus einem Zug zu klauen, wird Rocky erwischt, während Jerry, den sein Kumpel nicht verrät, entkommen kann. Für Rocky ist dies der Beginn einer kriminellen Karriere, die ihn in diverse Anstalten und Gefängnisse bringt, aber auch zum knallharten Gangster werden lässt. Jerry hingegen entscheidet sich für ein Leben, das es ihm ermöglichen soll, andere Strassenkinder auf einen rechten Weg zu führen - er wird Priester.
Eines Tages kehrt Rocky in seinen alten Stadtteil zurück, weil er mit dem dubiosen Anwalt Frazier noch eine Rechnung zu begleichen hat. Die Jungs, die unter Jerry’s Obhut stehen, erklären ihn sogleich zu ihrem Idol und unterwerfen sich nur zu gerne seinem Einfluss, was Jerry, der sich seinem alten Kumpel immer noch verbunden fühlt, zunehmend mit Unbehagen erfüllt. Er sieht sich zusammen mit der hübschen Laurie, die die beiden schon aus Kindheitstagen kennt, zwar noch mit an, wie die beim Basketballspiel sämtliche Spielregeln missachtenden Kids plötzlich ihrem “Helden” gehorchen; als er jedoch feststellen muss, dass auch sie immer mehr in die Kriminalität abzugleiten drohen, kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen den einstigen Freunden. Jerry erklärt der Unterwelt Chicagos, inklusive Rocky, den es rasch wieder ins “Milieu” zieht, weil der zahlungsunwillige Frazier Auftragskiller auf ihn ansetzt, den Krieg. - Als Rocky nach einem Schusswechsel mit tödlichem Ausgang zum Tode verurteilt wird, soll er kurz vor seiner Hinrichtung seinem Freund um der ihr schlechtes Vorbild wie einen Märtyrer verehrenden Strassenjungen willen einen letzten Gefallen tun...
Dies alles erzählt uns Curtiz in anderthalb packenden Stunden, die mit sämtlichen Regeln brechen und den bisherigen reinen Gangsterfilm in ein komplexes sozialkritisches Action-Drama verwandeln, in dem nicht zuletzt das betroffene Umfeld in den Mittelpunkt gerückt und auch der “Bad Guy” bis zu einem gewissen Grad zum Sympathieträger wird (allein schon die einzigartigen Szenen, in denen Rocky die Jungs auf seine Weise zum Basketballspiel animiert, bringen sein ungebrochenes menschlich-hilfsbereites Wesen zur Geltung), dem man ein ein Happy End wünscht. - Zwar müssen einige Charaktere hinter die Botschaft des Films zurücktreten: Ann Sheridan bleibt etwa als Laurie völlig blass, man erhält den Eindruck, Curtiz habe sie bloss eingesetzt, damit im Film überhaupt eine junge Frau herumstehe; auch Humphrey Bogart darf als fieser Anwalt Frazier nur den “bad-bad-guy” ohne differenzierte Ausleuchtung des Charakters spielen (erstaunlich, dass der Film zu den ersten grossen Erfolgen des Schauspielers gehörte). - Die zentralen Figuren aber, vor allem auch die herausragend und berührend spielenden “Dead End Kids”, um deren Zukunft es den beiden Freunden und Kontrahenten im Film eigentlich geht, erhalten die für eine exakte Charakterisierung nötige Aufmerksamkeit, dürfen sich als Individuen mit ihren Plänen, ihrer Sturheit und ihren Zweifeln dem Zuschauer begreifbar machen. Einzig die Deutung von James Cagney’s letzter, nur als Schattenriss gezeigter, Szene, in der er seinem Freund zuliebe seine Todesangst vielleicht nur spielt, vielleicht auch von ihr befallen wird, bleibt bewusst offen - was sie zu einer der grossen Szenen der Filmgeschichte macht.
Pat O’Brien, dies als kleiner Zusatz, mag als Pater Connelly und Gegenspieler von Cagney dem heutigen Zuschauer etwas arg frömmelnd daherkommen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass sich christlich-fundamentalistische Gruppen in den 30ern mit aller Kraft gegen “Gangsterfilme” zur Wehr setzten und für eine rigide Einhaltung des Hays Codes sorgten (Maschinengewehre wurden z.B. verboten). Curtiz macht das Beste aus dieser Situation: Er zeigt eine Figur, die unter ähnlichen Umständen wie Rocky aufwuchs, jedoch - bleibend dem alten Freund verbunden - einen anderen Weg wählte und jetzt entschieden für das Gute eintritt. Aus dem klassischen Gangsterfilm wird ein meisterhaftes Drama, in dem der Kampf um das zukünftige Leben junger Menschen im Mittelpunkt steht.
American Gangster
(American Gangster, USA 2007)
Regie: Ridley Scott
Darsteller: Denzel Washington, Russell Crowe, Chiewetel Ejiofor, Josh Brolin, Ted Levine, Ruby Dee, John Hawkes, Yul Vazquez, Malcolm Goodwin
Michael Curtiz’ “Angels with Dirty Faces” schildert zwar Aufstieg und Fall eines Gangsters, entfernt sich jedoch wegen seines Hauptanliegens denkbar weit von den bisherigen Gangsterfilmen, deren Grundmuster sich für den amerikanischen Film als so fruchtbar erweisen sollte. Ridley Scott hingegen wusste, dass er sich mit einem Film über den Afro-Amerikaner Frank Lucas, der während des Vietnam-Kriegs zum Chef eines bedeutenden Drogenrings aufstieg und mit seinem “reinen” Heroin sogar die Mafia an die Wand drückte, auf gefährliches Terrain begab. Er reihte sich damit nämlich in eine Tradition ein, die seit den 30er Jahren kaum zu überbietende Meisterwerke hervorgebracht hatte: Mit “Little Caesar” war es Mervin LeRoy 1931 gelungen, den genialen Edward G. Robinson als Gangster in eine Gegenwart zu stellen, der die Garantie für Ordnung und Sicherheit abgesprochen wurde und die erstmals ein ungeschminktes, desillusionierendes Bild von Amerika lieferte. Der immer noch faszinierende Klassiker legte den Grundstein für jenes Subgenre, dessen Werke von Fachleuten (in Anlehnung an Shakespeare’s Königsdramen) als “Rise and Fall”-Filme bezeichnet werden. Bereits 1932 folgte Howard Hawks mit “Scarface”, dem Film, aus dem Brian de Palma 1983 ein grandioses Remake machte, das nicht zuletzt wegen seiner Gewaltszenen für Furore sorgte. Neben Coppolas “The Godfather”, dessen erster Teil bedingt dieser Tradition zuzuordnen ist (Don Vito Corleone stirbt), gilt Martin Scorsese’s “Goodfellas” (1990) als Meilenstein des Subgenres.
Man könnte angesichts dieser Vorläufer annehmen, “American Gangster” sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Andererseits führte mit Ridley Scott ein Mann Regie, der mit “Thelma&Louise” (1991) nicht nur einen der aussergewöhnlichsten und bewegendsten “Couple on the Run”-Filme aller Zeiten gedreht hatte, sondern - man mag von seiner Filmografie halten, was man will - seit “Gladiator” (2000) und dem meines - romantischen - Erachtens unterschätzten “A Good Year” (2006) mit Russell Crowe durch und durch vertraut war. Der etwas grossspurige Titel “American Gangster” implizierte überdies eine Art “Summa”, die endgültige Abhandlung des Themas “Aufstieg und Fall eines Gangsters”. - Doch Ridley Scott ist im Gegensatz zu Curtiz als Regisseur immer nur so gut wie sein Script. Man darf von ihm jederzeit einen “Blockbuster” erwarten; aber es fehlt ihm an Eigenständigkeit, an Innovationskraft.
Was ist zum Ergebnis zu sagen? - Der Film langweilt während der Dauer von immerhin zweieinhalb Stunden nie sonderlich; es gibt aber auch keine einzige Szene, die man mit dem Etikett “historisch” versehen möchte. Die Hauptdarsteller spielen ihre Rollen offensichtlich mit Hingabe - wobei sich Denzel Washington verständlicherweise wesentlich facettenreicher präsentieren darf als Crowe, der die meiste Zeit über mit einem grossmütterlich-griesgrämigen Gesicht (dem Gesicht des Verlierers) herumlaufen muss. Es scheint mir, man habe sich hier wieder einmal einem Bedürfnis hingegeben, das eine ganze Reihe von Filmen in den letzten Jahren nicht zu den Erlebnissen machte, die sie hätten sein können: Man wollte unbedingt zwei Stars dabei haben und baute deshalb zum Nachteil der Geschichte eine Rolle, die eigentlich mit einem Nebendarsteller hätte besetzt werden müssen, unnötig und eindimensional aus. Ähnliches hatte Steven Spielberg etwa mit der Besetzung von Tom Hanks in “Catch Me If You Can” (2002) verbrochen; auch der im Kern raffinierte Thriller “Mr. Brooks” (2007) wartet mit einer unnötig in der Weltgeschichte herumsitzenden Demi Moore (über deren schauspielerische “Qualitäten” ich mich hier nicht auslassen will) auf, die eine irritierende, unzusammenhängende Nebenhandlung erhält. --- “American Gangster” hätte eine über weite Strecken mitreissende Geschichtslektion (mit historischen Freiheiten) werden können, wäre dem Aufstieg jenes Mannes, der zu einem der grossen Verbrecher wurde, weil er an den “American Dream” glaubte, nicht immer wieder ausführlich das Leben des Cops Richie Richards gegenübergestellt worden, der eigentlich nur als nicht korrumpierbarer Mensch und erbarmungsloser Jäger des Gansters (eben als Nebenrolle!) interessierte, sich hier aber - damit die Besetzung mit Crowe gerechtfertigt erscheint - bis zum Überdruss mit seiner Frau um das Sorgerecht des Sohnes streiten muss. Frank Lucas war nämlich als Mensch derart widerspruchsvoll (gnadenloser Killer, perfekter Organisator, Abenteurer, hingebungsvoller Familienmensch und regelmässiger Kirchgänger), dass er den Film problemlos “gefüllt” hätte - und man muss zugeben: die Rolle ist mit Denzel Washington gut besetzt.
Leider weist das Drehbuch weitere Schwächen auf: Das abrupte Umkippen vom Gangster, der auf Werte setzt, zum “Schwätzer” und Helfer der Polizei wirkt unglaubwürdig, obwohl der so plötzlich mit seinem Gegenspieler Zusammenarbeitende hauptsächlich korrupte Polizisten (sie werden übrigens plump dargestellt!) verrät. Auch einige unnötig symbolisch aufgeladene Szenen (Lucas’ Aufenthalt im Dschungel als offensichtliche Reminiszenz an “Apocalypse Now”, der Boxkampf, der die historische Verbürgtheit des Geschilderten hervorheben soll) haben etwas Peinliches. Hingegen wirkt das New York, in das die beiden Hauptfiguren gestellt werden, nicht bloss historisch glaubhaft, sondern streckenweise regelrecht faszinierend: Während Frank Lucas seinen vielen Facetten entsprechend die Stadt in ihrer Vielfältigkeit erlebt, sieht man den Cop so gut wie nur zwischen Beton und Metall. Sein New York besteht aus fensterlosen Gemäuern und einer trostlosen Queensboro Bridge; er kann lediglich mit dem Fotoapparat in der Hand am Leben des Gangsters “teilhaben”. - Es sind nicht zuletzt diese beeindruckenden Aufnahmen, die den Zuschauer für Momente in “American Gangster” hineinziehen, den Film aber letztlich doch als etwas enttäuschendes und langweiliges Potpourri aus Klassikern des Subgenres erscheinen lassen, das uns gleich zwei Geschichten erzählen will, obwohl uns nur eine von ihnen interessiert.
**********
Worum es mir ging: Es gab eine Zeit, in der man wusste, dass die Geschichte eines Films absolute Priorität hat. Ihr hatte sich alles unterzuordnen, ihr musste man dienen. Diese Einsicht war nicht nur bei Warner Brothers verbreitet; selbst starbesetzte Produktionen wie “Gone With the Wind” (1939) wären ohne sie nicht zu Klassikern geworden. - Es gab in der Geschichte Hollywoods jedoch immer wieder Phasen, in denen die Studios mit ihren Stars glänzen wollten: während des Zweiten Weltkriegs, als in den 50er Jahren das Medium Fernsehen aufkam... - Und immer wieder fanden Produzenten und Drehbuchautoren mehr oder weniger befriedigende Möglichkeiten, das Bedürfnis, möglichst viele Stars am Himmel erscheinen zu lassen, zu befriedigen, ob nun die ganze “Hollywood Canteen” (1944) in Beschlag genommen oder Filme auf halbwegs nachvollziehbare Weise mit mehreren Geschichten gefüllt wurden (wie etwa in “O. Henry’s Full House”, 1952); selbst die vielen “Airport”- und anderen Katastrophenfilme, mit denen man dank Starbesetzung in den 70ern Kasse machen wollte, haben irgendwo ihre "Berechtigung". - Dass aber seit etwa zehn Jahren an sich wichtige und spannende Geschichten kaputt gemacht werden, weil man mit unnötig ausgebauten und starbesetzten Nebenfiguren überlange “Prestigefilme” herstellen will, empfinde ich als grosse Enttäuschung, die ich nur als unbewusste Kapitulation der vermeintlich bedeutenden Regisseure Hollywoods vor wirklich innovativen Kräften (handle es sich nun um einen David Cronenberg, Independent-Filmer oder das nicht-amerikanische Kino) und den überbezahlten Stars selber interpretieren kann. Eine Rückbesinnung auf das Credo früherer Zeiten täte not!
Bearbeitet von Zodiac, 19. Oktober 2009, 23:22.
#28
Geschrieben 26. Oktober 2009, 01:46
Sonntags... nie!
(Pote tin Kyriaki, Griechenland/USA 1960)
Regie: Jules Dassin
Darsteller: Melina Mercouri, Jules Dassin, George Foundas, Titos Vandis, Mitsos Liguisos u.a.
“Pote tin Kyriaki” veränderte in den 60er Jahren mimisch-affektives Verhalten und Begriffskonnotationen diverser schwer arbeitender Hausfrauen, die sich nach dem Schrubben des Holzbodens neidisch die weiblichen Stars auf den Titelblättern von Boulevardzeitschriften anschauten, auf eigenartige Weise. So pflegte etwa meine Mutter gegenüber dem fragenden Sohn Liz Taylor als “Metze” zu bezeichnen; Gina Lollobrigida war ein “Luder”, Brigitte Bardot gar eine “Schnalle”. Erblickte sie jedoch Melina Mercouri, erhellte sich ihr Gesicht augenblicklich, und ihre Augen begannen zu leuchten. Dann sagte sie freudig-erregt: “Das da ist eine Hure!” - So wurde mein Interesse an der Wortfeldtheorie geweckt...
Ja, Melina Mercouri war in “Pote tin Kyriaki” tatsächlich eine Hure, und was für eine. Sie war Ilya, ein lebensfrohes und herzensgutes Mädchen, das im Hafen von Piräus mit Begeisterung anschafft, sich darüber freut, dass ihm alle Männer nachschauen, wenn es zum Schwimmen im Meer eilt - und das sich seine Freier (jeden Tag einen anderen) selber aussuchen kann - eine Regel aber einhält: Sonntags... Nie! Diesen Tag will der Star unter den Prostituierten für sich allein.
Das beneidenswerte Leben voller Leichtigkeit nimmt ein jähes Ende, als der ebenso gebildete wie verklemmte amerikanische Tourist Homer Thrace, der sich auf der Suche nach der ewig gültigen Wahrheit befindet, in Ilya die Verkörperung klassischer Schönheit zu entdecken glaubt, sich aber am Bildungsniveau der Frau, die jede griechische Tragödie so umdichtet, dass sie ein glückliches Ende nimmt (“and they all go to the seaside”), stört. Als er hören muss, wie sie Medea zu einer Geschichte macht, in der die Männer nicht gut wegkommen (Medea ist eine süsse Frau, die eben ihre Launen hat, aber der Nebenbuhlerin sogar einen Kuchen bäckt und ihre Kinder vor dem Mann versteckt, bis er zu ihr zurückkehrt!), kauft er sich ihre Gunst für zwei Wochen, die er allerdings nicht mit Sex vergeuden, sondern als Gelegenheit nutzen will, der Schönheit seine Vortellungen von klassischer Kultur zu vermitteln. Dass der Möchtegern-Pygmalion Ilya mit seinem “Wissen”, der klassischen Musik und den Gemälden, die ihre Fussballclub-Poster ersetzen, nur unglücklich macht, erkennt er erst, als er mit Gewalt auf die wirklichen Probleme von Prostituierten aufmerksam gemacht wird. Und am Ende seiner denkwürdigen “Suche nach der Wahrheit” ist es Homer, der mit einer nicht mit Geld aufzuwiegenden Bereicherung nach Hause fahren darf: Er hat nicht nur das Tanzen, sondern das Fühlen des Sirthakis erlernt.
Was machte diesen Film über eine Prostituierte so “hausfrauentauglich”, während etwa Billy Wilder im prüden Amerika noch 1964 mit “Kiss Me, Stupid!” die Karriere von Kim Novak so gut wie zerstörte? - Es war wohl vor allem seine noch heute faszinierende Leichtigkeit, die das frivole Sujet recht harmlos erscheinen lässt; und es dürfte an der grossen Mercouri gelegen haben, die die Rolle der Ilya im Alter von 40 Jahren (!) annahm und aus ihr keine geschminkte Erotik-Bombe, sondern ein unbeschwertes Wesen machte, dessen herbe, natürliche Schönheit ganz andereVorstellungen weckte als die der gestylten Hollywood-Stars oder von Brigitte Bardot, die 1956 mit dem ziemlich substanzlosen “Et Dieu créa la femme” noch für ein Skandälchen gesorgt hatte. - Dassins folkloristische Hymne auf den Süden wirkt zwar auch reichlich harmlos-verklärend und erreicht in technischer Hinsicht nicht annähernd die “Qualität” der zu jener Zeit gedrehten Hollywood-Gähner, wartet aber neben dem berühmten, mit rauher Stimme vorgetragenen Titelsong “Ta Pedia tou Pirea”, der von Sängerinnen aus der ganzen Welt gecovert wurde, mit höchst einfallsreichen Bildern und Szenen (man sieht die im Gleichschritt marschierenden Beine der Prostituierten, die gegen ihren Zuhälter demonstrieren; Ilyas Reaktion, nachdem sie mit dem Fernglas ein Schiff mit neuen Freiern erspäht hat, ist von herrlicher Kindlichkeit durchdrungen) auf. --- “Pote tin Kyriaki” wurde erstaunlicherweise für mehrere Oscars nominiert (Regie, Drehbuch, weibliche Hauptdarstellerin) und erhielt die Trophäe für die Titelmusik. Melina Mercouri wurde an den Internationalen Filmfestspielen von Cannes zur besten Darstellerin gekürt.
Mit seinem Film über die glückliche Hure und den verklemmten Amerikaner vermochte Jules Dassin, der in den Staaten zum Opfer des McCarthyismus geworden (Edward Dmytryk hatte ihn 1951 - sicher auch nicht freiwillig! - vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe verpfiffen) und nach Frankreich ausgewandert war, seinen ehemaligen Landsleuten zu zeigen, wozu es ein Vertriebener in Europa bringen konnte. Zwar hatte auch er einige Jahre in Armut verbracht; mit “Du rififi chez les hommes” (1955) war ihm jedoch ein Klassiker gelungen, der ihm den Weg zu weiteren erfolgreichen Filmen ebnete. Mit der Griechin Melina Mercouri, die er 1966 heiratete, drehte er noch andere Filme, darunter den berühmten “Topkapi” (1964), in dem u.a. Maximilian Schell und Peter Ustinov erneut auf “Rififi” machen durften, “Promise at dawn” (1970) und “A Dream of Passion” (1978). Zusammen mit seiner Frau setzte er sich engagiert für die Rückkehr Griechenlands zur Demokratie ein und liess sich nach dem Sturz der Militärjunta 1974 in seiner Wahlheimat nieder. Melina Mercouri (“Ich bin als Griechin geboren und werde als Griechin sterben!”) betätigte sich zunehmend politisch und wurde von Papandreou als Kulturministerin in sein Kabinett berufen (sie verstarb 1994 an Lungenkrebs). - Hinter der scheinbar so leichten, sehenswerten Geschichte über die Hure Ilya und den Amerikaner Homer, der die Freude am Leben lernen muss, versteckt also auch ein Teil der Geschichte jenes Phänomens, das Wallraff/Spoo als “unseren Faschismus nebenan” bezeichneten - und des Kampfs um seine Überwindung!
Bearbeitet von Zodiac, 26. Oktober 2009, 02:12.
#29
Geschrieben 31. Oktober 2009, 12:17
(Das Zürcher Schauspielhaus - Mythos und Wirklichkeit, Schweiz 2005)
Regie: Peter Reichenbach/Beat Lenherr
Das Zürcher Schauspielhaus - nach seinem Standort am Pfauenplatz auch “Pfauenbühne” - genannt - stieg in einer traurigen Zeit für wenige Jahre überraschend zur bedeutendsten, weil einzigen freien Sprechbühne im deutschsprachigen Raum auf und erwarb sich dadurch einen legendären Ruf, von dem man lange zerrte - zu lange; denn man erkannte um des für die ganze Schweiz günstigen Mythos willen, eine paradiesische Insel des Antifaschismus gewesen zu sein, in den 60er Jahren spät, dass man längst nicht nur eine Bühne unter vielen, sondern absolutes Mittelmass geworden war. Der für das Schweizer Fernsehen gedrehte Dokumentarfilm erzählt die Geschichte des Zürcher Schauspielhauses von den Anfängen bis zur Gegenwart und bemüht sich um Einblicke in die hinter dem Mythos versteckte Wirklichkeit.
1901 mietete Alfred Reucker, der damalige Direktor des Opernhauses, den ehemaligen Bayerischen Biergarten mit Varietétheater, um aus ihm eine Spielstätte für das Sprechtheater zu machen. Zürich erwies sich jedoch als harter Boden für ein Schauspielhaus mit anspruchsvollem Spielplan, und die Defizite nahmen zu. Trotzdem kaufte Reuckers Nachfolger Ferdinand Rieser das Schauspielhaus und setzte nach einem umfassenden Umbau 1926 gegen harte Anfeindungen einen zeitgenössischen Spielplan durch. International fand das Theater jedoch bis 1933 keine Beachtung.
Mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland und dem Anschluss Österreichs änderte sich die Situation grundlegend: Viele bedeutende Schauspieler(innen) und Regisseure - darunter Therese Giehse, Grete Heger, Ernst Ginsberg, Wolfgang Langhoff, Leonard Steckel und Leopold Lindtberg - emigrierten nach Zürich und wurden von Rieser ins Ensemble aufgenommen. Von nun an dominierte ein kritischer, aus Klassikern und Uraufführungen bedeutender Dramatiker zusammengesetzter Spielplan mit klar antifaschistischer Stossrichtung. Der Kampf gegen den Faschismus führte jedoch keineswegs zu dem oft beschworenen Zusammenschluss zwischen Zürcher Publikum und Theater. Im Gegenteil: Die - schlecht bezahlten - Schauspieler spielten Horváth. Georg Kaiser u.a. oft vor leeren Rängen, und die “Frontisten” in der Schweiz (eine Gruppe, die mit den Nationalsozialisten sympathisierte und den Anschluss ans “Reich“ forderte) entfesselten einen regelrechten Kulturkampf gegen das Schauspielhaus und seine Mitarbeiter. Gewaltätige Aktionen konnten nur durch das Einschreiten der Polizei unterbunden werden. - Der zuerst wegen seiner Homosexualität angefeindete Basler Regisseur Oskar Wälterlin, der die Pfauenbühne von 1938 - 1961 leitete, musste deshalb durch geschicktes Lavieren die Gegensätze zu vermitteln versuchen, damit er sein “Sammelbecken des Antifaschismus” während der ganzen Zeit des zweiten Weltkriegs erhalten konnte. Er fügte den bereits engagierten Emigranten talentierte Schweizer Schauspieler wie Anne-Marie Blanc und Heinrich Gretler hinzu und liess neben den Stücken bedeutender Exil-Autoren (Bertold Brechts “Mutter Courage” und “Der gute Mensch von Sezuan” hatten hier ihre Uraufführung) vaterländisch wirkende Klassiker, die der “geistigen Landesverteidigung” dienen sollten, inszenieren (das konservative Zürcher Publikum soll eine Aufführung von Schillers “Wilhelm Tell” immer wieder durch begeisterten Applaus unterbrochen und den Rütli-Schwur - “Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern...” - mit Tränen in den Augen laut mitgesprochen haben). Wälterlin, unter dessen Direktion das Schauspielhaus seine grosse Zeit erlebte, entdeckte auch Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, dessen “Es steht geschrieben” einen typischen Zürcher Theaterskandal auslöste.
Nach Wälterlin kam es zu einem häufigen Direktorenwechsel, der zeigte, wie wenig Zürich eine Theaterstadt war, Geld den Geist regierte und Politik die Kunst bedrohte. Die mit Sicherheit einschneidenste Zäsur brachte 1968 die nur einjährige Intendanz von Peter Löffler, der zusammen mit Regisseur Peter Stein und einem ganz neuen Ensemble (u.a. Bruno Ganz und Jutta Lampe) einen anderen Wind ins Zürcher Kulturleben bringen wollte. Die auf hohem Niveau gehaltenen Inszenierungen des politisch progressiven Spielplans (u.a. von Edward Bond’s “Early Morning”) entsetzten die traditionell bürgerlich-konservativen Zuschauer, die den Revoluzzer schleunigst loswerden wollten, aber zugleich erkennen mussten, wie provinziell sie mittlerweile gegenüber den grossen deutschen Bühnen oder das Basler Dreispartentheater, das sich unter Werner Düggelin Experimenten keineswegs verschloss, wirkten. Doch der Mythos musste gewahrt bleiben, und jede Intendanz verlief am Ende unbefriedigend, weil von nun an ständige Anfechtungen (mal von rechts, mal von links) die Geschichte der Pfauenbühne prägten. Unter Christoph Marthaler (2000-2004) erlebte das Haus noch einmal eine kurze Blüte; seit seinem Weggang ziehen es die Zürcher vor, sich wieder über die Kosten zu streiten.
Wer sich intensiv mit der Geschichte des Zürcher Schauspielhauses beschäftigen will, ist mit Literatur zum Thema (etwa dem hervorragenden 1998 erschienenen Band “In welchen Zeiten leben wir!” von Ute Kröger und Peter Exinger, der sich auf die Zeit von 1938 bis 1998 konzentriert) sicher besser bedient, da die Fernsehdoku von Reichenbach/Lenherr eher einführenden Charakter hat und zwar viele Bilder, aber mangels Material kaum Ausschnitte aus bedeutenden Inszenierungen (als eine der wenigen Ausnahmen wäre die Uraufführung von Dürrenmatts “Physikern” mit der grossen Giehse in der Rolle der Irrenärztin von Zahnd zu nennen) bieten kann. - Lohnenswert sind dagegen die Statements von z.T. noch lebenden Intendanten und Regisseuren, die die Geschichte des Hauses mit seinen vielfältigen Verstrickungen miterlebt haben. Und besonders beeindruckend: Die Mitwirkung von Maria Becker, der letzten noch lebenden “grande dame” der Pfauenbühne, die zwar keine Emigrantin war, als Jüdin aber Leiden und Furcht der Flüchtlinge geteilt hatte; sie erzählt offen von jener Zeit des Nationalsozialismus, als man von gewissen Zürchern als jüdische Schauspielerin an der Pfauenbühne noch von oben herab behandelt wurde und eine harte, aber unermesslich lehrreiche Schule absolvierte, die darin bestand, jede Woche ein neues Stück inszenieren zu müssen, damit man das Haus halbwegs füllen konnte.
Für literaturgeschichtlich Bewanderte vielleicht noch von Interesse: Das gleiche Publikum, das über Wohl und Wehe einer Inszenierung entschied, hörte sich 1966 begeistert applaudierend die Rede des einst hoch geachteten Germanisten Emil Staiger an, mit er sich bei der Übergabe des Literaturpreises der Stadt Zürich im Schauspielhaus bedankte und die - von “Literatur und Öffentlichkeit” handelnd - nur das “ewig Wahre” und die “sittliche Gesinnung” gelten liess, die zeitgenössische “littértature engagée” (womit der ehemalige Frontist vor allem auf Schriftsteller wie Peter Weiss, Heinar Kipphardt und Rolf Hochhuth abzielte) hingegen weitgehend als ”Entartung” bezeichnete, weil sie behaupte, “die Kloake sei ein Bild der wahren Welt”. Erst eine Woche nach Veröffentlichung der Rede liess sich Max Frisch (Dürrenmatt meinte lakonisch, dieser sei beleidigt gewesen, weil Staiger ihn nicht namentlich erwähnt hatte) zu einer Replik hinreissen, die der Beginn dessen war, was als “Zürcher Literaturstreit” in die Geschichte eingehen und Nimbus und Renomée des Werkimmanenzlers, dessen “Kunst der Interpretation” ehemaligen Nazi-Germanisten Unterschlupf gewährt hatte, zerstören sollte. --- Der Weg für neue Zugänge zur Literatur war geebnet, die Besucher des Zürcher Schauspielhauses setzen sich noch immer aus den gleichen konservativen Kreisen zusammen. Spannendes Theater findet woanders statt.
**********
Die DVD ist bei "amazon" leider nicht erhältlich. Wer sich die Dokumentation anschauen möchte, muss sie bei "artfilm.ch" bestellen - oder darauf warten, bis sich 3sat zu einer Wiederholung hinreissen lässt.
Bearbeitet von Zodiac, 31. Oktober 2009, 14:07.
#30
Geschrieben 03. November 2009, 22:31
Wahre Lügen
(Where the Truth Lies, Kanada/Grossbritannien/USA 2005)
Regie: Atom Egoyan
Darsteller: Kevin Bacon, Colin Firth, Alison Lohman, David Hayman, Rachel Blanchard. Maury Chaykin, Sonja Bennett u.a.
Wer sich im Internet ein wenig nach Kritiken zu “Where the Truth Lies” umsieht, bemerkt rasch: Regisseur Atom Egoyan ist für einige Leute offenbar derart unantastbar, dass sie sogar einen seiner höchst durchschnittlichen, unoriginellen Filme in den höchsten Tönen loben, ihn bis aufs Blut verteidigen und notfalls in einem Atemzug mit “L.A. Confidential” (1997) oder “Mulholland Drive” (2001) nennen. Was mich, der ich auch Hitchcock seinen “Under Capricorn” (1949) zugestehe, anbelangt: Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube. Für mich ist “Where the Truth Lies” lediglich der Film, in dem man die nackten Hintern von Kevin Bacon und Colin Firth zu sehen bekommt - wobei der Titel erahnen lässt, dass vermutlich nicht einmal die echt sind.
Lenny Morris und Vince Collins sind in den 50er Jahren die beliebtesten Standup-Comedians der USA. Ihre Auftritte in dubiosen, einem Mafia-Paten gehörenden Nachtclubs reissen das Publikum, das Lenny als schier unkontrollierbaren Clown, Vince als Briten mit Klasse erlebt, hin. Doch auf dem Höhepunkt ihrer Karriere - sie haben gerade einen dreitägigen Fernsehmarathon für Polio-Opfer hinter sich gebracht - wird die Leiche des Zimmermädchens Maureen in ihrer Suite aufgefunden. Man vermutet einen Selbstmord. Trotzdem trennen sich die beiden abrupt und beenden ihre Karriere. - In den 70ern will die Nachwuchs-Journalistin Karen O’Connor dem eigentlichen Grund für die Trennung auf die Spur kommen und stösst auf ein verwirrendes Geflecht aus Sex, Drogen und Lügen - in das sie bald selber verwickelt werden soll; denn auch die junge Frau, die Vince für eine Million Dollar die Wahrheit entlocken will, hat ihre kleinen Geheimnisse...
Egoyan, der bekanntlich ein Flair für die Abgründe der menschlichen Seele hat, erzählt seine Geschichte, die schon vor ihrer Weltpremiere als heisser Anwärter für die Goldene Palme bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes gehandelt wurde, denn auch in komplizierten Zeitsprüngen zwischen den 50ern und den 70ern, in denen uns aus unterschiedlichen Perspektiven Lügen, Halbwahrheiten und Selbsttäuschungen aufgetischt werden. Die eigenwillige Erzählstruktur macht jedoch den bis jetzt aufwändigsten, sich dem konventionellen Mainstream-Kino am meisten anpassenden Film des Armeniers (die Verfilmung eines Romans von Rupert Holmes, der - nicht zuletzt auf das Duo Jerry Lewis/Dean Martin bezogen - von der korrupten Welt des Showbusiness der 50er Jahre handelt ) nicht annähernd so tiefgründig, wie er sein möchte, ist meilenweit von höchst beachtlichen Werken wie “The Sweet Hereafter” (1997) oder “Ararat” (2002) entfernt. Er wurde denn von der Kritik auch gemischt aufgenommen. - Kein Wunder, entpuppt sich das bedeutungsschwangere Konstrukt am Ende doch als simpler, ja enttäuschender “Whodunit”!
Filmfans, die gerne mit Genres jonglieren, erkennen in “Where the Truth Lies” einen raffinierten Versuch, den “Film noir” mit dem “Erotik-Thriller” zu verbinden. Solche Versuche wurden tatsächlich schon unternommen, besonders erfolgreich im etwas unterschätzten “Body Heat” (1981). - Zu dem edel - für meinen Geschmack: zu edel! - fotografierten Egoyan-Werk ist zuerst einmal zu sagen, dass Bacon und Firth die Rollen des Entertainer-Duos brillant verkörpern. Wenn sie nach einem professionellen Blick aufeinander die Bühne betreten und ihr verlogenes Spiel beginnen, bei dem Lenny völlig ausgelassen um den disziplinierten Vince (Colin Firth scheint mehr und mehr auf die Rolle des introvertierten Briten festgelegt zu werden) herumtanzt, vergisst man für einen Moment, dass das leere Leben der beiden aus Sex und Drogen besteht. Man lässt sich wie das Publikum der 50er Jahre täuschen (“We were Gods”). Da genügt es, dass Alison Lohman als weiblicher Marlowe der 70er dekorativ in der Gegend herumsitzt; schauspielerische Fähigkeiten sind in solchen Dekors, in denen die in nostalgischem Glanz schimmernden Whisky- und Weissweingläser wichtiger sind als die Figuren, weder nötig noch erwünscht. - Bringt man jedoch die “Film noir”-Komponente ins Spiel, fallen neben einigen Ungereimtheiten und Zufällen (Welcher Verlag vertraut einer Nachwuchs-Journalistin ein millionenschweres Buchprojekt an? Wie kommt es, dass Karen auf einem vom Arbeitgeber bezahlten First Class Flug einfach mal so Lenny begegnet? Weshalb gerät während des ganzen Films niemand wegen eines 15 Jahre zurückliegenden Mordes ernsthaft in Gefahr?) vor allem die Kommentare aus dem Off auf, die an Oberflächlichkeit nicht zu überbieten sind. Nun gehören lakonische Erzähl-Kommentare natürlich zum “Film noir”; wenn man hier jedoch ein offenbar nicht ganz dummes Mädchen in edlen Räumen gespannt klischeehafte Bemerkungen zum Ständer lesen sieht, mit dem Lenny eine Frau beglückte, vom Einfluss der Mafia in den 50ern - dann stellt sich die Frage, ob wohl die Romanvorlage, vielleicht doch ein von der Kritik hochgejubelter Groschenroman, aus ähnlich banalen Sätzen besteht. - Zum Erotik-Thriller, dessen reine Erwähnung wehmütige Erinnerungen an “Sea of Love” (1989) weckt, in dem sogar ich Ellen Barkin im nächtlichen Supermarkt am liebsten auf den nächsten Gemüseständer geworfen hätte: In den die Handlung unnötig in die Länge ziehenden Sexszenen (sie waren in den USA heftig umstritten) macht sich Egoyans grundsätzliches Bestreben, eine gewisse Distanz zu seinen Figuren zu bewahren, besonders unvorteilhaft, wenn vielleicht auch dem Wesen der Entertainer entsprechend, bemerkbar. Denn statt dem Zuschauer wirklich das zu bieten, was schon Verhoeven in “Basic Instinct” (1992) vergeblich zu bieten versuchte (ich fragte mich ständig, wann denn das Biest endlich den Eispickel hervorholen würde!), spult er lustlos und klinisch rein das ganze Register des Softpornos ab ( sogar die obligate Lesbenszene mit einer “Alice in Wonderland” darf nicht fehlen). Lediglich ein kleiner Fauxpas, der die schwule Komponente eines flotten Dreiers aufdeckt und Lenny dazu veranlasst, seinen Kumpel zurechtzuweisen (“... we can’t be queers!”), lässt erahnen, was auch unausgesprochen in dem Duo steckte.
Ein Film, der sich die im Titel angetönte Ambivalenz bewahren möchte, sollte wissen, wann er zu Ende ist - nämlich dann, wenn er die Freude des Zuschauers an der Unauflösbarkeit jenes Mysteriösen, das er aufzubauen bemüht war, auf den Höhepunkt getrieben hat. So dreht das wirkliche Leben seine Filme: Würden wir uns noch für die plötzliche Trennung von Dean Martin und Jerry Lewis interessieren, wenn sie eine Agatha Christie-gemässe Auflösung fände? Was wäre das Rat Pack ohne seine Geheimnisse, was der Tod von Marilyn Monroe? --- Egoyans Film braucht jedoch eine - “überraschende”, wenn auch denkbar unnötige, sogar deplatzierte - Auflösung, was ihn am Ende zu einer einfachen Kriminalgeschichte macht und sogar den Hauch eines Mysteriums, der die “Götter” Lenny und Vince doch noch umgab, zerstört.
Ich weiss nicht, ob es sich bei “Where the Truth Lies” um die Verfilmung eines banalen Romans handelt oder ob der Roman von Rupert Holmes als Verfilmung einfach nicht funktionieren wollte. Auf jeden Fall hat Atom Egoyan einen bedauernswert banalen Film inszeniert, der für einen “Film noir” nicht spannend genug, für einen Erotik-Thriller erstaunlich unerotisch ist - und dem Abgründigen keinen Raum lässt. Man darf hoffen, es habe sich dabei lediglich um seinen “Under Capricorn” gehandelt.
Und zuletzt als kleiner Hinweis für Leser, die wie ich den Hintern eines Mannes für eines seiner sehenswertesten Körperteile halten: Der Arsch, den uns William Baldwin im sonst auch nicht weiter erwähnenswerten “Sliver” (1993) in voller Aktivität entgegenstreckt, ist wesentlich geiler als die Dinger, mit denen Kevin Bacon und Colin Firth herumhängen müssen!
Bearbeitet von Zodiac, 03. November 2009, 22:41.
Besucher die dieses Thema lesen: 1
Mitglieder: 0, Gäste: 1, unsichtbare Mitglieder: 0