Irreversible (Schauburg-Buer)
Heute habe ich einen Film gesehen, der mich bis ins Mark getroffen hat! Man hält sich ja doch immer für abgebrüht und über alles erhaben, doch Gaspar Noés sogenannter Skandalfilm IRREVERSIBLE ist wirklich weit mehr als nur eine Ausweitung des MEMENTO-Schemas. Während Christopher Nolans Film seine Prämisse, einen Film mal vom Ende bis zum Anfang zu erzählen, noch etwas kompromißlerisch und teilweise unstimmig umsetzte, macht IRREVERSIBLE absolut keine Gefangenen: Der Film bewegt sich vom tragischen Ende bis zum idyllischen Anfang zurück, und jede Szene ergibt sich aus der folgenden. Ich fragte mich beim Betrachten des öfteren, ob die Strapazen des Erlebnisses vom Resultat gelohnt werden. Selten hat mich ein Film so enerviert und verstört wie dieser, Pasolinis 120 TAGE VON SODOM eingeschlossen. Nur eine weitere Übung in Narrative und Stil? Mit solchen Mitteln? Der Film beginnt mit einer scheinbar unscheinbaren Szene, in der ein älterer Mann mit einem jüngeren Mann philosophische Gemeinplätze austauscht. Dann geht es in eine Schwulenbar, wo ein Mann einen anderen sucht, dessen Spitzname "Der Bandwurm" lautet. Die Szene endet damit, daß ein Mann dem anderen den Schädel zertrümmert. Eine unglaublich brutale Szene - vielleicht die brutalste, die ich jemals gesehen habe. Noé erreicht das mit einer ständig herumkurbelnden Kamera, die immer nur Schnipsel der Umgebung einfängt, gerade genug, um dem Lauf der Geschehnisse zu folgen. Untermalt wird das von einem repetitiven, leiernden Sound, der einen fast verrückt macht. Wie der letztendliche Gewaltausbruch dann realisiert ist, weiß ich selber nicht - da müssen wohl Computereffekte eine Rolle gespielt haben, denn einen Zwischenschnitt habe ich keinen bemerkt, und der Kopf des armen Schauspielers ist nur noch Matsch. Der Rest des Filmes schildert dann konsequent rückwärtsführend die Vorgeschichte, die zu diesem Gewaltausbruch geführt hat. Der Film enthält exakt zwei Gewaltsequenzen, aber die reichen aus, um den Zuschauer nachhaltig zu verstören. Der Mord ist zurückhaltend, vergleicht man ihn mit der Vergewaltigung. Diese ist die härteste und unangenehmste, die ich jemals in einem Film gesehen habe, und trotzdem exakt so, wie man solch ein "Kavaliersdelikt" zu filmen hat: eine Einstellung, ohne Zwischenschnitte oder andere Kaspereien, die dem Betrachter erlauben, sich vom Geschehnis zu distanzieren. Zwischendurch erscheint mal ein Beobachter im Hintergrund, verzieht sich aber sofort feige. Die Szene ist wirklich kaum mitanzusehen, und es ist einer der wenigen Filme, die mir beim Betrachten Tränen des Entsetzens in die Augen getrieben haben. Der Film wird danach immer freundlicher und heller, aber der Gesamteindruck ist bereits vorgezeichnet - alles, was da noch kommt, ist bereits zerstört. Die selbstjustizfilmgemäße Rache hat beim näheren Hinsehen den Falschen getroffen. Alle Ordnung ist aus den Fugen geraten. Während die Bildführung zu Anfang des Filmes noch völlig enthemmt und unkontrolliert in der Gegend herumkurbelt (und auch auf einigen sexuell expliziten Details ausruht), gewinnt sie zum Ende hin immer mehr Ruhe und Ordnung, doch die aufgewühlten Nerven des Zuschauers beruhigen sich nicht mehr. Wenn am Schluß die Klänge meines absoluten Lieblings-Klassik-Werkes (dem Largo aus Beethovens 7. Symphonie) erklingen, schwingt bereits alles im Trubel dessen, was die Zukunft bringen wird. Während MEMENTO tatsächlich nicht viel mehr ist als eine erzählerische Stilübung, bebildert IRREVERSIBLE den Alpdruck einer Welt, wo alle Aktionen die Folgenden determinieren und somit eine Art von Vorbestimmung herrscht; nicht im religiösen Sinne, sondern ganz wortwörtlich. Alle Illusion von Idyllvorstellungen ist auf einmal Schall und Rauch. Die Folgen eines möglichen Fehlverhaltens sind unabschätzbar und mit keinen wissenschaftlichen Formeln zu bändigen. Meine eigene Überzeugung, daß alles, was wir tun und treiben, seine Spuren hinterläßt, findet in diesem Film seine ebenso konsequente wie schreckliche Bestätigung. Die zärtlichen und intimen Szenen, die der hervorragende Hauptdarsteller Vincent Cassel (Sohn von Jean-Pierre) mit seiner "real-life"-Lebensgefährtin Monica Bellucci hat, finden ihre Entsprechung in dem namenlosen Horror des Filmanfangs. Es gibt nicht viele Filme, bei denen ich passagenweise wegschauen mußte. Am Schluß - "Time Ruins All Things" - habe ich geheult. Das war das erste Mal, daß ich bei der abendlichen Eßwarenbeschaffung auf mein Auto verzichtet habe, da ich zu aufgewühlt und innerlich zerstört gewesen bin. Der Schluß mit Monica Bellucci auf der Wiese wird lange vor meinem geistigen Auge spuken. Nach Noés vorangegangenen Übungen in moderner Gewalt ein Meisterwerk von einem Film, das man sich aber nicht anschauen sollte, wenn man zartbesaitet ist - es könnte schwer in die Hose gehen. Während BAISE-MOI (FICK´ MICH) eine in meinen Augen ebenso überflüssige wie widerwärtige Nichtigkeit mit Hardcoreszenen darstellte, ist IRREVERSIBLE ein großes Kunstwerk, das den unwiderruflichen Charakter des eigenen Handelns ebenso in Marmor einmeißelt wie die Vergänglichkeit augenblicklichen Glücks. Kein Skandalfilm, sondern Kino, wie es sein soll. Bin geplättet.